Die Kinder der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.2
Roman
Der große historische Roman der Bestsellerautorin jetzt im Taschenbuch
Der Boykott der jüdischen Geschäfte im April 1933 nimmt dem Kaufmann Johann Isidor Sternberg jede Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland. Er, seine Frau Betsy, die...
Der Boykott der jüdischen Geschäfte im April 1933 nimmt dem Kaufmann Johann Isidor Sternberg jede Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland. Er, seine Frau Betsy, die...
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Produktinformationen zu „Die Kinder der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.2 “
Der große historische Roman der Bestsellerautorin jetzt im Taschenbuch
Der Boykott der jüdischen Geschäfte im April 1933 nimmt dem Kaufmann Johann Isidor Sternberg jede Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland. Er, seine Frau Betsy, die Kinder und Enkel werden zu Aussätzigen in ihrer geliebten Heimatstadt Frankfurt. Die Nazis nehmen ihnen Arbeit, Sicherheit und schließlich die Heimat. Die Bedrohung ihres Lebens wird für die jüdische Familie Sternberg zur schrecklichen Normalität.
Der Boykott der jüdischen Geschäfte im April 1933 nimmt dem Kaufmann Johann Isidor Sternberg jede Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland. Er, seine Frau Betsy, die Kinder und Enkel werden zu Aussätzigen in ihrer geliebten Heimatstadt Frankfurt. Die Nazis nehmen ihnen Arbeit, Sicherheit und schließlich die Heimat. Die Bedrohung ihres Lebens wird für die jüdische Familie Sternberg zur schrecklichen Normalität.
Lese-Probe zu „Die Kinder der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.2 “
Die Kinder der Rothschildallee von Stefanie ZweigWie lange hält es der Mensch
aus, dass ihn die Hoffnung
an der Nase herumführt?
Bis zum letzten Tag!
1
... mehr
Wenn es an der Tür klopft
Silvester 1926
Die einzige der vier Töchter des renommierten Frankfurter
Geschäftsmanns Johann Isidor Sternberg, deren Charakter
dem liebenswerten und fröhlichen Naturell seiner
Frau Betsy ähnelte, war die achtzehnjährige Anna. Dank
dieser lebensbejahenden Heiterkeit und einer Natürlichkeit,
die ihre drei Schwestern als ein überholtes Relikt
aus bürgerlichen Zeiten belächelten, war Anna der Trost
ihres alternden Vaters. Obwohl ihr Kinderglück und Urvertrauen
sehr früh genommen worden waren, blieb Anna
die Optimistin, die sich zu ihrem vierten Geburtstag einen
Teppich aus Rosinen und eine Kutsche aus Marzipan gewünscht
hatte und die dann eine Tüte Makronen bejubelte.
Der Backfisch Anna war auf sehr sympathische Weise von
der Launenhaftigkeit und dem Missmut verschont worden,
die das Zusammenleben mit ihrer gleichaltrigen Schwester
in der Zeit der beginnenden Nestflucht zu einem Tanz auf
dem Vulkan machten. »Anna grinst sogar das Salzfass an«,
pflegte Victoria am Frühstückstisch zu konstatieren, wenn
ihr die Mutter die gute Laune ihrer gleichaltrigen Schwester
vorhielt. »Das weiß doch jeder, dass sie eine Heilige ist.«
Bei Anna hatte sich seitdem nichts verändert. Ihr Opti-
mismus und ihre Freundlichkeit fielen auch Leuten auf,
die Unfreundlichkeit und Pessimismus für die einzig möglichen
Lebensbegleiter hielten. Anna brauchte doppelt so
viel Zeit wie ihre Mutter, um Brötchen zu holen. Nie kam
sie an den Kindern vorbei, die in der Anlage in der Günthersburgallee
mit Schaukel, Wippe und Sandkasten spielten.
Mit den Nachbarn im Hausflur unterhielt sie sich so
lange, als wäre sie gerade von einer Weltreise zurückgekehrt,
und sie ließ sich von Fremden in nicht enden wollende
Gespräche ziehen. Wenn die Geschäftsleute auf der
Berger Straße über die Zeiten und die Politiker klagten,
war Anna eine aufmerksame und Anteil nehmende Zuhörerin.
Sie erkundigte sich nach der Familie des Schornsteinfegers,
tröstete weinende Kinder mit Bonbons, die sie
eigens zu diesem Zweck besorgte, und bewunderte die Babys
stolzer Puppenmütter. Auch jeder Hund, der in ihren
Augen aussah, als brauche er Zuspruch und einen Klaps
auf den Kopf, wurde von Fräulein Anna bedacht.
Ihre Schwester Clara, acht Jahre älter und um Äonen lebenserfahrener,
beliebte des Öfteren - und auch in Gesellschaft!
- zu erzählen, sie hätte Anna heimlich beim
Fischhändler beobachtet. Dort hätte Anna mit einer ganzen
Platte grüner Heringe geflirtet. »Und mich haben noch
nicht mal die Karpfen mit einem Blick beachtet, und die
waren noch lebendig.«
Wenn Anna nachts die Gardinen ihres Zimmers zuzog,
hüpfte sie immer noch in den siebten Himmel. In dem Regal
über ihrem Bett standen ihre alten Märchenbücher und
die sentimentalen Geschichten für junge Mädchen, die ihr
weisgemacht hatten, das Leben sei ein Kinderspiel. Die
Puppe, die das mutterlose, verängstigte achtjährige Kind
im Arm gehalten hatte, als ihr Vater sie in sein Heim und
zu seiner Frau gebracht hatte, saß wie in alten Zeiten auf
dem kleinen Sofa und schaute zum Mond. Der alte Teddybär
hatte eine grüne Jacke an und eine rote Schleife um
den Hals.
Die Idylle trog - Anna war keine, die nicht erwachsen werden
wollte. Sie verlangte nicht nach den Armen, die sie behütet
hatten. Sie war auf eine besondere Weise lebensklug,
denn sie war schon früh imstande gewesen, sich vor den
Illusionen zu hüten, die junge Menschen erbarmungslos in
die Irre führen. Wenn Anna aus dem reichen Hause Sternberg
träumte, war sie noch immer armer Leute Kind; das
kleine Glück als Objekt der Begierde reichte ihr. Der Gedanke
an den Neid der Götter, sobald sie an das große
dachte, ängstigte sie. Hans im Glück, der sich bei jedem
Tausch verschlechtert, den er macht, und der sich trotzdem
begnadet wähnt, war einst ihr Lieblingsheld gewesen.
Sie hielt ihm ein Leben lang die Treue.
»Anna ist dumm geboren«, hatte einst die zehnjährige Victoria
mit der erbarmungslosen Zunge der unschuldigen
Kinder diagnostiziert.
»Sie ist klüger als du, mein Kind«, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt,
»aber ich würde mich wundern, wenn du das je begreifen
solltest.«
Nun, mit achtzehn, wünschte sich Anna einen klugen, beredten
Ehemann, der gelegentlich auch seine Frau zu Wort
kommen ließ. Wie sie sollte er gern Bildungsromane und
Reiseberichte lesen, sich an weichen Eiern im Glas delektieren
und Freude an Wald und Flur haben. Sonntags sollte
dieser Prachtmensch mit seiner Gattin zum Vierwaldstätter
See im Frankfurter Stadtwald radeln und sie abends in
die Alemannia-Lichtspiele an der Hauptwache führen.
Dort war Platz für achthundert Zuschauer. Im eleganten
Foyer waren vier Pfeiler, die mit Metallrahmen und mattem
Glas als Leuchtkörper gestaltet waren. Anna war erst
zweimal in diesem eindrucksvollen Kinoparadies gewesen,
als Johann Isidor und Madame Betsy nach dem großen Umbau
mit sämtlichen Honoratioren der Stadt zur feierlichen
Wiedereröffnung geladen worden waren.
Anna wünschte sich ein Häuschen im dörflichen Frankfurter
Vorort Seckbach. Der Garten sollte groß genug
für drei Kinder sein, eine Dogge, wie sie Bismarck gehabt
hatte, und eine gescheckte Katze, die ja allgemein als
Glücksbringerin galt. Sie wollte ihren Mann bitten, vor
dem mächtigen Apfelbaum eine Bank aufzustellen und sie
grün anzustreichen. An sonnigen Tagen wollte die Hausfrau
dort ihre Erbsen pulen und nach getaner Arbeit Socken
für den Winter stricken.
Victoria, die sich noch nicht einmal vorstellen mochte, sie
würde je heiraten, geschweige denn Kinder bekommen,
war eine besonders aufmerksame Zuhörerin, wenn die
beiden ungleichen Halbschwestern einander Zukunft ausmalten.
Trotzdem schloss sie meistens die Augen, als
könnte sie die Bilder vom bürgerlichen Glück nicht ohne
Schmerz ertragen. Mit einem kleinen Seufzer, der dem von
Maria Stuart in Gefangenschaft entsprach, wenn sie in
ihrem Kerker an das schöne Leben in Frankreich zurückdachte,
und der bei Victoria ebenso herzzerbrechend
ausfiel, sagte sie: »Meine kleine Spießerin in der Kittelschürze.«
Auch Anna kannte ihren Text. »Bei Spießern weiß man
doch wenigstens, woran man ist«, hatte sie zu antworten,
worauf sie und Victoria so unbefangen lachten, als wäre
der kleine Sketch tatsächlich nur ein Spiel mit Worten gewesen.
Gerade Victoria, die ganz sicher war, dass bald die berühmtesten
Theaterintendanten Deutschlands mit langfristigen
Verträgen vor ihrer Tür Schlange stehen und sich ihretwegen
duellieren würden, schätzte hin und wieder die
harmlosen Spiele ihrer Kindertage. Noch mehr schätzte sie
es allerdings, dass sie ihrer Lust an kleinen Bosheiten nachgeben
konnte, ohne dass das Opfer ihrer spitzen Zunge sich
getroffen fühlte. Anna war schon immer die ideale Partnerin
gewesen - sie nahm nicht übel, war leicht zu beeindrucken,
nie eifersüchtig, und sie kannte ihre Grenzen.
Ihrerseits bewunderte Anna ihre souveräne, aparte, großtuerische
Schwester. Selbst deren Sarkasmus fand sie
chic. Aus der koketten kleinen Vicky mit dem frühreifen
Charme, dem weder Frau, Mann noch Kind hatten widerstehen
können, war eine Schönheit mit langen Beinen und
markantem Profil geworden. Fünfzehnjährige Jungen und
würdevolle Familienväter wurden scharlachrot, wenn sie
sich von Victoria Sternberg angeschaut glaubten. Alte Herren
mit Rheuma gingen in die Knie, um das Taschentuch
der Schönen vor rohen Füßen zu retten, und aus ihren
Taschen fielen ständig altmodische Spitzentüchlein oder
ebenso altmodische duftende Briefkuverts - genau wie in
den Lustspielen aus der Biedermeierzeit. Die junge Sternberg,
die sich vorgenommen hatte, so berühmt wie Sarah
Bernhardt zu werden und so umschwärmt wie Josephine
Baker, sah bei jedem Blick in den Spiegel eine Königin.
Der Schwester aus der anderen Welt imponierte nicht nur
Victorias Schönheit, sondern noch mehr deren Besessenheit
und Energie. Mochten ihr König, Bauer und Bettelmann
mit Stentorstimme und Tag für Tag von dem Weg
abraten, den sie zu gehen gedachte, sie verstopfte ihre hübschen
kleinen Ohren mit schlanken, gepflegten Händen,
an denen links ein Rubin und rechts eine goldene Schlange
mit Augen aus Smaragd glänzten. Fräulein Sternberg
wusste sich zur Schauspielerin geboren. Sie sah sich, ehe
man sie nach Berlin holte, in ihrer Heimatstadt auf der
Bühne stehen, mit Lorbeer bekränzt, auf Rosen gebettet
und mit jubelnden Kritiken bedacht. Ihr Vater, der in den
Augen der klugen Tochter von nichts wusste, was die Welt
zusammenhielt, und der folglich Schauspieler als fahrendes
Volk ablehnte, vor dem man die Wäsche schützen
musste, würde mit feuchten Augen in der ersten Reihe
sitzen. Auch die Mutter, diese skeptische Frau, die vom
Denken ihrer Vorfahren nicht loskam und die sich nichts
anderes als gut verheiratete Töchter wünschte und Schwiegersöhne,
die ihr Ehre machten, würde ihre Tränen laufen
lassen, wenn Victoria als blonde Ophelia von Hamlet ins
Kloster geschickt würde.
Bisher hatte es diese außergewöhnliche schauspielerische
Begabung noch nicht einmal zur Bühnenelevin gebracht.
Doch nicht einmal in den trüben Momenten, da sie sich
erinnerte, dass zwei Schauspiellehrer sie wegen mangelnder
Begabung als Schülerin abgewiesen hatten, bezweifelte
sie, dass sie Othellos Desdemona und Romeos Julia
spielen würde. Und Fausts Gretchen auf eine noch nie da
gewesene Art.
»Schon bei dem Gedanken, immerzu mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, wird mir übel«, sagte Anna.
»Du musst dir nur die richtigen Wände aussuchen, meine
Gute. Aber ich fürchte, dazu hast du nicht genug Phantasie.«
Victoria täuschte sich. Anna hatte durchaus Phantasie. Nur
sparte sie die für besondere Gelegenheiten auf. Manchmal
wurde selbst sie es leid, als bescheidenes Veilchen im Schat-
ten heranzuwachsen. Dann brach sie in sehr ferne Welten
auf, war dort eine Dame vom Feinsten, trug werktags
teure Seidenstrümpfe und immer durchsichtige Unterwäsche.
Den neuen hellgrauen Topfhut mit dem lila Seidenband
holte sie mit der gleichen Nonchalance aus dem
Schrank wie andere Mädchen ihre Baskenmütze. In Momenten
der allergrößten Sündhaftigkeit trieb es die Jungfer
Anna noch toller. Dann ähnelte sie wie ein Zwilling dem
anderen der verruchten Halbweltdame auf der Zigarettenpackung
der Marke Xanthia.
Annas Vater rauchte neuerdings Xanthia - stets lag eine
Packung auf dem Trommeltisch im Salon. Und manchmal
konnte es geschehen, dass Anna, die nie vom geraden Weg
abwich, eine geradezu körperlich quälende Sehnsucht nach
Verruchtheit und Sünde spürte. Für Xanthia räkelte sich
eine aschblonde Frau mit dem aktuellen Bubikopf der späten
Zwanzigerjahre und der schimmernden Alabasterhaut
einer Marmorstatue in einem schneeweißen Unterrock auf
einer roten Ledercouch. Der Vamp hatte eine Knabenfigur
und einen verschleierten Blick. In seiner Rechten hielt
er eine lange schwarze Zigarettenspitze.
Anna mit dem langen Haar, das sie wie ein Burgfräulein
aus dem Mittelalter zu einer adretten Krone um ihren
Kopf legte und von dem sie sich trotz der aufreizenden Fotos
der Garçonnes in den Zeitungen für die feine Dame
nicht trennen mochte, war meilenweit entfernt von ihrer
Traumvorlage - nicht nur äußerlich. Sie war zu zurückhaltend,
um auch nur eine der vielen reizvollen Rollen zu erwägen,
die jungen Frauen von smarten Journalistinnen als
Sprungbrett in die Moderne anempfohlen wurden.
Das neue Selbstbewusstsein von Frauen, die bei jeder Gelegenheit
von Freiheit redeten und die entsprechend freie
Auffassungen vom Leben hatten, waren im Hause Sternberg
ausschließlich die Domäne von Clara und Victoria.
Allerdings war Alice mit den großen himmelblauen Augen,
erst elf und doch schon Frau und wie der Schönling Narziss
ins eigene Spiegelbild verliebt, ihre gelehrige Schülerin.
Gleichgültig, ob die drei aparten Schwestern in
Geschäften vor denen bedient wurden, die an der Reihe
waren, ob sie im Palmengarten flanierten, in einem Kaufhaus
Bewunderer fanden oder sich im Café an Komplimenten
delektierten, die Aufmerksamkeit der Männerwelt
und der Frauen Neid waren ihnen gewiss.
Victoria und Clara zeigten schon morgens Bein. Jeden, der
ihnen zuhörte, ließen sie wissen, Frauenbeine seien so erotisch
wie beim Hahn der Kamm und beim Flamingo die
rosa Federn. Sie trugen fleischfarbene Strümpfe aus Paris
und zierliche Riemchenschuhe aus schwarzem Lackleder.
Die Taillen ihrer Kleider waren in Hüfthöhe. Sie waren
stolz auf ihre flache Brust und den schönen Schwanenhals.
Erst ließ sich Victoria, anschließend Clara einen Bubikopf
schneiden - der Nacken wurde beim Herrenfriseur ausrasiert.
Frau Betsy verschlug es die Sprache. Ihre Töchter
ließen jedermann wissen, sie würden sich nicht für die
Männer anziehen, sondern ausschließlich für sich selbst.
Beide zupften sie ihre Augenbrauen und benutzten schon
tagsüber nachtblauen Lidschatten. Die Lippen waren purpurrot,
die Fingernägel ebenso. »Als hätte einer mit dem
Hammer draufgehauen«, befand ihr Vater.
In jeder Gesellschaft brillierte Victoria mit der Laszivität
der jungen Wilden. Bereits nach dem ersten Glas Sherry
proklamierte sie, ein Frauenbusen wäre allenfalls noch ein
Gewinn für Ammen aus dem Spreewald und Buschfrauen.
Claras Röcke bedeckten kaum das Knie. Um ihre knaben-
hafte Figur zu halten, knabberte sie mittags Selleriestangen
und nahm, wie ihre Mutter zu Recht vermutete, Abführmittel.
Aus der Perspektive der Eltern vergaß Fräulein
Clara provozierend häufig, was geschehen war, ehe ihr der
Vater die kleine Wohnung im vierten Stock überlassen
hatte. Laut altem, immer noch bei rechtschaffenen Leuten
geschätztem wilhelminischem Sprachgebrauch war nämlich
die älteste Sternbergtochter ein gefallenes Mädchen.
Ihre Schwester Victoria fürchtete sich dennoch nicht, mit
jedem Atemzug ihr Leben zu genießen. Mittags traf sie
sich mit noblen Herren, denen sie phantasie entflammende
Hoffnungen machte, zum Lunch à la mode. In vornehmen
Restaurants flunkerte sie ihnen vor, in ihrem Elternhaus
würden ausschließlich Weine serviert, die ein befreundeter
Sommelier für die Pariser Hautevolee zu empfehlen
pflegte. Erstaunlich anschaulich, weil sie weder das eine
noch das andere je gekostet hatte, beschrieb sie die Wonnen
von Coq au Vin und Froschschenkel in Riesling. Der
Panther war ihr Lieblingstier. Sie liebäugelte mit einer Brosche
im Schaufenster des teuersten Juweliers in der Stadt.
Dort lag ein Panther aus Weißgold, mit Rubinen bestückt,
auf einem schwarzen Samtkissen.
Victoria, mit dem Talent, sich selbst zu inszenieren, fand
Hausmannskost überholt und das Hausfrauendasein eine
»Fessel, die nicht mehr in die Zeit passt«. Ihrer Mutter, die
fünf Kinder geboren und großgezogen hatte, sagte sie das,
ohne zu erröten. Sie schwärmte für grünen Curry, den es
nur in einem einzigen Geschäft zu kaufen gab, und fand
Hummer, wenn »man ihn zu oft vorgesetzt bekommt, doch
ein wenig fad«. Obwohl sich Victoria vor Schweinefleisch
ekelte, das in ihrem Elternhaus selbst in Zeiten der Not
nicht auf den Tisch gekommen war, ging sie oft in die Bür-
gerlokale von Sachsenhausen. Dort aß sie mit Männern,
die sie als wichtig für ihr Fortkommen einschätzte, Rippchen
mit Sauerkraut und trank Ebbelwein, den sie nicht
vertrug. Mit einem Regisseur, der ihr eine Hauptrolle versprochen
hatte, obgleich er selbst seit zwei Jahren ohne
Engagement war, hatte sie sich sogar an eine Schweinshaxe
gemacht. In der Nacht musste ihr die Mutter warme Leibwickel
auflegen, und Victoria fragte sich, ob nicht vielleicht
doch der Glaube ihrer Kindertage stimmte, dass Gott den
Genuss von Schweinefleisch bei Juden umgehend mit dem
Tod ahndet.
Die Köchin Josepha indes, die dem süßen Vickylein Zwetschenkuchen
gebacken und Himbeerpudding gekocht
hatte, behandelte die erwachsene Victoria immer noch mit
dem Respekt, der der treuen Seele zukam. Taktvoll verschwieg
ihr das snobistische Fräulein die Veränderungen
der Zunge und was sie aß, wenn sie ihre langen Beine nicht
unter den Familientisch stellte. Mehr noch: Victorias sanfte
braune Augen wurden feucht, wenn, wie in früheren Zeiten,
zu ihrem Wiegenfest eine Schokoladentorte mit kandierten
Veilchen auf dem Geburtstagstisch stand. Dann
dachte die eindrucksvollste Salondame, die das deutsche
Theater je kennenlernen sollte, an Großtante Jettchen.
Vicky war ihre Lieblingsnichte gewesen; zu jedem Geburtstag
hatte sie ihr einen Teil aus ihrer wertvollen Schmuckschatulle
geschenkt und, als Erinnerung an glückliche
Zeiten, aus Baden-Baden Schokoladenpflaumen in Goldpapier
kommen lassen. Jettchen war vor fünf Jahren gestorben,
im Schlaf und ohne dass die Familie hatte Abschied
nehmen dürfen. Victoria konnte deren Tod nicht
verwinden.
Sie hatte ohnehin Schwierigkeiten mit der Endgültigkeit.
Den Tod ihres ältesten Bruders Otto, der schon im dritten
Kriegsmonat fiel, hatte sie als Sechsjährige erlebt und umgehend
aus ihrem Gedächtnis gestoßen. Die Vergangenheit
wurde im Schrank hinter schweren Wolldecken aus
Notzeiten gelagert - eine vergilbte Fotografie, auf der das
Gesicht des Bruders sich nicht mehr mit Victorias Erinnerungen
deckte, und das schwarzrot gepunktete Kostüm, in
dem die Sechsjährige als Glückskäfer am Vorabend des
Weltbrands ihren ersten Theatertriumph feierte. Otto hatte
den Kopfputz, einen breiten roten Haarreif mit schwarzen
Hörnern, unmittelbar vor dem Einrücken für sie gebastelt.
Victoria dachte nur an den Bruder, wenn sie ihren Vater
die Zeitung für jüdische Frontkämpfer lesen sah. Sobald
sie Tante Jettchen erwähnte, stotterte sie. Vom Tod der
französischen Theaterheroine Sarah Bernhardt im März
1923 und vom toten Rudolph Valentino, dem Filmidol aus
Hollywood, berichtete sie, als wäre sie dabei gewesen. Sie
bezeichnete den Verlust der beiden Künstler als »eine der
größten Menschheitstragödien des zwanzigsten Jahrhunderts
« und befand es als »niederschmetternd typisch für
unsere Zeit«, dass die Menschen, selbst die Leute vom
Theater, sie verständnislos anschauten, wenn sie mit sonorer
Stimme ihre Sicht der Welt darlegte.
Auch ihre ältere Schwester hatte Schwierigkeiten mit der
Zeit, in der sie lebte. Sie war ausschließlich von jenen gut
gelitten, die sich, wie sie, frei vom »Muff der Spießer«
wähnten. Clara Sternberg war nun sechsundzwanzig, ledig
und ohne Aussicht auf Veränderung ihres Familienstands.
Sie trug ihr Schicksal erhobenen Hauptes und rechtfertigte
sich weder bei Freund noch Feind für den Weg, den sie
gegangen war. Die, die Bescheid wussten, befanden unter
vorgehaltener Hand, ein solcher Stolz käme selbst einer
Sternberg nicht zu; das würde, wussten sie, die Zukunft erweisen.
Frau Winkelried, die Putzfrau, sprach es am deutlichsten
aus. »Das Fräulein Clara«, pflegte die aufrichtige
Seele mit Volkes Stimme zu schelten, »ist ein gefallenes
Mädchen.«
Selbst Josepha mit dem Herzenstalent, Frau Betsys Kinder
so zu lieben, als wären es die eigenen, gelang da kein
überzeugender Widerspruch. Frau Winkelried war, nachdem
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Oberschicht wieder
leidlich ins Lot gekommen waren, im Hause Sternberg
als Putzfrau fürs Grobe engagiert worden. Freitags wurde
sie auch zu Clara in den vierten Stock geschickt. Dort
scheuerte sie mit verkniffener Miene und moralischer Empörung
Küche, Bad und Haustreppe. Gertrud Winkelried
war als Kriegswitwe mit karger Pension und drei Kindern,
die allesamt noch in der Schule und nicht satt zu bekommen
waren, auf den zusätzlichen Verdienst bei Clara angewiesen.
Jedoch ließ sie ständig sowohl ihre Familie als
auch Josepha wissen, dass allein Mutterliebe und Not ihr
geboten, »für so eine zu schaffen«.
Seit exakt acht Jahren und neun Monaten weigerte sich
nämlich Fräulein Clara, den Vater ihres Kindes anzugeben.
Selbst die eigenen Eltern mochten ihr die Absage an die
bürgerliche Moral nicht verzeihen und schon gar nicht, dass
sie weder Scham noch Reue zeigte. Claras Geschwister hingegen
standen fest an ihrer Seite. Für Victoria war die ältere
Schwester eine Heldin, die für das Recht der Frauen
auf freie Liebe kämpfte. Anna und die kleine Alice waren
stumme Bewunderer. Erwin, der geliebte Zwillingsbruder,
selbst ein Rebell, der Kompromisse als Sünde verachtete,
zollte ihr offenen Beifall. »Nicht jede jüdische Mutter fin-
det einen gutmütigen Zimmermann, dem sie ihr Kind
unterschieben kann«, beschied Erwin seinem Vater, als der
sich wieder einmal über die deutsche Jugend im Allgemeinen
und über Clara im Besonderen beklagte.
Erwin setzte sich sein giggelndes Nichtchen Claudette auf
den Schoß, bekränzte sie mit Petersilie und Liebstöckel
und sang mit ihr abwechselnd »Auf in den Kampf, Torero«
und »Die Liebe vom Zigeuner stammt«. Das führte bei
Claudettes Großeltern zu Irrungen und Wirrungen von ungeheurem
Ausmaß. Im vierten Stock hatte zur Zeit von
Claras Sturz aus dem Himmel der wohlerzogenen Jungfrauen
nämlich ein Opernsänger gewohnt, schön wie Apoll
und ein Frauenfänger wie Blaubart. Die romantische Spur
war allerdings vom nichtsnutzigen Erwin, der seinerseits
absolut im Bilde war, wem er seine putzige kleine Nichte
verdankte, bewusst falsch gelegt worden.
Ein Kind der Liebe war die kleine Claudette allemal gewesen
und schon als Achtjährige eine typische Sternberg -
mit Augen, die wie Sterne funkelten, und Lippen, die früh
Männerträume entzünden würden. Schon jetzt balgten sich
auf der Burgstraße kleine Buben, um für die Schülerin
Claudette Sternberg den Ranzen in die Merianschule tragen
zu dürfen. Noch ehe sie das Wort Diva kannte, war sie
eine. Die Schnittmuster für ihre Kleider ließ die Mutter
aus Paris kommen, die breiten Haarschleifen stammten aus
Großvaters Posamenterie. Die Söckchen waren weiß wie
Schneeglöckchen, die Schuhe zierlich wie die von Aschenputtel,
als sie aus der goldenen Kutsche stieg. Die künftige
Königin hatte schwarze Ringellocken und hochstehende
Backenknochen, die ihr schmales Gesicht noch zusätzlich
veredelten. Selbst wenn sie Josephas Speisekammer plünderte
und aus Großmutters Nähkorb die schönsten Knöpfe
stibitzte, sah sie so unschuldig aus wie eine Barockputte.
Raffiniert war sie wie Salome, entschlossen wie die Jungfrau
von Orleans, und wenn sie einmal weinte, glitzerten
ihre Tränen wie Perlen und bezauberten die Engel im Himmel.
Claudette Sternberg wurde eine Erziehung wider Zeitgeist
und Moral zuteil. Freiheit war das Schlüsselwort. Zivilcourage
und körperlicher Mut wurden ihr als die Waffe der Klugen
anempfohlen. Das Leben dieser glücklichen Achtjährigen
war so ungewöhnlich wie unbeschwert. Sie fragte ihre
Mutter nie nach einem Vater auf Erden und selten nach
dem im Himmel; sie durfte Bücher aus dem Regal holen,
die anderswo vor Fünfzehnjährigen unter Schloss und Riegel
gehalten wurden, und das Engelchen klärte sämtliche
Freundinnen über den Umstand auf, dass der Storch keine
Babys brachte und der Osterhase keine Eier legte.
Keiner drohte Claudette mit dem schwarzen Mann und
niemand mit der Hölle. Ohne dass ihre Mutter Einspruch
erhob, durfte sie wie ein Bierkutscher fluchen; sie prügelte
sich mit Gassenjungen, wenn sie ihr Fahrrad verteidigen
musste, und sie lehrte Rivalinnen, die es wagten, an ihrer
Ehre zu zweifeln, das Fürchten. Die beherzte Amazone mit
der Zahnlücke bemalte ihre Fingernägel rot, probierte
Mutters Lippenstift und Hüte aus und brauchte nie wie
andere Kinder ihren Teller leer zu essen, Lebertran zu
schlucken oder in der Ecke zu stehen, um Buße für eine
Kindersünde zu tun. Sie wurde von ihrer Mutter und von
blendend aussehenden Männern, die erfolglos um diese
schöne Mami warben, mit in exquisite Lokale genommen.
Dort durfte sie so lange Windbeutel und Mohrenköpfe
essen, bis ihr schlecht wurde und einer der starken jungen
Männer sie nach Hause tragen musste.
»Heute haben wir frische Liebesknochen«, sagte der grauhaarige
Kellner im Café Hauptwache.
»Eclairs«, verbesserte Mademoiselle Claudette, denn sie
kannte sich in der großen Welt besser aus als andere Mädchen
in ihrer Schulfibel.
Schneewittchens Zwerge und Aschenputtels Nöte waren
ihr gleichgültig. Hänschen klein zog bei ihr nicht in die
Welt hinaus, kein Vogel machte Hochzeit, aber Charleston
konnte sie tanzen, und sie liebte den Cancan. Tante Victoria
war ihre Lehrmeisterin. Nichts wusste Claudette von
Noahs Arche oder dem Apfelbaum im Paradies, doch erzählte
ihr die vergötterte Frau Mama wunderbar anschaulich
von Cleopatra, die sich der Liebe wegen in einen Teppich
hatte wickeln lassen.
»Ohne Hemd und Höschen«, berichtete Claudette ihrer
schockierten Großmutter, »ganz, ganz nackt war sie. Onkel
Erwin hat gesagt, alle Männer haben sich ganz toll gefreut.«
»Unsere Tochter sollte sich schämen«, beklagte sich Frau
Betsy bei ihrem Mann, »und ihr Herr Bruder ebenfalls.
Einem kleinen unschuldigen Mädchen so etwas zu erzählen.
Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als meinen
Kindern so etwas zu sagen.«
»Zum Schämen ist es zu spät«, seufzte Johann Isidor.
»Wenn sich hier einer schämen muss, sind wir es, meine
Liebe. Wir haben als Eltern komplett versagt. Wenn du
mich fragst, bei Victoria und Alice ebenfalls. Von Erwin
ganz zu schweigen.«
Ein Jahr zuvor, an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag,
hatte er geschworen, sich nie wieder in seinem Leben über
eines seiner Kinder aufzuregen. »Meine Zunge soll mir abfallen«,
hatte er trotz der vielen Gäste beteuert, »wenn mir
je wieder ein Wort der Klage über die eigene Brut entschlüpft.«
Es war, wie alle Schwüre, nur eine öffentlich erklärte
Absicht gewesen, ein Traum in einem Meer von Illusionen.
»Unsere Clara hat sich nie geschämt, für nichts«,
erinnerte er seine Frau, als sie ihm von Claudette und
Cleopatra erzählte.
»Sie war viel zu jung, um zu begreifen, worauf sie sich einließ
«, sagte Betsy. Sie sagte das immer, wenn von Clara die
Rede war, doch sie hörte nie auf, sich Vorwürfe zu machen.
»Seitdem ist sie immerhin acht Jahre älter geworden.
Irgendwann muss ihr doch aufgehen, dass sie nicht zu ihrem
Vergnügen auf der Welt ist. Ihr Herr Bruder wittert
doch auch mit zarten sechsundzwanzig den Ernst des Lebens
«, bemerkte Johann Isidor.
Frau Betsy verabscheute ihren Gatten, wenn er ironisch
wurde. »Mach dich nicht unglücklich«, sagte sie. »Wer
weiß, was das Leben uns noch bringt. Es ist eine Sünde,
die Hoffnung aufzugeben.«
»Du hast ja so recht, meine Liebe. Schau dir den Sohn des
alten Wolf an. Der hält Bridgespielen für einen Beruf, aber
mit fünfzig hat er ein Vermögen gemacht.«
»Wirklich?«
»Ich schwöre es. Das schlaue Kerlchen hat vier Tage nach
dem Tod seines Vaters das Haus in der Wielandstraße
verkauft. Das wird doch unser Erwin mit meinen Häusern
auch eines Tages schaffen. Falls er nicht in den Main
springt, wenn er erfährt, dass ich dich zu meiner Vorerbin
gemacht habe und er hoffentlich noch viele Jahre warten
muss. Auf seinen Pflichtteil, natürlich.«
»Komm, sag nicht solche Sachen. Ich bekomme eine Gänsehaut,
wenn du so von unserem Tod sprichst.«
»Wenn ich kein Testament gemacht hätte, Betsy, und dir
unsere Kinder das Dach über dem Kopf versteigern könnten,
ehe du von der Gemeinde die Rechnung für die Beerdigungskosten
bekommen hast, müsstest du die Gänsehaut
kriegen.«
Erwin lebte seit fünf Jahren in Berlin; dort hockte er in
einem Hinterzimmer, trank zu viel Schnaps, wurde nie
richtig satt und träumte in allen Farben, die den expressionistischen
Malern heilig waren, die Welt würde eines
Tages seinen Namen kennen. In sein Elternhaus kehrte
Erwin nur dann zurück, wenn die finanziellen Zuwendungen
aus Frankfurt aufgebraucht waren und er nicht
mehr wusste, wie er in Berlin Kost und Logis bezahlen
sollte.
Nach dem Tod seines Bruders Otto hatte sich der vielversprechende,
vielseitig interessierte, intelligente, witzige,
damals vierzehnjährige Erwin Sternberg dem Leben verweigert.
Und seinem Vater. Er mochte nicht Stammhalter
sein. Vaters Posamenterie, die Geschäfte, der Verlag interessierten
Erwin nicht. Er wollte weder einen bürgerlichen
Beruf, noch hatte er vor, für eine Familie zu sorgen. Das
Abitur machte er nicht. Lehrstellen, die der Vater ihm hätte
verschaffen können, lehnte er ab. Seine Ideale vergaß er
so gründlich wie Caesars Kriegszüge und Ciceros Reden.
Der Zionismus, der ihn als Jugendlicher begeistert hatte,
erwärmte sein Herz nicht mehr. Vergessen waren die Kibbuzimin
Palästina, wo er ein Leben in Gleichheit und Brüderlichkeit
hatte führen wollen.
Erwin konnte sich sein Leben nur als Maler vorstellen, als
ein Umjubelter, ein Begnadeter, wobei er einem Talent
vertraute, das ihm seit der Quarta, als der Kunstlehrer den
kohlenschwarzen Augen des Schülers Sternberg nicht
hatte widerstehen können, niemand mehr bestätigt hatte.
Vollständige Taschenbuchausgabe 01/2011
2. Auflage
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Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.
Für Wolfgang, dem Liebe nicht nur ein Wort ist
Wenn es an der Tür klopft
Silvester 1926
Die einzige der vier Töchter des renommierten Frankfurter
Geschäftsmanns Johann Isidor Sternberg, deren Charakter
dem liebenswerten und fröhlichen Naturell seiner
Frau Betsy ähnelte, war die achtzehnjährige Anna. Dank
dieser lebensbejahenden Heiterkeit und einer Natürlichkeit,
die ihre drei Schwestern als ein überholtes Relikt
aus bürgerlichen Zeiten belächelten, war Anna der Trost
ihres alternden Vaters. Obwohl ihr Kinderglück und Urvertrauen
sehr früh genommen worden waren, blieb Anna
die Optimistin, die sich zu ihrem vierten Geburtstag einen
Teppich aus Rosinen und eine Kutsche aus Marzipan gewünscht
hatte und die dann eine Tüte Makronen bejubelte.
Der Backfisch Anna war auf sehr sympathische Weise von
der Launenhaftigkeit und dem Missmut verschont worden,
die das Zusammenleben mit ihrer gleichaltrigen Schwester
in der Zeit der beginnenden Nestflucht zu einem Tanz auf
dem Vulkan machten. »Anna grinst sogar das Salzfass an«,
pflegte Victoria am Frühstückstisch zu konstatieren, wenn
ihr die Mutter die gute Laune ihrer gleichaltrigen Schwester
vorhielt. »Das weiß doch jeder, dass sie eine Heilige ist.«
Bei Anna hatte sich seitdem nichts verändert. Ihr Opti-
mismus und ihre Freundlichkeit fielen auch Leuten auf,
die Unfreundlichkeit und Pessimismus für die einzig möglichen
Lebensbegleiter hielten. Anna brauchte doppelt so
viel Zeit wie ihre Mutter, um Brötchen zu holen. Nie kam
sie an den Kindern vorbei, die in der Anlage in der Günthersburgallee
mit Schaukel, Wippe und Sandkasten spielten.
Mit den Nachbarn im Hausflur unterhielt sie sich so
lange, als wäre sie gerade von einer Weltreise zurückgekehrt,
und sie ließ sich von Fremden in nicht enden wollende
Gespräche ziehen. Wenn die Geschäftsleute auf der
Berger Straße über die Zeiten und die Politiker klagten,
war Anna eine aufmerksame und Anteil nehmende Zuhörerin.
Sie erkundigte sich nach der Familie des Schornsteinfegers,
tröstete weinende Kinder mit Bonbons, die sie
eigens zu diesem Zweck besorgte, und bewunderte die Babys
stolzer Puppenmütter. Auch jeder Hund, der in ihren
Augen aussah, als brauche er Zuspruch und einen Klaps
auf den Kopf, wurde von Fräulein Anna bedacht.
Ihre Schwester Clara, acht Jahre älter und um Äonen lebenserfahrener,
beliebte des Öfteren - und auch in Gesellschaft!
- zu erzählen, sie hätte Anna heimlich beim
Fischhändler beobachtet. Dort hätte Anna mit einer ganzen
Platte grüner Heringe geflirtet. »Und mich haben noch
nicht mal die Karpfen mit einem Blick beachtet, und die
waren noch lebendig.«
Wenn Anna nachts die Gardinen ihres Zimmers zuzog,
hüpfte sie immer noch in den siebten Himmel. In dem Regal
über ihrem Bett standen ihre alten Märchenbücher und
die sentimentalen Geschichten für junge Mädchen, die ihr
weisgemacht hatten, das Leben sei ein Kinderspiel. Die
Puppe, die das mutterlose, verängstigte achtjährige Kind
im Arm gehalten hatte, als ihr Vater sie in sein Heim und
zu seiner Frau gebracht hatte, saß wie in alten Zeiten auf
dem kleinen Sofa und schaute zum Mond. Der alte Teddybär
hatte eine grüne Jacke an und eine rote Schleife um
den Hals.
Die Idylle trog - Anna war keine, die nicht erwachsen werden
wollte. Sie verlangte nicht nach den Armen, die sie behütet
hatten. Sie war auf eine besondere Weise lebensklug,
denn sie war schon früh imstande gewesen, sich vor den
Illusionen zu hüten, die junge Menschen erbarmungslos in
die Irre führen. Wenn Anna aus dem reichen Hause Sternberg
träumte, war sie noch immer armer Leute Kind; das
kleine Glück als Objekt der Begierde reichte ihr. Der Gedanke
an den Neid der Götter, sobald sie an das große
dachte, ängstigte sie. Hans im Glück, der sich bei jedem
Tausch verschlechtert, den er macht, und der sich trotzdem
begnadet wähnt, war einst ihr Lieblingsheld gewesen.
Sie hielt ihm ein Leben lang die Treue.
»Anna ist dumm geboren«, hatte einst die zehnjährige Victoria
mit der erbarmungslosen Zunge der unschuldigen
Kinder diagnostiziert.
»Sie ist klüger als du, mein Kind«, hatte ihre Mutter sie aufgeklärt,
»aber ich würde mich wundern, wenn du das je begreifen
solltest.«
Nun, mit achtzehn, wünschte sich Anna einen klugen, beredten
Ehemann, der gelegentlich auch seine Frau zu Wort
kommen ließ. Wie sie sollte er gern Bildungsromane und
Reiseberichte lesen, sich an weichen Eiern im Glas delektieren
und Freude an Wald und Flur haben. Sonntags sollte
dieser Prachtmensch mit seiner Gattin zum Vierwaldstätter
See im Frankfurter Stadtwald radeln und sie abends in
die Alemannia-Lichtspiele an der Hauptwache führen.
Dort war Platz für achthundert Zuschauer. Im eleganten
Foyer waren vier Pfeiler, die mit Metallrahmen und mattem
Glas als Leuchtkörper gestaltet waren. Anna war erst
zweimal in diesem eindrucksvollen Kinoparadies gewesen,
als Johann Isidor und Madame Betsy nach dem großen Umbau
mit sämtlichen Honoratioren der Stadt zur feierlichen
Wiedereröffnung geladen worden waren.
Anna wünschte sich ein Häuschen im dörflichen Frankfurter
Vorort Seckbach. Der Garten sollte groß genug
für drei Kinder sein, eine Dogge, wie sie Bismarck gehabt
hatte, und eine gescheckte Katze, die ja allgemein als
Glücksbringerin galt. Sie wollte ihren Mann bitten, vor
dem mächtigen Apfelbaum eine Bank aufzustellen und sie
grün anzustreichen. An sonnigen Tagen wollte die Hausfrau
dort ihre Erbsen pulen und nach getaner Arbeit Socken
für den Winter stricken.
Victoria, die sich noch nicht einmal vorstellen mochte, sie
würde je heiraten, geschweige denn Kinder bekommen,
war eine besonders aufmerksame Zuhörerin, wenn die
beiden ungleichen Halbschwestern einander Zukunft ausmalten.
Trotzdem schloss sie meistens die Augen, als
könnte sie die Bilder vom bürgerlichen Glück nicht ohne
Schmerz ertragen. Mit einem kleinen Seufzer, der dem von
Maria Stuart in Gefangenschaft entsprach, wenn sie in
ihrem Kerker an das schöne Leben in Frankreich zurückdachte,
und der bei Victoria ebenso herzzerbrechend
ausfiel, sagte sie: »Meine kleine Spießerin in der Kittelschürze.«
Auch Anna kannte ihren Text. »Bei Spießern weiß man
doch wenigstens, woran man ist«, hatte sie zu antworten,
worauf sie und Victoria so unbefangen lachten, als wäre
der kleine Sketch tatsächlich nur ein Spiel mit Worten gewesen.
Gerade Victoria, die ganz sicher war, dass bald die berühmtesten
Theaterintendanten Deutschlands mit langfristigen
Verträgen vor ihrer Tür Schlange stehen und sich ihretwegen
duellieren würden, schätzte hin und wieder die
harmlosen Spiele ihrer Kindertage. Noch mehr schätzte sie
es allerdings, dass sie ihrer Lust an kleinen Bosheiten nachgeben
konnte, ohne dass das Opfer ihrer spitzen Zunge sich
getroffen fühlte. Anna war schon immer die ideale Partnerin
gewesen - sie nahm nicht übel, war leicht zu beeindrucken,
nie eifersüchtig, und sie kannte ihre Grenzen.
Ihrerseits bewunderte Anna ihre souveräne, aparte, großtuerische
Schwester. Selbst deren Sarkasmus fand sie
chic. Aus der koketten kleinen Vicky mit dem frühreifen
Charme, dem weder Frau, Mann noch Kind hatten widerstehen
können, war eine Schönheit mit langen Beinen und
markantem Profil geworden. Fünfzehnjährige Jungen und
würdevolle Familienväter wurden scharlachrot, wenn sie
sich von Victoria Sternberg angeschaut glaubten. Alte Herren
mit Rheuma gingen in die Knie, um das Taschentuch
der Schönen vor rohen Füßen zu retten, und aus ihren
Taschen fielen ständig altmodische Spitzentüchlein oder
ebenso altmodische duftende Briefkuverts - genau wie in
den Lustspielen aus der Biedermeierzeit. Die junge Sternberg,
die sich vorgenommen hatte, so berühmt wie Sarah
Bernhardt zu werden und so umschwärmt wie Josephine
Baker, sah bei jedem Blick in den Spiegel eine Königin.
Der Schwester aus der anderen Welt imponierte nicht nur
Victorias Schönheit, sondern noch mehr deren Besessenheit
und Energie. Mochten ihr König, Bauer und Bettelmann
mit Stentorstimme und Tag für Tag von dem Weg
abraten, den sie zu gehen gedachte, sie verstopfte ihre hübschen
kleinen Ohren mit schlanken, gepflegten Händen,
an denen links ein Rubin und rechts eine goldene Schlange
mit Augen aus Smaragd glänzten. Fräulein Sternberg
wusste sich zur Schauspielerin geboren. Sie sah sich, ehe
man sie nach Berlin holte, in ihrer Heimatstadt auf der
Bühne stehen, mit Lorbeer bekränzt, auf Rosen gebettet
und mit jubelnden Kritiken bedacht. Ihr Vater, der in den
Augen der klugen Tochter von nichts wusste, was die Welt
zusammenhielt, und der folglich Schauspieler als fahrendes
Volk ablehnte, vor dem man die Wäsche schützen
musste, würde mit feuchten Augen in der ersten Reihe
sitzen. Auch die Mutter, diese skeptische Frau, die vom
Denken ihrer Vorfahren nicht loskam und die sich nichts
anderes als gut verheiratete Töchter wünschte und Schwiegersöhne,
die ihr Ehre machten, würde ihre Tränen laufen
lassen, wenn Victoria als blonde Ophelia von Hamlet ins
Kloster geschickt würde.
Bisher hatte es diese außergewöhnliche schauspielerische
Begabung noch nicht einmal zur Bühnenelevin gebracht.
Doch nicht einmal in den trüben Momenten, da sie sich
erinnerte, dass zwei Schauspiellehrer sie wegen mangelnder
Begabung als Schülerin abgewiesen hatten, bezweifelte
sie, dass sie Othellos Desdemona und Romeos Julia
spielen würde. Und Fausts Gretchen auf eine noch nie da
gewesene Art.
»Schon bei dem Gedanken, immerzu mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, wird mir übel«, sagte Anna.
»Du musst dir nur die richtigen Wände aussuchen, meine
Gute. Aber ich fürchte, dazu hast du nicht genug Phantasie.«
Victoria täuschte sich. Anna hatte durchaus Phantasie. Nur
sparte sie die für besondere Gelegenheiten auf. Manchmal
wurde selbst sie es leid, als bescheidenes Veilchen im Schat-
ten heranzuwachsen. Dann brach sie in sehr ferne Welten
auf, war dort eine Dame vom Feinsten, trug werktags
teure Seidenstrümpfe und immer durchsichtige Unterwäsche.
Den neuen hellgrauen Topfhut mit dem lila Seidenband
holte sie mit der gleichen Nonchalance aus dem
Schrank wie andere Mädchen ihre Baskenmütze. In Momenten
der allergrößten Sündhaftigkeit trieb es die Jungfer
Anna noch toller. Dann ähnelte sie wie ein Zwilling dem
anderen der verruchten Halbweltdame auf der Zigarettenpackung
der Marke Xanthia.
Annas Vater rauchte neuerdings Xanthia - stets lag eine
Packung auf dem Trommeltisch im Salon. Und manchmal
konnte es geschehen, dass Anna, die nie vom geraden Weg
abwich, eine geradezu körperlich quälende Sehnsucht nach
Verruchtheit und Sünde spürte. Für Xanthia räkelte sich
eine aschblonde Frau mit dem aktuellen Bubikopf der späten
Zwanzigerjahre und der schimmernden Alabasterhaut
einer Marmorstatue in einem schneeweißen Unterrock auf
einer roten Ledercouch. Der Vamp hatte eine Knabenfigur
und einen verschleierten Blick. In seiner Rechten hielt
er eine lange schwarze Zigarettenspitze.
Anna mit dem langen Haar, das sie wie ein Burgfräulein
aus dem Mittelalter zu einer adretten Krone um ihren
Kopf legte und von dem sie sich trotz der aufreizenden Fotos
der Garçonnes in den Zeitungen für die feine Dame
nicht trennen mochte, war meilenweit entfernt von ihrer
Traumvorlage - nicht nur äußerlich. Sie war zu zurückhaltend,
um auch nur eine der vielen reizvollen Rollen zu erwägen,
die jungen Frauen von smarten Journalistinnen als
Sprungbrett in die Moderne anempfohlen wurden.
Das neue Selbstbewusstsein von Frauen, die bei jeder Gelegenheit
von Freiheit redeten und die entsprechend freie
Auffassungen vom Leben hatten, waren im Hause Sternberg
ausschließlich die Domäne von Clara und Victoria.
Allerdings war Alice mit den großen himmelblauen Augen,
erst elf und doch schon Frau und wie der Schönling Narziss
ins eigene Spiegelbild verliebt, ihre gelehrige Schülerin.
Gleichgültig, ob die drei aparten Schwestern in
Geschäften vor denen bedient wurden, die an der Reihe
waren, ob sie im Palmengarten flanierten, in einem Kaufhaus
Bewunderer fanden oder sich im Café an Komplimenten
delektierten, die Aufmerksamkeit der Männerwelt
und der Frauen Neid waren ihnen gewiss.
Victoria und Clara zeigten schon morgens Bein. Jeden, der
ihnen zuhörte, ließen sie wissen, Frauenbeine seien so erotisch
wie beim Hahn der Kamm und beim Flamingo die
rosa Federn. Sie trugen fleischfarbene Strümpfe aus Paris
und zierliche Riemchenschuhe aus schwarzem Lackleder.
Die Taillen ihrer Kleider waren in Hüfthöhe. Sie waren
stolz auf ihre flache Brust und den schönen Schwanenhals.
Erst ließ sich Victoria, anschließend Clara einen Bubikopf
schneiden - der Nacken wurde beim Herrenfriseur ausrasiert.
Frau Betsy verschlug es die Sprache. Ihre Töchter
ließen jedermann wissen, sie würden sich nicht für die
Männer anziehen, sondern ausschließlich für sich selbst.
Beide zupften sie ihre Augenbrauen und benutzten schon
tagsüber nachtblauen Lidschatten. Die Lippen waren purpurrot,
die Fingernägel ebenso. »Als hätte einer mit dem
Hammer draufgehauen«, befand ihr Vater.
In jeder Gesellschaft brillierte Victoria mit der Laszivität
der jungen Wilden. Bereits nach dem ersten Glas Sherry
proklamierte sie, ein Frauenbusen wäre allenfalls noch ein
Gewinn für Ammen aus dem Spreewald und Buschfrauen.
Claras Röcke bedeckten kaum das Knie. Um ihre knaben-
hafte Figur zu halten, knabberte sie mittags Selleriestangen
und nahm, wie ihre Mutter zu Recht vermutete, Abführmittel.
Aus der Perspektive der Eltern vergaß Fräulein
Clara provozierend häufig, was geschehen war, ehe ihr der
Vater die kleine Wohnung im vierten Stock überlassen
hatte. Laut altem, immer noch bei rechtschaffenen Leuten
geschätztem wilhelminischem Sprachgebrauch war nämlich
die älteste Sternbergtochter ein gefallenes Mädchen.
Ihre Schwester Victoria fürchtete sich dennoch nicht, mit
jedem Atemzug ihr Leben zu genießen. Mittags traf sie
sich mit noblen Herren, denen sie phantasie entflammende
Hoffnungen machte, zum Lunch à la mode. In vornehmen
Restaurants flunkerte sie ihnen vor, in ihrem Elternhaus
würden ausschließlich Weine serviert, die ein befreundeter
Sommelier für die Pariser Hautevolee zu empfehlen
pflegte. Erstaunlich anschaulich, weil sie weder das eine
noch das andere je gekostet hatte, beschrieb sie die Wonnen
von Coq au Vin und Froschschenkel in Riesling. Der
Panther war ihr Lieblingstier. Sie liebäugelte mit einer Brosche
im Schaufenster des teuersten Juweliers in der Stadt.
Dort lag ein Panther aus Weißgold, mit Rubinen bestückt,
auf einem schwarzen Samtkissen.
Victoria, mit dem Talent, sich selbst zu inszenieren, fand
Hausmannskost überholt und das Hausfrauendasein eine
»Fessel, die nicht mehr in die Zeit passt«. Ihrer Mutter, die
fünf Kinder geboren und großgezogen hatte, sagte sie das,
ohne zu erröten. Sie schwärmte für grünen Curry, den es
nur in einem einzigen Geschäft zu kaufen gab, und fand
Hummer, wenn »man ihn zu oft vorgesetzt bekommt, doch
ein wenig fad«. Obwohl sich Victoria vor Schweinefleisch
ekelte, das in ihrem Elternhaus selbst in Zeiten der Not
nicht auf den Tisch gekommen war, ging sie oft in die Bür-
gerlokale von Sachsenhausen. Dort aß sie mit Männern,
die sie als wichtig für ihr Fortkommen einschätzte, Rippchen
mit Sauerkraut und trank Ebbelwein, den sie nicht
vertrug. Mit einem Regisseur, der ihr eine Hauptrolle versprochen
hatte, obgleich er selbst seit zwei Jahren ohne
Engagement war, hatte sie sich sogar an eine Schweinshaxe
gemacht. In der Nacht musste ihr die Mutter warme Leibwickel
auflegen, und Victoria fragte sich, ob nicht vielleicht
doch der Glaube ihrer Kindertage stimmte, dass Gott den
Genuss von Schweinefleisch bei Juden umgehend mit dem
Tod ahndet.
Die Köchin Josepha indes, die dem süßen Vickylein Zwetschenkuchen
gebacken und Himbeerpudding gekocht
hatte, behandelte die erwachsene Victoria immer noch mit
dem Respekt, der der treuen Seele zukam. Taktvoll verschwieg
ihr das snobistische Fräulein die Veränderungen
der Zunge und was sie aß, wenn sie ihre langen Beine nicht
unter den Familientisch stellte. Mehr noch: Victorias sanfte
braune Augen wurden feucht, wenn, wie in früheren Zeiten,
zu ihrem Wiegenfest eine Schokoladentorte mit kandierten
Veilchen auf dem Geburtstagstisch stand. Dann
dachte die eindrucksvollste Salondame, die das deutsche
Theater je kennenlernen sollte, an Großtante Jettchen.
Vicky war ihre Lieblingsnichte gewesen; zu jedem Geburtstag
hatte sie ihr einen Teil aus ihrer wertvollen Schmuckschatulle
geschenkt und, als Erinnerung an glückliche
Zeiten, aus Baden-Baden Schokoladenpflaumen in Goldpapier
kommen lassen. Jettchen war vor fünf Jahren gestorben,
im Schlaf und ohne dass die Familie hatte Abschied
nehmen dürfen. Victoria konnte deren Tod nicht
verwinden.
Sie hatte ohnehin Schwierigkeiten mit der Endgültigkeit.
Den Tod ihres ältesten Bruders Otto, der schon im dritten
Kriegsmonat fiel, hatte sie als Sechsjährige erlebt und umgehend
aus ihrem Gedächtnis gestoßen. Die Vergangenheit
wurde im Schrank hinter schweren Wolldecken aus
Notzeiten gelagert - eine vergilbte Fotografie, auf der das
Gesicht des Bruders sich nicht mehr mit Victorias Erinnerungen
deckte, und das schwarzrot gepunktete Kostüm, in
dem die Sechsjährige als Glückskäfer am Vorabend des
Weltbrands ihren ersten Theatertriumph feierte. Otto hatte
den Kopfputz, einen breiten roten Haarreif mit schwarzen
Hörnern, unmittelbar vor dem Einrücken für sie gebastelt.
Victoria dachte nur an den Bruder, wenn sie ihren Vater
die Zeitung für jüdische Frontkämpfer lesen sah. Sobald
sie Tante Jettchen erwähnte, stotterte sie. Vom Tod der
französischen Theaterheroine Sarah Bernhardt im März
1923 und vom toten Rudolph Valentino, dem Filmidol aus
Hollywood, berichtete sie, als wäre sie dabei gewesen. Sie
bezeichnete den Verlust der beiden Künstler als »eine der
größten Menschheitstragödien des zwanzigsten Jahrhunderts
« und befand es als »niederschmetternd typisch für
unsere Zeit«, dass die Menschen, selbst die Leute vom
Theater, sie verständnislos anschauten, wenn sie mit sonorer
Stimme ihre Sicht der Welt darlegte.
Auch ihre ältere Schwester hatte Schwierigkeiten mit der
Zeit, in der sie lebte. Sie war ausschließlich von jenen gut
gelitten, die sich, wie sie, frei vom »Muff der Spießer«
wähnten. Clara Sternberg war nun sechsundzwanzig, ledig
und ohne Aussicht auf Veränderung ihres Familienstands.
Sie trug ihr Schicksal erhobenen Hauptes und rechtfertigte
sich weder bei Freund noch Feind für den Weg, den sie
gegangen war. Die, die Bescheid wussten, befanden unter
vorgehaltener Hand, ein solcher Stolz käme selbst einer
Sternberg nicht zu; das würde, wussten sie, die Zukunft erweisen.
Frau Winkelried, die Putzfrau, sprach es am deutlichsten
aus. »Das Fräulein Clara«, pflegte die aufrichtige
Seele mit Volkes Stimme zu schelten, »ist ein gefallenes
Mädchen.«
Selbst Josepha mit dem Herzenstalent, Frau Betsys Kinder
so zu lieben, als wären es die eigenen, gelang da kein
überzeugender Widerspruch. Frau Winkelried war, nachdem
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Oberschicht wieder
leidlich ins Lot gekommen waren, im Hause Sternberg
als Putzfrau fürs Grobe engagiert worden. Freitags wurde
sie auch zu Clara in den vierten Stock geschickt. Dort
scheuerte sie mit verkniffener Miene und moralischer Empörung
Küche, Bad und Haustreppe. Gertrud Winkelried
war als Kriegswitwe mit karger Pension und drei Kindern,
die allesamt noch in der Schule und nicht satt zu bekommen
waren, auf den zusätzlichen Verdienst bei Clara angewiesen.
Jedoch ließ sie ständig sowohl ihre Familie als
auch Josepha wissen, dass allein Mutterliebe und Not ihr
geboten, »für so eine zu schaffen«.
Seit exakt acht Jahren und neun Monaten weigerte sich
nämlich Fräulein Clara, den Vater ihres Kindes anzugeben.
Selbst die eigenen Eltern mochten ihr die Absage an die
bürgerliche Moral nicht verzeihen und schon gar nicht, dass
sie weder Scham noch Reue zeigte. Claras Geschwister hingegen
standen fest an ihrer Seite. Für Victoria war die ältere
Schwester eine Heldin, die für das Recht der Frauen
auf freie Liebe kämpfte. Anna und die kleine Alice waren
stumme Bewunderer. Erwin, der geliebte Zwillingsbruder,
selbst ein Rebell, der Kompromisse als Sünde verachtete,
zollte ihr offenen Beifall. »Nicht jede jüdische Mutter fin-
det einen gutmütigen Zimmermann, dem sie ihr Kind
unterschieben kann«, beschied Erwin seinem Vater, als der
sich wieder einmal über die deutsche Jugend im Allgemeinen
und über Clara im Besonderen beklagte.
Erwin setzte sich sein giggelndes Nichtchen Claudette auf
den Schoß, bekränzte sie mit Petersilie und Liebstöckel
und sang mit ihr abwechselnd »Auf in den Kampf, Torero«
und »Die Liebe vom Zigeuner stammt«. Das führte bei
Claudettes Großeltern zu Irrungen und Wirrungen von ungeheurem
Ausmaß. Im vierten Stock hatte zur Zeit von
Claras Sturz aus dem Himmel der wohlerzogenen Jungfrauen
nämlich ein Opernsänger gewohnt, schön wie Apoll
und ein Frauenfänger wie Blaubart. Die romantische Spur
war allerdings vom nichtsnutzigen Erwin, der seinerseits
absolut im Bilde war, wem er seine putzige kleine Nichte
verdankte, bewusst falsch gelegt worden.
Ein Kind der Liebe war die kleine Claudette allemal gewesen
und schon als Achtjährige eine typische Sternberg -
mit Augen, die wie Sterne funkelten, und Lippen, die früh
Männerträume entzünden würden. Schon jetzt balgten sich
auf der Burgstraße kleine Buben, um für die Schülerin
Claudette Sternberg den Ranzen in die Merianschule tragen
zu dürfen. Noch ehe sie das Wort Diva kannte, war sie
eine. Die Schnittmuster für ihre Kleider ließ die Mutter
aus Paris kommen, die breiten Haarschleifen stammten aus
Großvaters Posamenterie. Die Söckchen waren weiß wie
Schneeglöckchen, die Schuhe zierlich wie die von Aschenputtel,
als sie aus der goldenen Kutsche stieg. Die künftige
Königin hatte schwarze Ringellocken und hochstehende
Backenknochen, die ihr schmales Gesicht noch zusätzlich
veredelten. Selbst wenn sie Josephas Speisekammer plünderte
und aus Großmutters Nähkorb die schönsten Knöpfe
stibitzte, sah sie so unschuldig aus wie eine Barockputte.
Raffiniert war sie wie Salome, entschlossen wie die Jungfrau
von Orleans, und wenn sie einmal weinte, glitzerten
ihre Tränen wie Perlen und bezauberten die Engel im Himmel.
Claudette Sternberg wurde eine Erziehung wider Zeitgeist
und Moral zuteil. Freiheit war das Schlüsselwort. Zivilcourage
und körperlicher Mut wurden ihr als die Waffe der Klugen
anempfohlen. Das Leben dieser glücklichen Achtjährigen
war so ungewöhnlich wie unbeschwert. Sie fragte ihre
Mutter nie nach einem Vater auf Erden und selten nach
dem im Himmel; sie durfte Bücher aus dem Regal holen,
die anderswo vor Fünfzehnjährigen unter Schloss und Riegel
gehalten wurden, und das Engelchen klärte sämtliche
Freundinnen über den Umstand auf, dass der Storch keine
Babys brachte und der Osterhase keine Eier legte.
Keiner drohte Claudette mit dem schwarzen Mann und
niemand mit der Hölle. Ohne dass ihre Mutter Einspruch
erhob, durfte sie wie ein Bierkutscher fluchen; sie prügelte
sich mit Gassenjungen, wenn sie ihr Fahrrad verteidigen
musste, und sie lehrte Rivalinnen, die es wagten, an ihrer
Ehre zu zweifeln, das Fürchten. Die beherzte Amazone mit
der Zahnlücke bemalte ihre Fingernägel rot, probierte
Mutters Lippenstift und Hüte aus und brauchte nie wie
andere Kinder ihren Teller leer zu essen, Lebertran zu
schlucken oder in der Ecke zu stehen, um Buße für eine
Kindersünde zu tun. Sie wurde von ihrer Mutter und von
blendend aussehenden Männern, die erfolglos um diese
schöne Mami warben, mit in exquisite Lokale genommen.
Dort durfte sie so lange Windbeutel und Mohrenköpfe
essen, bis ihr schlecht wurde und einer der starken jungen
Männer sie nach Hause tragen musste.
»Heute haben wir frische Liebesknochen«, sagte der grauhaarige
Kellner im Café Hauptwache.
»Eclairs«, verbesserte Mademoiselle Claudette, denn sie
kannte sich in der großen Welt besser aus als andere Mädchen
in ihrer Schulfibel.
Schneewittchens Zwerge und Aschenputtels Nöte waren
ihr gleichgültig. Hänschen klein zog bei ihr nicht in die
Welt hinaus, kein Vogel machte Hochzeit, aber Charleston
konnte sie tanzen, und sie liebte den Cancan. Tante Victoria
war ihre Lehrmeisterin. Nichts wusste Claudette von
Noahs Arche oder dem Apfelbaum im Paradies, doch erzählte
ihr die vergötterte Frau Mama wunderbar anschaulich
von Cleopatra, die sich der Liebe wegen in einen Teppich
hatte wickeln lassen.
»Ohne Hemd und Höschen«, berichtete Claudette ihrer
schockierten Großmutter, »ganz, ganz nackt war sie. Onkel
Erwin hat gesagt, alle Männer haben sich ganz toll gefreut.«
»Unsere Tochter sollte sich schämen«, beklagte sich Frau
Betsy bei ihrem Mann, »und ihr Herr Bruder ebenfalls.
Einem kleinen unschuldigen Mädchen so etwas zu erzählen.
Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als meinen
Kindern so etwas zu sagen.«
»Zum Schämen ist es zu spät«, seufzte Johann Isidor.
»Wenn sich hier einer schämen muss, sind wir es, meine
Liebe. Wir haben als Eltern komplett versagt. Wenn du
mich fragst, bei Victoria und Alice ebenfalls. Von Erwin
ganz zu schweigen.«
Ein Jahr zuvor, an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag,
hatte er geschworen, sich nie wieder in seinem Leben über
eines seiner Kinder aufzuregen. »Meine Zunge soll mir abfallen«,
hatte er trotz der vielen Gäste beteuert, »wenn mir
je wieder ein Wort der Klage über die eigene Brut entschlüpft.«
Es war, wie alle Schwüre, nur eine öffentlich erklärte
Absicht gewesen, ein Traum in einem Meer von Illusionen.
»Unsere Clara hat sich nie geschämt, für nichts«,
erinnerte er seine Frau, als sie ihm von Claudette und
Cleopatra erzählte.
»Sie war viel zu jung, um zu begreifen, worauf sie sich einließ
«, sagte Betsy. Sie sagte das immer, wenn von Clara die
Rede war, doch sie hörte nie auf, sich Vorwürfe zu machen.
»Seitdem ist sie immerhin acht Jahre älter geworden.
Irgendwann muss ihr doch aufgehen, dass sie nicht zu ihrem
Vergnügen auf der Welt ist. Ihr Herr Bruder wittert
doch auch mit zarten sechsundzwanzig den Ernst des Lebens
«, bemerkte Johann Isidor.
Frau Betsy verabscheute ihren Gatten, wenn er ironisch
wurde. »Mach dich nicht unglücklich«, sagte sie. »Wer
weiß, was das Leben uns noch bringt. Es ist eine Sünde,
die Hoffnung aufzugeben.«
»Du hast ja so recht, meine Liebe. Schau dir den Sohn des
alten Wolf an. Der hält Bridgespielen für einen Beruf, aber
mit fünfzig hat er ein Vermögen gemacht.«
»Wirklich?«
»Ich schwöre es. Das schlaue Kerlchen hat vier Tage nach
dem Tod seines Vaters das Haus in der Wielandstraße
verkauft. Das wird doch unser Erwin mit meinen Häusern
auch eines Tages schaffen. Falls er nicht in den Main
springt, wenn er erfährt, dass ich dich zu meiner Vorerbin
gemacht habe und er hoffentlich noch viele Jahre warten
muss. Auf seinen Pflichtteil, natürlich.«
»Komm, sag nicht solche Sachen. Ich bekomme eine Gänsehaut,
wenn du so von unserem Tod sprichst.«
»Wenn ich kein Testament gemacht hätte, Betsy, und dir
unsere Kinder das Dach über dem Kopf versteigern könnten,
ehe du von der Gemeinde die Rechnung für die Beerdigungskosten
bekommen hast, müsstest du die Gänsehaut
kriegen.«
Erwin lebte seit fünf Jahren in Berlin; dort hockte er in
einem Hinterzimmer, trank zu viel Schnaps, wurde nie
richtig satt und träumte in allen Farben, die den expressionistischen
Malern heilig waren, die Welt würde eines
Tages seinen Namen kennen. In sein Elternhaus kehrte
Erwin nur dann zurück, wenn die finanziellen Zuwendungen
aus Frankfurt aufgebraucht waren und er nicht
mehr wusste, wie er in Berlin Kost und Logis bezahlen
sollte.
Nach dem Tod seines Bruders Otto hatte sich der vielversprechende,
vielseitig interessierte, intelligente, witzige,
damals vierzehnjährige Erwin Sternberg dem Leben verweigert.
Und seinem Vater. Er mochte nicht Stammhalter
sein. Vaters Posamenterie, die Geschäfte, der Verlag interessierten
Erwin nicht. Er wollte weder einen bürgerlichen
Beruf, noch hatte er vor, für eine Familie zu sorgen. Das
Abitur machte er nicht. Lehrstellen, die der Vater ihm hätte
verschaffen können, lehnte er ab. Seine Ideale vergaß er
so gründlich wie Caesars Kriegszüge und Ciceros Reden.
Der Zionismus, der ihn als Jugendlicher begeistert hatte,
erwärmte sein Herz nicht mehr. Vergessen waren die Kibbuzimin
Palästina, wo er ein Leben in Gleichheit und Brüderlichkeit
hatte führen wollen.
Erwin konnte sich sein Leben nur als Maler vorstellen, als
ein Umjubelter, ein Begnadeter, wobei er einem Talent
vertraute, das ihm seit der Quarta, als der Kunstlehrer den
kohlenschwarzen Augen des Schülers Sternberg nicht
hatte widerstehen können, niemand mehr bestätigt hatte.
Vollständige Taschenbuchausgabe 01/2011
2. Auflage
Copyright © 2009 by Langen Müller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung
GmbH, München
Copyright © 2011 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines
Fotos von © shutterstock/Serhiy Kyrychenko
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-40778-7
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Autoren-Porträt von Stefanie Zweig
Stefanie Zweig, 1932 in Oberschlesien geboren, wanderte im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung 1938 mit ihren Eltern nach Kenia aus und verlebte ihre Kindheit auf einer Farm. Ihre Romane "Nirgendwo in Afrika" und "Nur die Liebe bleibt" schildern diese Zeit. Nach der Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1947, die Stefanie Zweig in dem Roman "Irgendwo in Deutschland" beschreibt, zog ihre Familie schon bald in das Haus in der Rothschildallee.Stefanie Zweig hat dreißig Jahre lang das Feuilleton einer Frankfurter Tageszeitung geleitet und lebte bis zu ihrem Tod 2014 als freie Schriftstellerin in Frankfurt. Für ihre Jugendbücher wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Alle ihre großen Romane standen wochenlang auf den Bestsellerlisten und erreichen eine Gesamtauflage von über 7,5 Millionen Büchern. 1993 erhielt Stefanie Zweig die "Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland". "Nirgendwo in Afrika" wurde von Caroline Link verfilmt und erhielt 2003 den "Oscar" für den besten ausländischen Film.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefanie Zweig
- 2011, Erstmals im TB, 400 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453407784
- ISBN-13: 9783453407787
- Erscheinungsdatum: 04.12.2010
Kommentar zu "Die Kinder der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.2"
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