Die Lästigen
Eine amerikanische Chronik in Erzählungen
Niemand hat Amerika so sehr den Puls gefühlt wie Joyce Carol Oates. Ihre Helden sind unsichere Existenzen. Männer werden zu Jägern und Frauen zu wehrlosen Wildtieren, die es zu erlegen gilt. Nicht immer endet es mit dem Tod, aber das Gleichgewicht ist...
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Produktinformationen zu „Die Lästigen “
Klappentext zu „Die Lästigen “
Niemand hat Amerika so sehr den Puls gefühlt wie Joyce Carol Oates. Ihre Helden sind unsichere Existenzen. Männer werden zu Jägern und Frauen zu wehrlosen Wildtieren, die es zu erlegen gilt. Nicht immer endet es mit dem Tod, aber das Gleichgewicht ist nachhaltig gestört. Eine amerikanische Chronik lautet der Untertitel der grandiosen neunzehn Erzählungen, die zwischen 1963 und 1999 entstanden sind. Da erschießt eine Mutter ihre drei Kinder, weil sie ihren neuen Liebhaber nicht verlieren will. Da drechselt ein morbider Richter aus den Knochen seiner Opfer elfenbeinerne Schmuckstücke. Da weiß die drogensüchtige Melanie still zu halten, wenn sie die Männer bedient, aus Angst, dass wieder der Würgegriff angewendet wird.Elende Ehen, gewaltbereite Männner, gedemütigte Frauen, die Familie ist kein Zufluchtsort, rassistische Übergriffe, die Arglosen sind alles andere als arglos. Auch hier zeigt sich Oates als geniale Beobachterin menschlicher Abgründe, sie weiß das dunkle Ich, die zerstörerischen Leidenschaften in brillant bedrückenden Geschichten einzufangen. Oates Einblicke in das Durchschnittsleben, das schnell zur Hölle werden kann, sind grandios, schockierend und trotz allem tröstend.
Lese-Probe zu „Die Lästigen “
Die Lästigen von Joyce Carol OatesNACKT
Sie war allein unterwegs in einem Naturpark am Stadtrand, zwei Meilen von ihrem Haus entfernt, als sie hinter sich, scheinbar aus dem nichts hervorbrechend, Rufe von Kindern hörte, schrille Schreie und Gelächter. Sie drehte sich um und sah ein kleines Rudel schwarzer Kinder, die den mit Holzschnitzeln bestreuten Wanderweg entlangrannten. Der Älteste, ein magerer, etwa elfjähriger Junge, in schmutzigem weißem T-Shirt, zu großen Hosen und Sneakers ohne Socken, schien ihr etwas zuzurufen und gestikulierte beschwörend mit beiden Händen - »Hey! Lady! Hey, Sie!« -, doch sein durchdringendes Gejohle war kaum verständlich. Es war spät am Nachmittag im Frühling, am ersten wirklich warmen, sonnigen, angenehmen Tag seit Wochen; die Luft war feucht, bebend; die Erde verströmte ein vibrierendes Gefühl kaum noch gezügelten Lebens. Sie war eine Stunde unterwegs gewesen, hatte sich angetrieben, ging schnell und genoss die Spannung in Bein-, Oberschenkel- und Armmuskeln, ein leichter Schweißfilm hatte sich auf ihrer Haut gebildet, und ihre Gedanken, die anfangs diffus und unvollständig gewesen waren, hatten sich allmählich verlangsamt, gefestigt, kristallisiert, bis sie keine Gedanken mehr waren, sondern einfach Eindrücke und vorübergleitende wortlose Bilder wie in einem Traum. Und die Kinder, angeführt von dem eigenartig erbitterten, ja zornigen schwarzen Jungen, tauchten auf wie unerwartete Bilder in diesem Traum.
»Ja? Meinst du mich?«, fragte sie.
... mehr
Der Junge lachte wie aus höhnischer Freude. Wäre er nicht so jung gewesen, hätte sie vermutet, dass er betrunken sei oder im Drogenrausch. Er reichte ihr kaum bis zur Schulter, näherte sich flink wie ein drahtiges kleines Tier, das auf Blut aus ist. Er richtete sich an sie mit einer Flut von Sopranklängen, unterlegt mit Verachtung, doch sie verstand kein einziges Wort, außer vielleicht »Lady« oder »Wohin wollen Sie, Lady?«, und seine aggressiven Absichten verwunderten sie eher, als dass sie ihr Angst einjagten, weil sie so jung waren, Kinder, das jüngste nicht älter als acht oder neun, und sehr klein, und es waren auch zwei oder drei Mädchen unter ihnen. »Ja? Was ist los? Was wollt ihr?«, fragte sie mit der etwas angestrengten Ruhe einer Mutter. Es sind nur Kinder, sagte sie sich, auch als sie instinktiv einen Schritt zurücktrat.
Und im nächsten Moment waren sie auf ihr.
Selbst als es geschah, als die Kinder nah bei ihr wuselten, sie mit den Fäusten bearbeiteten, schlugen, traten, an ihr zerrten, als der Älteste sie ansprang und sie jäh zu Fall brachte, barbarisch und gewandt wie ein Raubtier, selbst als sie mit ihnen kämpfte, um sich schlug, zu stoßen, zu schlagen, zu treten versuchte - denn sie war eine Frau, die kräftig war, sehr fit war, unerschrocken, resolut -, dachte sie: Es kann nicht sein!, und: Es sind doch nur Kinder! Schon, als sie sie zuerst gesehen hatte, hatte sie gewusst, dass es keine Kinder aus der Gegend der University Heights waren, wo sie selbst lebte, sondern dass sie aus den zergliederten Randgebieten der alten Industriestadt kamen, unterhalb des Felsvorsprungs, wo es steil abfiel zu einem aus Reihenhäusern, Mietskasernen, Rangierbahnhöfen und abbruchreifen Walzwerken am Fluss bestehenden Gebiet, das ihre Familie selten zu Gesicht bekam, außer von der Schnellstraße aus, die oberhalb der Ruinen dieses Viertels erbaut worden war. Doch sie war eine Frau ohne rassische Vorurteile, sie war mit Schwarzen aufgewachsen, war mit Schwarzen, Chinesen, Hispanics und anderen Minderheiten, wie sie gewöhnlich genannt wurden, zur Schule gegangen, und sie war entschlossen, ihren Kindern denselben neutralen, sachlichen Liberalismus einzupflanzen, zu dem ihre Eltern auch sie erzogen hatten. Daher kam ihr nie der Gedanke, der ihr vielleicht hätte kommen sollen, wenigstens bei Gelegenheit, dass diese Minderheiten sie als auffällig anders als sie selbst wahrnehmen könnten und dass sie, gegen alles, was vernünftig, edelmütig und gerecht war, keine andere Wahrnehmung wünschten und sich damit zufriedengaben. Und dieses dämonische kleine Rudel, das sie so völlig überrascht und überwältigt hatte - das sie geschlagen, ihr die Kleider vom Leib gerissen, ihre Taschen geleert hatte und dabei unaufhörlich gejohlt und gelacht hatte, als ob die Kinder bei allem, was sie taten, nur spielten -, sie konnte einfach nicht glauben, dass sie zu so etwas fähig waren, und mit solch albtraumhafter Schnelligkeit.
Sie war sechsundvierzig Jahre alt, sehr gesund, eine intelligente und unabhängige Frau, Mutter zweier kleiner Kinder und Stiefmutter eines halbwüchsigen Sohns, völlig ungeübt darin, körperliche Großtaten zu vollbringen, so ungeschickt in diesem bizarren Kampf wie ein Fisch, den man aus dem Wasser zieht und umstandslos auf den Boden wirft, wo er nach Luft schnappt und sich hin und her wirft und schließlich untergeht in dem fremden Element. Ihre Schreie waren atemlos und ungläubig. Ihre wilden Schläge trafen ins Leere oder glitten an Oberarmen, Schultern, vorspringenden Köpfen ab, ohne irgendetwas auszurichten. Es sind doch nur Kinder!, dachte sie, und da sie Mutter war, wollte sie Kindern nicht wehtun, selbst wenn sie dazu fähig gewesen wäre. Es kam ihr auch der Gedanke, dass diese Kinder, wenn sie aufgeben würde, wenn sie sich unterwerfen, sich nicht weiter wehren würde, nehmen würden, was sie wollten, und sie sich selbst überlassen würden.
Und so war es. Als sie aufhörte zu kämpfen, hörten sie auf, sie zu schlagen, doch in ihrer freudigen Erregung, ihrem Übermut zogen sie ihr die Kleider aus, drehten sie um, rollten sie hin und her, rissen an ihren Jeans, brüllten vor Lachen, als sie ihr BH und Unterhose auszogen, ihr in einem Kraftakt die Laufschuhe von den Füßen rissen, die Socken abzogen. Sie stand zu sehr unter Schock, als dass sie sie hätte bitten können aufzuhören, und dann überfiel sie die wahnsinnige Furcht, dass sie vorhätten, sie lebendig zu verschlingen; über sie herzufallen wie ausgehungerte Tiere, ihr mit den Zähnen das Fleisch von den Knochen zu reißen und es zu essen. Denn was sollte sie aufhalten?
Dann rannten sie weg und waren nicht mehr da, und sie blieb allein zurück, betäubt und schluchzend an einem Ort, den sie nicht hätte benennen können. Der Angriff hatte wahrscheinlich nicht länger gedauert als zwei oder drei Minuten, aber er war ihr unendlich lang erschienen, und nachher lag sie eine Zeitlang, die ihr ebenfalls sehr lang vorkam, nur da und wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst zu entdecken, dass sie sie verkrüppelt hatten - denn sie hatten sie heftig auf Rücken und Gesäß getreten. Du verdienst nichts anderes, tröstete sie eine boshafte Stimme, doch sie war zu geschwächt, litt zu sehr, als dass sie hätte darauf reagieren können.
Sie nahm an, dass sie im Naturpark allein war, denn auf ihre Hilferufe hin war niemand gekommen.
So lag sie still und versuchte, ihre Kräfte zu sammeln, versuchte zu erfassen, was geschehen war, was sie als nächstes tun musste. Ihr Weinen war unregelmäßig und resigniert, es war nicht das hohe, atemlose Schluchzen der Hysterie, denn sie war keine Frau, die dazu neigte, hysterisch zu sein; sie war eine Frau, die dazu in der Lage wäre, die Hysterie anderer zu besänftigen. Alles in Ordnung. Es wird dir gleich besser gehen. Das Schlimmste ist vorbei.
So sprach sie häufig mit ihren eigenen Kindern, halb tadelnd, halb liebevoll.
Doch man hatte ihr die Kleider weggenommen. Und die Autoschlüssel.
Und natürlich auch ihre Geldbörse und ihre Uhr und ihre Goldkette - mit solcher Gewalt vom Hals gerissen, dass das Schloss aufgesprungen war und ihr in die Haut geschnitten hatte wie scharfer Draht. nur die Ringe an ihrer linken Hand waren ihr geblieben. Eins der Kinder hatte brutal an ihnen gezerrt, so fest, dass sie gespürt hatte, wie der Finger sich im Gelenk drehte, doch er musste angeschwollen gewesen sein; die Ringe hatten sich nicht abziehen lassen.
Wilde, dachte sie.
Dreckige kleine Tiere, dachte sie.
Aber warum hatten sie sie so gehasst, dass sie sie geschlagen und ausgeraubt hatten und sie demütigten, indem sie ihr die Kleider auszogen?
Sie setzte sich auf. Wischte sich das Haar aus dem schweißnassen Gesicht. Sie dachte daran, dass es eine Notrufsäule gab, die sie benutzen konnte, in der Nähe des Parkplatzes - aber gleich darauf wusste sie, dass die Notrufsäule, an die sie dachte und die sie mit solch verzweifelter Deutlichkeit vor sich sah, leuchtend in einem kühlen blauen Licht, hinter ihrem Bürogebäude an der Universität stand.
Sie verbrachte eine elende halbe Stunde oder länger damit, nach ihren Kleidern zu suchen. Jeder Teil ihres Körpers tat weh, als hätte man sie von großer Höhe irgendwo heruntergeworfen, die Knochen waren bis ins Mark erschüttert, doch auf irgendeine Weise unverletzt geblieben, sodass sie noch fähig waren, ihr Gewicht zu tragen. Dort, wo ihr büschelweise Haare ausgerissen worden waren, fühlte sie einen stechenden Schmerz an der Kopfhaut. Ihre Nase war blutig geschlagen. Beide Augenlider schwollen an und würden sich sicher bald verfärben, und sie sah schlecht, als wäre sie unter Wasser, denn einer von ihnen hatte versucht, ihr welke Blätter in die Augen zu reiben; eine Praxis, die er vom Spielplatz her kannte, nahm sie an, eine ekelhafte Spielplatz-Taktik; wahrscheinlich war alles, was man ihr angetan hatte, irgendein Spiel, bei dem man vorher wusste, was zu tun war, bei dem jede Bewegung geschickt und anmutig orchestriert war. Aber sie hatte es nicht gekannt.
Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum die Kinder, die ihr völlig fremd waren, sie so gehasst hatten. War sie nicht freundlich und herzlich zu dem Jungen gewesen, ohne Schrecken zu zeigen, hatte sie nicht sogar zu lächeln versucht, als er sich ihr näherte? Von Natur aus und durch langes Training war sie eine stets freundliche Frau; sie übte Freundlichkeit, wie ein Musiker mit seinem Instrument übt, und mit ebenso unbezweifelbarer Hingabe. Und es gab das unerwünschte, doch unbestreitbare Privileg ihrer weißen Haut, das eine gewisse Verantwortung mit sich brachte, nicht nur gut und anständig und mildtätig zu sein, sondern bei alldem auch immer freundlich zu bleiben.
Das Gehen auf dem mit Holzschnitzeln bestreuten Weg war nicht schmerzhaft, aber im Unterholz taten ihre Füße weh; die Sohlen waren erschreckend zart, weicher als die Innenflächen ihrer Hände. Es war verwirrend, dass sie hier, im öffentlichen Raum, wo jeden Moment irgendein Unbekannter auftauchen konnte, mit entblößten und den Blicken ausgesetzten Brüsten herumlief und dass Luft sie zwischen den Beinen berührte, an einer Stelle, die sich beim Gehen dehnte und zusammenzog. Im dunstigen Sonnenlicht verschwammen die Dinge vor ihren Augen, während sie mit wachsender Verzweiflung nach ihren Kleidern suchte. Bestimmt hätten sich die Kinder nicht die Mühe gemacht, sie weit zu tragen. Bestimmt hätten sie sie ins Unterholz geworfen, wo sie sie finden würde. Ihre Jeans, ihre khakifarbene Jacke, ihre Schuhe, Socken, Unterwäsche, wie zerrissen und schmutzig auch immer. Doch es sprangen ihr nur nutzlose Dinge in die Augen, täuschende Formen: Zeitungen, die ins Gebüsch geweht worden waren, Gruppen weißer Anemonen, zerbrochene Flaschen und leere Bierdosen, die an schattigen Stellen blinkten. Sie weinte, kläglich enttäuscht.
Sie war eine Frau, die für vieles einen sicheren Instinkt besaß, doch jetzt ließ ihr Instinkt sie im Stich. Was sollte sie tun? Sie hatte die Autoschlüssel nicht mehr, und das Auto war abgeschlossen - von ihrem Mann, der alles sehr genau nahm, hatte sie die Gewohnheit übernommen, das Auto immer abzuschließen -, sodass es nicht in Frage kam, sich vorsichtig dem Parkplatz zu nähern, sich ins Auto zu setzen und auf Entdeckung und Rettung zu warten.
Eine plötzliche Schwäche überfiel sie. Das Bild einer beleibten Frau aus einem Cartoon fiel ihr ein, einer Ballonfrau mit großen Brüsten und dickem Bauch und Schamhaar, die in den Himmel hinaufgezogen wurde. Leute, hauptsächlich Männer, versammelten sich, um zu gaffen, zu feixen, mit den Fingern zu zeigen. Laut schrie sie: »Was soll ich machen!«
Wie um ihr Antwort zu geben, bog ein Auto auf den nicht sehr weit entfernten, kiesbedeckten Parkplatz ein. Sie hörte zufallende Wagentüren und Männerstimmen. In Panik stürzte sie ins Gebüsch, um sich zu verstecken, rannte weiter, ohne sich um ihre bloßen Füße zu kümmern, um die Zweige und Stacheln, die ihr die Haut aufrissen. Wie ein gejagtes Geschöpf ging sie in die Hocke und versteckte sich, obwohl sie wusste, dass sie um Hilfe rufen konnte; sie musste nur ihre Stimme erheben und »Hilfe!« oder »Helfen Sie mir, bitte!« rufen - ein schüchterner, hoffnungsvoller, verzweifelter Appell -, und der Albtraum wäre vorbei.
Sie hätte ihren Rettern sogar zurufen können - sie zweifelte nicht daran, dass es Retter wären; fast jeder, der den Naturpark besuchte, war in irgendeiner Weise mit der Universität verbunden -, dass man ihr die Kleider weggenommen habe und ob sie ihr bitte eine Decke oder irgendetwas bringen könnten, um ihre Blöße zu bedecken; und sie konnte, wenn es die Umstände erlaubten, sogar darauf bestehen, dass der Zwischenfall, da sie nicht verletzt war, nicht der Polizei gemeldet würde, und dass sie keinen Arzt wünsche und brauche.
Aber sie sagte nichts. Sie duckte sich tief hinter einem Streifen aus dichtem Buschwerk und blühendem Hartriegel, drückte die schweißnasse Stirn an ihre Knie und umklammerte ihre Beine in einer fieberhaften Umarmung. Die grauenvolle Vorstellung, entdeckt zu werden, nackt, wie sie war, zerschlagen, zerschrammt, zerzaust wie ein wildes Tier, war einfach zu viel für sie: Sie wollte sich nur verstecken und nicht gesehen werden. nichts war ihr mehr wichtig, nur dass sie nicht gesehen wurde.
So versteckte sie sich, und die Männerstimmen waren bald verklungen, denn sie mussten einen anderen Weg gegangen sein und würden sie nicht finden. Falls sie ihr Auto auf dem Parkplatz gesehen hatten, hatten sie es wahrscheinlich kaum richtig wahrgenommen oder sich nichts dabei gedacht. Alles in Ordnung, tröstete sie sich immer wieder, ohne zu wissen, was sie damit meinte.
Sie war eine Frau, die spät geheiratet hatte, weil sie es so gewollt hatte, und ihre Kinder spät bekommen hatte, ebenfalls, weil sie es so gewollt hatte; so hatte sie Gewohnheiten oder Praktiken des Alleinseins ausgebildet, die eng, vielleicht untrennbar mit ihrem Charakter verbunden waren, ihrem privaten, geheimen, dauerhaften Selbst. Ihr blondes, sonnenhelles gutes Aussehen war ihr nie besonders wichtig gewesen, wenn es ihr auch gefiel, dass ihr Äußeres ihr angeborenes dynamisches Temperament unterstrich; sie hielt es einfach für taktvoll, die kleinen Zweifel und Stimmungsschwankungen, die sie häufig überkamen, vor anderen, vor allem vor ihrem Mann zu verstecken. Es entsprach ihrem Stolz, dass jeder, der sie kannte, sie für eine Frau hielt, die immer oder fast immer freundlich und verträglich, belastbar, froh und zuversichtlich war.
Und jetzt, was sollte sie jetzt tun? Wie konnte sie sich weitere Demütigungen ersparen? Sie war vor den Männern geflohen, die ihr vielleicht geholfen hätten; also, was war zu tun?
Sie hätte den Kindern ihre barbarische Attacke verziehen, dachte sie, wenn sie ihr nur ihre Kleider gelassen hätten.
Es schien keinen Ausweg zu geben, nichts, was nicht scheußlich und schändlich gewesen wäre. Am Ende würde sie in das Gebüsch am Straßenrand kriechen und ein Auto anhalten in der Hoffnung, dass am Steuer ein Mensch saß, dem sie trauen konnte. Ein fremder Mann wäre das Schlimmste, aber ein Mann, der sie kannte, war kaum besser - eigentlich noch schlimmer, denn dann würde sich die Nachricht von ihrer Notlage verbreiten, und der elende kleine Zwischenfall würde zu einer Riesengeschichte aufgebauscht. Wenn es eine Frau wäre, könnte sie es vielleicht aushalten, aber wenn es eine Frau wäre, die sie kannte, wenn auch nur entfernt, eine Frau, die von ihrer Arbeit in der akademischen Gemeinde wusste oder ihr Foto in der Lokalzeitung gesehen hatte, dann würde sich die Geschichte ebenfalls sofort überall verbreiten, und das Gerücht würde lauten, dass sie vergewaltigt worden sei. Selbst Leute, die ihr nichts Böses wollten, würden die Geschichte weitertratschen und die Aufregung vergrößern; einige würden sich fragen, warum sie allein im Naturpark gewesen sei; einige würden vielleicht sogar durchblicken lassen, dass sie den Überfall herausgefordert habe - unabhängig, wie sie war, verheiratet mit einem bekannten Fachbereichsleiter der Universität, und mit ihrem eigenen ausgezeichneten Job in der Entwicklungsabteilung der Universität. So würde die hässliche Geschichte unzählige Male erzählt und wieder erzählt werden, und sie könnte nichts dagegen tun. Sie würde nur noch die Frau sein, die nackt im Meadowbrook-Naturpark aufgefunden worden war.
Und ihre Kinder würden in der Schule davon hören, ihre sechsjährige Tochter und ihr neunjähriger Sohn; man würde sticheln und spotten, und man würde sie Dinge glauben lassen, die nicht stimmten. Und ihr Stiefsohn - der Junge würde völlig niedergeschmettert sein, so peinlich wäre ihm das Ganze. Und ihr Mann, an den sie in diesem Zusammenhang kaum denken konnte: so ehrgeizig, wie er war, so erfüllt von seiner Arbeit, so besorgt um seinen Ruf in der Gemeinde. Es würde ihn erleichtern zu erfahren, dass sie nicht schwer verletzt worden war, aber später hätte er, das wusste sie, ein ebenso starkes Gefühl der Demütigung.
Und wenn sie Hilfe suchte, würde sie wahrscheinlich auch mit der Polizei zu tun bekommen. Wenn man sie ansah, musste einem klar werden, dass sie geschlagen worden war. Die Polizei würde darauf bestehen, sie zu vernehmen, und wie sollte sie ihnen sagen, dass die Angreifer Kinder gewesen waren, keine Halbwüchsigen, sondern Kinder? Und Mädchen unter ihnen: Und schwarz? Ich bin nicht rassistisch, würde sie der Polizei gewissenhaft erklären. Jedes Gefühl aus ihrer Stimme verbannend: Ich bin nicht rassistisch.
»Ich kann es nicht riskieren.«
Wie in einer Halluzination sah sie sich selbst, eine nackte, geisterhafte Gestalt, die in gleicher Richtung wie die Straßen, die zu ihrem Haus führten, aber von dort nicht sichtbar, dahinglitt, auf einer Route, die ähnlich verlief wie die, die sie zuvor mit dem Auto gefahren war. Diese vertrauten vorstädtisch-ländlichen Straßen, die sie jeden Tag entlangfuhr. Sie war nur zwei Meilen von zu Hause entfernt, möglicherweise weniger: Konnte sie es nicht zu Fuß schaffen, allein und ohne Hilfe? Ohne dass jemand es mitbekam? Sie schätzte, dass es ungefähr halb sieben war. Und da sie oft spät nach Hause kam, nach Einbruch der Dunkelheit, weil etwas im Büro sie aufhielt, weil sie soziale Verpflichtungen hatte oder noch etwas erledigen musste, würde es noch viele Stunden dauern, bis ihre Familie sie vermissen würde; ihr Mann war in letzter Zeit häufig unterwegs, um Spenden für die Universität aufzutreiben, auch bei ihm konnte immer einmal etwas dazwischenkommen; manchmal hatte sie, wenn sie nach Hause kam, vom Kindermädchen erfahren, dass ihr Mann angerufen hatte, um zu sagen, dass er nicht zum Abendessen käme. Und ihr Stiefsohn war auch nur sporadisch daheim. Um halb sieben würde das Kindermädchen mit den kleinen Kindern essen; so gab es keinen Anlass, sich Sorgen zu machen oder sich schuldig zu fühlen, abgesehen von den Sorgen und dem Schuldgefühl, das sie überkam, wenn sie daran dachte, dass sie von ihrer Demütigung erfahren könnten oder, noch schlimmer, sie in dem Zustand sehen könnten, in dem sie sich jetzt befand.
Denn dann würden sie nie mehr sie sehen, die Person, die sie war.
Sie sagte laut und indem sie sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen fuhr: »Ich kann es nicht riskieren.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Der Junge lachte wie aus höhnischer Freude. Wäre er nicht so jung gewesen, hätte sie vermutet, dass er betrunken sei oder im Drogenrausch. Er reichte ihr kaum bis zur Schulter, näherte sich flink wie ein drahtiges kleines Tier, das auf Blut aus ist. Er richtete sich an sie mit einer Flut von Sopranklängen, unterlegt mit Verachtung, doch sie verstand kein einziges Wort, außer vielleicht »Lady« oder »Wohin wollen Sie, Lady?«, und seine aggressiven Absichten verwunderten sie eher, als dass sie ihr Angst einjagten, weil sie so jung waren, Kinder, das jüngste nicht älter als acht oder neun, und sehr klein, und es waren auch zwei oder drei Mädchen unter ihnen. »Ja? Was ist los? Was wollt ihr?«, fragte sie mit der etwas angestrengten Ruhe einer Mutter. Es sind nur Kinder, sagte sie sich, auch als sie instinktiv einen Schritt zurücktrat.
Und im nächsten Moment waren sie auf ihr.
Selbst als es geschah, als die Kinder nah bei ihr wuselten, sie mit den Fäusten bearbeiteten, schlugen, traten, an ihr zerrten, als der Älteste sie ansprang und sie jäh zu Fall brachte, barbarisch und gewandt wie ein Raubtier, selbst als sie mit ihnen kämpfte, um sich schlug, zu stoßen, zu schlagen, zu treten versuchte - denn sie war eine Frau, die kräftig war, sehr fit war, unerschrocken, resolut -, dachte sie: Es kann nicht sein!, und: Es sind doch nur Kinder! Schon, als sie sie zuerst gesehen hatte, hatte sie gewusst, dass es keine Kinder aus der Gegend der University Heights waren, wo sie selbst lebte, sondern dass sie aus den zergliederten Randgebieten der alten Industriestadt kamen, unterhalb des Felsvorsprungs, wo es steil abfiel zu einem aus Reihenhäusern, Mietskasernen, Rangierbahnhöfen und abbruchreifen Walzwerken am Fluss bestehenden Gebiet, das ihre Familie selten zu Gesicht bekam, außer von der Schnellstraße aus, die oberhalb der Ruinen dieses Viertels erbaut worden war. Doch sie war eine Frau ohne rassische Vorurteile, sie war mit Schwarzen aufgewachsen, war mit Schwarzen, Chinesen, Hispanics und anderen Minderheiten, wie sie gewöhnlich genannt wurden, zur Schule gegangen, und sie war entschlossen, ihren Kindern denselben neutralen, sachlichen Liberalismus einzupflanzen, zu dem ihre Eltern auch sie erzogen hatten. Daher kam ihr nie der Gedanke, der ihr vielleicht hätte kommen sollen, wenigstens bei Gelegenheit, dass diese Minderheiten sie als auffällig anders als sie selbst wahrnehmen könnten und dass sie, gegen alles, was vernünftig, edelmütig und gerecht war, keine andere Wahrnehmung wünschten und sich damit zufriedengaben. Und dieses dämonische kleine Rudel, das sie so völlig überrascht und überwältigt hatte - das sie geschlagen, ihr die Kleider vom Leib gerissen, ihre Taschen geleert hatte und dabei unaufhörlich gejohlt und gelacht hatte, als ob die Kinder bei allem, was sie taten, nur spielten -, sie konnte einfach nicht glauben, dass sie zu so etwas fähig waren, und mit solch albtraumhafter Schnelligkeit.
Sie war sechsundvierzig Jahre alt, sehr gesund, eine intelligente und unabhängige Frau, Mutter zweier kleiner Kinder und Stiefmutter eines halbwüchsigen Sohns, völlig ungeübt darin, körperliche Großtaten zu vollbringen, so ungeschickt in diesem bizarren Kampf wie ein Fisch, den man aus dem Wasser zieht und umstandslos auf den Boden wirft, wo er nach Luft schnappt und sich hin und her wirft und schließlich untergeht in dem fremden Element. Ihre Schreie waren atemlos und ungläubig. Ihre wilden Schläge trafen ins Leere oder glitten an Oberarmen, Schultern, vorspringenden Köpfen ab, ohne irgendetwas auszurichten. Es sind doch nur Kinder!, dachte sie, und da sie Mutter war, wollte sie Kindern nicht wehtun, selbst wenn sie dazu fähig gewesen wäre. Es kam ihr auch der Gedanke, dass diese Kinder, wenn sie aufgeben würde, wenn sie sich unterwerfen, sich nicht weiter wehren würde, nehmen würden, was sie wollten, und sie sich selbst überlassen würden.
Und so war es. Als sie aufhörte zu kämpfen, hörten sie auf, sie zu schlagen, doch in ihrer freudigen Erregung, ihrem Übermut zogen sie ihr die Kleider aus, drehten sie um, rollten sie hin und her, rissen an ihren Jeans, brüllten vor Lachen, als sie ihr BH und Unterhose auszogen, ihr in einem Kraftakt die Laufschuhe von den Füßen rissen, die Socken abzogen. Sie stand zu sehr unter Schock, als dass sie sie hätte bitten können aufzuhören, und dann überfiel sie die wahnsinnige Furcht, dass sie vorhätten, sie lebendig zu verschlingen; über sie herzufallen wie ausgehungerte Tiere, ihr mit den Zähnen das Fleisch von den Knochen zu reißen und es zu essen. Denn was sollte sie aufhalten?
Dann rannten sie weg und waren nicht mehr da, und sie blieb allein zurück, betäubt und schluchzend an einem Ort, den sie nicht hätte benennen können. Der Angriff hatte wahrscheinlich nicht länger gedauert als zwei oder drei Minuten, aber er war ihr unendlich lang erschienen, und nachher lag sie eine Zeitlang, die ihr ebenfalls sehr lang vorkam, nur da und wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst zu entdecken, dass sie sie verkrüppelt hatten - denn sie hatten sie heftig auf Rücken und Gesäß getreten. Du verdienst nichts anderes, tröstete sie eine boshafte Stimme, doch sie war zu geschwächt, litt zu sehr, als dass sie hätte darauf reagieren können.
Sie nahm an, dass sie im Naturpark allein war, denn auf ihre Hilferufe hin war niemand gekommen.
So lag sie still und versuchte, ihre Kräfte zu sammeln, versuchte zu erfassen, was geschehen war, was sie als nächstes tun musste. Ihr Weinen war unregelmäßig und resigniert, es war nicht das hohe, atemlose Schluchzen der Hysterie, denn sie war keine Frau, die dazu neigte, hysterisch zu sein; sie war eine Frau, die dazu in der Lage wäre, die Hysterie anderer zu besänftigen. Alles in Ordnung. Es wird dir gleich besser gehen. Das Schlimmste ist vorbei.
So sprach sie häufig mit ihren eigenen Kindern, halb tadelnd, halb liebevoll.
Doch man hatte ihr die Kleider weggenommen. Und die Autoschlüssel.
Und natürlich auch ihre Geldbörse und ihre Uhr und ihre Goldkette - mit solcher Gewalt vom Hals gerissen, dass das Schloss aufgesprungen war und ihr in die Haut geschnitten hatte wie scharfer Draht. nur die Ringe an ihrer linken Hand waren ihr geblieben. Eins der Kinder hatte brutal an ihnen gezerrt, so fest, dass sie gespürt hatte, wie der Finger sich im Gelenk drehte, doch er musste angeschwollen gewesen sein; die Ringe hatten sich nicht abziehen lassen.
Wilde, dachte sie.
Dreckige kleine Tiere, dachte sie.
Aber warum hatten sie sie so gehasst, dass sie sie geschlagen und ausgeraubt hatten und sie demütigten, indem sie ihr die Kleider auszogen?
Sie setzte sich auf. Wischte sich das Haar aus dem schweißnassen Gesicht. Sie dachte daran, dass es eine Notrufsäule gab, die sie benutzen konnte, in der Nähe des Parkplatzes - aber gleich darauf wusste sie, dass die Notrufsäule, an die sie dachte und die sie mit solch verzweifelter Deutlichkeit vor sich sah, leuchtend in einem kühlen blauen Licht, hinter ihrem Bürogebäude an der Universität stand.
Sie verbrachte eine elende halbe Stunde oder länger damit, nach ihren Kleidern zu suchen. Jeder Teil ihres Körpers tat weh, als hätte man sie von großer Höhe irgendwo heruntergeworfen, die Knochen waren bis ins Mark erschüttert, doch auf irgendeine Weise unverletzt geblieben, sodass sie noch fähig waren, ihr Gewicht zu tragen. Dort, wo ihr büschelweise Haare ausgerissen worden waren, fühlte sie einen stechenden Schmerz an der Kopfhaut. Ihre Nase war blutig geschlagen. Beide Augenlider schwollen an und würden sich sicher bald verfärben, und sie sah schlecht, als wäre sie unter Wasser, denn einer von ihnen hatte versucht, ihr welke Blätter in die Augen zu reiben; eine Praxis, die er vom Spielplatz her kannte, nahm sie an, eine ekelhafte Spielplatz-Taktik; wahrscheinlich war alles, was man ihr angetan hatte, irgendein Spiel, bei dem man vorher wusste, was zu tun war, bei dem jede Bewegung geschickt und anmutig orchestriert war. Aber sie hatte es nicht gekannt.
Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum die Kinder, die ihr völlig fremd waren, sie so gehasst hatten. War sie nicht freundlich und herzlich zu dem Jungen gewesen, ohne Schrecken zu zeigen, hatte sie nicht sogar zu lächeln versucht, als er sich ihr näherte? Von Natur aus und durch langes Training war sie eine stets freundliche Frau; sie übte Freundlichkeit, wie ein Musiker mit seinem Instrument übt, und mit ebenso unbezweifelbarer Hingabe. Und es gab das unerwünschte, doch unbestreitbare Privileg ihrer weißen Haut, das eine gewisse Verantwortung mit sich brachte, nicht nur gut und anständig und mildtätig zu sein, sondern bei alldem auch immer freundlich zu bleiben.
Das Gehen auf dem mit Holzschnitzeln bestreuten Weg war nicht schmerzhaft, aber im Unterholz taten ihre Füße weh; die Sohlen waren erschreckend zart, weicher als die Innenflächen ihrer Hände. Es war verwirrend, dass sie hier, im öffentlichen Raum, wo jeden Moment irgendein Unbekannter auftauchen konnte, mit entblößten und den Blicken ausgesetzten Brüsten herumlief und dass Luft sie zwischen den Beinen berührte, an einer Stelle, die sich beim Gehen dehnte und zusammenzog. Im dunstigen Sonnenlicht verschwammen die Dinge vor ihren Augen, während sie mit wachsender Verzweiflung nach ihren Kleidern suchte. Bestimmt hätten sich die Kinder nicht die Mühe gemacht, sie weit zu tragen. Bestimmt hätten sie sie ins Unterholz geworfen, wo sie sie finden würde. Ihre Jeans, ihre khakifarbene Jacke, ihre Schuhe, Socken, Unterwäsche, wie zerrissen und schmutzig auch immer. Doch es sprangen ihr nur nutzlose Dinge in die Augen, täuschende Formen: Zeitungen, die ins Gebüsch geweht worden waren, Gruppen weißer Anemonen, zerbrochene Flaschen und leere Bierdosen, die an schattigen Stellen blinkten. Sie weinte, kläglich enttäuscht.
Sie war eine Frau, die für vieles einen sicheren Instinkt besaß, doch jetzt ließ ihr Instinkt sie im Stich. Was sollte sie tun? Sie hatte die Autoschlüssel nicht mehr, und das Auto war abgeschlossen - von ihrem Mann, der alles sehr genau nahm, hatte sie die Gewohnheit übernommen, das Auto immer abzuschließen -, sodass es nicht in Frage kam, sich vorsichtig dem Parkplatz zu nähern, sich ins Auto zu setzen und auf Entdeckung und Rettung zu warten.
Eine plötzliche Schwäche überfiel sie. Das Bild einer beleibten Frau aus einem Cartoon fiel ihr ein, einer Ballonfrau mit großen Brüsten und dickem Bauch und Schamhaar, die in den Himmel hinaufgezogen wurde. Leute, hauptsächlich Männer, versammelten sich, um zu gaffen, zu feixen, mit den Fingern zu zeigen. Laut schrie sie: »Was soll ich machen!«
Wie um ihr Antwort zu geben, bog ein Auto auf den nicht sehr weit entfernten, kiesbedeckten Parkplatz ein. Sie hörte zufallende Wagentüren und Männerstimmen. In Panik stürzte sie ins Gebüsch, um sich zu verstecken, rannte weiter, ohne sich um ihre bloßen Füße zu kümmern, um die Zweige und Stacheln, die ihr die Haut aufrissen. Wie ein gejagtes Geschöpf ging sie in die Hocke und versteckte sich, obwohl sie wusste, dass sie um Hilfe rufen konnte; sie musste nur ihre Stimme erheben und »Hilfe!« oder »Helfen Sie mir, bitte!« rufen - ein schüchterner, hoffnungsvoller, verzweifelter Appell -, und der Albtraum wäre vorbei.
Sie hätte ihren Rettern sogar zurufen können - sie zweifelte nicht daran, dass es Retter wären; fast jeder, der den Naturpark besuchte, war in irgendeiner Weise mit der Universität verbunden -, dass man ihr die Kleider weggenommen habe und ob sie ihr bitte eine Decke oder irgendetwas bringen könnten, um ihre Blöße zu bedecken; und sie konnte, wenn es die Umstände erlaubten, sogar darauf bestehen, dass der Zwischenfall, da sie nicht verletzt war, nicht der Polizei gemeldet würde, und dass sie keinen Arzt wünsche und brauche.
Aber sie sagte nichts. Sie duckte sich tief hinter einem Streifen aus dichtem Buschwerk und blühendem Hartriegel, drückte die schweißnasse Stirn an ihre Knie und umklammerte ihre Beine in einer fieberhaften Umarmung. Die grauenvolle Vorstellung, entdeckt zu werden, nackt, wie sie war, zerschlagen, zerschrammt, zerzaust wie ein wildes Tier, war einfach zu viel für sie: Sie wollte sich nur verstecken und nicht gesehen werden. nichts war ihr mehr wichtig, nur dass sie nicht gesehen wurde.
So versteckte sie sich, und die Männerstimmen waren bald verklungen, denn sie mussten einen anderen Weg gegangen sein und würden sie nicht finden. Falls sie ihr Auto auf dem Parkplatz gesehen hatten, hatten sie es wahrscheinlich kaum richtig wahrgenommen oder sich nichts dabei gedacht. Alles in Ordnung, tröstete sie sich immer wieder, ohne zu wissen, was sie damit meinte.
Sie war eine Frau, die spät geheiratet hatte, weil sie es so gewollt hatte, und ihre Kinder spät bekommen hatte, ebenfalls, weil sie es so gewollt hatte; so hatte sie Gewohnheiten oder Praktiken des Alleinseins ausgebildet, die eng, vielleicht untrennbar mit ihrem Charakter verbunden waren, ihrem privaten, geheimen, dauerhaften Selbst. Ihr blondes, sonnenhelles gutes Aussehen war ihr nie besonders wichtig gewesen, wenn es ihr auch gefiel, dass ihr Äußeres ihr angeborenes dynamisches Temperament unterstrich; sie hielt es einfach für taktvoll, die kleinen Zweifel und Stimmungsschwankungen, die sie häufig überkamen, vor anderen, vor allem vor ihrem Mann zu verstecken. Es entsprach ihrem Stolz, dass jeder, der sie kannte, sie für eine Frau hielt, die immer oder fast immer freundlich und verträglich, belastbar, froh und zuversichtlich war.
Und jetzt, was sollte sie jetzt tun? Wie konnte sie sich weitere Demütigungen ersparen? Sie war vor den Männern geflohen, die ihr vielleicht geholfen hätten; also, was war zu tun?
Sie hätte den Kindern ihre barbarische Attacke verziehen, dachte sie, wenn sie ihr nur ihre Kleider gelassen hätten.
Es schien keinen Ausweg zu geben, nichts, was nicht scheußlich und schändlich gewesen wäre. Am Ende würde sie in das Gebüsch am Straßenrand kriechen und ein Auto anhalten in der Hoffnung, dass am Steuer ein Mensch saß, dem sie trauen konnte. Ein fremder Mann wäre das Schlimmste, aber ein Mann, der sie kannte, war kaum besser - eigentlich noch schlimmer, denn dann würde sich die Nachricht von ihrer Notlage verbreiten, und der elende kleine Zwischenfall würde zu einer Riesengeschichte aufgebauscht. Wenn es eine Frau wäre, könnte sie es vielleicht aushalten, aber wenn es eine Frau wäre, die sie kannte, wenn auch nur entfernt, eine Frau, die von ihrer Arbeit in der akademischen Gemeinde wusste oder ihr Foto in der Lokalzeitung gesehen hatte, dann würde sich die Geschichte ebenfalls sofort überall verbreiten, und das Gerücht würde lauten, dass sie vergewaltigt worden sei. Selbst Leute, die ihr nichts Böses wollten, würden die Geschichte weitertratschen und die Aufregung vergrößern; einige würden sich fragen, warum sie allein im Naturpark gewesen sei; einige würden vielleicht sogar durchblicken lassen, dass sie den Überfall herausgefordert habe - unabhängig, wie sie war, verheiratet mit einem bekannten Fachbereichsleiter der Universität, und mit ihrem eigenen ausgezeichneten Job in der Entwicklungsabteilung der Universität. So würde die hässliche Geschichte unzählige Male erzählt und wieder erzählt werden, und sie könnte nichts dagegen tun. Sie würde nur noch die Frau sein, die nackt im Meadowbrook-Naturpark aufgefunden worden war.
Und ihre Kinder würden in der Schule davon hören, ihre sechsjährige Tochter und ihr neunjähriger Sohn; man würde sticheln und spotten, und man würde sie Dinge glauben lassen, die nicht stimmten. Und ihr Stiefsohn - der Junge würde völlig niedergeschmettert sein, so peinlich wäre ihm das Ganze. Und ihr Mann, an den sie in diesem Zusammenhang kaum denken konnte: so ehrgeizig, wie er war, so erfüllt von seiner Arbeit, so besorgt um seinen Ruf in der Gemeinde. Es würde ihn erleichtern zu erfahren, dass sie nicht schwer verletzt worden war, aber später hätte er, das wusste sie, ein ebenso starkes Gefühl der Demütigung.
Und wenn sie Hilfe suchte, würde sie wahrscheinlich auch mit der Polizei zu tun bekommen. Wenn man sie ansah, musste einem klar werden, dass sie geschlagen worden war. Die Polizei würde darauf bestehen, sie zu vernehmen, und wie sollte sie ihnen sagen, dass die Angreifer Kinder gewesen waren, keine Halbwüchsigen, sondern Kinder? Und Mädchen unter ihnen: Und schwarz? Ich bin nicht rassistisch, würde sie der Polizei gewissenhaft erklären. Jedes Gefühl aus ihrer Stimme verbannend: Ich bin nicht rassistisch.
»Ich kann es nicht riskieren.«
Wie in einer Halluzination sah sie sich selbst, eine nackte, geisterhafte Gestalt, die in gleicher Richtung wie die Straßen, die zu ihrem Haus führten, aber von dort nicht sichtbar, dahinglitt, auf einer Route, die ähnlich verlief wie die, die sie zuvor mit dem Auto gefahren war. Diese vertrauten vorstädtisch-ländlichen Straßen, die sie jeden Tag entlangfuhr. Sie war nur zwei Meilen von zu Hause entfernt, möglicherweise weniger: Konnte sie es nicht zu Fuß schaffen, allein und ohne Hilfe? Ohne dass jemand es mitbekam? Sie schätzte, dass es ungefähr halb sieben war. Und da sie oft spät nach Hause kam, nach Einbruch der Dunkelheit, weil etwas im Büro sie aufhielt, weil sie soziale Verpflichtungen hatte oder noch etwas erledigen musste, würde es noch viele Stunden dauern, bis ihre Familie sie vermissen würde; ihr Mann war in letzter Zeit häufig unterwegs, um Spenden für die Universität aufzutreiben, auch bei ihm konnte immer einmal etwas dazwischenkommen; manchmal hatte sie, wenn sie nach Hause kam, vom Kindermädchen erfahren, dass ihr Mann angerufen hatte, um zu sagen, dass er nicht zum Abendessen käme. Und ihr Stiefsohn war auch nur sporadisch daheim. Um halb sieben würde das Kindermädchen mit den kleinen Kindern essen; so gab es keinen Anlass, sich Sorgen zu machen oder sich schuldig zu fühlen, abgesehen von den Sorgen und dem Schuldgefühl, das sie überkam, wenn sie daran dachte, dass sie von ihrer Demütigung erfahren könnten oder, noch schlimmer, sie in dem Zustand sehen könnten, in dem sie sich jetzt befand.
Denn dann würden sie nie mehr sie sehen, die Person, die sie war.
Sie sagte laut und indem sie sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen fuhr: »Ich kann es nicht riskieren.«
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Autoren-Porträt von Joyce Carol Oates
Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 wurde ihr der Jerusalem Prize verliehen. 2020 erhielt sie den renommierten Cino del Duca World Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joyce Carol Oates
- 2013, 1. Auflage, 368 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanne Röckel
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596194644
- ISBN-13: 9783596194643
- Erscheinungsdatum: 23.04.2013
Kommentar zu "Die Lästigen"