Die Kunst, kein Egoist zu sein
Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält
Warum es uns so schwer fällt, gut zu sein.
Ist der Mensch gut oder schlecht? Ist er in der Tiefe seines Herzens egoistisch oder hilfsbereit? Und wie kommt es eigentlich, dass sich fast alle Menschen mehr oder weniger für "die...
Ist der Mensch gut oder schlecht? Ist er in der Tiefe seines Herzens egoistisch oder hilfsbereit? Und wie kommt es eigentlich, dass sich fast alle Menschen mehr oder weniger für "die...
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Produktinformationen zu „Die Kunst, kein Egoist zu sein “
Warum es uns so schwer fällt, gut zu sein.
Ist der Mensch gut oder schlecht? Ist er in der Tiefe seines Herzens egoistisch oder hilfsbereit? Und wie kommt es eigentlich, dass sich fast alle Menschen mehr oder weniger für "die Guten" halten und es trotzdem so viel Unheil in der Welt gibt? Das Buch stellt keine Forderung auf, wie der Mensch zu sein hat. Es untersucht die Frage, wie wir uns in unserem täglichen Leben tatsächlich verhalten und warum wir so sind, wie wir sind: Egoisten und Altruisten, selbstsüchtig und selbstlos, kurzsichtig und verantwortungsbewusst. Ein Buch, das uns dazu bringt, uns selbst mit neuen Augen zu sehen!
Ist der Mensch gut oder schlecht? Ist er in der Tiefe seines Herzens egoistisch oder hilfsbereit? Und wie kommt es eigentlich, dass sich fast alle Menschen mehr oder weniger für "die Guten" halten und es trotzdem so viel Unheil in der Welt gibt? Das Buch stellt keine Forderung auf, wie der Mensch zu sein hat. Es untersucht die Frage, wie wir uns in unserem täglichen Leben tatsächlich verhalten und warum wir so sind, wie wir sind: Egoisten und Altruisten, selbstsüchtig und selbstlos, kurzsichtig und verantwortungsbewusst. Ein Buch, das uns dazu bringt, uns selbst mit neuen Augen zu sehen!
Lese-Probe zu „Die Kunst, kein Egoist zu sein “
Die Kunst, kein Egoist zu sein von Richard David PrechtEinleitung
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Als der österreichische Journalist und Fernsehautor Josef Kirschner im Jahr 1976 seinen sehr erfolgreichen Ratgeber mit dem Titel schrieb: »Die Kunst, ein Egoist zu sein«, ahnte er nicht, wie sehr ihn die gesellschaftliche Wirklichkeit fünfundreißig Jahre später überholt haben würde. Kirschner meinte damals, dass unsere Gesellschaft krank sei, weil sich die meisten Menschen zu sehr anpassten und dabei versäumten, ihren eigenen Weg zu gehen.' »Schonungslos werden uns jene Schwächen vor Augen geführt, die uns an der Selbstverwirklichung hindern«, verkündete der Klappentext. Statt nach Liebe, Lob und Anerkennung zu gieren, sollten wir es lieber wagen, uns ohne allzu viel Rücksicht durchzusetzen, befreit von den Meinungen anderer Menschen. Lieber ein erfolgreicher Egoist als ein duckmäuserischer Anpasser, lautete die frohe Botschaft.
Im Deutschland des Jahres 2010 beschäftigen uns andere Sorgen. Die Idee der Selbstverwirklichung ist heute kein ferner Traum mehr, sondern eine tägliche Sorge. In dem Anspruch, anders zu sein als die anderen, sind sich alle gleich. Das Wort Egoismus aber hat seinen verbotenen Zauber verloren. Die »Schwächen«, die Kirschner ausmerzen wollte, werden heute allenthalben schmerzlich vermisst: die Rücksicht und die Scham, die Hilfsbereitschaft und die Bescheidenheit. Als »egoistisch« gebrandmarkte Banker gelten heute als die Urheber der jüngsten Finanzkrise. Wirtschaftswissenschaftler und Politiker zweifeln öffentlich an den Segnungen eines Wirtschaftssystems, das auf den Prinzipien des Egoismus und des Eigennutzes beruht. Unternehmensberater und Consultants unterrichten Manager in kooperativem Verhalten. Ungezählte Festredner beklagen hoch bezahlt den Verlust der Werte. Und kaum eine Talkshow vergeht ohne den diffusen Ruf nach einer »neuen Moral«. Die Kunst, kein Egoist zu sein, so scheint es, steht heute höher im Kurs.
An die Moral zu appellieren fällt dabei niemandem schwer. Und es hat viele Vorteile. Es kostet nichts, und es lässt einen selbst in gutem Licht erscheinen. Doch so nötig ein neuer Blick auf die Moral im Zeitalter der Weltgesellschaft tatsächlich ist -eine Moral nach dem Ende der Systemkonkurrenz von Sozialismus und Kapitalismus, eine Moral in den Zeiten des Klimawandels, des Gefahrenindustrialismus und der Ökokatastrophe, eine Moral der Informationsgesellschaft und der Multikulturalität, eine Moral der globalen Umverteilung und des gerechten Krieges -, so wenig scheinen wir bis heute zu wissen, wie Menschen tatsächlich moralisch funktionieren.
In diesem Buch soll versucht werden, dieser Frage näherzukommen. Was wissen wir heute über die moralische Natur des Menschen? Was hat Moral mit unserem Selbstverständnis zu tun? Wann handeln wir moralisch und wann nicht? Warum sind wir nicht alle gut, wo wir es doch eigentlich ganz gerne wären? Und was könnte man in unserer Gesellschaft ändern, um sie langfristig »besser« zu machen?
Was ist das überhaupt - die Moral? Es ist die Art, wie wir miteinander umgehen. Wer moralisch urteilt, teilt die Welt in zwei Bereiche: in das, was er achtet, und in das, was er ächtet. Tag für Tag, manchmal Stunde um Stunde beurteilen wir etwas nach gut und schlecht, akzeptabel und nicht akzeptabel. Und was der Inhalt des moralisch Guten sein soll, darin sind sich die allermeisten Menschen erstaunlich einig. Es sind die Werte der Ehrlichkeit und der Wahrheitsliebe, der Freundschaft, der Treue und der Loyalität, der Fürsorge und Hilfsbereitschaft, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit, der Höflichkeit und des Respekts, des Muts und der Zivilcourage. All das ist irgendwie gut. Aber gleichwohl gibt es keine absolut sichere Definition des Guten. Mutig zu sein ist eine gute Eigenschaft - aber nicht in jedem Fall. Loyalität ehrt den Loyalen, aber nicht immer. Und konsequente Ehrlichkeit führt nicht ins Paradies, sondern stiftet vermutlich vielfachen Unfrieden.
Um das Gute zu verstehen, reicht es nicht aus zu wissen, was es sein soll. Vielmehr müssen wir unsere komplizierte und oft verquere Natur verstehen. Aber was ist das, »unsere Natur«? Für den schottischen Philosophen David Hume gab es zwei mögliche Betrachtungsweisen.2 Einmal kann man sie studieren wie ein Anatom. Man fragt nach ihren »geheimsten Ursprüngen und Prinzipien«. Diese Arbeit erledigen heute die Hirnforscher, die Evolutionsbiologen, die Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen. Die zweite Perspektive ist die eines Malers, der die »Anmut und Schönheit« des menschlichen Handelns vor Augen führt. Diese Aufgabe fällt heute ins Ressort der Theologen und Moralphilosophen. Doch wie ein guter Maler die Anatomie des Menschen studiert, so muss sich der Philosoph heute auch in die Skizzen der Hirnforscher, Evolutionsbiologen, Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen vertiefen. Denn das Studium unserer Natur sollte uns nicht nur etwas über unsere guten Absichten sagen. Sondern auch dazu, warum wir uns so selten nach ihnen richten. Und vielleicht einen Hinweis darauf geben, was man dagegen tun kann.
Was der Mensch »von Natur aus« ist, ist nicht einfach zu sagen. Jede Erklärung kleidet sich in die Gewänder der Zeit, in der der Schneider ihrer Ideen lebt. Für einen Denker des Mittelalters, wie Thomas von Aquin, war die natura human der eingehauchte Geist Gottes. Was Gut und Böse ist, wissen wir deshalb, weil Gott uns einen inneren Gerichtshof geschenkt hat - das Gewissen. Im 18. Jahrhundert änderte der Gerichtshof seinen Urheber. Was vorher das Werk Gottes sein sollte, war für die Philosophen der Aufklärung die Leistung unserer Rationalität. Unsere klare Vernunft gäbe uns verbindlich Auskunft darüber, welche Grundsätze und Verhaltensweisen gut sind und welche schlecht. Nach Ansicht vieler Naturwissenschaftler der Gegenwart ist das »Gewissen« dagegen weder eine Sache Gottes noch eine Sache der Vernunft, sondern eine Versammlung biologisch uralter sozialer Instinkte.
Für Moral, so scheint es, sind heute zunehmend Biologen zuständig. Und es scheint erfolgreich, vielleicht allzu erfolgreich zu sein, was der Evolutionsbiologe Edward 0. Wilson bereits im Jahr 1975 einforderte: dass man die Ethik vorübergehend den Philosophen aus den Händen nehmen und »biologisieren« sollte.' Die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit, im Fernsehen, in Zeitungen und in Zeitschriften aller Couleur haben heute tatsächlich die Naturwissenschaftler. Selbstgewiss weisen sie darauf hin, »dass es schon vor der Kirche eine Moral gab, Handel vor dem Staat, Tausch vor Geld, Gesellschaftsverträge vor Hobbes, Wohlfahrt vor den Menschenrechten, Kultur vor Babylon, Gesellschaft vor Griechenland, Selbstinteresse vor Adam Smith und Gier vor dem Kapitalismus. All diese Aspekte sind Ausdruck der menschlichen Natur, und das seit dem tiefsten Pleistozän der Jäger und Sammler.«4
Am Ursprung unserer Moralfähigkeit aus dem Tierreich besteht kein Zweifel. Die offene Frage ist allerdings, wie zielstrebig und sinnvoll sich unsere Moral biologisch und kulturell entwickelt hat. Ganz offensichtlich hatten unsere Gehirne im Lauf der Evolution eine unglaubliche Fülle an neuen Herausforderungen zu bewältigen. Und je klüger sie wurden, umso komplizierter, so scheint es, wurde die schwierige und unübersichtliche Frage der Moral. So wie wir zur Kooperation neigen, so neigen wir zu Misstrauen und Vorurteilen. Und so wie wir uns nach Frieden und Harmonie sehnen, so überkommen uns Aggressionen und Hass.
Die gleitende Logik der Moral, nach der die Philosophen zweitausend Jahre suchten, wurde auch den Biologen bislang nicht offenbart. Allzu schnell hatten sie sich von Anfang an auf das Prinzip »Eigennutz« versteift. Nichts anderes als das Vorteilsstreben sei der vermeintliche Motor unseres Soziallebens. Und so wie der Eigennutz im Kapitalismus am Ende zum Wohl aller führen soll, so sollte auch der Eigennutz in der Natur den kooperativen Affen »Mensch« hervorbringen. Das ist leicht zu verstehen. Und bis vor einigen Jahren passte es auch gut in den Geist der Zeit. Doch das Bild, das viele Wissenschaftler noch in den 1980er und 1990er Jahren vom Menschen entwarfen, ist heute verblasst. Wo wir vor wenigen Jahren kühl kalkulierende Egoisten sein sollten, sind wir nach Ansicht zahlreicher Biologen, Psychologen und Verhaltensökonomen heute ein ziemlich nettes und kooperatives Wesen. Und unser Gehirn belohnt uns mit Freude, wenn wir Gutes tun.
Auch die Ansichten über den Einfluss der Gene auf unser Verhalten haben sich innerhalb des letzten Jahrzehnts dramatisch verändert. Doch die wichtigsten Annahmen über die Evolution der menschlichen Kultur sind nach wie vor spekulativ: ob bei der Entwicklung unseres Gehirns, dem Entstehen der Lautsprache, dem Zusammenhang zwischen unserer Sexualität und unserem Bindungsverhalten, dem Beginn der menschlichen Kooperation und Hilfsbereitschaft - nirgendwo stehen wir tatsächlich auf sicherem Boden.
Die Erforschung unserer Biologie ist eine wichtige Quelle für die Erkenntnis unserer Fähigkeit, »gut« zu sein. Aber sie ist nur eine unter anderen. Warum auch sollten Tiere wie wir, die widersprüchliche Absichten haben, weinen können und Schadenfreude empfinden, sich in ihrer Entwicklung streng an mathematische Theorien und präzise kalkulierte Modelle ihrer Natur und Moral halten? Gerade der irrationale Gebrauch, den wir von unserer Fähigkeit zur Vernunft machen, ist der Grund dafür, dass wir etwas sehr Besonderes sind: Jeder von uns fühlt, denkt und handelt verschieden.
Was in diesem Buch zum Thema Moral versammelt ist, verteilt sich in der Welt der Universitäten auf zahlreiche Fächer und Fakultäten. Von der Soziobiologie zur transzendentalphilosophischen Moralbegründung, vom englischen Empirismus zur Kognitionsforschung, von Aristoteles zur Verhaltensökonomik, von der Primatenforschung zur Ethnologie, von der Anthropologie zur Soziolinguistik und von der Hirnforschung zur Sozialpsychologie.
Die meisten Wissenschaftler dieser Fächer nehmen die Forschungen aus anderen Bereichen eher selten wahr. In dieser Praxis zerfällt die Moral des Menschen in Theorieschulen und Denkrichtungen, fachliche Domänen, Teilaspekte und Perspektiven. Einen Reiseführer für die Moral zu schreiben wird dadurch nicht leicht. Der Pfad durch das Dickicht der Fakultäten ist oft nur mühselig zu schlagen. Auch bleibt manche Sehenswürdigkeit der Wissenschaft zwangsläufig unberücksichtigt und die eine oder andere klare Quelle ungenutzt.
Der erste Teil des Buches widmet sich dem Wesen und den Grundregeln unseres moralischen Verhaltens. Ist der Mensch von Natur aus gut, böse oder gar nichts? Die Arbeit an einem realistischen Menschenbild ist noch lange nicht beendet. Ich möchte versuchen, einige wichtige alte Gedanken der Philosophie mit vielen neuen und ganz neuen Forschungsergebnissen zu verknüpfen. Wird der Mensch in der Tiefe seines Herzens getrieben von Egoismus, Gier, Machtinstinkt und Eigeninteresse, wie in Zeiten der Finanzkrise (und nicht nur in diesen) allerorten zu hören und zu lesen ist? Und sind seine Instinkte, die viel zitierten animal spirits, nur etwas Schlechtes und Verderbliches? Oder ist doch irgendetwas am Menschen edel, hilfreich und gut, wie Goethe einforderte? Und wenn ja, was? Und unter welchen Bedingungen tritt es zutage?
Von Platons Idee des Guten geht es zunächst zu den klaren Weltanschauungen. Zu den Ideen, der Mensch könnte von Natur aus gut sein oder schlecht. Aus Studien an Affen und Menschenaffen lernen wir, wie stark der Sinn für Kooperation in uns verankert ist. Aber auch, warum wir uns oft so unberechenbar benehmen. Unser Mitgefühl hat ebenso biologische Wurzeln wie unser Gefühl, unfair behandelt zu werden. Moralisch zu sein ist ein ganz normales menschliches Bedürfnis - schon deshalb, weil es sich zumeist ziemlich gut anfühlt, Gutes zu tun. Ein unmoralisches Leben hingegen, das uns selbst als solches bewusst ist, wird uns kaum dauerhaft glücklich machen. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Taten vor sich selbst rechtfertigt. Und die Mittel der Rechtfertigung nennt man Gründe. Das Universum unserer Moral besteht nicht aus Genen oder Interessen, sondern aus Gründen.
So weit, so schön. Doch warum läuft so vieles schief in der Welt, wenn wir fast alle immer das Gute wollen? Unsere Suche nach Gründen, unsere Abwägungen und Rechtfertigungen machen uns nicht unbedingt zu besseren Tieren oder Menschen. Als gefährliche Mitgift rüstet sie uns zugleich mit kaum kontrollierbaren Waffen aus, die wir gegen uns selbst einsetzen wie gegen andere. Warum sonst sind wir fast immer im Recht? Warum haben wir so selten Schuld? Wie schaffen wir es, unsere guten Vorsätze zu vertagen und zu verdrängen?
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit diesen Tücken: mit dem Unterschied zwischen der Psychologie unseres Selbstanspruchs und der Psychologie unseres alltäglichen Verhaltens. Mit dem Widerspruch zwischen dem Programm und der Ausführung der Moral.
Unser Dilemma ist nicht schwer zu benennen: Auf der einen Seite tragen wir in uns das uralte Erbe unserer moralischen Instinkte. Häufig weisen sie uns beim Handeln in unserer modernen Welt den richtigen Weg; häufig aber auch nicht. Auf der anderen Seite rettet uns die Vernunft nicht unbedingt aus dieser Misere. Je länger der Weg wird zwischen unseren sozialen Instinkten und unserem Denken, unserem Denken und unserem Handeln, umso tiefer wird auch die Kluft zwischen Wollen und
Tun. Erst dieser Graben ermöglicht die vielen moralischen Skrupel im Nachhinein: dass wir hadern, verzweifeln und bereuen.
Vermutlich ist dies die Antwort darauf, warum sich fast alle Menschen, die ich kenne, irgendwie für die Guten halten und es trotzdem so viel Ungerechtigkeit und Niedertracht in der Welt gibt. Weil wir es als einzige Tierart schaffen, gute Vorsätze zu hegen und sie zugleich unberücksichtigt zu lassen. Weil wir es fertigbringen, bei uns und anderen mit zweierlei Maß zu messen. Weil wir selten um eine Ausrede verlegen sind. Weil wir gerne geneigt sind, unser Selbstbild schönzufärben. Und weil wir uns frühzeitig darin üben, Verantwortung abzuwälzen.
Der dritte Teil stellt die Frage, was wir aus all dem lernen können für unser zukünftiges Zusammenleben. Wenn Bertolt Brecht - der große Soziobiologe unter den Dichtern - Recht haben sollte, dann kommt »erst das Fressen und dann die Moral«. Folgerichtig müsste es in einem Land wie Deutschland, in dem es so viel Fressen im Überfluss gibt, auch sehr viel Moral geben. Tatsächlich leben wir in einem sehr liberalen Land, der wohl freiheitlichsten und tolerantesten Kultur der Geschichte. Doch dagegen steht die nicht ganz unberechtigte Klage über den Werteverlust. Tugenden und öffentliche Moral schmelzen derzeit dramatisch dahin. Kirche, Vaterland, Heimatmilieu, Weltanschauung - die Altbauten aus der bürgerlichen Gründerzeit, in denen unsere Moral früher recht oder schlecht hauste, bröckeln und verfallen. Wer will sich darüber wundern? Ein außerirdischer Beobachter, der auch nur einen einzigen Tag lang die Werbung in Fernsehen, Radio, Zeitung und Internet studierte, würde wohl kaum ein Indiz dafür finden, dass wir in einer Demokratie leben; einer Gesellschaftsordnung, die auf Kooperation, Solidarität und Zusammenhalt beruht. Was er wahrnähme, wäre eine Propaganda, die mit finanziellem Milliardenaufwand nichts anderes betreibt als die unausgesetzte Förderung des Egoismus.
Ich möchte in diesem Buch einige Anregungen geben, was wir in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik möglicherweise besser machen können. Es geht dabei nicht nur um gute oder schlechte Gesinnung. Es geht darum, wie sich unser Engagement für andere fördern lässt - in Zeiten, in denen unsere Gesellschaft auf dem Spiel steht wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Und um Vorschläge, wie wir die sozialen Institutionen so umbauen könnten, dass sie das Gute leichter und das Schlechte schwerer machen.
Mein besonderer Dank gilt dabei all den Menschen, die dieses Buch als Erste gelesen und mit ihrem klugen Rat kommentiert und verbessert haben. Den scharfen Blick des Biologen warf Prof. Dr. Jens Krause von der Humboldt-Universität Berlin auf das Buch. Prof. Dr. Thomas Mussweiler von der Universität Köln studierte es als Sozialpsychologe. Prof. Dr. Christoph Menke von der Universität Frankfurt am Main las es als Philosoph. Prof. Dr. Hans Werner Ingensiep von der Universität Duisburg-Essen begutachtete es als Biologe und Philosoph. Prof. Dr. Achim Peters von der Universität Lübeck beurteilte es aus der Sicht eines Neurobiologen. Prof. Dr. Jürg Helbling von der Universität Luzern inspizierte es aus der Warte eines Sozialanthropologen und Ethnologen. Ihre Anregungen und ihre Kritik waren mir sehr wertvoll. Ich danke Dr. Torsten Albig für seine Ausführungen über Kommunalpolitik, Martin Möller und Hans-Jürgen Precht für ihre kritischen und hilfreichen Anmerkungen. Mein besonderer Dank gilt Matthieu, David und Juliette für ihre wertvollen Lektüren. Und ganz besonders meiner Frau Caroline, ohne die dieses Buch niemals geworden wäre, was es ist.
Und nicht zuletzt danke ich der Deutschen Bahn. Ein Großteil der Arbeit an diesem Buch wurde in vollen Zügen genossen, in Speisewagen und an turbulenten 4er-Tischen. Viel häufiger aber noch in der melancholischen Morgenstille der Mosellandschaft auf einer völlig unrentablen Nebenstrecke unter Einkaufsnomaden, Arbeitsmigranten und Kegelklubs zwischen Köln, Cochem, Wittlich, Wasserbillig und Luxemburg. Ich danke den ungezählten Gesprächen, deren unfreiwilliger Zeuge ich war. Sie bestärkten mich immer neu in der Ansicht, dass das Wesen des
Menschen von Philosophen oft nur unzulänglich erfasst wird. Und ich danke dem unbekannten Bistrokellner, der mit mir so oft den Morgen geteilt hat und dessen Maximen und Reflexionen meine Arbeit so oft begleiteten. Möge der deutsche Wähler und Steuerzahler nicht nur in meinem Interesse den Börsengang der Deutschen Bahn auch weiterhin erfolgreich verhindern.
Ville de Luxembourg, im August 2010
Richard David Precht
Copyright © 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Als der österreichische Journalist und Fernsehautor Josef Kirschner im Jahr 1976 seinen sehr erfolgreichen Ratgeber mit dem Titel schrieb: »Die Kunst, ein Egoist zu sein«, ahnte er nicht, wie sehr ihn die gesellschaftliche Wirklichkeit fünfundreißig Jahre später überholt haben würde. Kirschner meinte damals, dass unsere Gesellschaft krank sei, weil sich die meisten Menschen zu sehr anpassten und dabei versäumten, ihren eigenen Weg zu gehen.' »Schonungslos werden uns jene Schwächen vor Augen geführt, die uns an der Selbstverwirklichung hindern«, verkündete der Klappentext. Statt nach Liebe, Lob und Anerkennung zu gieren, sollten wir es lieber wagen, uns ohne allzu viel Rücksicht durchzusetzen, befreit von den Meinungen anderer Menschen. Lieber ein erfolgreicher Egoist als ein duckmäuserischer Anpasser, lautete die frohe Botschaft.
Im Deutschland des Jahres 2010 beschäftigen uns andere Sorgen. Die Idee der Selbstverwirklichung ist heute kein ferner Traum mehr, sondern eine tägliche Sorge. In dem Anspruch, anders zu sein als die anderen, sind sich alle gleich. Das Wort Egoismus aber hat seinen verbotenen Zauber verloren. Die »Schwächen«, die Kirschner ausmerzen wollte, werden heute allenthalben schmerzlich vermisst: die Rücksicht und die Scham, die Hilfsbereitschaft und die Bescheidenheit. Als »egoistisch« gebrandmarkte Banker gelten heute als die Urheber der jüngsten Finanzkrise. Wirtschaftswissenschaftler und Politiker zweifeln öffentlich an den Segnungen eines Wirtschaftssystems, das auf den Prinzipien des Egoismus und des Eigennutzes beruht. Unternehmensberater und Consultants unterrichten Manager in kooperativem Verhalten. Ungezählte Festredner beklagen hoch bezahlt den Verlust der Werte. Und kaum eine Talkshow vergeht ohne den diffusen Ruf nach einer »neuen Moral«. Die Kunst, kein Egoist zu sein, so scheint es, steht heute höher im Kurs.
An die Moral zu appellieren fällt dabei niemandem schwer. Und es hat viele Vorteile. Es kostet nichts, und es lässt einen selbst in gutem Licht erscheinen. Doch so nötig ein neuer Blick auf die Moral im Zeitalter der Weltgesellschaft tatsächlich ist -eine Moral nach dem Ende der Systemkonkurrenz von Sozialismus und Kapitalismus, eine Moral in den Zeiten des Klimawandels, des Gefahrenindustrialismus und der Ökokatastrophe, eine Moral der Informationsgesellschaft und der Multikulturalität, eine Moral der globalen Umverteilung und des gerechten Krieges -, so wenig scheinen wir bis heute zu wissen, wie Menschen tatsächlich moralisch funktionieren.
In diesem Buch soll versucht werden, dieser Frage näherzukommen. Was wissen wir heute über die moralische Natur des Menschen? Was hat Moral mit unserem Selbstverständnis zu tun? Wann handeln wir moralisch und wann nicht? Warum sind wir nicht alle gut, wo wir es doch eigentlich ganz gerne wären? Und was könnte man in unserer Gesellschaft ändern, um sie langfristig »besser« zu machen?
Was ist das überhaupt - die Moral? Es ist die Art, wie wir miteinander umgehen. Wer moralisch urteilt, teilt die Welt in zwei Bereiche: in das, was er achtet, und in das, was er ächtet. Tag für Tag, manchmal Stunde um Stunde beurteilen wir etwas nach gut und schlecht, akzeptabel und nicht akzeptabel. Und was der Inhalt des moralisch Guten sein soll, darin sind sich die allermeisten Menschen erstaunlich einig. Es sind die Werte der Ehrlichkeit und der Wahrheitsliebe, der Freundschaft, der Treue und der Loyalität, der Fürsorge und Hilfsbereitschaft, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit, der Höflichkeit und des Respekts, des Muts und der Zivilcourage. All das ist irgendwie gut. Aber gleichwohl gibt es keine absolut sichere Definition des Guten. Mutig zu sein ist eine gute Eigenschaft - aber nicht in jedem Fall. Loyalität ehrt den Loyalen, aber nicht immer. Und konsequente Ehrlichkeit führt nicht ins Paradies, sondern stiftet vermutlich vielfachen Unfrieden.
Um das Gute zu verstehen, reicht es nicht aus zu wissen, was es sein soll. Vielmehr müssen wir unsere komplizierte und oft verquere Natur verstehen. Aber was ist das, »unsere Natur«? Für den schottischen Philosophen David Hume gab es zwei mögliche Betrachtungsweisen.2 Einmal kann man sie studieren wie ein Anatom. Man fragt nach ihren »geheimsten Ursprüngen und Prinzipien«. Diese Arbeit erledigen heute die Hirnforscher, die Evolutionsbiologen, die Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen. Die zweite Perspektive ist die eines Malers, der die »Anmut und Schönheit« des menschlichen Handelns vor Augen führt. Diese Aufgabe fällt heute ins Ressort der Theologen und Moralphilosophen. Doch wie ein guter Maler die Anatomie des Menschen studiert, so muss sich der Philosoph heute auch in die Skizzen der Hirnforscher, Evolutionsbiologen, Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen vertiefen. Denn das Studium unserer Natur sollte uns nicht nur etwas über unsere guten Absichten sagen. Sondern auch dazu, warum wir uns so selten nach ihnen richten. Und vielleicht einen Hinweis darauf geben, was man dagegen tun kann.
Was der Mensch »von Natur aus« ist, ist nicht einfach zu sagen. Jede Erklärung kleidet sich in die Gewänder der Zeit, in der der Schneider ihrer Ideen lebt. Für einen Denker des Mittelalters, wie Thomas von Aquin, war die natura human der eingehauchte Geist Gottes. Was Gut und Böse ist, wissen wir deshalb, weil Gott uns einen inneren Gerichtshof geschenkt hat - das Gewissen. Im 18. Jahrhundert änderte der Gerichtshof seinen Urheber. Was vorher das Werk Gottes sein sollte, war für die Philosophen der Aufklärung die Leistung unserer Rationalität. Unsere klare Vernunft gäbe uns verbindlich Auskunft darüber, welche Grundsätze und Verhaltensweisen gut sind und welche schlecht. Nach Ansicht vieler Naturwissenschaftler der Gegenwart ist das »Gewissen« dagegen weder eine Sache Gottes noch eine Sache der Vernunft, sondern eine Versammlung biologisch uralter sozialer Instinkte.
Für Moral, so scheint es, sind heute zunehmend Biologen zuständig. Und es scheint erfolgreich, vielleicht allzu erfolgreich zu sein, was der Evolutionsbiologe Edward 0. Wilson bereits im Jahr 1975 einforderte: dass man die Ethik vorübergehend den Philosophen aus den Händen nehmen und »biologisieren« sollte.' Die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit, im Fernsehen, in Zeitungen und in Zeitschriften aller Couleur haben heute tatsächlich die Naturwissenschaftler. Selbstgewiss weisen sie darauf hin, »dass es schon vor der Kirche eine Moral gab, Handel vor dem Staat, Tausch vor Geld, Gesellschaftsverträge vor Hobbes, Wohlfahrt vor den Menschenrechten, Kultur vor Babylon, Gesellschaft vor Griechenland, Selbstinteresse vor Adam Smith und Gier vor dem Kapitalismus. All diese Aspekte sind Ausdruck der menschlichen Natur, und das seit dem tiefsten Pleistozän der Jäger und Sammler.«4
Am Ursprung unserer Moralfähigkeit aus dem Tierreich besteht kein Zweifel. Die offene Frage ist allerdings, wie zielstrebig und sinnvoll sich unsere Moral biologisch und kulturell entwickelt hat. Ganz offensichtlich hatten unsere Gehirne im Lauf der Evolution eine unglaubliche Fülle an neuen Herausforderungen zu bewältigen. Und je klüger sie wurden, umso komplizierter, so scheint es, wurde die schwierige und unübersichtliche Frage der Moral. So wie wir zur Kooperation neigen, so neigen wir zu Misstrauen und Vorurteilen. Und so wie wir uns nach Frieden und Harmonie sehnen, so überkommen uns Aggressionen und Hass.
Die gleitende Logik der Moral, nach der die Philosophen zweitausend Jahre suchten, wurde auch den Biologen bislang nicht offenbart. Allzu schnell hatten sie sich von Anfang an auf das Prinzip »Eigennutz« versteift. Nichts anderes als das Vorteilsstreben sei der vermeintliche Motor unseres Soziallebens. Und so wie der Eigennutz im Kapitalismus am Ende zum Wohl aller führen soll, so sollte auch der Eigennutz in der Natur den kooperativen Affen »Mensch« hervorbringen. Das ist leicht zu verstehen. Und bis vor einigen Jahren passte es auch gut in den Geist der Zeit. Doch das Bild, das viele Wissenschaftler noch in den 1980er und 1990er Jahren vom Menschen entwarfen, ist heute verblasst. Wo wir vor wenigen Jahren kühl kalkulierende Egoisten sein sollten, sind wir nach Ansicht zahlreicher Biologen, Psychologen und Verhaltensökonomen heute ein ziemlich nettes und kooperatives Wesen. Und unser Gehirn belohnt uns mit Freude, wenn wir Gutes tun.
Auch die Ansichten über den Einfluss der Gene auf unser Verhalten haben sich innerhalb des letzten Jahrzehnts dramatisch verändert. Doch die wichtigsten Annahmen über die Evolution der menschlichen Kultur sind nach wie vor spekulativ: ob bei der Entwicklung unseres Gehirns, dem Entstehen der Lautsprache, dem Zusammenhang zwischen unserer Sexualität und unserem Bindungsverhalten, dem Beginn der menschlichen Kooperation und Hilfsbereitschaft - nirgendwo stehen wir tatsächlich auf sicherem Boden.
Die Erforschung unserer Biologie ist eine wichtige Quelle für die Erkenntnis unserer Fähigkeit, »gut« zu sein. Aber sie ist nur eine unter anderen. Warum auch sollten Tiere wie wir, die widersprüchliche Absichten haben, weinen können und Schadenfreude empfinden, sich in ihrer Entwicklung streng an mathematische Theorien und präzise kalkulierte Modelle ihrer Natur und Moral halten? Gerade der irrationale Gebrauch, den wir von unserer Fähigkeit zur Vernunft machen, ist der Grund dafür, dass wir etwas sehr Besonderes sind: Jeder von uns fühlt, denkt und handelt verschieden.
Was in diesem Buch zum Thema Moral versammelt ist, verteilt sich in der Welt der Universitäten auf zahlreiche Fächer und Fakultäten. Von der Soziobiologie zur transzendentalphilosophischen Moralbegründung, vom englischen Empirismus zur Kognitionsforschung, von Aristoteles zur Verhaltensökonomik, von der Primatenforschung zur Ethnologie, von der Anthropologie zur Soziolinguistik und von der Hirnforschung zur Sozialpsychologie.
Die meisten Wissenschaftler dieser Fächer nehmen die Forschungen aus anderen Bereichen eher selten wahr. In dieser Praxis zerfällt die Moral des Menschen in Theorieschulen und Denkrichtungen, fachliche Domänen, Teilaspekte und Perspektiven. Einen Reiseführer für die Moral zu schreiben wird dadurch nicht leicht. Der Pfad durch das Dickicht der Fakultäten ist oft nur mühselig zu schlagen. Auch bleibt manche Sehenswürdigkeit der Wissenschaft zwangsläufig unberücksichtigt und die eine oder andere klare Quelle ungenutzt.
Der erste Teil des Buches widmet sich dem Wesen und den Grundregeln unseres moralischen Verhaltens. Ist der Mensch von Natur aus gut, böse oder gar nichts? Die Arbeit an einem realistischen Menschenbild ist noch lange nicht beendet. Ich möchte versuchen, einige wichtige alte Gedanken der Philosophie mit vielen neuen und ganz neuen Forschungsergebnissen zu verknüpfen. Wird der Mensch in der Tiefe seines Herzens getrieben von Egoismus, Gier, Machtinstinkt und Eigeninteresse, wie in Zeiten der Finanzkrise (und nicht nur in diesen) allerorten zu hören und zu lesen ist? Und sind seine Instinkte, die viel zitierten animal spirits, nur etwas Schlechtes und Verderbliches? Oder ist doch irgendetwas am Menschen edel, hilfreich und gut, wie Goethe einforderte? Und wenn ja, was? Und unter welchen Bedingungen tritt es zutage?
Von Platons Idee des Guten geht es zunächst zu den klaren Weltanschauungen. Zu den Ideen, der Mensch könnte von Natur aus gut sein oder schlecht. Aus Studien an Affen und Menschenaffen lernen wir, wie stark der Sinn für Kooperation in uns verankert ist. Aber auch, warum wir uns oft so unberechenbar benehmen. Unser Mitgefühl hat ebenso biologische Wurzeln wie unser Gefühl, unfair behandelt zu werden. Moralisch zu sein ist ein ganz normales menschliches Bedürfnis - schon deshalb, weil es sich zumeist ziemlich gut anfühlt, Gutes zu tun. Ein unmoralisches Leben hingegen, das uns selbst als solches bewusst ist, wird uns kaum dauerhaft glücklich machen. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Taten vor sich selbst rechtfertigt. Und die Mittel der Rechtfertigung nennt man Gründe. Das Universum unserer Moral besteht nicht aus Genen oder Interessen, sondern aus Gründen.
So weit, so schön. Doch warum läuft so vieles schief in der Welt, wenn wir fast alle immer das Gute wollen? Unsere Suche nach Gründen, unsere Abwägungen und Rechtfertigungen machen uns nicht unbedingt zu besseren Tieren oder Menschen. Als gefährliche Mitgift rüstet sie uns zugleich mit kaum kontrollierbaren Waffen aus, die wir gegen uns selbst einsetzen wie gegen andere. Warum sonst sind wir fast immer im Recht? Warum haben wir so selten Schuld? Wie schaffen wir es, unsere guten Vorsätze zu vertagen und zu verdrängen?
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit diesen Tücken: mit dem Unterschied zwischen der Psychologie unseres Selbstanspruchs und der Psychologie unseres alltäglichen Verhaltens. Mit dem Widerspruch zwischen dem Programm und der Ausführung der Moral.
Unser Dilemma ist nicht schwer zu benennen: Auf der einen Seite tragen wir in uns das uralte Erbe unserer moralischen Instinkte. Häufig weisen sie uns beim Handeln in unserer modernen Welt den richtigen Weg; häufig aber auch nicht. Auf der anderen Seite rettet uns die Vernunft nicht unbedingt aus dieser Misere. Je länger der Weg wird zwischen unseren sozialen Instinkten und unserem Denken, unserem Denken und unserem Handeln, umso tiefer wird auch die Kluft zwischen Wollen und
Tun. Erst dieser Graben ermöglicht die vielen moralischen Skrupel im Nachhinein: dass wir hadern, verzweifeln und bereuen.
Vermutlich ist dies die Antwort darauf, warum sich fast alle Menschen, die ich kenne, irgendwie für die Guten halten und es trotzdem so viel Ungerechtigkeit und Niedertracht in der Welt gibt. Weil wir es als einzige Tierart schaffen, gute Vorsätze zu hegen und sie zugleich unberücksichtigt zu lassen. Weil wir es fertigbringen, bei uns und anderen mit zweierlei Maß zu messen. Weil wir selten um eine Ausrede verlegen sind. Weil wir gerne geneigt sind, unser Selbstbild schönzufärben. Und weil wir uns frühzeitig darin üben, Verantwortung abzuwälzen.
Der dritte Teil stellt die Frage, was wir aus all dem lernen können für unser zukünftiges Zusammenleben. Wenn Bertolt Brecht - der große Soziobiologe unter den Dichtern - Recht haben sollte, dann kommt »erst das Fressen und dann die Moral«. Folgerichtig müsste es in einem Land wie Deutschland, in dem es so viel Fressen im Überfluss gibt, auch sehr viel Moral geben. Tatsächlich leben wir in einem sehr liberalen Land, der wohl freiheitlichsten und tolerantesten Kultur der Geschichte. Doch dagegen steht die nicht ganz unberechtigte Klage über den Werteverlust. Tugenden und öffentliche Moral schmelzen derzeit dramatisch dahin. Kirche, Vaterland, Heimatmilieu, Weltanschauung - die Altbauten aus der bürgerlichen Gründerzeit, in denen unsere Moral früher recht oder schlecht hauste, bröckeln und verfallen. Wer will sich darüber wundern? Ein außerirdischer Beobachter, der auch nur einen einzigen Tag lang die Werbung in Fernsehen, Radio, Zeitung und Internet studierte, würde wohl kaum ein Indiz dafür finden, dass wir in einer Demokratie leben; einer Gesellschaftsordnung, die auf Kooperation, Solidarität und Zusammenhalt beruht. Was er wahrnähme, wäre eine Propaganda, die mit finanziellem Milliardenaufwand nichts anderes betreibt als die unausgesetzte Förderung des Egoismus.
Ich möchte in diesem Buch einige Anregungen geben, was wir in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik möglicherweise besser machen können. Es geht dabei nicht nur um gute oder schlechte Gesinnung. Es geht darum, wie sich unser Engagement für andere fördern lässt - in Zeiten, in denen unsere Gesellschaft auf dem Spiel steht wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Und um Vorschläge, wie wir die sozialen Institutionen so umbauen könnten, dass sie das Gute leichter und das Schlechte schwerer machen.
Mein besonderer Dank gilt dabei all den Menschen, die dieses Buch als Erste gelesen und mit ihrem klugen Rat kommentiert und verbessert haben. Den scharfen Blick des Biologen warf Prof. Dr. Jens Krause von der Humboldt-Universität Berlin auf das Buch. Prof. Dr. Thomas Mussweiler von der Universität Köln studierte es als Sozialpsychologe. Prof. Dr. Christoph Menke von der Universität Frankfurt am Main las es als Philosoph. Prof. Dr. Hans Werner Ingensiep von der Universität Duisburg-Essen begutachtete es als Biologe und Philosoph. Prof. Dr. Achim Peters von der Universität Lübeck beurteilte es aus der Sicht eines Neurobiologen. Prof. Dr. Jürg Helbling von der Universität Luzern inspizierte es aus der Warte eines Sozialanthropologen und Ethnologen. Ihre Anregungen und ihre Kritik waren mir sehr wertvoll. Ich danke Dr. Torsten Albig für seine Ausführungen über Kommunalpolitik, Martin Möller und Hans-Jürgen Precht für ihre kritischen und hilfreichen Anmerkungen. Mein besonderer Dank gilt Matthieu, David und Juliette für ihre wertvollen Lektüren. Und ganz besonders meiner Frau Caroline, ohne die dieses Buch niemals geworden wäre, was es ist.
Und nicht zuletzt danke ich der Deutschen Bahn. Ein Großteil der Arbeit an diesem Buch wurde in vollen Zügen genossen, in Speisewagen und an turbulenten 4er-Tischen. Viel häufiger aber noch in der melancholischen Morgenstille der Mosellandschaft auf einer völlig unrentablen Nebenstrecke unter Einkaufsnomaden, Arbeitsmigranten und Kegelklubs zwischen Köln, Cochem, Wittlich, Wasserbillig und Luxemburg. Ich danke den ungezählten Gesprächen, deren unfreiwilliger Zeuge ich war. Sie bestärkten mich immer neu in der Ansicht, dass das Wesen des
Menschen von Philosophen oft nur unzulänglich erfasst wird. Und ich danke dem unbekannten Bistrokellner, der mit mir so oft den Morgen geteilt hat und dessen Maximen und Reflexionen meine Arbeit so oft begleiteten. Möge der deutsche Wähler und Steuerzahler nicht nur in meinem Interesse den Börsengang der Deutschen Bahn auch weiterhin erfolgreich verhindern.
Ville de Luxembourg, im August 2010
Richard David Precht
Copyright © 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Richard David Precht
Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard David Precht
- 2012, 1, 539 Seiten, Maße: 12,4 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442156319
- ISBN-13: 9783442156313
- Erscheinungsdatum: 12.04.2012
Pressezitat
»Sein Buch macht Lust, Dinge zu hinterfragen und zumindest zu versuchen, ein besserer Mensch zu sein.« Emotion
Kommentar zu "Die Kunst, kein Egoist zu sein"