Die Identität
Roman
Chantal und Jean-Marc sind ein glückliches Paar. Doch als Chantal bemerkt, dass sich die Männer nicht mehr nach ihr umdrehen, hat Jean-Marc einen Plan. Um ihr das Gefühl wiederzugeben, attraktiv und begehrenswert zu sein, schreibt er ihr anonyme...
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Produktinformationen zu „Die Identität “
Klappentext zu „Die Identität “
Chantal und Jean-Marc sind ein glückliches Paar. Doch als Chantal bemerkt, dass sich die Männer nicht mehr nach ihr umdrehen, hat Jean-Marc einen Plan. Um ihr das Gefühl wiederzugeben, attraktiv und begehrenswert zu sein, schreibt er ihr anonyme Liebesbriefe. Fasziniert beobachtet er, wie Chantal mit jedem eintreffenden Brief strahlender und lebendiger wird. Bis Jean-Marc die Eifersucht packt. Ihre Liebe wird zu einem gefährlichen Spiel, in dem der eine dem anderen zu entgleiten droht.
Lese-Probe zu „Die Identität “
Die Identität von Milan Kundera 1
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Ein Hotel in einer kleinen Stadt am Meer der Normandie, das sie zufällig in einem Führer gefunden hatten. Chantal kam Freitagabend an, um dort eine Nacht allein, ohne Jean-Marc, zu verbringen, der am nächsten Tag gegen Mittag nachkommen wollte. Sie stellte einen kleinen Koffer im Zimmer ab, ging hinaus und kehrte nach einem kurzen Spaziergang durch unbekannte Straßen in das Hotelrestaurant zurück. Um halb acht war der Saal noch leer. Sie setzte sich an einen Tisch und wartete darauf, dass jemand sie bemerkte. Auf der anderen Seite, neben der Küchentür standen zwei in eine Diskussion vertiefte Kellnerinnen. Da Chantal es hasste, laut zu rufen, stand sie auf, ging durch den Saal und blieb neben ihnen stehen. Sie waren jedoch zu sehr von ihrem Thema gefesselt: »Ich sage dir, das geht schon zehn Jahre. Ich kenne sie. Es ist furchtbar. Und es gibt keine Spur. Keine. Das Fernsehen hat darüber berichtet. « Die andere: »Was könnte ihm denn zugestoßen sein?« - »Man kann es sich einfach nicht vorstellen. Das ist ja das Schreckliche. « - »Ein Mord?« - »Die ganze Umgebung wurde abgesucht.« - »Eine Entführung?« - »Aber von wem? Und warum? Er war weder reich noch bedeutend. Sie sind im Fernsehen gezeigt worden. Seine Kinder, seine Frau. Diese Verzweiflung. Kannst du dir das vorstellen? «
Dann bemerkte sie Chantal. »Kennen Sie die Fernsehsendung über Vermisste? Aus den Augen verloren heißt sie.«
»Ja«, sagte Chantal.
»Vielleicht haben Sie gesehen, was der Familie Bourdieu zugestoßen ist. Die sind von hier.«
»Ja, es ist furchtbar«, sagte Chantal, die nicht wusste, wie sie von einer Diskussion über eine Tragödie zu der trivialen Frage nach dem Essen überleiten sollte.
»Sie wollen essen«, sagte schließlich die andere Kellnerin.
»Ja.«
»Ich rufe den Oberkellner, setzen Sie sich doch.«
Ihre Kollegin fügte noch hinzu: »Stellen Sie sich das mal vor, jemand, den Sie lieben, verschwindet, und Sie erfahren nie, was mit ihm ist! Das ist doch zum Verrücktwerden!«
Chantal kehrte an ihren Tisch zurück; fünf Minuten später kam der Oberkellner; sie bestellte ein ganz einfaches kaltes Gericht; sie isst ungern allein, ach, wie sie es hasst, allein zu essen!
Sie schnitt den Schinken auf ihrem Teller und konnte die von den Kellnerinnen in Gang gesetzten Gedanken nicht abstellen: in dieser Welt, wo jeder unserer Schritte kontrolliert und aufgezeichnet wird, wo uns in den Kaufhäusern Kameras überwachen, wo einer unablässig den anderen streift, wo der Mensch nicht einmal Liebe machen kann, ohne am nächsten Tag von Forschern und Meinungsforschern ausgefragt zu werden (»Wo machen Sie Liebe?« »Wie oft pro Woche?« »Mit oder ohne Präservativ?«), wie kann da jemand der Überwachung entgehen und spurlos verschwinden? Ja, sie kennt diese Sendung genau, deren Titel ihr Schrecken einflößt, Aus den Augen verloren, die einzige Sendung, von der sie sich durch ihre Aufrichtigkeit, ihre Traurigkeit erweichen lässt, als ob eine Einmischung aus einem Anderswo das Fernsehen gezwungen hätte, auf jede Frivolität zu verzichten; in ernstem Ton fordert ein Präsentator die Zuschauer auf, Zeugenaussagen zu machen, die womöglich dazu beitragen können, den Vermissten zu finden. Am Ende der Sendung werden nacheinander die Fotos aller »aus den Augen Verlorenen« gezeigt, um die es in den vorherigen Sendungen ging; manche sind schon seit elf Jahren unauffindbar.
Sie stellt sich vor, Jean-Marc eines Tages auf diese Weise zu verlieren. Nichts zu wissen, sich alles vorstellen zu müssen. Sie könnte sich nicht einmal das Leben nehmen, denn Selbstmord wäre Verrat, wäre die Weigerung zu warten, hieße die Geduld verlieren. Sie wäre dazu verurteilt, bis ans Ende ihrer Tage in ununterbrochenem Schrecken zu leben.
2
Sie ist in ihr Zimmer hinaufgegangen, ist mühsam eingeschlafen und mitten in der Nacht nach einem langen Traum aufgewacht. Darin waren ausschließlich Menschen aus ihrer Vergangenheit vorgekommen: ihre Mutter (die seit langem tot war) und vor allem ihr früherer Mann (sie hat ihn seit Jahren nicht gesehen, und er glich ihm nicht, so als hätte der Regisseur des Traums sich bei der Besetzung geirrt); er war mit seiner herrschsüchtigen und energischen Schwester und seiner neuen Frau da (sie hat sie nie gesehen, doch im Traum hatte sie keinen Zweifel an ihrer Identität); am Ende machte er ihr vage erotische Anträge, und seine neue Frau küsste Chantal fest auf den Mund und versuchte, ihr die Zunge zwischen die Lippen zu schieben. Sich leckende Zungen haben ihr immer Ekel eingeflößt. Tatsächlich hat dieser Kuss sie geweckt.
Das von dem Traum hervorgerufene Unbehagen war so unmäßig, dass sie sich bemüht hat, den Grund dafür herauszufinden. Was sie so verstört hat, meint sie, ist die von dem Traum bewirkte Aufhebung der gegenwärtigen Zeit. Sie hängt nämlich sehr an ihrer Gegenwart, die sie für nichts in der Welt eintauschen würde, weder gegen die Vergangenheit noch gegen die Zukunft. Deshalb mag sie Träume nicht: sie verhängen eine unannehmbare Gleichheit der verschiedenen Epochen ein und desselben Lebens, eine alles, was der Mensch je erlebt hat, nivellierende Gleichzeitigkeit, sie setzen die Gegenwart herab, indem sie ihr ihre privilegierte Stellung absprechen. Wie in ihrem Traum in dieser Nacht: ein ganzes Stück ihres Lebens ist getilgt worden: Jean-Marc, ihre gemeinsame Wohnung, all die Jahre, die sie zusammengelebt haben; an ihrer Stelle hat sich die Vergangenheit breitgemacht, die Personen, mit denen sie seit langem gebrochen hat, und die versucht haben, sie im Netz einer banalen sexuellen Verführung einzufangen. Sie spürte auf ihrem Mund die feuchten Lippen einer Frau (einer nicht hässlichen, bei der Wahl der Schauspielerin ist der Regisseur des Traums ziemlich anspruchsvoll gewesen), und das war ihr derartig unangenehm, dass sie mitten in der Nacht ins Bad gegangen ist, um sich ausgiebig zu waschen und zu gurgeln.
3
F. war ein uralter Freund von Jean-Marc, sie kannten sich seit dem Gymnasium; sie hatten die gleichen Ansichten, sie verstanden sich in allem und waren bis zu dem Tag in Kontakt geblieben, als Jean-Marc ihn vor einigen Jahren plötzlich und endgültig nicht mehr mochte und aufhörte, mit ihm zu verkehren. Als er erfuhr, dass F. schwer krank war und in einem Krankenhaus in Brüssel lag, hatte er keine Lust, ihn zu besuchen, aber Chantal bestand darauf, dass er hinfuhr.
Der Anblick des ehemaligen Freundes war erschütternd: er hatte ihn so im Gedächtnis behalten, wie er auf dem Gymnasium gewesen war, ein immer tadellos gekleideter zarter Junge von einer angeborenen Zierlichkeit, neben der Jean- Marc sich wie ein Rhinozeros fühlte. Die sensiblen, weichen Züge, die F. früher jünger erscheinen ließen, hatten ihn jetzt älter gemacht: sein Gesicht wirkte grotesk klein, geschrumpft, faltig wie der mumifizierte Kopf einer seit viertausend Jahren toten ägyptischen Prinzessin; Jean-Marc sah F.s Arme an: der eine war für die Infusion stillgelegt, eine Nadel steckte in der Vene, mit dem anderen machte er große Gesten, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Schon immer, wenn Jean- Marc ihn gestikulieren sah, hatte er den Eindruck, dass F.s Arme im Verhältnis zu seinem kleinen Körper noch kleiner waren, geradezu winzig, Marionettenarme.
Dieser Eindruck wurde an diesem Tag noch verstärkt, denn die kindlichen Gesten passten sehr schlecht zum Ernst des Gesagten: F. erzählte ihm von seinem Koma, das mehrere Tage angedauert hatte, bevor die Ärzte ihn ins Leben zurückholten: »Du kennst doch die Aussagen von Leuten, die ihren Tod überlebt haben. Tolstoi spricht in einer Novelle davon. Der Tunnel, und am Ende ein Licht. Die verlockende Schönheit des Jenseits. Aber ich schwöre dir, keinerlei Licht. Und, was noch schlimmer ist, keine Bewusstlosigkeit. Du weißt alles, du hörst alles, nur sie, die Ärzte, merken es nicht und erzählen vor dir alles Mögliche, auch das, was du nicht hören solltest. Dass du verloren bist. Dass dein Gehirn im Eimer ist.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Ich will damit nicht sagen, dass mein Geist völlig klar war. Mir war alles bewusst, aber alles war ein bisschen verzerrt, wie in einem Traum. Hin und wieder wurde der Traum zum Albtraum. Bloß, im Leben hört ein Albtraum schnell auf, du fängst an zu schreien und wachst auf, aber ich konnte nicht schreien. Und das war das Schrecklichste: nicht schreien zu können. Mitten im Albtraum unfähig zu sein zu schreien.«
Wieder schwieg er. Dann: »Ich hatte nie Angst vorm Sterben. Jetzt aber. Ich werde den Gedanken nicht los, dass man nach dem Sterben lebendig bleibt. Dass tot sein einen endlosen Albtraum träumen bedeutet. Aber lassen wir das. Lassen wir das. Reden wir von was anderem.«
Bevor Jean-Marc im Krankenhaus ankam, war er sicher, dass weder der eine noch der andere die Erinnerung an ihren Bruch würde umgehen können und dass er F. ein paar unaufrichtige Worte der Versöhnung würde sagen müssen. Seine Befürchtungen waren jedoch unbegründet: der Gedanke an den Tod machte alle anderen Themen nichtssagend. Mochte F. auch zu etwas anderem übergehen wollen, er fuhr fort, über seinen leidenden Körper zu sprechen. Dieser Bericht deprimierte Jean-Marc, erweckte aber keinerlei Zuneigung in ihm.
4
Ist er wirklich so kalt, so unsensibel? Eines Tages, vor einigen Jahren, erfuhr er, dass F. ihn verraten hatte; ach, das Wort ist viel zu romantisch, bestimmt übertrieben, trotzdem hatte es ihn aus der Fassung gebracht: während einer Sitzung griffen alle Jean-Marc in seiner Abwesenheit an, was ihn später seine Stelle kostete. F. war bei dieser Sitzung anwesend. Er war da und sagte kein einziges Wort zu Jean- Marcs Verteidigung. Seine winzigen Arme, die so gern gestikulieren, machten nicht die geringste Bewegung zugunsten seines Freundes. Da Jean-Marc keinen Irrtum begehen wollte, überprüfte er gründlich, ob F. wirklich geschwiegen hatte. Als er vollkommen sicher war, fühlte er sich einige Minuten lang unendlich gekränkt; dann beschloss er, ihn nie wiederzusehen; und unmittelbar darauf überkam ihn ein unerklärlich freudiges Gefühl der Erleichterung.
F. beendete den Bericht über sein Unglück, und nach einem Augenblick des Schweigens hellte sich sein Gesicht einer mumifizierten kleinen Prinzessin auf: »Erinnerst du dich an unsere Gespräche in der Schule?«
»Nicht wirklich«, sagte Jean-Marc.
»Ich habe dir immer wie meinem Lehrmeister zugehört, wenn du über Mädchen geredet hast.«
Jean-Marc versuchte, sich zu erinnern, fand in seinem Gedächtnis aber keine Spur der Gespräche von damals: »Was hätte ich, ein sechzehnjähriger Rotzjunge, denn über Mädchen sagen können?«
»Ich sehe mich vor dir stehen«, fuhr F. fort, »während du etwas über Mädchen sagtest. Erinnerst du dich, es schockierte mich immer, dass ein schöner Körper eine Sekretionsmaschine ist; ich habe dir gesagt, dass ich es kaum aushalten könnte zu sehen, wenn ein Mädchen sich schnäuzt. Ich sehe dich noch vor mir; du bist stehen geblieben, hast mich angesehen und in einem seltsam erfahrenen, aufrichtigen, festen Ton gesagt: Sich schnäuzt? Mir reicht es schon zu sehen, wie ihr Auge blinzelt, diese Bewegung des Lids über der Hornhaut, um einen fast unüberwindlichen Ekel zu verspüren. Erinnerst du dich?«
»Nein«, antwortete Jean-Marc.
»Wie konntest du das nur vergessen? Die Bewegung des Lids. So eine absonderliche Idee!«
Doch Jean-Marc sagte die Wahrheit; er erinnerte sich nicht. Im Übrigen versuchte er nicht einmal, es sich zu vergegenwärtigen. Er dachte an etwas anderes: das war der wahre und einzige Seinsgrund der Freundschaft: einen Spiegel zu liefern, in dem der andere sein einstiges Bild betrachten kann, das ohne das ewige Erinnerungsblabla unter Freunden schon lange ausgelöscht wäre.
»Das Lid. Erinnerst du dich wirklich nicht?«
»Nein«, sagte Jean-Marc, und dann im Stillen zu sich selbst: willst du denn nicht verstehen, dass ich auf den Spiegel pfeife, den du mir vorhältst?
Müdigkeit hatte F. überwältigt, der schwieg, als hätte die Erinnerung an das Lid ihn erschöpft.
»Du musst schlafen«, sagte Jean-Marc und stand auf.
Beim Verlassen des Krankenhauses verspürte er eine unwiderstehliche Lust, bei Chantal zu sein. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte er sich sofort auf den Weg gemacht. Bevor er in Brüssel ankam, hatte er sich vorgestellt, am nächsten Morgen ausgiebig im Hotel zu frühstücken und dann in aller Ruhe, ohne Übereilung loszufahren. Aber nach seiner Begegnung mit F. stellte er seinen Reisewecker auf fünf Uhr.
5
Müde nach einer schlechten Nacht verließ Chantal das Hotel. Unterwegs zum Strand begegnete sie Wochenendausflüglern. Die Gruppen entsprachen alle dem gleichen Schema: der Mann schob einen Sportwagen mit einem Baby darin, die Frau ging neben ihm; das Gesicht des Mannes war gutmütig, besorgt, freundlich, etwas verlegen, und er schien ständig bereit, sich zu dem Kind hinunterzubeugen, um es zu schnäuzen, um sein Geschrei zu beschwichtigen; das Gesicht der Frau war blasiert, zurückhaltend, selbstgefällig, manchmal sogar (unerklärlich) böse. Dieses Schema sah Chantal sich in verschiedenen Varianten wiederholen: der Mann neben einer Frau schob den Sportwagen und trug gleichzeitig ein Baby in einem speziellen Sack auf dem Rücken; der Mann neben einer Frau, ohne Sportwagen, hielt ein Kind an der Hand und trug drei weitere auf dem Rücken, vor dem Bauch und auf den Schultern. Schließlich schob eine Frau ohne Mann den Sportwagen; sie tat es mit einer den Männern unbekannten Energie, so dass Chantal, die auf demselben Bürgersteig ging, im letzten Moment einen Satz zur Seite machen musste.
Chantal denkt: Die Männer haben sich papaisiert. Sie sind keine Väter, sondern eben Papas, was bedeutet: Väter ohne die Autorität eines Vaters. Sie stellt sich vor, mit einem Papa zu flirten, der den Sportwagen mit einem Baby schiebt und zwei weitere auf dem Rücken und vor dem Bauch trägt; sie würde einen Moment ausnutzen, in dem die Ehefrau vor einem Schaufenster stehen bleibt, und dem Ehemann ein Rendezvous zuflüstern. Was würde er tun? Würde der in einen Kinderbaum verwandelte Mann sich noch nach einer Unbekannten umdrehen können? Würden die auf seinen Rücken und vor seinen Bauch gehängten Babys nicht gegen die störende Bewegung ihres Trägers anbrüllen? Dieser Gedanke erscheint ihr komisch und versetzt sie in gute Laune. Sie sagt sich: Ich lebe in einer Welt, in der die Männer sich nie mehr nach mir umdrehen werden.
Dann war sie auf einmal unter einigen Morgenspaziergängern auf dem Deich: es herrschte Ebbe; vor ihr erstreckte sich einen Kilometer weit die Sandebene. Es war lange her, dass sie am Meer der Normandie gewesen war, und sie kannte die Beschäftigungen nicht, die dort in Mode waren: Drachen steigen lassen und Strandsegeln. Der Drachen: ein über ein schrecklich hartes Skelett gespanntes farbiges Gewebe, das dem Wind überlassen wird. Mit zwei Schnüren, eine in jeder Hand, lenkt man ihn in verschiedene Richtungen, so dass er steigt und sinkt, schnelle Wendungen macht und ein grässliches Sirren von sich gibt wie eine riesengroße Bremse und sich hin und wieder mit der Nase voran in den Sand bohrt wie ein abstürzendes Flugzeug. Überrascht stellte sie fest, dass deren Besitzer weder Kinder noch Jugendliche waren, sondern fast lauter Erwachsene. Und nie Frauen, immer Männer. Tatsächlich, es waren die Papas! Die Papas ohne Kinder, die Papas, die es geschafft hatten, ihren Frauen zu entkommen! Sie liefen nicht zu irgendwelchen Geliebten, sie liefen an den Strand, um zu spielen!
Noch einmal kam ihr die Idee einer perfiden Verführung: sich von hinten dem Mann nähern, der die beiden Schnüre hält und mit zurückgelegtem Kopf den brausenden Flug seines Spielzeugs beobachtet; ihm mit den obszönsten Worten eine erotische Aufforderung ins Ohr flüstern. Seine Reaktion? Sie hegt keinen Zweifel: ohne sie anzusehen, würde er zischen: lass mich in Ruhe, ich bin beschäftigt!
O nein, die Männer werden sich nie mehr nach ihr umdrehen.
Sie ging zum Hotel zurück. Auf dem Parkplatz sah sie Jean-Marcs Auto. An der Rezeption erfuhr sie, dass er seit mindestens einer halben Stunde da war. Die Empfangsdame gab ihr eine Botschaft: Ich bin früher gekommen. Ich gehe dich suchen. J.-M.
»Er ist mich suchen gegangen«, seufzte Chantal. »Aber wo?«
»Der Herr hat gesagt, Sie wären bestimmt am Strand.«
6
Als Jean-Marc ans Meer ging, kam er an einer Bushaltestelle vorbei. Dort stand nur ein junges Mädchen in Jeans und T-Shirt; ohne große Begeisterung, aber doch ganz deutlich wackelte sie mit den Hüften, als würde sie tanzen. Als er ganz nah bei ihr war, sah er ihren weit offenen Mund: sie gähnte lange, unersättlich; dieses klaffende Loch wurde sanft von dem Körper gewiegt, der mechanisch tanzte. Jean- Marc dachte: sie tanzt, und sie langweilt sich. Er kam auf den Deich; unterhalb, am Strand, sah er Männer, die mit zurückgelegtem Kopf Drachen steigen ließen. Sie taten es mit Hingabe, und Jean-Marc fiel seine alte Theorie wieder ein: es gibt drei Arten von Langeweile: die passive Langeweile: das junge Mädchen, das tanzt und gähnt; die aktive Langeweile: die Drachenliebhaber; und die aufbegehrende Langeweile: die Jugendlichen, die Autos verbrennen und Schaufenster einschlagen.
Weiter hinten am Strand standen Gruppen von Kindern zwischen zwölf und vierzehn Jahren mit großen bunten Sturzhelmen, unter deren Gewicht ihre kleinen Körper einknickten, um eigenartige Wagen herum: an dem aus Metallstangen gebildeten Kreuz sind ein Vorderrad und zwei Hinterräder befestigt; in der Mitte, in eine niedrige, lange Kiste, kann ein Körper hineinschlüpfen und sich ausstrecken; darüber erhebt sich ein Mast mit einem Segel. Warum haben die Kinder Helme auf? Wahrscheinlich ist dieser Sport gefährlich. Dabei werden vor allem die Spaziergänger durch die von Kindern gelenkten Fahrzeuge gefährdet, sagt sich Jean-Marc; warum bietet man denen keinen Helm an? Weil diejenigen, die die organisierten Freizeitbeschäftigungen verschmähen, Deserteure des großen gemeinsamen Kampfes gegen die Langeweile sind und weder Beachtung noch Helm verdienen.
Er stieg die Treppe zum Strand hinunter und schaute aufmerksam zu dem zurückgezogenen Saum des Meeres; er versuchte unter den fernen Gestalten der Flanierenden Chantal zu erkennen; schließlich entdeckte er sie; sie war gerade stehen geblieben, um die Wellen, die Segelboote, die Wolken zu betrachten.
Er ging an den Kindern vorbei, die von einem Animateur in die Wagen gesetzt wurden; sie begannen langsam im Kreis zu fahren. Ringsum sausten andere Wagen vorbei. Nur das mit einer Leine bediente Segel sorgt für die richtige Richtung des Fahrzeugs und ermöglicht es, durch Wenden den Spaziergängern auszuweichen. Aber kann ein ungeschickter Anfänger das Segel wirklich lenken? Und ist das Fahrzeug wirklich so sicher, dass es auf den Willen des Fahrers reagiert?
Jean-Marc beobachtete die Wagen, und als er feststellte, dass einer mit der Geschwindigkeit eines Boliden auf Chantal zuraste, zog seine Stirn sich zusammen. Ein alter Mann lag darin wie ein Kosmonaut in einer Rakete. In dieser horizontalen Stellung kann er nicht sehen, was sich vor ihm befindet! Ist Chantal vorsichtig genug, um ihm auszuweichen? Er schimpfte auf sie, auf ihr allzu unbekümmertes Wesen, und beschleunigte den Schritt.
Sie drehte sich um. Aber bestimmt sah sie Jean-Marc nicht, denn ihr Gang blieb langsam, der Gang einer in ihre Gedanken versunkenen Frau, die geht, ohne sich umzusehen. Am liebsten würde er ihr zurufen, sie solle nicht so zerstreut sein, auf diese blöden Wagen achten, die am Strand herumfahren. Plötzlich stellt er sich ihren von dem Wagen überfahrenen Körper vor, sie liegt blutüberströmt im Sand, der Wagen entfernt sich am Strand, und er sieht sich zu ihr hinrennen. Er ist von diesem Bild so erschüttert, dass er wirklich anfängt, Chantals Namen zu rufen, der Wind ist stark, der Strand endlos, und seine Stimme ist für niemanden hörbar, daher kann er dieser Art von sentimentalem Theater frönen und mit Tränen in den Augen seine Angst um sie herausschreien. Das Gesicht zu einer Grimasse des Weinens verzogen, erlebt er einige Sekunden lang den Schrecken ihres Todes.
Dann, selbst erstaunt über diesen seltsamen Anfall von Hysterie, sah er sie in der Ferne gelassen, friedlich, ruhig, reizend, unendlich rührend spazieren gehen, und er lächelte über die Trauerkomödie, die er sich gerade vorgespielt hatte, er lächelte darüber, ohne sie sich vorzuwerfen, denn Chantals Tod begleitet ihn, seit er begonnen hat, sie zu lieben. Er fing wirklich an zu laufen und winkte ihr dabei zu. Doch sie blieb wieder stehen, wandte sich wieder dem Meer zu und betrachtete die Segelboote in der Ferne, ohne den Mann zu bemerken, der mit der Hand über seinem Kopf fuchtelte.
Endlich! Sie hatte sich in seine Richtung umgedreht und schien ihn zu sehen; überglücklich hob er noch einmal den Arm. Aber sie interessierte sich nicht für ihn und blieb stehen und ließ den Blick über die lange Linie des Meeres schweifen, das den Sand umspülte. Jetzt, da sie im Profil zu sehen war, stellte er fest, dass das, was er für ihren Chignon gehalten hatte, ein Tuch um den Kopf war. Während er sich ihr (mit einem plötzlich viel weniger eiligen Schritt) näherte, wurde diese Frau, von der er geglaubt hatte, sie sei Chantal, alt, hässlich und lächerlich anders.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ein Hotel in einer kleinen Stadt am Meer der Normandie, das sie zufällig in einem Führer gefunden hatten. Chantal kam Freitagabend an, um dort eine Nacht allein, ohne Jean-Marc, zu verbringen, der am nächsten Tag gegen Mittag nachkommen wollte. Sie stellte einen kleinen Koffer im Zimmer ab, ging hinaus und kehrte nach einem kurzen Spaziergang durch unbekannte Straßen in das Hotelrestaurant zurück. Um halb acht war der Saal noch leer. Sie setzte sich an einen Tisch und wartete darauf, dass jemand sie bemerkte. Auf der anderen Seite, neben der Küchentür standen zwei in eine Diskussion vertiefte Kellnerinnen. Da Chantal es hasste, laut zu rufen, stand sie auf, ging durch den Saal und blieb neben ihnen stehen. Sie waren jedoch zu sehr von ihrem Thema gefesselt: »Ich sage dir, das geht schon zehn Jahre. Ich kenne sie. Es ist furchtbar. Und es gibt keine Spur. Keine. Das Fernsehen hat darüber berichtet. « Die andere: »Was könnte ihm denn zugestoßen sein?« - »Man kann es sich einfach nicht vorstellen. Das ist ja das Schreckliche. « - »Ein Mord?« - »Die ganze Umgebung wurde abgesucht.« - »Eine Entführung?« - »Aber von wem? Und warum? Er war weder reich noch bedeutend. Sie sind im Fernsehen gezeigt worden. Seine Kinder, seine Frau. Diese Verzweiflung. Kannst du dir das vorstellen? «
Dann bemerkte sie Chantal. »Kennen Sie die Fernsehsendung über Vermisste? Aus den Augen verloren heißt sie.«
»Ja«, sagte Chantal.
»Vielleicht haben Sie gesehen, was der Familie Bourdieu zugestoßen ist. Die sind von hier.«
»Ja, es ist furchtbar«, sagte Chantal, die nicht wusste, wie sie von einer Diskussion über eine Tragödie zu der trivialen Frage nach dem Essen überleiten sollte.
»Sie wollen essen«, sagte schließlich die andere Kellnerin.
»Ja.«
»Ich rufe den Oberkellner, setzen Sie sich doch.«
Ihre Kollegin fügte noch hinzu: »Stellen Sie sich das mal vor, jemand, den Sie lieben, verschwindet, und Sie erfahren nie, was mit ihm ist! Das ist doch zum Verrücktwerden!«
Chantal kehrte an ihren Tisch zurück; fünf Minuten später kam der Oberkellner; sie bestellte ein ganz einfaches kaltes Gericht; sie isst ungern allein, ach, wie sie es hasst, allein zu essen!
Sie schnitt den Schinken auf ihrem Teller und konnte die von den Kellnerinnen in Gang gesetzten Gedanken nicht abstellen: in dieser Welt, wo jeder unserer Schritte kontrolliert und aufgezeichnet wird, wo uns in den Kaufhäusern Kameras überwachen, wo einer unablässig den anderen streift, wo der Mensch nicht einmal Liebe machen kann, ohne am nächsten Tag von Forschern und Meinungsforschern ausgefragt zu werden (»Wo machen Sie Liebe?« »Wie oft pro Woche?« »Mit oder ohne Präservativ?«), wie kann da jemand der Überwachung entgehen und spurlos verschwinden? Ja, sie kennt diese Sendung genau, deren Titel ihr Schrecken einflößt, Aus den Augen verloren, die einzige Sendung, von der sie sich durch ihre Aufrichtigkeit, ihre Traurigkeit erweichen lässt, als ob eine Einmischung aus einem Anderswo das Fernsehen gezwungen hätte, auf jede Frivolität zu verzichten; in ernstem Ton fordert ein Präsentator die Zuschauer auf, Zeugenaussagen zu machen, die womöglich dazu beitragen können, den Vermissten zu finden. Am Ende der Sendung werden nacheinander die Fotos aller »aus den Augen Verlorenen« gezeigt, um die es in den vorherigen Sendungen ging; manche sind schon seit elf Jahren unauffindbar.
Sie stellt sich vor, Jean-Marc eines Tages auf diese Weise zu verlieren. Nichts zu wissen, sich alles vorstellen zu müssen. Sie könnte sich nicht einmal das Leben nehmen, denn Selbstmord wäre Verrat, wäre die Weigerung zu warten, hieße die Geduld verlieren. Sie wäre dazu verurteilt, bis ans Ende ihrer Tage in ununterbrochenem Schrecken zu leben.
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Sie ist in ihr Zimmer hinaufgegangen, ist mühsam eingeschlafen und mitten in der Nacht nach einem langen Traum aufgewacht. Darin waren ausschließlich Menschen aus ihrer Vergangenheit vorgekommen: ihre Mutter (die seit langem tot war) und vor allem ihr früherer Mann (sie hat ihn seit Jahren nicht gesehen, und er glich ihm nicht, so als hätte der Regisseur des Traums sich bei der Besetzung geirrt); er war mit seiner herrschsüchtigen und energischen Schwester und seiner neuen Frau da (sie hat sie nie gesehen, doch im Traum hatte sie keinen Zweifel an ihrer Identität); am Ende machte er ihr vage erotische Anträge, und seine neue Frau küsste Chantal fest auf den Mund und versuchte, ihr die Zunge zwischen die Lippen zu schieben. Sich leckende Zungen haben ihr immer Ekel eingeflößt. Tatsächlich hat dieser Kuss sie geweckt.
Das von dem Traum hervorgerufene Unbehagen war so unmäßig, dass sie sich bemüht hat, den Grund dafür herauszufinden. Was sie so verstört hat, meint sie, ist die von dem Traum bewirkte Aufhebung der gegenwärtigen Zeit. Sie hängt nämlich sehr an ihrer Gegenwart, die sie für nichts in der Welt eintauschen würde, weder gegen die Vergangenheit noch gegen die Zukunft. Deshalb mag sie Träume nicht: sie verhängen eine unannehmbare Gleichheit der verschiedenen Epochen ein und desselben Lebens, eine alles, was der Mensch je erlebt hat, nivellierende Gleichzeitigkeit, sie setzen die Gegenwart herab, indem sie ihr ihre privilegierte Stellung absprechen. Wie in ihrem Traum in dieser Nacht: ein ganzes Stück ihres Lebens ist getilgt worden: Jean-Marc, ihre gemeinsame Wohnung, all die Jahre, die sie zusammengelebt haben; an ihrer Stelle hat sich die Vergangenheit breitgemacht, die Personen, mit denen sie seit langem gebrochen hat, und die versucht haben, sie im Netz einer banalen sexuellen Verführung einzufangen. Sie spürte auf ihrem Mund die feuchten Lippen einer Frau (einer nicht hässlichen, bei der Wahl der Schauspielerin ist der Regisseur des Traums ziemlich anspruchsvoll gewesen), und das war ihr derartig unangenehm, dass sie mitten in der Nacht ins Bad gegangen ist, um sich ausgiebig zu waschen und zu gurgeln.
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F. war ein uralter Freund von Jean-Marc, sie kannten sich seit dem Gymnasium; sie hatten die gleichen Ansichten, sie verstanden sich in allem und waren bis zu dem Tag in Kontakt geblieben, als Jean-Marc ihn vor einigen Jahren plötzlich und endgültig nicht mehr mochte und aufhörte, mit ihm zu verkehren. Als er erfuhr, dass F. schwer krank war und in einem Krankenhaus in Brüssel lag, hatte er keine Lust, ihn zu besuchen, aber Chantal bestand darauf, dass er hinfuhr.
Der Anblick des ehemaligen Freundes war erschütternd: er hatte ihn so im Gedächtnis behalten, wie er auf dem Gymnasium gewesen war, ein immer tadellos gekleideter zarter Junge von einer angeborenen Zierlichkeit, neben der Jean- Marc sich wie ein Rhinozeros fühlte. Die sensiblen, weichen Züge, die F. früher jünger erscheinen ließen, hatten ihn jetzt älter gemacht: sein Gesicht wirkte grotesk klein, geschrumpft, faltig wie der mumifizierte Kopf einer seit viertausend Jahren toten ägyptischen Prinzessin; Jean-Marc sah F.s Arme an: der eine war für die Infusion stillgelegt, eine Nadel steckte in der Vene, mit dem anderen machte er große Gesten, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Schon immer, wenn Jean- Marc ihn gestikulieren sah, hatte er den Eindruck, dass F.s Arme im Verhältnis zu seinem kleinen Körper noch kleiner waren, geradezu winzig, Marionettenarme.
Dieser Eindruck wurde an diesem Tag noch verstärkt, denn die kindlichen Gesten passten sehr schlecht zum Ernst des Gesagten: F. erzählte ihm von seinem Koma, das mehrere Tage angedauert hatte, bevor die Ärzte ihn ins Leben zurückholten: »Du kennst doch die Aussagen von Leuten, die ihren Tod überlebt haben. Tolstoi spricht in einer Novelle davon. Der Tunnel, und am Ende ein Licht. Die verlockende Schönheit des Jenseits. Aber ich schwöre dir, keinerlei Licht. Und, was noch schlimmer ist, keine Bewusstlosigkeit. Du weißt alles, du hörst alles, nur sie, die Ärzte, merken es nicht und erzählen vor dir alles Mögliche, auch das, was du nicht hören solltest. Dass du verloren bist. Dass dein Gehirn im Eimer ist.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Ich will damit nicht sagen, dass mein Geist völlig klar war. Mir war alles bewusst, aber alles war ein bisschen verzerrt, wie in einem Traum. Hin und wieder wurde der Traum zum Albtraum. Bloß, im Leben hört ein Albtraum schnell auf, du fängst an zu schreien und wachst auf, aber ich konnte nicht schreien. Und das war das Schrecklichste: nicht schreien zu können. Mitten im Albtraum unfähig zu sein zu schreien.«
Wieder schwieg er. Dann: »Ich hatte nie Angst vorm Sterben. Jetzt aber. Ich werde den Gedanken nicht los, dass man nach dem Sterben lebendig bleibt. Dass tot sein einen endlosen Albtraum träumen bedeutet. Aber lassen wir das. Lassen wir das. Reden wir von was anderem.«
Bevor Jean-Marc im Krankenhaus ankam, war er sicher, dass weder der eine noch der andere die Erinnerung an ihren Bruch würde umgehen können und dass er F. ein paar unaufrichtige Worte der Versöhnung würde sagen müssen. Seine Befürchtungen waren jedoch unbegründet: der Gedanke an den Tod machte alle anderen Themen nichtssagend. Mochte F. auch zu etwas anderem übergehen wollen, er fuhr fort, über seinen leidenden Körper zu sprechen. Dieser Bericht deprimierte Jean-Marc, erweckte aber keinerlei Zuneigung in ihm.
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Ist er wirklich so kalt, so unsensibel? Eines Tages, vor einigen Jahren, erfuhr er, dass F. ihn verraten hatte; ach, das Wort ist viel zu romantisch, bestimmt übertrieben, trotzdem hatte es ihn aus der Fassung gebracht: während einer Sitzung griffen alle Jean-Marc in seiner Abwesenheit an, was ihn später seine Stelle kostete. F. war bei dieser Sitzung anwesend. Er war da und sagte kein einziges Wort zu Jean- Marcs Verteidigung. Seine winzigen Arme, die so gern gestikulieren, machten nicht die geringste Bewegung zugunsten seines Freundes. Da Jean-Marc keinen Irrtum begehen wollte, überprüfte er gründlich, ob F. wirklich geschwiegen hatte. Als er vollkommen sicher war, fühlte er sich einige Minuten lang unendlich gekränkt; dann beschloss er, ihn nie wiederzusehen; und unmittelbar darauf überkam ihn ein unerklärlich freudiges Gefühl der Erleichterung.
F. beendete den Bericht über sein Unglück, und nach einem Augenblick des Schweigens hellte sich sein Gesicht einer mumifizierten kleinen Prinzessin auf: »Erinnerst du dich an unsere Gespräche in der Schule?«
»Nicht wirklich«, sagte Jean-Marc.
»Ich habe dir immer wie meinem Lehrmeister zugehört, wenn du über Mädchen geredet hast.«
Jean-Marc versuchte, sich zu erinnern, fand in seinem Gedächtnis aber keine Spur der Gespräche von damals: »Was hätte ich, ein sechzehnjähriger Rotzjunge, denn über Mädchen sagen können?«
»Ich sehe mich vor dir stehen«, fuhr F. fort, »während du etwas über Mädchen sagtest. Erinnerst du dich, es schockierte mich immer, dass ein schöner Körper eine Sekretionsmaschine ist; ich habe dir gesagt, dass ich es kaum aushalten könnte zu sehen, wenn ein Mädchen sich schnäuzt. Ich sehe dich noch vor mir; du bist stehen geblieben, hast mich angesehen und in einem seltsam erfahrenen, aufrichtigen, festen Ton gesagt: Sich schnäuzt? Mir reicht es schon zu sehen, wie ihr Auge blinzelt, diese Bewegung des Lids über der Hornhaut, um einen fast unüberwindlichen Ekel zu verspüren. Erinnerst du dich?«
»Nein«, antwortete Jean-Marc.
»Wie konntest du das nur vergessen? Die Bewegung des Lids. So eine absonderliche Idee!«
Doch Jean-Marc sagte die Wahrheit; er erinnerte sich nicht. Im Übrigen versuchte er nicht einmal, es sich zu vergegenwärtigen. Er dachte an etwas anderes: das war der wahre und einzige Seinsgrund der Freundschaft: einen Spiegel zu liefern, in dem der andere sein einstiges Bild betrachten kann, das ohne das ewige Erinnerungsblabla unter Freunden schon lange ausgelöscht wäre.
»Das Lid. Erinnerst du dich wirklich nicht?«
»Nein«, sagte Jean-Marc, und dann im Stillen zu sich selbst: willst du denn nicht verstehen, dass ich auf den Spiegel pfeife, den du mir vorhältst?
Müdigkeit hatte F. überwältigt, der schwieg, als hätte die Erinnerung an das Lid ihn erschöpft.
»Du musst schlafen«, sagte Jean-Marc und stand auf.
Beim Verlassen des Krankenhauses verspürte er eine unwiderstehliche Lust, bei Chantal zu sein. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, hätte er sich sofort auf den Weg gemacht. Bevor er in Brüssel ankam, hatte er sich vorgestellt, am nächsten Morgen ausgiebig im Hotel zu frühstücken und dann in aller Ruhe, ohne Übereilung loszufahren. Aber nach seiner Begegnung mit F. stellte er seinen Reisewecker auf fünf Uhr.
5
Müde nach einer schlechten Nacht verließ Chantal das Hotel. Unterwegs zum Strand begegnete sie Wochenendausflüglern. Die Gruppen entsprachen alle dem gleichen Schema: der Mann schob einen Sportwagen mit einem Baby darin, die Frau ging neben ihm; das Gesicht des Mannes war gutmütig, besorgt, freundlich, etwas verlegen, und er schien ständig bereit, sich zu dem Kind hinunterzubeugen, um es zu schnäuzen, um sein Geschrei zu beschwichtigen; das Gesicht der Frau war blasiert, zurückhaltend, selbstgefällig, manchmal sogar (unerklärlich) böse. Dieses Schema sah Chantal sich in verschiedenen Varianten wiederholen: der Mann neben einer Frau schob den Sportwagen und trug gleichzeitig ein Baby in einem speziellen Sack auf dem Rücken; der Mann neben einer Frau, ohne Sportwagen, hielt ein Kind an der Hand und trug drei weitere auf dem Rücken, vor dem Bauch und auf den Schultern. Schließlich schob eine Frau ohne Mann den Sportwagen; sie tat es mit einer den Männern unbekannten Energie, so dass Chantal, die auf demselben Bürgersteig ging, im letzten Moment einen Satz zur Seite machen musste.
Chantal denkt: Die Männer haben sich papaisiert. Sie sind keine Väter, sondern eben Papas, was bedeutet: Väter ohne die Autorität eines Vaters. Sie stellt sich vor, mit einem Papa zu flirten, der den Sportwagen mit einem Baby schiebt und zwei weitere auf dem Rücken und vor dem Bauch trägt; sie würde einen Moment ausnutzen, in dem die Ehefrau vor einem Schaufenster stehen bleibt, und dem Ehemann ein Rendezvous zuflüstern. Was würde er tun? Würde der in einen Kinderbaum verwandelte Mann sich noch nach einer Unbekannten umdrehen können? Würden die auf seinen Rücken und vor seinen Bauch gehängten Babys nicht gegen die störende Bewegung ihres Trägers anbrüllen? Dieser Gedanke erscheint ihr komisch und versetzt sie in gute Laune. Sie sagt sich: Ich lebe in einer Welt, in der die Männer sich nie mehr nach mir umdrehen werden.
Dann war sie auf einmal unter einigen Morgenspaziergängern auf dem Deich: es herrschte Ebbe; vor ihr erstreckte sich einen Kilometer weit die Sandebene. Es war lange her, dass sie am Meer der Normandie gewesen war, und sie kannte die Beschäftigungen nicht, die dort in Mode waren: Drachen steigen lassen und Strandsegeln. Der Drachen: ein über ein schrecklich hartes Skelett gespanntes farbiges Gewebe, das dem Wind überlassen wird. Mit zwei Schnüren, eine in jeder Hand, lenkt man ihn in verschiedene Richtungen, so dass er steigt und sinkt, schnelle Wendungen macht und ein grässliches Sirren von sich gibt wie eine riesengroße Bremse und sich hin und wieder mit der Nase voran in den Sand bohrt wie ein abstürzendes Flugzeug. Überrascht stellte sie fest, dass deren Besitzer weder Kinder noch Jugendliche waren, sondern fast lauter Erwachsene. Und nie Frauen, immer Männer. Tatsächlich, es waren die Papas! Die Papas ohne Kinder, die Papas, die es geschafft hatten, ihren Frauen zu entkommen! Sie liefen nicht zu irgendwelchen Geliebten, sie liefen an den Strand, um zu spielen!
Noch einmal kam ihr die Idee einer perfiden Verführung: sich von hinten dem Mann nähern, der die beiden Schnüre hält und mit zurückgelegtem Kopf den brausenden Flug seines Spielzeugs beobachtet; ihm mit den obszönsten Worten eine erotische Aufforderung ins Ohr flüstern. Seine Reaktion? Sie hegt keinen Zweifel: ohne sie anzusehen, würde er zischen: lass mich in Ruhe, ich bin beschäftigt!
O nein, die Männer werden sich nie mehr nach ihr umdrehen.
Sie ging zum Hotel zurück. Auf dem Parkplatz sah sie Jean-Marcs Auto. An der Rezeption erfuhr sie, dass er seit mindestens einer halben Stunde da war. Die Empfangsdame gab ihr eine Botschaft: Ich bin früher gekommen. Ich gehe dich suchen. J.-M.
»Er ist mich suchen gegangen«, seufzte Chantal. »Aber wo?«
»Der Herr hat gesagt, Sie wären bestimmt am Strand.«
6
Als Jean-Marc ans Meer ging, kam er an einer Bushaltestelle vorbei. Dort stand nur ein junges Mädchen in Jeans und T-Shirt; ohne große Begeisterung, aber doch ganz deutlich wackelte sie mit den Hüften, als würde sie tanzen. Als er ganz nah bei ihr war, sah er ihren weit offenen Mund: sie gähnte lange, unersättlich; dieses klaffende Loch wurde sanft von dem Körper gewiegt, der mechanisch tanzte. Jean- Marc dachte: sie tanzt, und sie langweilt sich. Er kam auf den Deich; unterhalb, am Strand, sah er Männer, die mit zurückgelegtem Kopf Drachen steigen ließen. Sie taten es mit Hingabe, und Jean-Marc fiel seine alte Theorie wieder ein: es gibt drei Arten von Langeweile: die passive Langeweile: das junge Mädchen, das tanzt und gähnt; die aktive Langeweile: die Drachenliebhaber; und die aufbegehrende Langeweile: die Jugendlichen, die Autos verbrennen und Schaufenster einschlagen.
Weiter hinten am Strand standen Gruppen von Kindern zwischen zwölf und vierzehn Jahren mit großen bunten Sturzhelmen, unter deren Gewicht ihre kleinen Körper einknickten, um eigenartige Wagen herum: an dem aus Metallstangen gebildeten Kreuz sind ein Vorderrad und zwei Hinterräder befestigt; in der Mitte, in eine niedrige, lange Kiste, kann ein Körper hineinschlüpfen und sich ausstrecken; darüber erhebt sich ein Mast mit einem Segel. Warum haben die Kinder Helme auf? Wahrscheinlich ist dieser Sport gefährlich. Dabei werden vor allem die Spaziergänger durch die von Kindern gelenkten Fahrzeuge gefährdet, sagt sich Jean-Marc; warum bietet man denen keinen Helm an? Weil diejenigen, die die organisierten Freizeitbeschäftigungen verschmähen, Deserteure des großen gemeinsamen Kampfes gegen die Langeweile sind und weder Beachtung noch Helm verdienen.
Er stieg die Treppe zum Strand hinunter und schaute aufmerksam zu dem zurückgezogenen Saum des Meeres; er versuchte unter den fernen Gestalten der Flanierenden Chantal zu erkennen; schließlich entdeckte er sie; sie war gerade stehen geblieben, um die Wellen, die Segelboote, die Wolken zu betrachten.
Er ging an den Kindern vorbei, die von einem Animateur in die Wagen gesetzt wurden; sie begannen langsam im Kreis zu fahren. Ringsum sausten andere Wagen vorbei. Nur das mit einer Leine bediente Segel sorgt für die richtige Richtung des Fahrzeugs und ermöglicht es, durch Wenden den Spaziergängern auszuweichen. Aber kann ein ungeschickter Anfänger das Segel wirklich lenken? Und ist das Fahrzeug wirklich so sicher, dass es auf den Willen des Fahrers reagiert?
Jean-Marc beobachtete die Wagen, und als er feststellte, dass einer mit der Geschwindigkeit eines Boliden auf Chantal zuraste, zog seine Stirn sich zusammen. Ein alter Mann lag darin wie ein Kosmonaut in einer Rakete. In dieser horizontalen Stellung kann er nicht sehen, was sich vor ihm befindet! Ist Chantal vorsichtig genug, um ihm auszuweichen? Er schimpfte auf sie, auf ihr allzu unbekümmertes Wesen, und beschleunigte den Schritt.
Sie drehte sich um. Aber bestimmt sah sie Jean-Marc nicht, denn ihr Gang blieb langsam, der Gang einer in ihre Gedanken versunkenen Frau, die geht, ohne sich umzusehen. Am liebsten würde er ihr zurufen, sie solle nicht so zerstreut sein, auf diese blöden Wagen achten, die am Strand herumfahren. Plötzlich stellt er sich ihren von dem Wagen überfahrenen Körper vor, sie liegt blutüberströmt im Sand, der Wagen entfernt sich am Strand, und er sieht sich zu ihr hinrennen. Er ist von diesem Bild so erschüttert, dass er wirklich anfängt, Chantals Namen zu rufen, der Wind ist stark, der Strand endlos, und seine Stimme ist für niemanden hörbar, daher kann er dieser Art von sentimentalem Theater frönen und mit Tränen in den Augen seine Angst um sie herausschreien. Das Gesicht zu einer Grimasse des Weinens verzogen, erlebt er einige Sekunden lang den Schrecken ihres Todes.
Dann, selbst erstaunt über diesen seltsamen Anfall von Hysterie, sah er sie in der Ferne gelassen, friedlich, ruhig, reizend, unendlich rührend spazieren gehen, und er lächelte über die Trauerkomödie, die er sich gerade vorgespielt hatte, er lächelte darüber, ohne sie sich vorzuwerfen, denn Chantals Tod begleitet ihn, seit er begonnen hat, sie zu lieben. Er fing wirklich an zu laufen und winkte ihr dabei zu. Doch sie blieb wieder stehen, wandte sich wieder dem Meer zu und betrachtete die Segelboote in der Ferne, ohne den Mann zu bemerken, der mit der Hand über seinem Kopf fuchtelte.
Endlich! Sie hatte sich in seine Richtung umgedreht und schien ihn zu sehen; überglücklich hob er noch einmal den Arm. Aber sie interessierte sich nicht für ihn und blieb stehen und ließ den Blick über die lange Linie des Meeres schweifen, das den Sand umspülte. Jetzt, da sie im Profil zu sehen war, stellte er fest, dass das, was er für ihren Chignon gehalten hatte, ein Tuch um den Kopf war. Während er sich ihr (mit einem plötzlich viel weniger eiligen Schritt) näherte, wurde diese Frau, von der er geglaubt hatte, sie sei Chantal, alt, hässlich und lächerlich anders.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris. Uli Aumüller lebt in Berlin. Sie übersetzt u.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Milan Kundera und Siri Hustvedt. Für ihre Übersetzungen erhielt sie u.a. den Paul Celan-Preis und den Jane Scatcherd-Preis.Grete Osterwald lebt als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen in Frankfurt am Main. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Georges Duby, Jacques Chessex, Hédi Kaddour sowie Nicole Krauss, Lloyd Jones und J.G. Farrell.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2000, 9. Aufl., 160 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Uli Aumüller
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596143578
- ISBN-13: 9783596143573
- Erscheinungsdatum: 14.03.2001
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