Die Lagune der Flamingos
Roman. Originalausgabe
Argentinien, 1876: Die jung verwitwete Annelie ist aus Deutschland eingewandert, um eine zweite Ehe einzugehen, doch diese wird zur bitteren Enttäuschung. Für ihre 14-jährige Tochter Mina sind die Treffen mit dem Nachbarssohn Frank die...
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Lagune der Flamingos “
Argentinien, 1876: Die jung verwitwete Annelie ist aus Deutschland eingewandert, um eine zweite Ehe einzugehen, doch diese wird zur bitteren Enttäuschung. Für ihre 14-jährige Tochter Mina sind die Treffen mit dem Nachbarssohn Frank die einzigen Lichtblicke. Doch dann geschieht etwas Schreckliches und Frank muss fliehen.
Klappentext zu „Die Lagune der Flamingos “
Argentinien, 1876: Die jung verwitwete Annelie Wienand ist mit ihrer Tochter Mina aus Frankfurt am Main eingewandert, um ein zweites Mal zu heiraten. Doch ihre Ehe ist eine bittere Enttäuschung. Für die vierzehnjährige Mina sind einzig die Treffen mit dem Nachbarssohn Frank Lichtblicke in ihrem rauen Familienalltag. Doch eines Tages geschieht etwas Schreckliches, und Frank muss fliehen ...Die Lebenswege dreier Familien sind unabwendbar miteinander verknüpft und entführen den Leser in die Welten von Arm und Reich, Ehrbahren und Verruchten, Hassenden und Liebenden.
Lese-Probe zu „Die Lagune der Flamingos “
Die Lagune der Flamingos von Sofia CaspariErstes Kapitel
Stocksteif stand Mina in ihrem Versteck. Durch den schmalen Spalt, den die Tür ihr ließ, konnte sie genauestens beobachten, was in der Küche vor sich ging. Der Fünfzehnjährigen stockte der Atem. Philipp, ihr Stiefbruder, war eben von draußen hereingekommen. Gerade noch rechtzeitig hatte sie ihn bemerkt. Im letzten Moment war sie in die kleine Vorratskammer geschlüpft. Die Blutspritzer auf seinem Gesicht und sein blutbeflecktes Hemd hinterließen ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Gespenstisch beleuchtete die Öllampe auf dem Tisch Philipps gleichfalls blutverschmierte Finger. Kurz betrachtete er sie mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck, dann griff er nach seinem Rock, der über einer Stuhllehne hing, und zog eine goldene Uhr aus der Tasche. Er lächelte breit, während die Uhr an der Kette sanft hin- und herpendelte. Entschlossen steckte er sie wieder weg und entblößte seinen breiten, muskulösen Oberkörper, indem er sein Hemd auszog. Das Lächeln auf seinem Gesicht verlor sich nicht, als er nun an den Eimer mit Frischwasser herantrat und prustend begann, sich Gesicht und Hände zu waschen. Mina sah, dass sich das getrocknete Blut löste und ihm, mit dem Wasser vermischt, in rötlichen Schlieren über Gesicht, Handrücken und Arme lief, bevor es auf den Boden tropfte. Mit Mühe unterdrückte das junge Mädchen einen Anflug von Übelkeit.
Hoffentlich entdeckt er mich nicht, fuhr es heiß durch sie hindurch, hoffentlich entdeckt er mich nicht.
Sicherlich hatte der Stiefbruder wieder einmal einen Unschuldigen verprügelt, jemanden, der neu in der Gegend war und keine Verbündeten hatte. Jemanden, dem deshalb niemand helfen würde. Mit Philipp Amborn oder seinem Vater Xaver legte sich niemand an.
»Mein Philipp«, so
... mehr
pflegte Xaver Amborn zu sagen, »hat einen kurzen Zündfaden. Jeder weiß das und beherzigt den Rat, ihn besser nicht zu reizen. So ist er eben, aber im Kern ist er ein guter Junge ... Das war er immer. Mir war er stets treu.«
Die Hand auf den Mund gepresst unterdrückte Mina ein Stöhnen.
Er darf mich nicht sehen, bitte, lieber Gott, er darf mich nicht sehen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie Philipp so nach Hause kommen sah. Neu war allerdings, dass er dieses Mal eine goldene Uhr in seinem Rock versteckt hielt. Heute, dachte Mina, ist er einen Schritt zu weit gegangen. Er hat gestohlen. Würde er ihr glauben, dass sie nichts gesehen hatte, nichts wusste und nichts sagen würde? Er darf mich hier nicht entdecken, schoss es ihr erneut durch den Kopf, er darf mich hier nicht sehen.
Sie wusste ja auch nicht, welcher Laune er war. Manchmal war es gar nicht nötig, ihn zu reizen. Dann schlug der Stiefbruder zu, weil er Spaß daran hatte, weil er gern sah, wenn andere Schmerzen litten. Das hatte sie als Erstes gelernt, kurz nachdem ihre Mutter Annelie und sie vor nunmehr fünf Jahren nach Esperanza gekommen waren. Philipps Äußeres, das dunkle kräftige Haar, das markante Gesicht, sein einnehmendes Lachen, die funkelnden Augen und der muskulöse Körper, täuschte nur zu leicht darüber hinweg, welcher Teufel in seinem Inneren schlummerte. Der Stiefbruder betrachtete jetzt erneut seine Hände, schaute dann an sich hinunter. Offenbar schien er zufrieden mit dem, was er sah, denn im nächsten Moment griff er nach einem Tuch und rieb sich Gesicht und Oberkörper trocken. Dann überprüfte er sein Hemd, warf es endlich mit einem Seufzer zur Seite. Ganz offenbar war das Blut nicht das des Stiefbruders. Philipp war nicht verletzt, so viel konnte Mina aus ihrem Versteck erkennen.
Ein plötzliches Knarren ließ das junge Mädchen zusam-menzucken. Die Haustür wurde aufgestoßen, und der Stief-vater trat ein. Er schien überrascht, seinen Sohn zu sehen, denn er blieb abrupt stehen.
»Du bist schon zurück?«
»Es gab einen Unfall«, beschied Philipp ihn knapp.
So, wie die beiden Männer dort standen, kamen sie Mina mit einem Mal vor wie Strauchdiebe, Renegaten, desperados. Aber warum erkannte das niemand? Warum waren Xaver und sein einundzwanzigjähriger Sohn immer noch ange-sehene Männer der Gemeinschaft? Warum galt ihr Wort in jedem Fall mehr als das Minas oder das ihrer Mutter? Warum war es nach fünf Jahren immer noch so, als seien sie gerade erst angekommen? Warum gab sich niemand die Mühe, hin-ter die Fassade zu schauen?
Mina sah, wie ihr Stiefvater die Stirn runzelte.
»So?«
»Meine Freunde und ich wurden angegriffen.«
Er lügt, dachte Mina und presste die Lippen aufeinander, er lügt.
Angesichts des ganzen Blutes wagte sie es kaum, sich vor-zustellen, was mit dem Unglücklichen geschehen war, der Philipp heute begegnet war.
»Ist Mina schon zurück?«, fragte der Stiefbruder jetzt.
»Wieso?« Misstrauen schlich sich in Xavers Stimme. »Hab sie heute mit Frank Blum gesehen.«
Philipps Stimme klang unbekümmert, doch Mina wusste genau, dass er eben einen seiner Giftpfeile gesetzt hatte.
»Hölle und Teufel, ich habe ihr doch streng verboten, sich noch einmal mit diesem nichtsnutzigen Lumpen abzugeben. Ich glaube, ich muss dem widerspenstigen Weib wieder einmal eine Lektion erteilen.«
Mina erschrak bei seinen harschen Worten so sehr, dass sie den Halt verlor und gegen die Tür der Vorratskammer stolperte. Die knarrte leise ob der unbeabsichtigten Bewegung. Wie auf ein Wort sahen Vater und Sohn in Minas Richtung, dann wechselten sie einen kurzen Blick miteinander.
»Mina, Süße«, rief Philipp, ein maliziöses Grinsen auf dem Gesicht, »bist du etwa da drin?«
Einige Wochen zuvor
Das Abendlicht goss seinen rotgoldenen Honig über die weite Ebene aus und verwandelte die Landschaft in ein Meer aus Gras, dessen Wellen in der Ferne gegen die hohen Berge schlugen.
»Bleib stehen, du verdammtes Balg!«, donnerte die Stimme ihres Stiefvaters hinter Mina her, doch das junge Mädchen rannte einfach weiter.
Rennend hatte Mina das Haus verlassen, und sie würde rennen, bis sie Xavers verhasste Stimme nicht mehr hörte. Wenn man sie in diesem Moment gefragt hätte, ob sie keine Angst vor ihrem Stiefvater habe, hätte Mina nur die Achseln gezuckt. Man konnte kein Leben führen, in dem man ständig Angst vor irgendetwas hatte, das sah sie an ihrer Mutter. Annelie Amborn, geborene Wienand, verwitwete Hoff, hatte viel zu viel Angst. Mina wollte keinesfalls werden wie sie. Später, wenn sie nach Hause zurückkehrte, würde Xaver sie selbstverständlich verprügeln, doch das kümmerte sie jetzt nicht. In diesem Augenblick, hier draußen, war sie frei wie ein Vogel. Das war alles, was zählte.
Als Mina weit genug gelaufen war, blieb sie stehen, breitete die Arme aus und lachte laut. Es war ein starkes, kräftiges Lachen. Manchen hätte es gewiss verwundert, denn es wollte so gar nicht zu ihrer zierlichen Gestalt passen. Doch sie hatte schon auf dem Schiff so manchen getäuscht. Mina hatte keine Angst gehabt - sie war auch bei starkem Wind an Deck geblieben. Sie hatte nie unter Seekrankheit gelitten, und sie hatte auch nie daran gezweifelt, dass sie ankommen würden, so wie mancher Mitreisende, der seine Zeit an Bord heulend und betend verbracht hatte.
Mina ließ die immer noch weit ausgebreiteten Arme sinken und rannte weiter. Manchmal, dachte sie, wünschte ich mir wirklich, einfach meine Flügel ausbreiten zu können und davonzufliegen. Aber sie war ein Mensch, dazu bestimmt, auf der Erde zu leben.
Abrupt verzögerte sie ihren Lauf und schaute sich um. Sie hatte ihren Treffpunkt, eine in der endlosen Weite kaum merkliche Vertiefung, erreicht. Frank, ihr bester Freund, war allerdings noch nicht da. Mit einem kleinen Seufzer ließ Mina sich auf dem Boden nieder. Sie war froh, dass ihr Stiefvater stets zu faul war, ihr mehr als ein paar Meter zu folgen. Ab und an hetzte er ihren Stiefbruder auf sie, doch der war an diesem Tag noch nicht zu Hause gewesen. Sie selbst hatte ihn mittags mit einem Mädchen tändeln sehen. Mina war sich sicher, dass es spät werden würde, bis er zurückkam. Sicher lich würde er sich im Laufe des Abends betrinken. Ja, sie hatte heute wirklich Glück, und sie wusste das zu schätzen.
Wieder blickte Mina auf die untergehende Sonne, die sich, einem Feuerball gleich, stetig dem Horizont näherte. Ein wenig Zeit würde Frank und ihr noch bleiben, bis es ganz dunkel wurde, nicht viel allerdings. Sie hoffte sehr, dass er bald kam.
Für einen Moment horchte sie in die Weite hinaus. Nicht wenige fürchteten sich davor, das Dorf um diese Uhrzeit noch zu verlassen. Manchmal durchstreiften Indios die Gegend -Tobas aus der weiter im Norden gelegenen Provinz Chaco beispielsweise -, stahlen Vieh oder entführten Frauen und Kinder. In besonders nah an den Indianergebieten liegenden Ortschaften standen die Häuser deshalb dicht beieinander und waren von einem soliden Palisadenzaun umgeben. Die Siedler dort trugen stets Waffen bei sich, auch bei der Feldarbeit. Jedes Jahr fand eine Strafexpedition in den Chaco statt. Dann zerstörte man ein paar tolderias, wie die Indianerdörfer genannt wurden, tötete ein paar Indios und machte Gefangene, die sich bald darauf im Dienste reicher Städter wiederfanden oder auf den Zuckerrohrfeldern rund um Tucumän.
An den Strafexpeditionen nahmen stets auch Minas Stiefvater und Stiefbruder teil, obwohl sie selbst noch niemals Opfer eines mal´on, eines Indianerüberfalls, geworden waren. Ihnen bereitete der Krieg Vergnügen. Sie liebten es, zu töten. Einmal hatte Mina zu fragen gewagt, wie man sich denn für ein Leid rächen könne, das einem gar nicht widerfahren sei. Die Antwort ihres Stiefvaters hatte sich noch Tage danach in Form einer erst rot, dann bläulich, später gelbgrün verfärbten Wange gezeigt. Den Nachbarn hatte sie sagen müssen, sie sei die Treppe hinuntergestürzt. Mina fröstelte unwillkürlich, zog unter dem Rock die Beine an und umklammerte ihre Knie mit den Armen.
»Wartest du schon lange?«, riss sie gleich darauf eine tiefe, warme Stimme aus ihren Gedanken.
Das junge Mädchen warf den Kopf herum und sprang auf. »Frank, endlich!«
»Du warst aber heute gar nicht vorsichtig. Was gibt es denn so angestrengt zu denken?«
»Ach, dies und das.«
Mina sah den Freund liebevoll an. Er war seit fünf Jah-ren, seit ihren ersten Tagen in diesem Land, ihr steter Beglei-ter gewesen, ihre einzige Hoffnung. Manchmal fragte sie sich, wo seine Kinderstimme geblieben war. Aber natürlich war Frank mit seinen siebzehn Jahren längst ein Mann, von dem man erwartete, dass er schwere Arbeit leistete. Kurz musste sie jetzt den Blick senken. Da war plötzlich wieder einer dieser seltsamen Gedanken, die sie neuerdings bei sei-nem Anblick überfielen, ein Bedürfnis, ihn anzufassen, seine warme Haut zu spüren, seinen so vertrauten Geruch einzu-atmen.
Ich will ihnfesthalten und nie wieder loslassen.
Es kostete Mina Kraft, den Kopf zu heben und Frank an-zusehen. Sie wollte keinesfalls, dass er merkte, wie verwirrt sie war. Es machte sie unsicher.
»Wie war es heute?«
»Du meinst die Arbeit mit deinem Vater?«
»Nenn ihn nicht so! «, beschwerte Mina sich ärgerlich.
Frank zuckte die Achseln. »Entschuldige.« Er seufzte tief. »Na ja, die Arbeit war wie immer«, erwiderte er dann knapp.
Mina nickte verstehend. Sie sah, dass Franks einfache Klei dung staubbedeckt war. Auch sein Gesicht war schmutzig, doch seine fast schwarzen Augen funkelten übermütig. Diese Augen waren es gewesen, die ihr bei ihrer ersten Begegnung als Erstes aufgefallen waren. In einem Moment waren sie unergründlich, im nächsten schien der Übermut förmlich aus ihnen zu sprühen. Es waren Augen, in denen sie versinken wollte. Augen, die sie vor sich sah, wenn sie nicht schlafen konnte. Niemand hatte solche Augen, nur Frank.
Einen kurzen Moment später saßen sie nebeneinander in ihrer Senke, in ihrem Versteck. Franks Hand suchte Minas und umschloss sie. Eine Weile hockten sie schweigend da. Neuerdings mussten sie nicht immer sprechen, es genügte ihnen, einander nahe zu sein.
»Es wird bald sehr dunkel werden«, bemerkte Mina endlich. »Es war gerade Neumond.«
»Ich habe eine Laterne dabei«, erwiderte Frank ruhig und zeigte auf einen Beutel, den er achtlos neben sich auf den Boden gelegt hatte.
»Gestohlen?«
Mina sah den Freund prüfend von der Seite an. Franks dichtes dunkelblondes Haar hing ihm wieder einmal wirr ins Gesicht. Es erschien ihr immer, als wollte es sich nicht zähmen lassen. Jetzt strich er es mit einer Hand zurück. Seine dunklen Augen blitzten herausfordernd, als er ihren Blick erwiderte.
»Geliehen.« Er grinste.
»Von wem?«
Mina bemerkte, wie sich fast wie von selbst eine Falte zwischen ihren Augenbrauen bildete, während ihre hellbraunen Augen schmal wurden, wie die einer Katze kurz vor dem Sprung.
Frank runzelte die Stirn. Mit einer Hand schob er eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars über ihre Schulter zurück.
»Ach, verdammt, Mina, ich will nicht immer buckeln, und ich will auch nicht immer vorsichtig sein. Ich habe niemandem etwas getan, ich habe niemandem Schaden zugefügt. Morgen ist die Laterne wieder an ihrem Platz. Versprochen. Niemand wird es bemerken.«
Mina schluckte die Warnungen hinunter, die ihr auf der Zunge brannten. Ein Frösteln überlief sie. Dann, nur einen Augenblick später, fühlte sie Franks Arm auf ihren Schultern. Sie erstarrte. Als Kinder hatten sie einander kennengelernt und waren gemeinsam erwachsen geworden. Berührungen dieser Art hatten sie bislang nie ausgetauscht, doch im nächsten Moment schon schmiegte Mina sich zum ersten Mal an Frank und überließ sich seiner Umarmung. Sie lauschte seinen ruhigen Atemzügen, genoss das Gefühl, das seine raue Hand, die sanft über ihren Oberarm streifte, auf ihrer Haut hinterließ.
Ich möchte ihn küssen, dachte sie.
»Küss mich«, flüsterte sie im nächsten Moment schon.
Erst zögerte er. Dann kam er ihrer Bitte nach. Der erste Versuch geriet ungelenk. Ihre Münder verfehlten einander, doch dann war es, als hätten sie nie etwas anderes getan. Sie schmeckten einander, tranken den Atem des anderen, suchten, berührten und erforschten einander mit den Lippen.
Ich liebe ihn, dachte Mina, als sie sich endlich voneinander lösten. Jetzt weiß ich es endlich, jetzt bin ich mir sicher.
Erneut saßen sie schweigend nebeneinander, hingen beide dem eben Erlebten nach. Gedankenverloren strich Mina sich mit einem Zeigefinger über den Mund.
»Sobald es uns möglich ist, gehen wir hier weg«, schnitt Frank ein Thema an, über das sie auch vorher und besonders in letzter Zeit häufiger gesprochen hatten.
Mina nickte, antwortete aber nicht. Wie oft schon hatten sie sich ausgemalt, diesen Ort hinter sich zu lassen, anderswo ein neues, ein eigenes Leben zu beginnen. Über eine Sache war Mina sich dabei allerdings noch nicht im Klaren. Auch jetzt wieder fuhr ihr dieser Gedanke durch den Kopf: Wie sage ich es Mutter? Sie muss mitkommen, ich kann nicht ohne sie gehen. Ich kann sie nicht allein bei diesen Teufeln zurücklassen.
Ich stürze von einem Elend ins andere, dachte Annelie Amborn nicht zum ersten Mal in ihrem neununddreißig Jahre währenden Leben, von einer Hölle in die nächste. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihr Mann Xaver hatte sie beim Handgelenk gepackt und drückte jetzt unbarmherzig zu, so wie er es gern tat. Sie hatte sehr bald in ihrer Beziehung erkennen müssen, dass er es genoss, ihr Schmerz zuzufügen. Das erste Mal hatte sie das wenige Tage nach ihrer Hochzeit erfahren. Annelie richtete den Blick auf das Licht der Öllampe auf dem Tisch, als könne sie so entfliehen, konzentrierte sich auf die kleine Flamme, um den Schmerz und die Angst nicht zu spüren.
»Sag schon, wo ist das Luder? Ich finde es ja doch heraus. Du lässt ihr zu viel durchgehen, Annelie. Mina ist nicht mehr in dem Alter, in dem man sie umherstreifen lassen kann wie eine Wilde. Sie muss ihre Arbeit leisten, hier und jetzt, wie jeder, der etwas zu beißen will. Einen unnützen Esser können wir nicht gebrauchen. Einen unnützen Esser setzt man vor die Tür.«
Xaver wies mit der freien Hand auf das schmutzige Ge schirr, das sich neben dem Spülstein stapelte. Fliegen um-schwirrten einen abgenagten Knochen, an dem noch Fleisch-reste hingen. Vater und Sohn waren erst kurze Zeit zu Hause, und bereits jetzt sah es aus, als hätten Mina und sie den ganzen Tag lang die Hände in den Schoß gelegt. Obwohl Annelie das Abendessen noch nicht aufgetischt hatte, hatten sich beide schon vorab etwas zu essen genommen und bereits nach kur-zer Zeit eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Dabei waren Mina und sie seit dem Sonnenaufgang auf den Beinen. Sie hat-ten geputzt, im Garten gearbeitet, die Milchkühe versorgt und zur Weide gebracht, Wasser geholt.
Und ich wollte doch nur, dass meine geliebte Mina wieder das Leben führen kann, das sie verdient.
Annelie zwang sich, nicht zu ihrem Stiefsohn hinüberzu-sehen, um ihn nicht unnötig zu reizen. Philipp saß in seinem Stuhl, zurückgelehnt. Die langen Beine hatte er so in den Raum gestreckt, dass man unweigerlich darüber zu stolpern drohte, wenn man an ihm vorbeimusste. Sein schwarzes Haar hing ihm bis auf die Schultern herab und hätte einen ordentlichen Schnitt verdient. Ein stoppliger Bart bedeckte sein kantiges Kinn. Auf eine verdorbene Art sah er sehr gut aus. Annelie wusste, dass schon viele Frauen darauf hereinge-fallen waren.
Seine Mutter, überlegte sie, muss sehr schön gewesen sein. Sie war vier Jahre vor ihrer und Minas Ankunft gestorben. Bei einem Sturz, hieß es.
»Wirst du mir schwören, ab jetzt besser auf dein Balg auf-zupassen?«, knurrte Xaver sie noch einmal an und drückte die Finger nochmals zusammen.
Annelie nickte, während sie sich zitternd von ihrem Mann zu lösen suchte. Er bemerkte ihre zaghaften Versuche und hielt sie grinsend fester, bis er sie dann doch sehr plötzlich losließ. Ein letzter Stoß brachte sie ins Straucheln. Gerade noch konnte sie sich am Tisch festhalten.
Wie habe ich nur einmal denken können, für mich und Mina einen neuen Beschützer in ihm zu finden? Wie habe ich ihm nur unser Leben anvertrauen können?
Sie hatte alles falsch gemacht. Wie immer. Sie war eben dumm. Ihr Vater hatte Recht gehabt.
»So, und jetzt tisch endlich auf, Weib, und hör auf, Trübsal zu blasen, das ist ja nicht zum Aushalten. Los, los, mein Sohn und ich haben Hunger.«
Annelie beeilte sich, zum Herd zu kommen. Es gab Kartoffelklöße und großzügige Mengen an Fleisch. Sie gab den beiden Männern auf, nahm sich dann selbst etwas und wartete auf Xavers Tischgebet. Kaum war das Amen verklungen, stopfte sich Philipp auch schon den Mund voll. Fett triefte ihm über das Kinn, hier und da bekam auch sein Hemd etwas ab.
Warum nur, fuhr es Annelie durch den Kopf, habe ich die Anzeige damals gelesen? Warum nur bin ich hergekommen? Ich habe mein Leben ruiniert, aber noch unverzeihlicher ist, dass ich Minas Aussicht auf ein gutes Leben zerstört habe. Das werde ich nie wiedergutmachen können.
Ihre Mutter hatte sie noch gewarnt, hatte sie gemahnt, keine solch weitreichende Entscheidung zu treffen. Annelie erinnerte sich, wie sie nachmittags in Mainz bei ihren Eltern beim Kaffee gesessen hatte - bei echtem Bohnenkaffee, wie ihre Mutter immer betonte. Die Mutter hatte meist geschwiegen. Der Vater hatte, wie es sich vielleicht für einen Arzt gehörte, das Leben seiner Tochter schonungslos seziert.
»Nun«, hatte er irgendwann mit seiner Ehrfurcht gebietenden Stimme gefragt, »du bist jetzt drei Jahre Witwe, was gedenkst du zu tun, um deinen alten Eltern nicht weiter auf der Tasche zu liegen?«
Während ihr Vater so gesprochen hatte, hatte die Mutter angelegentlich an dem Spitzendeckchen, das auf dem Tisch lag, gezupft. Mina hatte still in einer Ecke gesessen und in einem Buch geblättert. Sie war schon früh ein sehr selbstständiges Kind gewesen.
Weil ich es nicht bin, dachte Annelie, weil ich nicht selbstständig bin, ist sie es. Ich bin ein armes, schwaches Weib und zu nichts nütze.
An dem Abend hatte sie die Anzeige gelesen, sie erinnerte sich genau: Ehefrau und Mutter gesucht. Einsamer Witwer...
Sie hatte sich sofort mit diesem fremden Mann verbunden gefühlt. Er war Witwer. Er war einsam ... Das war sie doch auch. Sie war einsam. Sie hatte ihren Mann verloren. Sie hatte gefühlt, nein, sie hatte sich eingebildet, dass sie etwas mit diesem Mann gemeinsam hatte. Ihre Eltern waren gegen ihre Pläne gewesen, wie immer. Zum ersten Mal hatte sie sich gegen sie gestellt. Für Mina.
Ein Jahr und kaum zwei Briefe später waren Mina und sie auf dem Weg nach Argentinien gewesen. Die Reise war beschwerlich gewesen, aber der Gedanke an das Ziel hatte sie aufrecht gehalten. Es hatte sie die Übelkeit und die Angst ertragen lassen, die Angst vor der Schiffsreise genauso wie die vor der Fremde. Nach Wochen waren sie schließlich in Buenos Aires angekommen. Von dort aus waren sie auf dem Rio Paranä weitergereist bis nach Rosario, und dann nach Santa Fe und dann ...
»Was starrst du denn so? Hast du noch nie einen Mann essen sehen?«
Annelie senkte rasch den Blick, nicht ohne Philipps Grin sen zu bemerken. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie sich ein niedliches kleines Kind vorgestellt, als sie die Anzeige gelesen hatte. Aber Philipp war bei ihrer Ankunft ein fast erwachsener Mann gewesen, mit strahlend blauen Augen, dunklem Haar und einem schon damals kräftigen, muskulösen Körper. Annelie schauderte, wenn sie an die Blicke dachte, die er neuerdings ihrer Tochter zuwarf.
»Der Junge lässt nichts anbrennen«, hatte sein Vater kürzlich stolz bemerkt, als Philipp von seiner neuesten Eroberung berichtete.
Auch Mina war gewachsen, seit sie angekommen waren. Das Mädchen verwandelte sich unaufhaltsam in eine junge Frau. Zwar war sie zierlich, aber ihre Formen, ihr Gang, ihr Betragen waren weiblicher geworden.
Ich muss sie besser beschützen, fuhr es Annelie durch den Kopf, ich muss sie besser beschützen, doch ich weiß einfach nicht wie.
Sie hatte zu viel Angst. Sie hatte schon immer zu viel Angst gehabt.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Die Hand auf den Mund gepresst unterdrückte Mina ein Stöhnen.
Er darf mich nicht sehen, bitte, lieber Gott, er darf mich nicht sehen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie Philipp so nach Hause kommen sah. Neu war allerdings, dass er dieses Mal eine goldene Uhr in seinem Rock versteckt hielt. Heute, dachte Mina, ist er einen Schritt zu weit gegangen. Er hat gestohlen. Würde er ihr glauben, dass sie nichts gesehen hatte, nichts wusste und nichts sagen würde? Er darf mich hier nicht entdecken, schoss es ihr erneut durch den Kopf, er darf mich hier nicht sehen.
Sie wusste ja auch nicht, welcher Laune er war. Manchmal war es gar nicht nötig, ihn zu reizen. Dann schlug der Stiefbruder zu, weil er Spaß daran hatte, weil er gern sah, wenn andere Schmerzen litten. Das hatte sie als Erstes gelernt, kurz nachdem ihre Mutter Annelie und sie vor nunmehr fünf Jahren nach Esperanza gekommen waren. Philipps Äußeres, das dunkle kräftige Haar, das markante Gesicht, sein einnehmendes Lachen, die funkelnden Augen und der muskulöse Körper, täuschte nur zu leicht darüber hinweg, welcher Teufel in seinem Inneren schlummerte. Der Stiefbruder betrachtete jetzt erneut seine Hände, schaute dann an sich hinunter. Offenbar schien er zufrieden mit dem, was er sah, denn im nächsten Moment griff er nach einem Tuch und rieb sich Gesicht und Oberkörper trocken. Dann überprüfte er sein Hemd, warf es endlich mit einem Seufzer zur Seite. Ganz offenbar war das Blut nicht das des Stiefbruders. Philipp war nicht verletzt, so viel konnte Mina aus ihrem Versteck erkennen.
Ein plötzliches Knarren ließ das junge Mädchen zusam-menzucken. Die Haustür wurde aufgestoßen, und der Stief-vater trat ein. Er schien überrascht, seinen Sohn zu sehen, denn er blieb abrupt stehen.
»Du bist schon zurück?«
»Es gab einen Unfall«, beschied Philipp ihn knapp.
So, wie die beiden Männer dort standen, kamen sie Mina mit einem Mal vor wie Strauchdiebe, Renegaten, desperados. Aber warum erkannte das niemand? Warum waren Xaver und sein einundzwanzigjähriger Sohn immer noch ange-sehene Männer der Gemeinschaft? Warum galt ihr Wort in jedem Fall mehr als das Minas oder das ihrer Mutter? Warum war es nach fünf Jahren immer noch so, als seien sie gerade erst angekommen? Warum gab sich niemand die Mühe, hin-ter die Fassade zu schauen?
Mina sah, wie ihr Stiefvater die Stirn runzelte.
»So?«
»Meine Freunde und ich wurden angegriffen.«
Er lügt, dachte Mina und presste die Lippen aufeinander, er lügt.
Angesichts des ganzen Blutes wagte sie es kaum, sich vor-zustellen, was mit dem Unglücklichen geschehen war, der Philipp heute begegnet war.
»Ist Mina schon zurück?«, fragte der Stiefbruder jetzt.
»Wieso?« Misstrauen schlich sich in Xavers Stimme. »Hab sie heute mit Frank Blum gesehen.«
Philipps Stimme klang unbekümmert, doch Mina wusste genau, dass er eben einen seiner Giftpfeile gesetzt hatte.
»Hölle und Teufel, ich habe ihr doch streng verboten, sich noch einmal mit diesem nichtsnutzigen Lumpen abzugeben. Ich glaube, ich muss dem widerspenstigen Weib wieder einmal eine Lektion erteilen.«
Mina erschrak bei seinen harschen Worten so sehr, dass sie den Halt verlor und gegen die Tür der Vorratskammer stolperte. Die knarrte leise ob der unbeabsichtigten Bewegung. Wie auf ein Wort sahen Vater und Sohn in Minas Richtung, dann wechselten sie einen kurzen Blick miteinander.
»Mina, Süße«, rief Philipp, ein maliziöses Grinsen auf dem Gesicht, »bist du etwa da drin?«
Einige Wochen zuvor
Das Abendlicht goss seinen rotgoldenen Honig über die weite Ebene aus und verwandelte die Landschaft in ein Meer aus Gras, dessen Wellen in der Ferne gegen die hohen Berge schlugen.
»Bleib stehen, du verdammtes Balg!«, donnerte die Stimme ihres Stiefvaters hinter Mina her, doch das junge Mädchen rannte einfach weiter.
Rennend hatte Mina das Haus verlassen, und sie würde rennen, bis sie Xavers verhasste Stimme nicht mehr hörte. Wenn man sie in diesem Moment gefragt hätte, ob sie keine Angst vor ihrem Stiefvater habe, hätte Mina nur die Achseln gezuckt. Man konnte kein Leben führen, in dem man ständig Angst vor irgendetwas hatte, das sah sie an ihrer Mutter. Annelie Amborn, geborene Wienand, verwitwete Hoff, hatte viel zu viel Angst. Mina wollte keinesfalls werden wie sie. Später, wenn sie nach Hause zurückkehrte, würde Xaver sie selbstverständlich verprügeln, doch das kümmerte sie jetzt nicht. In diesem Augenblick, hier draußen, war sie frei wie ein Vogel. Das war alles, was zählte.
Als Mina weit genug gelaufen war, blieb sie stehen, breitete die Arme aus und lachte laut. Es war ein starkes, kräftiges Lachen. Manchen hätte es gewiss verwundert, denn es wollte so gar nicht zu ihrer zierlichen Gestalt passen. Doch sie hatte schon auf dem Schiff so manchen getäuscht. Mina hatte keine Angst gehabt - sie war auch bei starkem Wind an Deck geblieben. Sie hatte nie unter Seekrankheit gelitten, und sie hatte auch nie daran gezweifelt, dass sie ankommen würden, so wie mancher Mitreisende, der seine Zeit an Bord heulend und betend verbracht hatte.
Mina ließ die immer noch weit ausgebreiteten Arme sinken und rannte weiter. Manchmal, dachte sie, wünschte ich mir wirklich, einfach meine Flügel ausbreiten zu können und davonzufliegen. Aber sie war ein Mensch, dazu bestimmt, auf der Erde zu leben.
Abrupt verzögerte sie ihren Lauf und schaute sich um. Sie hatte ihren Treffpunkt, eine in der endlosen Weite kaum merkliche Vertiefung, erreicht. Frank, ihr bester Freund, war allerdings noch nicht da. Mit einem kleinen Seufzer ließ Mina sich auf dem Boden nieder. Sie war froh, dass ihr Stiefvater stets zu faul war, ihr mehr als ein paar Meter zu folgen. Ab und an hetzte er ihren Stiefbruder auf sie, doch der war an diesem Tag noch nicht zu Hause gewesen. Sie selbst hatte ihn mittags mit einem Mädchen tändeln sehen. Mina war sich sicher, dass es spät werden würde, bis er zurückkam. Sicher lich würde er sich im Laufe des Abends betrinken. Ja, sie hatte heute wirklich Glück, und sie wusste das zu schätzen.
Wieder blickte Mina auf die untergehende Sonne, die sich, einem Feuerball gleich, stetig dem Horizont näherte. Ein wenig Zeit würde Frank und ihr noch bleiben, bis es ganz dunkel wurde, nicht viel allerdings. Sie hoffte sehr, dass er bald kam.
Für einen Moment horchte sie in die Weite hinaus. Nicht wenige fürchteten sich davor, das Dorf um diese Uhrzeit noch zu verlassen. Manchmal durchstreiften Indios die Gegend -Tobas aus der weiter im Norden gelegenen Provinz Chaco beispielsweise -, stahlen Vieh oder entführten Frauen und Kinder. In besonders nah an den Indianergebieten liegenden Ortschaften standen die Häuser deshalb dicht beieinander und waren von einem soliden Palisadenzaun umgeben. Die Siedler dort trugen stets Waffen bei sich, auch bei der Feldarbeit. Jedes Jahr fand eine Strafexpedition in den Chaco statt. Dann zerstörte man ein paar tolderias, wie die Indianerdörfer genannt wurden, tötete ein paar Indios und machte Gefangene, die sich bald darauf im Dienste reicher Städter wiederfanden oder auf den Zuckerrohrfeldern rund um Tucumän.
An den Strafexpeditionen nahmen stets auch Minas Stiefvater und Stiefbruder teil, obwohl sie selbst noch niemals Opfer eines mal´on, eines Indianerüberfalls, geworden waren. Ihnen bereitete der Krieg Vergnügen. Sie liebten es, zu töten. Einmal hatte Mina zu fragen gewagt, wie man sich denn für ein Leid rächen könne, das einem gar nicht widerfahren sei. Die Antwort ihres Stiefvaters hatte sich noch Tage danach in Form einer erst rot, dann bläulich, später gelbgrün verfärbten Wange gezeigt. Den Nachbarn hatte sie sagen müssen, sie sei die Treppe hinuntergestürzt. Mina fröstelte unwillkürlich, zog unter dem Rock die Beine an und umklammerte ihre Knie mit den Armen.
»Wartest du schon lange?«, riss sie gleich darauf eine tiefe, warme Stimme aus ihren Gedanken.
Das junge Mädchen warf den Kopf herum und sprang auf. »Frank, endlich!«
»Du warst aber heute gar nicht vorsichtig. Was gibt es denn so angestrengt zu denken?«
»Ach, dies und das.«
Mina sah den Freund liebevoll an. Er war seit fünf Jah-ren, seit ihren ersten Tagen in diesem Land, ihr steter Beglei-ter gewesen, ihre einzige Hoffnung. Manchmal fragte sie sich, wo seine Kinderstimme geblieben war. Aber natürlich war Frank mit seinen siebzehn Jahren längst ein Mann, von dem man erwartete, dass er schwere Arbeit leistete. Kurz musste sie jetzt den Blick senken. Da war plötzlich wieder einer dieser seltsamen Gedanken, die sie neuerdings bei sei-nem Anblick überfielen, ein Bedürfnis, ihn anzufassen, seine warme Haut zu spüren, seinen so vertrauten Geruch einzu-atmen.
Ich will ihnfesthalten und nie wieder loslassen.
Es kostete Mina Kraft, den Kopf zu heben und Frank an-zusehen. Sie wollte keinesfalls, dass er merkte, wie verwirrt sie war. Es machte sie unsicher.
»Wie war es heute?«
»Du meinst die Arbeit mit deinem Vater?«
»Nenn ihn nicht so! «, beschwerte Mina sich ärgerlich.
Frank zuckte die Achseln. »Entschuldige.« Er seufzte tief. »Na ja, die Arbeit war wie immer«, erwiderte er dann knapp.
Mina nickte verstehend. Sie sah, dass Franks einfache Klei dung staubbedeckt war. Auch sein Gesicht war schmutzig, doch seine fast schwarzen Augen funkelten übermütig. Diese Augen waren es gewesen, die ihr bei ihrer ersten Begegnung als Erstes aufgefallen waren. In einem Moment waren sie unergründlich, im nächsten schien der Übermut förmlich aus ihnen zu sprühen. Es waren Augen, in denen sie versinken wollte. Augen, die sie vor sich sah, wenn sie nicht schlafen konnte. Niemand hatte solche Augen, nur Frank.
Einen kurzen Moment später saßen sie nebeneinander in ihrer Senke, in ihrem Versteck. Franks Hand suchte Minas und umschloss sie. Eine Weile hockten sie schweigend da. Neuerdings mussten sie nicht immer sprechen, es genügte ihnen, einander nahe zu sein.
»Es wird bald sehr dunkel werden«, bemerkte Mina endlich. »Es war gerade Neumond.«
»Ich habe eine Laterne dabei«, erwiderte Frank ruhig und zeigte auf einen Beutel, den er achtlos neben sich auf den Boden gelegt hatte.
»Gestohlen?«
Mina sah den Freund prüfend von der Seite an. Franks dichtes dunkelblondes Haar hing ihm wieder einmal wirr ins Gesicht. Es erschien ihr immer, als wollte es sich nicht zähmen lassen. Jetzt strich er es mit einer Hand zurück. Seine dunklen Augen blitzten herausfordernd, als er ihren Blick erwiderte.
»Geliehen.« Er grinste.
»Von wem?«
Mina bemerkte, wie sich fast wie von selbst eine Falte zwischen ihren Augenbrauen bildete, während ihre hellbraunen Augen schmal wurden, wie die einer Katze kurz vor dem Sprung.
Frank runzelte die Stirn. Mit einer Hand schob er eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars über ihre Schulter zurück.
»Ach, verdammt, Mina, ich will nicht immer buckeln, und ich will auch nicht immer vorsichtig sein. Ich habe niemandem etwas getan, ich habe niemandem Schaden zugefügt. Morgen ist die Laterne wieder an ihrem Platz. Versprochen. Niemand wird es bemerken.«
Mina schluckte die Warnungen hinunter, die ihr auf der Zunge brannten. Ein Frösteln überlief sie. Dann, nur einen Augenblick später, fühlte sie Franks Arm auf ihren Schultern. Sie erstarrte. Als Kinder hatten sie einander kennengelernt und waren gemeinsam erwachsen geworden. Berührungen dieser Art hatten sie bislang nie ausgetauscht, doch im nächsten Moment schon schmiegte Mina sich zum ersten Mal an Frank und überließ sich seiner Umarmung. Sie lauschte seinen ruhigen Atemzügen, genoss das Gefühl, das seine raue Hand, die sanft über ihren Oberarm streifte, auf ihrer Haut hinterließ.
Ich möchte ihn küssen, dachte sie.
»Küss mich«, flüsterte sie im nächsten Moment schon.
Erst zögerte er. Dann kam er ihrer Bitte nach. Der erste Versuch geriet ungelenk. Ihre Münder verfehlten einander, doch dann war es, als hätten sie nie etwas anderes getan. Sie schmeckten einander, tranken den Atem des anderen, suchten, berührten und erforschten einander mit den Lippen.
Ich liebe ihn, dachte Mina, als sie sich endlich voneinander lösten. Jetzt weiß ich es endlich, jetzt bin ich mir sicher.
Erneut saßen sie schweigend nebeneinander, hingen beide dem eben Erlebten nach. Gedankenverloren strich Mina sich mit einem Zeigefinger über den Mund.
»Sobald es uns möglich ist, gehen wir hier weg«, schnitt Frank ein Thema an, über das sie auch vorher und besonders in letzter Zeit häufiger gesprochen hatten.
Mina nickte, antwortete aber nicht. Wie oft schon hatten sie sich ausgemalt, diesen Ort hinter sich zu lassen, anderswo ein neues, ein eigenes Leben zu beginnen. Über eine Sache war Mina sich dabei allerdings noch nicht im Klaren. Auch jetzt wieder fuhr ihr dieser Gedanke durch den Kopf: Wie sage ich es Mutter? Sie muss mitkommen, ich kann nicht ohne sie gehen. Ich kann sie nicht allein bei diesen Teufeln zurücklassen.
Ich stürze von einem Elend ins andere, dachte Annelie Amborn nicht zum ersten Mal in ihrem neununddreißig Jahre währenden Leben, von einer Hölle in die nächste. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihr Mann Xaver hatte sie beim Handgelenk gepackt und drückte jetzt unbarmherzig zu, so wie er es gern tat. Sie hatte sehr bald in ihrer Beziehung erkennen müssen, dass er es genoss, ihr Schmerz zuzufügen. Das erste Mal hatte sie das wenige Tage nach ihrer Hochzeit erfahren. Annelie richtete den Blick auf das Licht der Öllampe auf dem Tisch, als könne sie so entfliehen, konzentrierte sich auf die kleine Flamme, um den Schmerz und die Angst nicht zu spüren.
»Sag schon, wo ist das Luder? Ich finde es ja doch heraus. Du lässt ihr zu viel durchgehen, Annelie. Mina ist nicht mehr in dem Alter, in dem man sie umherstreifen lassen kann wie eine Wilde. Sie muss ihre Arbeit leisten, hier und jetzt, wie jeder, der etwas zu beißen will. Einen unnützen Esser können wir nicht gebrauchen. Einen unnützen Esser setzt man vor die Tür.«
Xaver wies mit der freien Hand auf das schmutzige Ge schirr, das sich neben dem Spülstein stapelte. Fliegen um-schwirrten einen abgenagten Knochen, an dem noch Fleisch-reste hingen. Vater und Sohn waren erst kurze Zeit zu Hause, und bereits jetzt sah es aus, als hätten Mina und sie den ganzen Tag lang die Hände in den Schoß gelegt. Obwohl Annelie das Abendessen noch nicht aufgetischt hatte, hatten sich beide schon vorab etwas zu essen genommen und bereits nach kur-zer Zeit eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Dabei waren Mina und sie seit dem Sonnenaufgang auf den Beinen. Sie hat-ten geputzt, im Garten gearbeitet, die Milchkühe versorgt und zur Weide gebracht, Wasser geholt.
Und ich wollte doch nur, dass meine geliebte Mina wieder das Leben führen kann, das sie verdient.
Annelie zwang sich, nicht zu ihrem Stiefsohn hinüberzu-sehen, um ihn nicht unnötig zu reizen. Philipp saß in seinem Stuhl, zurückgelehnt. Die langen Beine hatte er so in den Raum gestreckt, dass man unweigerlich darüber zu stolpern drohte, wenn man an ihm vorbeimusste. Sein schwarzes Haar hing ihm bis auf die Schultern herab und hätte einen ordentlichen Schnitt verdient. Ein stoppliger Bart bedeckte sein kantiges Kinn. Auf eine verdorbene Art sah er sehr gut aus. Annelie wusste, dass schon viele Frauen darauf hereinge-fallen waren.
Seine Mutter, überlegte sie, muss sehr schön gewesen sein. Sie war vier Jahre vor ihrer und Minas Ankunft gestorben. Bei einem Sturz, hieß es.
»Wirst du mir schwören, ab jetzt besser auf dein Balg auf-zupassen?«, knurrte Xaver sie noch einmal an und drückte die Finger nochmals zusammen.
Annelie nickte, während sie sich zitternd von ihrem Mann zu lösen suchte. Er bemerkte ihre zaghaften Versuche und hielt sie grinsend fester, bis er sie dann doch sehr plötzlich losließ. Ein letzter Stoß brachte sie ins Straucheln. Gerade noch konnte sie sich am Tisch festhalten.
Wie habe ich nur einmal denken können, für mich und Mina einen neuen Beschützer in ihm zu finden? Wie habe ich ihm nur unser Leben anvertrauen können?
Sie hatte alles falsch gemacht. Wie immer. Sie war eben dumm. Ihr Vater hatte Recht gehabt.
»So, und jetzt tisch endlich auf, Weib, und hör auf, Trübsal zu blasen, das ist ja nicht zum Aushalten. Los, los, mein Sohn und ich haben Hunger.«
Annelie beeilte sich, zum Herd zu kommen. Es gab Kartoffelklöße und großzügige Mengen an Fleisch. Sie gab den beiden Männern auf, nahm sich dann selbst etwas und wartete auf Xavers Tischgebet. Kaum war das Amen verklungen, stopfte sich Philipp auch schon den Mund voll. Fett triefte ihm über das Kinn, hier und da bekam auch sein Hemd etwas ab.
Warum nur, fuhr es Annelie durch den Kopf, habe ich die Anzeige damals gelesen? Warum nur bin ich hergekommen? Ich habe mein Leben ruiniert, aber noch unverzeihlicher ist, dass ich Minas Aussicht auf ein gutes Leben zerstört habe. Das werde ich nie wiedergutmachen können.
Ihre Mutter hatte sie noch gewarnt, hatte sie gemahnt, keine solch weitreichende Entscheidung zu treffen. Annelie erinnerte sich, wie sie nachmittags in Mainz bei ihren Eltern beim Kaffee gesessen hatte - bei echtem Bohnenkaffee, wie ihre Mutter immer betonte. Die Mutter hatte meist geschwiegen. Der Vater hatte, wie es sich vielleicht für einen Arzt gehörte, das Leben seiner Tochter schonungslos seziert.
»Nun«, hatte er irgendwann mit seiner Ehrfurcht gebietenden Stimme gefragt, »du bist jetzt drei Jahre Witwe, was gedenkst du zu tun, um deinen alten Eltern nicht weiter auf der Tasche zu liegen?«
Während ihr Vater so gesprochen hatte, hatte die Mutter angelegentlich an dem Spitzendeckchen, das auf dem Tisch lag, gezupft. Mina hatte still in einer Ecke gesessen und in einem Buch geblättert. Sie war schon früh ein sehr selbstständiges Kind gewesen.
Weil ich es nicht bin, dachte Annelie, weil ich nicht selbstständig bin, ist sie es. Ich bin ein armes, schwaches Weib und zu nichts nütze.
An dem Abend hatte sie die Anzeige gelesen, sie erinnerte sich genau: Ehefrau und Mutter gesucht. Einsamer Witwer...
Sie hatte sich sofort mit diesem fremden Mann verbunden gefühlt. Er war Witwer. Er war einsam ... Das war sie doch auch. Sie war einsam. Sie hatte ihren Mann verloren. Sie hatte gefühlt, nein, sie hatte sich eingebildet, dass sie etwas mit diesem Mann gemeinsam hatte. Ihre Eltern waren gegen ihre Pläne gewesen, wie immer. Zum ersten Mal hatte sie sich gegen sie gestellt. Für Mina.
Ein Jahr und kaum zwei Briefe später waren Mina und sie auf dem Weg nach Argentinien gewesen. Die Reise war beschwerlich gewesen, aber der Gedanke an das Ziel hatte sie aufrecht gehalten. Es hatte sie die Übelkeit und die Angst ertragen lassen, die Angst vor der Schiffsreise genauso wie die vor der Fremde. Nach Wochen waren sie schließlich in Buenos Aires angekommen. Von dort aus waren sie auf dem Rio Paranä weitergereist bis nach Rosario, und dann nach Santa Fe und dann ...
»Was starrst du denn so? Hast du noch nie einen Mann essen sehen?«
Annelie senkte rasch den Blick, nicht ohne Philipps Grin sen zu bemerken. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie sich ein niedliches kleines Kind vorgestellt, als sie die Anzeige gelesen hatte. Aber Philipp war bei ihrer Ankunft ein fast erwachsener Mann gewesen, mit strahlend blauen Augen, dunklem Haar und einem schon damals kräftigen, muskulösen Körper. Annelie schauderte, wenn sie an die Blicke dachte, die er neuerdings ihrer Tochter zuwarf.
»Der Junge lässt nichts anbrennen«, hatte sein Vater kürzlich stolz bemerkt, als Philipp von seiner neuesten Eroberung berichtete.
Auch Mina war gewachsen, seit sie angekommen waren. Das Mädchen verwandelte sich unaufhaltsam in eine junge Frau. Zwar war sie zierlich, aber ihre Formen, ihr Gang, ihr Betragen waren weiblicher geworden.
Ich muss sie besser beschützen, fuhr es Annelie durch den Kopf, ich muss sie besser beschützen, doch ich weiß einfach nicht wie.
Sie hatte zu viel Angst. Sie hatte schon immer zu viel Angst gehabt.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
... weniger
Autoren-Porträt von Sofia Caspari
Sofia Caspari, geboren 1972, hat schon mehrere Reisen nach Mittel- und Südamerika unternommen. Dort lebt auch ein Teil ihrer Verwandtschaft. Längere Zeit verbrachte sie in Argentinien, einem Land, dessen Menschen, Landschaften und Geschichte sie tief beeindruckt haben. Heute lebt sie - nach Stationen in Irland und Frankreich - mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn in einem kleinen Dorf im Nahetal.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sofia Caspari
- 2012, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404167597
- ISBN-13: 9783404167593
- Erscheinungsdatum: 01.12.2012
Kommentare zu "Die Lagune der Flamingos"
4 von 5 Sternen
5 Sterne 6Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Lagune der Flamingos".
Kommentar verfassen