Die Karte meiner Träume
Roman. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010, Kategorie Jugendbuch
T. S. Spivet ist zwölf Jahre alt und ein genialer Kartograph. Denn er weiß genau, dass nichts von Dauer ist. Der Whiskykonsum seines Vaters wird ebenso in Diagrammen festgehalten wie die Anatomie von Glühwürmchen. Inmitten seiner merkwürdigen Familie lebt...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Karte meiner Träume “
Klappentext zu „Die Karte meiner Träume “
T. S. Spivet ist zwölf Jahre alt und ein genialer Kartograph. Denn er weiß genau, dass nichts von Dauer ist. Der Whiskykonsum seines Vaters wird ebenso in Diagrammen festgehalten wie die Anatomie von Glühwürmchen. Inmitten seiner merkwürdigen Familie lebt er auf einer Ranch in einem flachen Tal in Montana. Eines Nachts begibt sich T.S. auf die Reise nach Washington und damit in ein unglaubliches Abenteuer.Reif Larsens Debüt ist ein Juwel: Ein mit vielen Karten und wundervollen Zeichnungen versehener Roman über Freundschaft, Kindheit, Schuld und über Zuhausesein. Ergreifend, geheimnisvoll und verspielt, ein wahres Feuerwerk von Gefühlen und Ideen.
»Die Karte meiner Träume« besitzt den Schimmer eines alten Hollywood-Films und ist gleichzeitig aufeinzigartige Weise neu.
Lese-Probe zu „Die Karte meiner Träume “
Die Karte meiner Träume von Reif Larsen1. Kapitel
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Der Anruf kam an einem späten Augustnachmittag, als meine ältere Schwester Gracie und ich auf der
Gartenveranda saßen und Maiskolben putzten. Auf den großen Blecheimern, die wir dafür hatten, waren immer noch deutlich die kleinen Bissspuren vom Frühjahr zu sehen, als Verywell, unser Ranchhund, aus lauter Kummer versucht hatte, Blech zu fressen.
Vielleicht sollte ich genauer sein. Wenn ich sage, dass Gracie und ich Maiskolben putzten, dann meine ich, dass Gracie Maiskolben putzte, und ich saß dabei und zeichnete in einem meiner kleinen blauen Spiral-Notizbücher ein Diagramm davon, genau wie sie die Maiskolben putzte.
Alle meine Notizbücher hatten ihre eigenen Farben, je nachdem, was ich darin festhielt. Die blauen Notizbücher, die säuberlich aufgereiht an der Südwand meines Zimmers standen, waren reserviert für »Darstellungen von Leuten, die Dinge tun«, im Gegensatz zu den grünen Notizbüchern an der Ostwand, die zoologische, geologische und topographische Darstellungen enthielten, und den roten Notizbüchern an der Westwand, in denen ich die Anatomie von Insekten festhielt, für den Fall, dass meine Mutter, Dr. Clair Linneaker Spivet, jemals meine Dienste in Anspruch nahm.
Einmal hatte ich versucht, auch an der Nordwand Bücher aufzustellen, doch in der Begeisterung, mit der ich Ordnung schuf, hatte ich vorübergehend vergessen, dass dies die Wand war, in der sich die Tür zu meinem Zimmer befand, und als Dr. Clair sie öffnete, um mir zu sagen, dass das Essen fertig war, fiel mir das Regal auf den Kopf.
Da saß ich auf meinem Lewis-und-Clark-Teppich, bedeckt mit Notizbüchern und Regalbrettern. »Bin ich tot?«, fragte ich, aber ich wusste genau, dass sie mir nie geantwortet hätte, nicht einmal wenn ich es wirklich gewesen wäre.
»Lass dich nie von deiner Arbeit in die Enge treiben«, sagte Dr. Clair durch die Tür.
Unser Ranchhaus lag ein wenig außerhalb von Divide, Montana, einer winzig kleinen Stadt, die man bei der Fahrt auf dem Highway leicht übersehen konnte, wenn man gerade einen Knopf am Autoradio drehte. Divide war von den Pioneer Mountains umgeben, den Pionierbergen; es duckte sich in ein flaches Tal mit spärlichen Beifußbüschen und den verkohlten Resten von Häusern, ein Zeugnis davon, dass zuzeiten tatsächlich einmal Menschen hier gelebt hatten. Die Bahnstrecke kam von Norden hinzu, der Big Hole, unser Fluss, kam von Westen, und beide zogen südwärts weiter auf der Suche nach grüneren Wiesen. Jeder der beiden hatte seine eigene Art, wie er sich in der Landschaft bewegte, und jeder hatte seinen eigenen Geruch: die Eisenbahn immer gerade voran, ohne Rücksicht auf den Fels, den sie zerschnitt, und der Stahl der Schienen roch wie Wagenschmiere, und die Schwellen rochen wie ranziger Schellack mit Lakritzaroma. Der Big Hole dagegen, der unterhielt sich mit dem Land auf seiner Schlängeltour durch das Tal, sammelte unterwegs Bäche ein, nahm friedlich den Weg des geringsten Widerstands. Der Big Hole roch nach Moos und Schlamm und Salbei und manchmal nach Heidelbeeren - wenn es die richtige Jahreszeit war; doch seit vielen Jahren war nun schon nicht mehr die richtige Jahreszeit gewesen.
Heutzutage hielt keine Eisenbahn mehr in Divide, und nur noch Güterzüge der Union Pacific rumpelten durch das Tal, um 6 Uhr 44 und 11 Uhr 53 und um 17 Uhr 15, mal ein oder zwei Minuten früher oder später, je nach Wetter. Die große Zeit der Bergbaustädte von Montana war lange vorüber; es gab keinen Grund mehr, weswegen die Züge noch hätten halten sollen.
Früher hatte Divide einen Saloon gehabt.
»Der Blue Moon Saloon«, sagten mein Bruder Layton und ich immer majestätisch, wenn wir uns im Bach treiben ließen, als ob nur vornehme Herrschaften dies Etablissement frequentierten, obwohl, wenn man es heute mit Abstand betrachtet, wohl eher das Gegenteil der Fall war; heute war Divide eher eine Stadt der letzten Rancher, die noch nicht aufgegeben hatten, der fanatischen Angler, des gelegentlichen Bombenlegers - nicht der Dandys und Stutzer, die sich im Saloon vergnügt hätten.
Layton und ich waren nie im Blue Moon gewesen, doch die Spekulationen darüber, wer und was dort drinnen sein mochte, lieferten Stoff für immer neue Tagträume, wenn wir dort auf dem Rücken im Wasser lagen. Bald darauf war Layton gestorben, und das Blue Moon war abgebrannt, doch da beschäftigte es meine Phantasie schon nicht mehr, nicht einmal, als es in Flammen stand; es war einfach nur eines von vielen Häusern, die unten im Tal niederbrannten.
Wenn man an der Stelle stand, wo früher einmal der Bahnsteig gewesen war, neben dem verrosteten weißen Schild, auf dem sich, wenn man die Augen auf eine bestimmte Weise zusammenkniff, immer noch entziffern ließ - wenn man sich an dieser Stelle genau nach Norden wandte, mit Hilfe von Sonne, Sternen, Kompass oder Intuition, und dann 4,73 Meilen ging, sich einen Weg durch das dichte Gebüsch oberhalb des Flusslaufs bahnte, dann hinauf in die Berge mit den Douglasfichten, dann kam man genau am Tor unserer kleinen Ranch an, Coppertop, gelegen auf einem einsamen Plateau in 5 343 Fuß - 1 628,5 Metern - Höhe, einen Steinwurf von der kontinentalen Wasserscheide entfernt, der Continental Divide, von der die Stadt ihren Namen ableitete.
Ja, die Kontinentalscheide - mit dieser großen Grenzlinie im Rücken war ich aufgewachsen, und ihre stille, verlässliche Existenz hatte meine Gedanken, ja meinen Körper ganz durchdrungen. Die Wasserscheide war eine reale, gewaltige Grenze, und weder Politik, Religion noch Krieg hatten sie festgelegt, sondern Tektonik, Stein und Schwerkraft. Kein amerikanischer Präsident hatte diese Grenze mit seiner Unterschrift ins Leben gerufen, und doch hatte sie mit ihrem Verlauf die Westexpansion der Vereinigten Staaten auf unzählige Art und Weise und dabei fast unbemerkt beeinflusst. Die gezackte Höhenlinie schied die Wasser des Kontinents in Ost und West, in Atlantik und Pazifik - draußen im Westen war Wasser Gold, und wohin das Wasser floss, dahin folgten ihm die Menschen. Die Regentropfen, die anderthalb Meilen von unserer Ranch niedergingen, sammelten sich in Bächen, die durch das weite Netz des Columbia River zum Pazifischen Ozean flossen, doch das Wasser im Feely Creek, unserem Bach, hatte tausend Meilen mehr zurückzulegen, bis hinunter in die Bayous von Louisiana, wo es sich in einem lehmgelben Delta in den Golf von Mexiko ergoss.
Layton und ich kletterten oft auf den Bald Man's Gap, den exakten Scheitelpunkt - er eifrig bemüht, nicht das Glas Wasser zu verschütten, das er mit beiden Händen trug, ich mit einer primitiven Lochkamera, die ich aus einem Schuhkarton gebastelt hatte. Ich machte Aufnahmen von ihm, wie er Wasser auf der einen und dann auf der anderen Seite des Grats ausgoss und abwechselnd »Hallo, Portland!« und »Hallo, New Orleans!« rief - genauer gesagt brüllte er »Hello, N'Awlins!« mit seinem schönsten Kreolen-Akzent. Doch sosehr ich auch die Rädchen seitlich am Kasten drehte, konnten diese Bilder nie das Heroische von Layton in solchen Augenblicken festhalten.
Einmal nach einer unserer Expeditionen saß Layton am Abendbrottisch und sagte: »Von einem Fluss können wir eine Menge lernen, stimmt's, Dad?« Und auch wenn Vater damals nichts darauf antwortete, sah man doch an der Art, wie er den Rest seines Kartoffelbreis verzehrte, dass er solche Gedanken bei seinem Sohn zu schätzen wusste. Vater liebte Layton mehr als alles andere auf der Welt.
Draußen auf der Veranda putzte Gracie Mais, und ich machte mein Diagramm dazu. Grillen und Grasböcke überzogen die Felder unserer Ranch mit ihrem Gezirp und Gebrumm, der August umwehte uns - heiß, schwer, eindrucksvoll. Montana leuchtete im Sommer. Gerade in der Woche zuvor hatte ich zugesehen, wie das erste Morgenlicht langsam und lautlos auf dem weichen Fichtenkamm der Pioneer Mountains erschienen war. Ich war die ganze Nacht über auf gewesen und hatte an einem Schaubild gezeichnet, bei dem eine alte Darstellung des menschlichen Körpers aus der Qin-Dynastie über ein Triptychon der Begriffe vom Innenleben eines Menschen bei den Navajo, Schoschonen und Cheyenne gelegt wurde.
Als der Tag anbrach, ging ich barfuß, wie in Trance, hinaus auf die Gartenveranda. Selbst in meinem übernächtigten Zustand spürte ich, dass dies ein magischer Moment war, den ich ganz für mich allein hatte. So legte ich die Hände hinter den Rücken, hielt den kleinen Finger umfasst, bis die Sonne sich schließlich von den Pioneers gelöst hatte und mich ansah mit ihrem unergründlichen Gesicht.
Tief beeindruckt setzte ich mich auf die Verandatreppe, und die Holzbohlen, raffinierte Biester, nutzten die Gelegenheit, mich in ein Gespräch zu verwickeln:
Hier draußen, da sind nur wir zwei, mein Freund, sagte die Veranda, lass uns ein stilles Lied zusammen singen.
Ich habe zu tun, sagte ich.
Was hast du denn zu tun?
Ich weiß nicht ... hier auf der Ranch eben.
Du bist doch gar kein Rancherjunge.
Nicht?
Du pfeifst keine Cowboylieder und spuckst nicht in Blechnäpfe. Spucken kann ich nicht, sagte ich. Ich mache Karten und Diagramme.
Karten?, fragte die Veranda. Landkarten? Was ist denn da schon dran? Spuck lieber in Blechnäpfe. Reite mal aus. Nimm das Leben leicht.
An einer Landkarte ist eine Menge dran. Ich habe keine Zeit, um das Leben leichtzunehmen. Ich weiß nicht mal, was das überhaupt heißen soll.
Du bist kein Rancherjunge. Du bist ein Dummkopf.
Ich bin kein Dummkopf, sagte ich. Und dann: Meinst du wirklich?
Du bist einsam, sagte die Veranda.
Bin ich das?
Ja wo steckt er denn?
Ich weiß es nicht.
Doch, du weißt es.
Stimmt.
Dann setz dich her und pfeif ein einsames Cowboylied.
Ich bin noch nicht fertig mit meinen Landkarten. Es gibt noch viel zu kartieren.
Gracie und ich putzten Maiskolben, und Dr. Clair kam heraus auf die Veranda. Gracie und ich blickten beide auf, als wir die alten Dielen unter Dr. Clairs Schritten knarren hörten. Fest zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie eine Nadel, an deren Spitze in hellem Blaugrün-metallic ein Käfer schimmerte, den ich sogleich als Cicindela purpurea lauta erkannte, eine seltene Subspezies dieses Sandlaufkäfers aus Oregon.
Meine Mutter war eine groß gewachsene, hagere Frau, und ihre Haut war dermaßen bleich, dass Leute uns oft anstarrten, wenn wir ihnen auf der Straße in Butte begegneten. Einmal hörte ich, wie eine ältere Frau im geblümten Sonnenhut zu ihrer Begleiterin sagte: »Was für dünne Handgelenke!« Und es stimmte schon: wäre sie nicht meine Mutter gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch gedacht, dass etwas mit ihr komisch war.
Dr. Clair trug ihr dunkles Haar zu einem Knoten gebunden; zusammengehalten wurde er von zwei polierten Nadeln, die wie Knochen aussahen. Nur zur Nacht ließ sie ihr Haar herunter, und nur hinter verschlossenen Türen. Als wir noch jünger waren, verfolgten Gracie und ich oft abwechselnd durchs Schlüsselloch die geheime Toilettenszene auf der anderen Seite. Durch das Loch konnte man nur einen kleinen Ausschnitt sehen: nur ihren Ellbogen, der sich hin und her bewegte, hin und her, als sitze sie an einem alten Webstuhl; nur wenn man sich verrenkte, konnte man mit Glück auch ein wenig von dem Haar sehen, durch das immer und immer wieder der Kamm fuhr, der dabei ein leises, mahlendes Geräusch machte. Das Schlüsselloch, die Blicke, das Geräusch: all das kam uns damals wunderbar verwegen vor.
Layton, genau wie Vater, interessierte sich für nichts, was mit Schönheit oder Hygiene zu tun hatte, und war deshalb bei diesen Spielen nie dabei. Er gehörte zu Vater, aufs Feld, wo sie Kühe scheuchten und Wildpferde zuritten.
Dr. Clair trug Unmengen klimpernden grünen Schmuck- Chrysolith-Ohrringe, Armbänder aus kleinen glitzernden Saphiren - selbst die Kette, an der ihre Brille um den Hals baumelte, war aus grünem Malachit, den sie einmal auf einer Expedition in Indien gefunden hatte. Manchmal kam sie mir mit den Stäbchen im Haar und all dem sanften smaragdgrünen Schmuck wie eine Birke im Frühling vor, bei der sich schon im nächsten Moment die Blüten öffnen würden.
Einen Augenblick lang stand sie nur da, musterte Gracie, mit dem großen Blecheimer voller gelber Maiskolben zwischen den Beinen, und mich, auf der Treppe, mit meinem Notizbuch und der Stirnlupe. Wir sahen sie an.
Und dann sagte sie: »Telefon für dich, T. S.«
»Telefon? Für ihn?«, fragte Gracie, schockiert.
»Ja, Gracie, der Anruf ist für T. S.«, sagte Dr. Clair, nicht ohne eine gewisse Genugtuung.
»Wer ist es?«, fragte ich.
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe nicht gefragt«, antwortete meine Mutter und ließ dabei noch immer ihren Laufkäfer im Licht flirren. Dr. Clair war die Art von Mutter, die zwar ihren Kindern das Periodensystem beibrachte, während sie sie mit Brei fütterte, die aber auch in Zeiten von Kindesentführung und weltweitem Terrorismus nicht auf die Idee gekommen wäre zu fragen, wer ihre Kinder am Telefon sprechen wollte.
Meine Neugier, wer wohl am Apparat sein mochte, trat in Konflikt mit der Tatsache, dass ich ja gerade dabei war, mein Diagramm zu zeichnen, und eine nicht vollendete Zeichnung hinterließ bei mir immer ein würgendes Gefühl hinten im Hals.
Bei meinem Diagramm »Gracie zuckermaisputzend Nr. 6« hatte ich eine kleine Ziffer an die Stelle gesetzt, an der sie ihren ersten Kolben an dessen Oberende in die Hand genommen hatte. Dann machte sie drei abrupte Handbewegungen abwärts: rupf, rupf, rupf, und diese hatte ich mit drei Pfeilen dargestellt, wobei einer davon kleiner als die beiden anderen war, denn der Anfang war ein wenig mühsam, beim ersten Hüllblatt leistete der Kolben noch Widerstand. Ich liebe dieses Geräusch, wenn die Blätter abgerupft werden. Dieser Laut hat etwas Gewaltsames, zuerst reibend, dann ein kleiner Plopp, wenn das seidige organische Gewebe reißt; ein Laut, bei dem ich mir vorstelle, dass jemand in einem Anfall von Wahnsinn, den er schon im nächsten Moment bereuen wird, eine teure, womöglich italienische Hose zerreißt. Jedenfalls war das die Art, wie Gracie Maiskolben putzte oder, wie ich manchmal sagte, Putzmeisen kolbte - es war ein kleines bisschen frech, denn irgendwie ärgerte sich meine Mutter immer, wenn ich Wörter verdrehte. Man konnte ihr das nicht verdenken - schließlich war sie Käferforscherin und hatte fast ihr gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht, winzige Geschöpfe unter dem Vergrößerungsglas zu studieren und sie dann säuberlich in Familien und Großfamilien zu klassifizieren, in Spezies und Subspezies nach körperlichen Eigenheiten und entwicklungsmäßigem Stand. Wir hatten sogar ein Bild von Carl von Linné, dem schwedischen Erfinder unseres heutigen taxonomischen Systems, über dem Kamin hängen, wogegen mein Vater stumm, doch beharrlich protestierte. Da war es also in gewisser Weise konsequent, dass Dr. Clair sich ärgerte, wenn ich »Grasschlüpfer« statt »Grashüpfer« sagte oder »Leckerkacke« statt »Kakerlake«, denn ihre Arbeit bestand darin, auf winzig kleine Unterschiede zu achten, auf Details, die das menschliche Auge überhaupt nicht mehr wahrnehmen konnte, denn ein Haar an der Spitze der Mandibeln oder ein kleiner weißer Fleck am Hinterleib bedeutete, dass es sich bei dem Käfer um einen C. purpurea purpurea handelte, und nicht um einen C. purpurea lauta.
Ich persönlich fand, dass meine Mutter sich weniger Gedanken um meinen phantasievollen Umgang mit der Sprache hätte machen sollen, was nur eine Art mentales Aerobic war, wie alle gesunden zwölfjährigen Jungen es trieben, und sich eher um die milde Form von Irrsinn kümmern, die von Gracie Besitz ergriff, wenn sie die Putzmeisen kolbte, und die so gar nicht zu dem Eindruck passte, den sie sonst gerne machte, nämlich den einer Erwachsenen, die im Körper eines sechzehnjährigen Mädchens gefangen saß - für meine Begriffe ein untrügliches Zeichen eines Konfliktes, mit dem sie sich bisher nicht auseinandergesetzt hatte. Ich glaube, niemand würde mir widersprechen, wenn ich sagte, dass Gracie, auch wenn sie nur vier Jahre älter war als ich, mir, was die Reife der Persönlichkeit, was Vernunft, Kenntnisse in den Gepflogenheiten des geselligen Umgangs der Menschen miteinander und die Fähigkeit, ihre Verstellungen zu erkennen, anging, um viele Jahre voraus war. Vielleicht war der irre Blick, den sie hatte, wenn sie Mais putzte, nichts weiter als das: eine Pose; nur ein weiteres Indiz, dass in Gracie eine unentdeckte Schauspielerin schlummerte, die ihr Talent schärfte, während sie eine der vielen trivialen Haushaltsarbeiten auf einer Ranch in Montana verrichtete. Vielleicht war das so - obwohl ich persönlich eher der Ansicht war, dass hinter der blitzsauberen Fassade etwas nicht stimmte.
Ja, Gracie. Dr. Clair fand, dass sie einfach großartig als Hauptdarstellerin ihrer Highschool-Aufführung der Piraten von Penzance gewesen war; ich selbst hatte mich nicht vergewissern können, denn ich saß damals gerade an einem Schaubild für die Zeitschrift Science, das zeigte, wie das Weibchen des australischen Mistkäfers Onthophagus sagittarius bei der Kopulation seine Hörner einsetzte. Ich hatte Dr. Clair nichts von diesem Projekt erzählt. Ich habe getan, als hätte ich Magenschmerzen, und dann habe ich Verywell Beifuß zu fressen gegeben, den er überall auf der Veranda auskotzte, und getan, als ob es von mir sei - behauptet, ich hätte Beifuß und Mäuseknochen und Hundefutter ausgekotzt. Wahrscheinlich war Gracie wunderbar als Piratenbraut. Gracie war überhaupt eine wunderbare Frau, wohl die einzige halbwegs Normale in unserer Familie, denn wenn man es einmal so richtig betrachtete, war Dr. Clair eine erfolglose Koleopterologin, die zwanzig Jahre lang einem Phantomkäfer nachgejagt war - dem Tigermönch, Cicindela nosferatie -, von dem nicht einmal sie sich sicher war, dass er wirklich existierte; und mein Vater, Tecumseh Elijah Spivet, war ein wortkarger, verschrobener Rancher, der ins Zimmer kam und Sachen sagte wie: »Eine Grille, die lässt sich nichts vormachen«, und dann einfach wieder ging; ein Mann, der vielleicht hundert Jahre zu spät geboren war.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Der Anruf kam an einem späten Augustnachmittag, als meine ältere Schwester Gracie und ich auf der
Gartenveranda saßen und Maiskolben putzten. Auf den großen Blecheimern, die wir dafür hatten, waren immer noch deutlich die kleinen Bissspuren vom Frühjahr zu sehen, als Verywell, unser Ranchhund, aus lauter Kummer versucht hatte, Blech zu fressen.
Vielleicht sollte ich genauer sein. Wenn ich sage, dass Gracie und ich Maiskolben putzten, dann meine ich, dass Gracie Maiskolben putzte, und ich saß dabei und zeichnete in einem meiner kleinen blauen Spiral-Notizbücher ein Diagramm davon, genau wie sie die Maiskolben putzte.
Alle meine Notizbücher hatten ihre eigenen Farben, je nachdem, was ich darin festhielt. Die blauen Notizbücher, die säuberlich aufgereiht an der Südwand meines Zimmers standen, waren reserviert für »Darstellungen von Leuten, die Dinge tun«, im Gegensatz zu den grünen Notizbüchern an der Ostwand, die zoologische, geologische und topographische Darstellungen enthielten, und den roten Notizbüchern an der Westwand, in denen ich die Anatomie von Insekten festhielt, für den Fall, dass meine Mutter, Dr. Clair Linneaker Spivet, jemals meine Dienste in Anspruch nahm.
Einmal hatte ich versucht, auch an der Nordwand Bücher aufzustellen, doch in der Begeisterung, mit der ich Ordnung schuf, hatte ich vorübergehend vergessen, dass dies die Wand war, in der sich die Tür zu meinem Zimmer befand, und als Dr. Clair sie öffnete, um mir zu sagen, dass das Essen fertig war, fiel mir das Regal auf den Kopf.
Da saß ich auf meinem Lewis-und-Clark-Teppich, bedeckt mit Notizbüchern und Regalbrettern. »Bin ich tot?«, fragte ich, aber ich wusste genau, dass sie mir nie geantwortet hätte, nicht einmal wenn ich es wirklich gewesen wäre.
»Lass dich nie von deiner Arbeit in die Enge treiben«, sagte Dr. Clair durch die Tür.
Unser Ranchhaus lag ein wenig außerhalb von Divide, Montana, einer winzig kleinen Stadt, die man bei der Fahrt auf dem Highway leicht übersehen konnte, wenn man gerade einen Knopf am Autoradio drehte. Divide war von den Pioneer Mountains umgeben, den Pionierbergen; es duckte sich in ein flaches Tal mit spärlichen Beifußbüschen und den verkohlten Resten von Häusern, ein Zeugnis davon, dass zuzeiten tatsächlich einmal Menschen hier gelebt hatten. Die Bahnstrecke kam von Norden hinzu, der Big Hole, unser Fluss, kam von Westen, und beide zogen südwärts weiter auf der Suche nach grüneren Wiesen. Jeder der beiden hatte seine eigene Art, wie er sich in der Landschaft bewegte, und jeder hatte seinen eigenen Geruch: die Eisenbahn immer gerade voran, ohne Rücksicht auf den Fels, den sie zerschnitt, und der Stahl der Schienen roch wie Wagenschmiere, und die Schwellen rochen wie ranziger Schellack mit Lakritzaroma. Der Big Hole dagegen, der unterhielt sich mit dem Land auf seiner Schlängeltour durch das Tal, sammelte unterwegs Bäche ein, nahm friedlich den Weg des geringsten Widerstands. Der Big Hole roch nach Moos und Schlamm und Salbei und manchmal nach Heidelbeeren - wenn es die richtige Jahreszeit war; doch seit vielen Jahren war nun schon nicht mehr die richtige Jahreszeit gewesen.
Heutzutage hielt keine Eisenbahn mehr in Divide, und nur noch Güterzüge der Union Pacific rumpelten durch das Tal, um 6 Uhr 44 und 11 Uhr 53 und um 17 Uhr 15, mal ein oder zwei Minuten früher oder später, je nach Wetter. Die große Zeit der Bergbaustädte von Montana war lange vorüber; es gab keinen Grund mehr, weswegen die Züge noch hätten halten sollen.
Früher hatte Divide einen Saloon gehabt.
»Der Blue Moon Saloon«, sagten mein Bruder Layton und ich immer majestätisch, wenn wir uns im Bach treiben ließen, als ob nur vornehme Herrschaften dies Etablissement frequentierten, obwohl, wenn man es heute mit Abstand betrachtet, wohl eher das Gegenteil der Fall war; heute war Divide eher eine Stadt der letzten Rancher, die noch nicht aufgegeben hatten, der fanatischen Angler, des gelegentlichen Bombenlegers - nicht der Dandys und Stutzer, die sich im Saloon vergnügt hätten.
Layton und ich waren nie im Blue Moon gewesen, doch die Spekulationen darüber, wer und was dort drinnen sein mochte, lieferten Stoff für immer neue Tagträume, wenn wir dort auf dem Rücken im Wasser lagen. Bald darauf war Layton gestorben, und das Blue Moon war abgebrannt, doch da beschäftigte es meine Phantasie schon nicht mehr, nicht einmal, als es in Flammen stand; es war einfach nur eines von vielen Häusern, die unten im Tal niederbrannten.
Wenn man an der Stelle stand, wo früher einmal der Bahnsteig gewesen war, neben dem verrosteten weißen Schild, auf dem sich, wenn man die Augen auf eine bestimmte Weise zusammenkniff, immer noch entziffern ließ - wenn man sich an dieser Stelle genau nach Norden wandte, mit Hilfe von Sonne, Sternen, Kompass oder Intuition, und dann 4,73 Meilen ging, sich einen Weg durch das dichte Gebüsch oberhalb des Flusslaufs bahnte, dann hinauf in die Berge mit den Douglasfichten, dann kam man genau am Tor unserer kleinen Ranch an, Coppertop, gelegen auf einem einsamen Plateau in 5 343 Fuß - 1 628,5 Metern - Höhe, einen Steinwurf von der kontinentalen Wasserscheide entfernt, der Continental Divide, von der die Stadt ihren Namen ableitete.
Ja, die Kontinentalscheide - mit dieser großen Grenzlinie im Rücken war ich aufgewachsen, und ihre stille, verlässliche Existenz hatte meine Gedanken, ja meinen Körper ganz durchdrungen. Die Wasserscheide war eine reale, gewaltige Grenze, und weder Politik, Religion noch Krieg hatten sie festgelegt, sondern Tektonik, Stein und Schwerkraft. Kein amerikanischer Präsident hatte diese Grenze mit seiner Unterschrift ins Leben gerufen, und doch hatte sie mit ihrem Verlauf die Westexpansion der Vereinigten Staaten auf unzählige Art und Weise und dabei fast unbemerkt beeinflusst. Die gezackte Höhenlinie schied die Wasser des Kontinents in Ost und West, in Atlantik und Pazifik - draußen im Westen war Wasser Gold, und wohin das Wasser floss, dahin folgten ihm die Menschen. Die Regentropfen, die anderthalb Meilen von unserer Ranch niedergingen, sammelten sich in Bächen, die durch das weite Netz des Columbia River zum Pazifischen Ozean flossen, doch das Wasser im Feely Creek, unserem Bach, hatte tausend Meilen mehr zurückzulegen, bis hinunter in die Bayous von Louisiana, wo es sich in einem lehmgelben Delta in den Golf von Mexiko ergoss.
Layton und ich kletterten oft auf den Bald Man's Gap, den exakten Scheitelpunkt - er eifrig bemüht, nicht das Glas Wasser zu verschütten, das er mit beiden Händen trug, ich mit einer primitiven Lochkamera, die ich aus einem Schuhkarton gebastelt hatte. Ich machte Aufnahmen von ihm, wie er Wasser auf der einen und dann auf der anderen Seite des Grats ausgoss und abwechselnd »Hallo, Portland!« und »Hallo, New Orleans!« rief - genauer gesagt brüllte er »Hello, N'Awlins!« mit seinem schönsten Kreolen-Akzent. Doch sosehr ich auch die Rädchen seitlich am Kasten drehte, konnten diese Bilder nie das Heroische von Layton in solchen Augenblicken festhalten.
Einmal nach einer unserer Expeditionen saß Layton am Abendbrottisch und sagte: »Von einem Fluss können wir eine Menge lernen, stimmt's, Dad?« Und auch wenn Vater damals nichts darauf antwortete, sah man doch an der Art, wie er den Rest seines Kartoffelbreis verzehrte, dass er solche Gedanken bei seinem Sohn zu schätzen wusste. Vater liebte Layton mehr als alles andere auf der Welt.
Draußen auf der Veranda putzte Gracie Mais, und ich machte mein Diagramm dazu. Grillen und Grasböcke überzogen die Felder unserer Ranch mit ihrem Gezirp und Gebrumm, der August umwehte uns - heiß, schwer, eindrucksvoll. Montana leuchtete im Sommer. Gerade in der Woche zuvor hatte ich zugesehen, wie das erste Morgenlicht langsam und lautlos auf dem weichen Fichtenkamm der Pioneer Mountains erschienen war. Ich war die ganze Nacht über auf gewesen und hatte an einem Schaubild gezeichnet, bei dem eine alte Darstellung des menschlichen Körpers aus der Qin-Dynastie über ein Triptychon der Begriffe vom Innenleben eines Menschen bei den Navajo, Schoschonen und Cheyenne gelegt wurde.
Als der Tag anbrach, ging ich barfuß, wie in Trance, hinaus auf die Gartenveranda. Selbst in meinem übernächtigten Zustand spürte ich, dass dies ein magischer Moment war, den ich ganz für mich allein hatte. So legte ich die Hände hinter den Rücken, hielt den kleinen Finger umfasst, bis die Sonne sich schließlich von den Pioneers gelöst hatte und mich ansah mit ihrem unergründlichen Gesicht.
Tief beeindruckt setzte ich mich auf die Verandatreppe, und die Holzbohlen, raffinierte Biester, nutzten die Gelegenheit, mich in ein Gespräch zu verwickeln:
Hier draußen, da sind nur wir zwei, mein Freund, sagte die Veranda, lass uns ein stilles Lied zusammen singen.
Ich habe zu tun, sagte ich.
Was hast du denn zu tun?
Ich weiß nicht ... hier auf der Ranch eben.
Du bist doch gar kein Rancherjunge.
Nicht?
Du pfeifst keine Cowboylieder und spuckst nicht in Blechnäpfe. Spucken kann ich nicht, sagte ich. Ich mache Karten und Diagramme.
Karten?, fragte die Veranda. Landkarten? Was ist denn da schon dran? Spuck lieber in Blechnäpfe. Reite mal aus. Nimm das Leben leicht.
An einer Landkarte ist eine Menge dran. Ich habe keine Zeit, um das Leben leichtzunehmen. Ich weiß nicht mal, was das überhaupt heißen soll.
Du bist kein Rancherjunge. Du bist ein Dummkopf.
Ich bin kein Dummkopf, sagte ich. Und dann: Meinst du wirklich?
Du bist einsam, sagte die Veranda.
Bin ich das?
Ja wo steckt er denn?
Ich weiß es nicht.
Doch, du weißt es.
Stimmt.
Dann setz dich her und pfeif ein einsames Cowboylied.
Ich bin noch nicht fertig mit meinen Landkarten. Es gibt noch viel zu kartieren.
Gracie und ich putzten Maiskolben, und Dr. Clair kam heraus auf die Veranda. Gracie und ich blickten beide auf, als wir die alten Dielen unter Dr. Clairs Schritten knarren hörten. Fest zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie eine Nadel, an deren Spitze in hellem Blaugrün-metallic ein Käfer schimmerte, den ich sogleich als Cicindela purpurea lauta erkannte, eine seltene Subspezies dieses Sandlaufkäfers aus Oregon.
Meine Mutter war eine groß gewachsene, hagere Frau, und ihre Haut war dermaßen bleich, dass Leute uns oft anstarrten, wenn wir ihnen auf der Straße in Butte begegneten. Einmal hörte ich, wie eine ältere Frau im geblümten Sonnenhut zu ihrer Begleiterin sagte: »Was für dünne Handgelenke!« Und es stimmte schon: wäre sie nicht meine Mutter gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch gedacht, dass etwas mit ihr komisch war.
Dr. Clair trug ihr dunkles Haar zu einem Knoten gebunden; zusammengehalten wurde er von zwei polierten Nadeln, die wie Knochen aussahen. Nur zur Nacht ließ sie ihr Haar herunter, und nur hinter verschlossenen Türen. Als wir noch jünger waren, verfolgten Gracie und ich oft abwechselnd durchs Schlüsselloch die geheime Toilettenszene auf der anderen Seite. Durch das Loch konnte man nur einen kleinen Ausschnitt sehen: nur ihren Ellbogen, der sich hin und her bewegte, hin und her, als sitze sie an einem alten Webstuhl; nur wenn man sich verrenkte, konnte man mit Glück auch ein wenig von dem Haar sehen, durch das immer und immer wieder der Kamm fuhr, der dabei ein leises, mahlendes Geräusch machte. Das Schlüsselloch, die Blicke, das Geräusch: all das kam uns damals wunderbar verwegen vor.
Layton, genau wie Vater, interessierte sich für nichts, was mit Schönheit oder Hygiene zu tun hatte, und war deshalb bei diesen Spielen nie dabei. Er gehörte zu Vater, aufs Feld, wo sie Kühe scheuchten und Wildpferde zuritten.
Dr. Clair trug Unmengen klimpernden grünen Schmuck- Chrysolith-Ohrringe, Armbänder aus kleinen glitzernden Saphiren - selbst die Kette, an der ihre Brille um den Hals baumelte, war aus grünem Malachit, den sie einmal auf einer Expedition in Indien gefunden hatte. Manchmal kam sie mir mit den Stäbchen im Haar und all dem sanften smaragdgrünen Schmuck wie eine Birke im Frühling vor, bei der sich schon im nächsten Moment die Blüten öffnen würden.
Einen Augenblick lang stand sie nur da, musterte Gracie, mit dem großen Blecheimer voller gelber Maiskolben zwischen den Beinen, und mich, auf der Treppe, mit meinem Notizbuch und der Stirnlupe. Wir sahen sie an.
Und dann sagte sie: »Telefon für dich, T. S.«
»Telefon? Für ihn?«, fragte Gracie, schockiert.
»Ja, Gracie, der Anruf ist für T. S.«, sagte Dr. Clair, nicht ohne eine gewisse Genugtuung.
»Wer ist es?«, fragte ich.
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe nicht gefragt«, antwortete meine Mutter und ließ dabei noch immer ihren Laufkäfer im Licht flirren. Dr. Clair war die Art von Mutter, die zwar ihren Kindern das Periodensystem beibrachte, während sie sie mit Brei fütterte, die aber auch in Zeiten von Kindesentführung und weltweitem Terrorismus nicht auf die Idee gekommen wäre zu fragen, wer ihre Kinder am Telefon sprechen wollte.
Meine Neugier, wer wohl am Apparat sein mochte, trat in Konflikt mit der Tatsache, dass ich ja gerade dabei war, mein Diagramm zu zeichnen, und eine nicht vollendete Zeichnung hinterließ bei mir immer ein würgendes Gefühl hinten im Hals.
Bei meinem Diagramm »Gracie zuckermaisputzend Nr. 6« hatte ich eine kleine Ziffer an die Stelle gesetzt, an der sie ihren ersten Kolben an dessen Oberende in die Hand genommen hatte. Dann machte sie drei abrupte Handbewegungen abwärts: rupf, rupf, rupf, und diese hatte ich mit drei Pfeilen dargestellt, wobei einer davon kleiner als die beiden anderen war, denn der Anfang war ein wenig mühsam, beim ersten Hüllblatt leistete der Kolben noch Widerstand. Ich liebe dieses Geräusch, wenn die Blätter abgerupft werden. Dieser Laut hat etwas Gewaltsames, zuerst reibend, dann ein kleiner Plopp, wenn das seidige organische Gewebe reißt; ein Laut, bei dem ich mir vorstelle, dass jemand in einem Anfall von Wahnsinn, den er schon im nächsten Moment bereuen wird, eine teure, womöglich italienische Hose zerreißt. Jedenfalls war das die Art, wie Gracie Maiskolben putzte oder, wie ich manchmal sagte, Putzmeisen kolbte - es war ein kleines bisschen frech, denn irgendwie ärgerte sich meine Mutter immer, wenn ich Wörter verdrehte. Man konnte ihr das nicht verdenken - schließlich war sie Käferforscherin und hatte fast ihr gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht, winzige Geschöpfe unter dem Vergrößerungsglas zu studieren und sie dann säuberlich in Familien und Großfamilien zu klassifizieren, in Spezies und Subspezies nach körperlichen Eigenheiten und entwicklungsmäßigem Stand. Wir hatten sogar ein Bild von Carl von Linné, dem schwedischen Erfinder unseres heutigen taxonomischen Systems, über dem Kamin hängen, wogegen mein Vater stumm, doch beharrlich protestierte. Da war es also in gewisser Weise konsequent, dass Dr. Clair sich ärgerte, wenn ich »Grasschlüpfer« statt »Grashüpfer« sagte oder »Leckerkacke« statt »Kakerlake«, denn ihre Arbeit bestand darin, auf winzig kleine Unterschiede zu achten, auf Details, die das menschliche Auge überhaupt nicht mehr wahrnehmen konnte, denn ein Haar an der Spitze der Mandibeln oder ein kleiner weißer Fleck am Hinterleib bedeutete, dass es sich bei dem Käfer um einen C. purpurea purpurea handelte, und nicht um einen C. purpurea lauta.
Ich persönlich fand, dass meine Mutter sich weniger Gedanken um meinen phantasievollen Umgang mit der Sprache hätte machen sollen, was nur eine Art mentales Aerobic war, wie alle gesunden zwölfjährigen Jungen es trieben, und sich eher um die milde Form von Irrsinn kümmern, die von Gracie Besitz ergriff, wenn sie die Putzmeisen kolbte, und die so gar nicht zu dem Eindruck passte, den sie sonst gerne machte, nämlich den einer Erwachsenen, die im Körper eines sechzehnjährigen Mädchens gefangen saß - für meine Begriffe ein untrügliches Zeichen eines Konfliktes, mit dem sie sich bisher nicht auseinandergesetzt hatte. Ich glaube, niemand würde mir widersprechen, wenn ich sagte, dass Gracie, auch wenn sie nur vier Jahre älter war als ich, mir, was die Reife der Persönlichkeit, was Vernunft, Kenntnisse in den Gepflogenheiten des geselligen Umgangs der Menschen miteinander und die Fähigkeit, ihre Verstellungen zu erkennen, anging, um viele Jahre voraus war. Vielleicht war der irre Blick, den sie hatte, wenn sie Mais putzte, nichts weiter als das: eine Pose; nur ein weiteres Indiz, dass in Gracie eine unentdeckte Schauspielerin schlummerte, die ihr Talent schärfte, während sie eine der vielen trivialen Haushaltsarbeiten auf einer Ranch in Montana verrichtete. Vielleicht war das so - obwohl ich persönlich eher der Ansicht war, dass hinter der blitzsauberen Fassade etwas nicht stimmte.
Ja, Gracie. Dr. Clair fand, dass sie einfach großartig als Hauptdarstellerin ihrer Highschool-Aufführung der Piraten von Penzance gewesen war; ich selbst hatte mich nicht vergewissern können, denn ich saß damals gerade an einem Schaubild für die Zeitschrift Science, das zeigte, wie das Weibchen des australischen Mistkäfers Onthophagus sagittarius bei der Kopulation seine Hörner einsetzte. Ich hatte Dr. Clair nichts von diesem Projekt erzählt. Ich habe getan, als hätte ich Magenschmerzen, und dann habe ich Verywell Beifuß zu fressen gegeben, den er überall auf der Veranda auskotzte, und getan, als ob es von mir sei - behauptet, ich hätte Beifuß und Mäuseknochen und Hundefutter ausgekotzt. Wahrscheinlich war Gracie wunderbar als Piratenbraut. Gracie war überhaupt eine wunderbare Frau, wohl die einzige halbwegs Normale in unserer Familie, denn wenn man es einmal so richtig betrachtete, war Dr. Clair eine erfolglose Koleopterologin, die zwanzig Jahre lang einem Phantomkäfer nachgejagt war - dem Tigermönch, Cicindela nosferatie -, von dem nicht einmal sie sich sicher war, dass er wirklich existierte; und mein Vater, Tecumseh Elijah Spivet, war ein wortkarger, verschrobener Rancher, der ins Zimmer kam und Sachen sagte wie: »Eine Grille, die lässt sich nichts vormachen«, und dann einfach wieder ging; ein Mann, der vielleicht hundert Jahre zu spät geboren war.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Reif Larsen
Reif Larsen, geboren 1980, lebt im Hudson Valley und in Schottland. Er schreibt, unterrichtet Literatur, dreht Dokumentarfilme in den USA, Großbritannien und in Afrika. Seine Erzählungen und Essays erscheinen u.a. in »The New York Times« und in »The Guardian«. Sein erster Roman 'Die Karte meiner Träume' (2009) wurde ein Weltbestseller. 2014 erschien sein zweiter Roman 'Die Rettung des Horizonts'. Allié, ManfredManfred Allié, geboren 1955 in Marburg, übersetzt seit über dreißig Jahren Literatur. 2006 wurde er mit dem Helmut-M.-Braem-Preis ausgezeichnet. Neben Werken von Jane Austen, Joseph Conrad und Patrick Leigh Fermor übertrug er unter anderem Romane von Yann Martel, Richard Powers, Joseph O'Connor, Reif Larsen und Patricia Highsmith ins Deutsche. Er lebt in der Eifel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Reif Larsen
- 2010, 7. Aufl., 464 Seiten, Maße: 17 x 24 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596184444
- ISBN-13: 9783596184446
- Erscheinungsdatum: 05.10.2010
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