Die Langsamkeit
Roman
Der Schriftsteller Milan und seine Frau Vera ziehen sich für eine Nacht auf ein französisches Landschloss zurück. Sie suchen Ruhe, treffen aber stattdessen auf die extravaganten Forscher eines Fliegenkongresses. Ganz anders ergeht es dem jungen Adligen aus...
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Produktinformationen zu „Die Langsamkeit “
Klappentext zu „Die Langsamkeit “
Der Schriftsteller Milan und seine Frau Vera ziehen sich für eine Nacht auf ein französisches Landschloss zurück. Sie suchen Ruhe, treffen aber stattdessen auf die extravaganten Forscher eines Fliegenkongresses. Ganz anders ergeht es dem jungen Adligen aus dem 18. Jahrhundert, der genug Muße hat, sich genau in demselben Schloss mit Madame de T. erotischen Spielen hinzugeben. Zwei Paare, zweihundert Jahre voneinander getrennt, suchen dasselbe und finden ganz Unterschiedliches. Ein amüsantes Hohelied auf die Kunst der Verführung und die Langsamkeit - ein meisterhaft komponierter Roman.
Lese-Probe zu „Die Langsamkeit “
Die Langsamkeit von Milan Kundera 1
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Wir hatten Lust, den Abend und die Nacht in einem Schloss zu verbringen. In Frankreich sind viele zu Hotels geworden: ein grünes Geviert, verloren in einem hässlichen Raum ohne Grün; ein kleines Stück Alleen, Bäume, Vögel, inmitten eines unendlichen Straßennetzes. Ich fahre und beobachte im Rückspiegel hinter mir einen Wagen. Das kleine Licht links blinkt, und der ganze Wagen strahlt Wellen der Ungeduld aus. Der Fahrer wartet auf die Gelegenheit, mich zu überholen; er lauert auf diesen Moment wie ein Raubvogel auf einen Spatz.
Vera, meine Frau, sagt zu mir: »Alle fünfzig Minuten stirbt auf Frankreichs Straßen ein Mensch. Schau sie dir an, all diese Verrückten, die an uns vorbeifahren. Es sind dieselben, die so ungemein vorsichtig sein können, wenn auf der Straße vor ihren Augen eine alte Frau ausgeraubt wird. Wie kommt es, dass sie keine Angst haben, wenn sie am Steuer sitzen?«
Was soll ich antworten? Vielleicht Folgendes: der über sein Motorrad gebeugte Mensch kann sich nur auf die gegenwärtige Sekunde seines Fluges konzentrieren; er klammert sich an ein sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft abgeschnittenes Fragment der Zeit; er ist der Kontinuität der Zeit entrissen; er steht außerhalb der Zeit; anders gesagt, er befindet sich in einem Augenblick der Ekstase; in diesem Zustand weiß er nichts von seinem Alter, nichts von seiner Frau, nichts von seinen Kindern, nichts von seinen Sorgen, und er hat keine Angst, wenn er losfährt, denn die Quelle der Angst liegt in der Zukunft, und wer von der Zukunft befreit ist, hat nichts zu befürchten.
Die Geschwindigkeit ist die Form der Ekstase, mit der die technische Revolution den Menschen beschenkt hat. Im Gegensatz zum Motorradfahrer ist der Läufer stets in seinem Körper anwesend, unaufhörlich gezwungen, an seine Blasen, seine Atemlosigkeit zu denken; beim Laufen spürt er sein Gewicht, sein Alter, mehr denn je ist er sich seiner selbst und seiner Lebenszeit bewusst. Alles wird anders, wenn der Mensch die Macht der Geschwindigkeit auf eine Maschine überträgt: von dem Moment an ist sein Körper aus dem Spiel, und er gibt sich einer Geschwindigkeit hin, die unkörperlich, immateriell ist, reine Geschwindigkeit, Geschwindigkeit an sich, Geschwindigkeitsekstase.
Eine seltsame Allianz: die kalte Unpersönlichkeit der Technik und die Flammen der Ekstase. Ich erinnere mich an eine Amerikanerin, eine Art Apparatschik der Erotik, die mir vor dreißig Jahren mit gestrenger und enthusiastischer Miene eine (eiskalt theoretische) Lektion über die sexuelle Befreiung erteilt hat; das Wort, das in ihrer Rede am häufigsten vorkam, war das Wort Orgasmus; ich hatte gezählt: dreiundvierzigmal. Der Kult des Orgasmus: der auf das sexuelle Leben projizierte puritanische Utilitarismus; Leistungsfähigkeit contra Muße; Reduktion des Geschlechtsaktes auf ein Hindernis, das es so rasch wie möglich zu überwinden gilt, um zu einer ekstatischen Explosion zu gelangen, dem einzig wahren Ziel der Liebe und des Universums.
Weshalb ist das Vergnügen an der Langsamkeit verschwunden? Ach, wo sind sie, die Flaneure von einst? Wo sind sie, die faulen Burschen der Volkslieder, diese Vagabunden, die gemächlich von einer Mühle zur andern zogen und unter freiem Himmel schliefen? Sind sie mit den Feldwegen, den Wiesen und den Lichtungen, mit der Natur verschwunden? Ein tschechisches Sprichwort beschreibt ihren süßen Müßiggang mit einer Metapher: sie schauen dem lieben Gott ins Fenster. Wer dem lieben Gott ins Fenster schaut, langweilt sich nicht; er ist glücklich. In unserer Welt ist der Müßiggang zur Untätigkeit geworden, und das ist etwas ganz anderes: der Untätige ist frustriert, er langweilt sich, ist beständig auf der Suche nach der Bewegung, die ihm fehlt.
Ich schaue in den Rückspiegel: immer noch derselbe Wagen, der mich wegen des Gegenverkehrs nicht überholen kann. Neben dem Fahrer sitzt eine Frau; warum erzählt der Mann ihr nicht etwas Lustiges? warum legt er ihr nicht die Hand aufs Knie? Stattdessen verflucht er den Autofahrer vor ihm, der nicht schnell genug fährt, und die Frau denkt auch nicht daran, den Fahrer mit der Hand zu berühren, sie fährt geistig mit und verflucht mich ebenfalls.
Und ich denke an jene andere Reise von Paris zu einem Landschloss, die vor mehr als zweihundert Jahren stattgefunden hat, die Reise von Madame de T. und dem jungen Chevalier, der sie begleitete. Es ist das erste Mal, dass sie so nahe beisammen sind, und die unbeschreiblich sinnliche Atmosphäre, die sie umgibt, entsteht gerade aus der Langsamkeit des Rhythmus: von der Bewegung der Kutsche geschaukelt, berühren die beiden Körper sich, zuerst unwissentlich, dann wissentlich, und die Geschichte nimmt ihren Lauf.
2
Und das erzählt die Novelle von Vivant Denon: ein zwanzigjähriger Edelmann geht eines Abends ins Theater. (Weder sein Name noch sein Titel werden erwähnt, aber ich stelle ihn mir als Chevalier vor.) In der Loge nebenan sieht er eine Dame (die Novelle verrät nur den ersten Buchstaben ihres Namens: Madame de T.); sie ist eine Freundin der Comtesse, deren Liebhaber der Chevalier ist. Sie fordert ihn auf, sie nach der Vorstellung zu begleiten. Überrascht durch dieses entschlossene Verhalten und um so verwirrter, als er Madame de T.s Favoriten, einen gewissen Marquis, kennt (wir erfahren seinen Namen nicht; wir sind in die Welt des Geheimnisses eingetreten, in der es keine Namen gibt), findet der Chevalier sich neben der schönen Dame in der Kutsche wieder, ohne das Geringste zu verstehen. Nach einer sanften und angenehmen Fahrt hält der Wagen auf dem Lande, vor der Freitreppe des Schlosses, wo Madame de T.s Ehemann sie missmutig empfängt. Sie essen zu dritt zu Abend, in einer schweigsamen, düsteren Atmosphäre, dann entschuldigt sich der Ehemann und lässt die beiden allein.
In diesem Moment beginnt ihre Nacht: eine Nacht, wie ein Triptychon komponiert, eine Nacht wie eine Reise in drei Etappen: zuerst gehen sie im Park spazieren; dann lieben sie sich in einem Pavillon; schließlich fahren sie in einem geheimen Gemach des Schlosses fort, sich zu lieben.
Bei Tagesanbruch trennen sie sich. Da der Chevalier in dem Labyrinth von Gängen sein Zimmer nicht finden kann, kehrt er in den Park zurück, wo er, ganz erstaunt, jenem Marquis begegnet, von dem er weiß, dass er Madame de T.s Liebhaber ist. Der Marquis, gerade erst im Schloss angekommen, begrüßt ihn fröhlich und verrät ihm den Grund der mysteriösen Einladung: Madame de T. brauchte einen Vorwand, damit er, der Marquis, in den Augen des Ehemannes unverdächtig blieb. Voll Freude über die gelungene Täuschung macht der Marquis sich lustig über den Chevalier, der genötigt war, die ziemlich lächerliche Aufgabe des falschen Liebhabers zu erfüllen. Müde nach der Liebesnacht, fährt dieser nach Paris zurück, in der Kalesche, die der dankbare Marquis ihm zur Verfügung stellt.
Unter dem Titel Point de lendemain (Kein Morgen) wurde diese Novelle 1777 erstmals publiziert; der Name des Autors (wir sind in der Welt des Geheimnisses) wurde durch sieben rätselhafte Anfangsbuchstaben ersetzt, M.D.G.O.D.R., in denen man, wenn man will, lesen kann: »Monsieur Denon, Gentilhomme Ordinaire du roi«. Dann wurde sie, in einer sehr kleinen Auflage und völlig anonym, 1779 noch einmal veröffentlicht, bevor sie im Jahr darauf unter dem Namen eines anderen Schriftstellers herauskam. Neue Ausgaben folgten 1802 und 1812, immer noch ohne den richtigen Autornamen; endlich erschien sie, nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang vergessen gewesen war, 1866 erneut. Seit der Zeit wird sie Vivant Denon zugeschrieben, und im Laufe unseres Jahrhunderts wurde sie immer berühmter. Sie gehört heute zu den literarischen Werken, die die Kunst und den Geist des 18. Jahrhunderts am besten zu repräsentieren scheinen.
3
In der Alltagssprache bezeichnet der Begriff Hedonismus eine amoralische Neigung zum genusssüchtigen, wenn nicht gar lasterhaften Leben. Das ist natürlich ungenau: Epikur, der größte Theoretiker der Lust, hatte eine äußerst skeptische Auffassung vom glücklichen Leben: Lust empfindet, wer nicht leidet. Das Leiden ist also der grundlegende Begriff des Hedonismus: man ist in dem Maße glücklich, wie man es versteht, Leiden zu vermeiden; und da die Lüste oft mehr Unglück bringen als Glück, empfiehlt Epikur nur vorsichtige und bescheidene Lüste. Epikurs Weisheit hat einen melancholischen Hintergrund: in das Elend der Welt geworfen, stellt der Mensch fest, dass der einzige offensichtliche und sichere Wert in einer noch so kleinen Lust liegt, die er selbst empfinden kann: ein Schluck frisches Wasser, ein Blick zum Himmel (den Fenstern des lieben Gottes), eine Liebkosung.
Ob bescheiden oder nicht, die Lüste gehören nur dem, der sie auch empfindet, und ein Philosoph könnte dem Hedonismus zu Recht dessen egoistische Grundlage vor werfen. Dennoch ist meiner Meinung nach nicht der Egoismus die Achillesferse des Hedonismus, sondern (oh, möge ich mich täuschen!) sein hoffnungslos utopischer Charakter: ich bezweifle in der Tat, dass das hedonistische Ideal sich verwirklichen lässt; ich fürchte, das Leben, das er uns empfiehlt, steht nicht im Einklang mit der menschlichen Natur.
Das 18. Jahrhundert hat in seiner Kunst die Lüste aus dem Nebel der moralischen Verbote treten lassen; es brachte die Haltung hervor, die man libertin nennt und die aus Fragonards oder Watteaus Bildern, aus den Seiten von de Sade, Crébillon oder Duclos spricht. Aus diesem Grund liebt mein junger Freund Vincent dieses Jahrhundert, und wenn er könnte, würde er das Profil des Marquis de Sade wie ein Abzeichen am Revers tragen. Ich teile seine Bewunderung, füge jedoch hinzu (ohne wirklich verstanden zu werden), dass die wahre Größe dieser Kunst nicht in irgendeiner Propaganda für den Hedonismus liegt, sondern in seiner Analyse. Das ist der Grund, weshalb ich Gefährliche Liebschaften von Choderlos de Laclos für einen der größten Romane aller Zeiten halte.
Seine Figuren beschäftigen sich mit nichts anderem als der Eroberung der Lust. Dennoch begreift der Leser nach und nach, dass es weniger die Lust als die Eroberung ist, die sie reizt. Dass nicht der Wunsch nach der Lust, sondern der Wunsch nach dem Sieg den Ausschlag gibt. Was zuerst wie ein fröhlich obszönes Spiel aussieht, verwandelt sich unmerklich und unausweichlich in einen Kampf auf Leben und Tod. Was aber hat der Kampf mit dem Hedonismus gemein? Epikur schrieb: »Der Weise sucht keine mit dem Kampf verbundene Tätigkeit.«
Die Briefform der Gefährlichen Liebschaften ist kein einfaches technisches Verfahren, das durch ein anderes ersetzt werden könnte. Diese Form spricht für sich selbst und sagt uns, dass die Figuren alles, was sie erlebt haben, nur erlebt haben, um es zu erzählen, weiterzugeben, mitzuteilen, zu gestehen, niederzuschreiben. In einer Welt, in der alles erzählt wird, ist das Bekanntmachen die naheliegendste und zugleich tödlichste Waffe. Valmont, der Held des Romans, schreibt der Frau, die er verführt hat, einen Abschiedsbrief, der sie vernichten wird; und dabei ist es seine Freundin, die Marquise de Merteuil, die ihn ihm Wort für Wort diktiert hat. Später zeigt dieselbe Madame de Merteuil aus Rache einen vertraulichen Brief Valmonts seinem Rivalen; dieser fordert ihn zum Duell heraus, und Valmont fällt. Nach seinem Tod wird der intime Briefwechsel zwischen ihm und Madame de Merteuil unter die Leute gebracht, und die Marquise beendet ihre Tage gehetzt und verbannt, der allgemeinen Verachtung preisgegeben.
Nichts in diesem Roman bleibt das ausschließliche Geheimnis zweier Menschen; jedermann scheint sich im Inneren einer riesigen tönenden Muschel zu befinden, in der jedes geflüsterte Wort verstärkt wird und in vielfältigen, endlosen Echos widerhallt. Als ich klein war, sagte man mir, wenn ich eine Muschel an mein Ohr hielte, würde ich das uralte Rauschen des Meeres hören. Auf diese Weise bleibt in Laclos' Welt jedes einmal ausgesprochene Wort für immer hörbar. Ist das das 18. Jahrhundert? Ist das das Paradies der Lust? Oder lebt der Mensch, ohne sich dessen bewusst zu sein, seit jeher in einer solchen tönenden Muschel? Auf jeden Fall ist die tönende Muschel nicht die Welt Epikurs, der seinen Schülern befiehlt: »Lebe im Verborgenen!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wir hatten Lust, den Abend und die Nacht in einem Schloss zu verbringen. In Frankreich sind viele zu Hotels geworden: ein grünes Geviert, verloren in einem hässlichen Raum ohne Grün; ein kleines Stück Alleen, Bäume, Vögel, inmitten eines unendlichen Straßennetzes. Ich fahre und beobachte im Rückspiegel hinter mir einen Wagen. Das kleine Licht links blinkt, und der ganze Wagen strahlt Wellen der Ungeduld aus. Der Fahrer wartet auf die Gelegenheit, mich zu überholen; er lauert auf diesen Moment wie ein Raubvogel auf einen Spatz.
Vera, meine Frau, sagt zu mir: »Alle fünfzig Minuten stirbt auf Frankreichs Straßen ein Mensch. Schau sie dir an, all diese Verrückten, die an uns vorbeifahren. Es sind dieselben, die so ungemein vorsichtig sein können, wenn auf der Straße vor ihren Augen eine alte Frau ausgeraubt wird. Wie kommt es, dass sie keine Angst haben, wenn sie am Steuer sitzen?«
Was soll ich antworten? Vielleicht Folgendes: der über sein Motorrad gebeugte Mensch kann sich nur auf die gegenwärtige Sekunde seines Fluges konzentrieren; er klammert sich an ein sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft abgeschnittenes Fragment der Zeit; er ist der Kontinuität der Zeit entrissen; er steht außerhalb der Zeit; anders gesagt, er befindet sich in einem Augenblick der Ekstase; in diesem Zustand weiß er nichts von seinem Alter, nichts von seiner Frau, nichts von seinen Kindern, nichts von seinen Sorgen, und er hat keine Angst, wenn er losfährt, denn die Quelle der Angst liegt in der Zukunft, und wer von der Zukunft befreit ist, hat nichts zu befürchten.
Die Geschwindigkeit ist die Form der Ekstase, mit der die technische Revolution den Menschen beschenkt hat. Im Gegensatz zum Motorradfahrer ist der Läufer stets in seinem Körper anwesend, unaufhörlich gezwungen, an seine Blasen, seine Atemlosigkeit zu denken; beim Laufen spürt er sein Gewicht, sein Alter, mehr denn je ist er sich seiner selbst und seiner Lebenszeit bewusst. Alles wird anders, wenn der Mensch die Macht der Geschwindigkeit auf eine Maschine überträgt: von dem Moment an ist sein Körper aus dem Spiel, und er gibt sich einer Geschwindigkeit hin, die unkörperlich, immateriell ist, reine Geschwindigkeit, Geschwindigkeit an sich, Geschwindigkeitsekstase.
Eine seltsame Allianz: die kalte Unpersönlichkeit der Technik und die Flammen der Ekstase. Ich erinnere mich an eine Amerikanerin, eine Art Apparatschik der Erotik, die mir vor dreißig Jahren mit gestrenger und enthusiastischer Miene eine (eiskalt theoretische) Lektion über die sexuelle Befreiung erteilt hat; das Wort, das in ihrer Rede am häufigsten vorkam, war das Wort Orgasmus; ich hatte gezählt: dreiundvierzigmal. Der Kult des Orgasmus: der auf das sexuelle Leben projizierte puritanische Utilitarismus; Leistungsfähigkeit contra Muße; Reduktion des Geschlechtsaktes auf ein Hindernis, das es so rasch wie möglich zu überwinden gilt, um zu einer ekstatischen Explosion zu gelangen, dem einzig wahren Ziel der Liebe und des Universums.
Weshalb ist das Vergnügen an der Langsamkeit verschwunden? Ach, wo sind sie, die Flaneure von einst? Wo sind sie, die faulen Burschen der Volkslieder, diese Vagabunden, die gemächlich von einer Mühle zur andern zogen und unter freiem Himmel schliefen? Sind sie mit den Feldwegen, den Wiesen und den Lichtungen, mit der Natur verschwunden? Ein tschechisches Sprichwort beschreibt ihren süßen Müßiggang mit einer Metapher: sie schauen dem lieben Gott ins Fenster. Wer dem lieben Gott ins Fenster schaut, langweilt sich nicht; er ist glücklich. In unserer Welt ist der Müßiggang zur Untätigkeit geworden, und das ist etwas ganz anderes: der Untätige ist frustriert, er langweilt sich, ist beständig auf der Suche nach der Bewegung, die ihm fehlt.
Ich schaue in den Rückspiegel: immer noch derselbe Wagen, der mich wegen des Gegenverkehrs nicht überholen kann. Neben dem Fahrer sitzt eine Frau; warum erzählt der Mann ihr nicht etwas Lustiges? warum legt er ihr nicht die Hand aufs Knie? Stattdessen verflucht er den Autofahrer vor ihm, der nicht schnell genug fährt, und die Frau denkt auch nicht daran, den Fahrer mit der Hand zu berühren, sie fährt geistig mit und verflucht mich ebenfalls.
Und ich denke an jene andere Reise von Paris zu einem Landschloss, die vor mehr als zweihundert Jahren stattgefunden hat, die Reise von Madame de T. und dem jungen Chevalier, der sie begleitete. Es ist das erste Mal, dass sie so nahe beisammen sind, und die unbeschreiblich sinnliche Atmosphäre, die sie umgibt, entsteht gerade aus der Langsamkeit des Rhythmus: von der Bewegung der Kutsche geschaukelt, berühren die beiden Körper sich, zuerst unwissentlich, dann wissentlich, und die Geschichte nimmt ihren Lauf.
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Und das erzählt die Novelle von Vivant Denon: ein zwanzigjähriger Edelmann geht eines Abends ins Theater. (Weder sein Name noch sein Titel werden erwähnt, aber ich stelle ihn mir als Chevalier vor.) In der Loge nebenan sieht er eine Dame (die Novelle verrät nur den ersten Buchstaben ihres Namens: Madame de T.); sie ist eine Freundin der Comtesse, deren Liebhaber der Chevalier ist. Sie fordert ihn auf, sie nach der Vorstellung zu begleiten. Überrascht durch dieses entschlossene Verhalten und um so verwirrter, als er Madame de T.s Favoriten, einen gewissen Marquis, kennt (wir erfahren seinen Namen nicht; wir sind in die Welt des Geheimnisses eingetreten, in der es keine Namen gibt), findet der Chevalier sich neben der schönen Dame in der Kutsche wieder, ohne das Geringste zu verstehen. Nach einer sanften und angenehmen Fahrt hält der Wagen auf dem Lande, vor der Freitreppe des Schlosses, wo Madame de T.s Ehemann sie missmutig empfängt. Sie essen zu dritt zu Abend, in einer schweigsamen, düsteren Atmosphäre, dann entschuldigt sich der Ehemann und lässt die beiden allein.
In diesem Moment beginnt ihre Nacht: eine Nacht, wie ein Triptychon komponiert, eine Nacht wie eine Reise in drei Etappen: zuerst gehen sie im Park spazieren; dann lieben sie sich in einem Pavillon; schließlich fahren sie in einem geheimen Gemach des Schlosses fort, sich zu lieben.
Bei Tagesanbruch trennen sie sich. Da der Chevalier in dem Labyrinth von Gängen sein Zimmer nicht finden kann, kehrt er in den Park zurück, wo er, ganz erstaunt, jenem Marquis begegnet, von dem er weiß, dass er Madame de T.s Liebhaber ist. Der Marquis, gerade erst im Schloss angekommen, begrüßt ihn fröhlich und verrät ihm den Grund der mysteriösen Einladung: Madame de T. brauchte einen Vorwand, damit er, der Marquis, in den Augen des Ehemannes unverdächtig blieb. Voll Freude über die gelungene Täuschung macht der Marquis sich lustig über den Chevalier, der genötigt war, die ziemlich lächerliche Aufgabe des falschen Liebhabers zu erfüllen. Müde nach der Liebesnacht, fährt dieser nach Paris zurück, in der Kalesche, die der dankbare Marquis ihm zur Verfügung stellt.
Unter dem Titel Point de lendemain (Kein Morgen) wurde diese Novelle 1777 erstmals publiziert; der Name des Autors (wir sind in der Welt des Geheimnisses) wurde durch sieben rätselhafte Anfangsbuchstaben ersetzt, M.D.G.O.D.R., in denen man, wenn man will, lesen kann: »Monsieur Denon, Gentilhomme Ordinaire du roi«. Dann wurde sie, in einer sehr kleinen Auflage und völlig anonym, 1779 noch einmal veröffentlicht, bevor sie im Jahr darauf unter dem Namen eines anderen Schriftstellers herauskam. Neue Ausgaben folgten 1802 und 1812, immer noch ohne den richtigen Autornamen; endlich erschien sie, nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang vergessen gewesen war, 1866 erneut. Seit der Zeit wird sie Vivant Denon zugeschrieben, und im Laufe unseres Jahrhunderts wurde sie immer berühmter. Sie gehört heute zu den literarischen Werken, die die Kunst und den Geist des 18. Jahrhunderts am besten zu repräsentieren scheinen.
3
In der Alltagssprache bezeichnet der Begriff Hedonismus eine amoralische Neigung zum genusssüchtigen, wenn nicht gar lasterhaften Leben. Das ist natürlich ungenau: Epikur, der größte Theoretiker der Lust, hatte eine äußerst skeptische Auffassung vom glücklichen Leben: Lust empfindet, wer nicht leidet. Das Leiden ist also der grundlegende Begriff des Hedonismus: man ist in dem Maße glücklich, wie man es versteht, Leiden zu vermeiden; und da die Lüste oft mehr Unglück bringen als Glück, empfiehlt Epikur nur vorsichtige und bescheidene Lüste. Epikurs Weisheit hat einen melancholischen Hintergrund: in das Elend der Welt geworfen, stellt der Mensch fest, dass der einzige offensichtliche und sichere Wert in einer noch so kleinen Lust liegt, die er selbst empfinden kann: ein Schluck frisches Wasser, ein Blick zum Himmel (den Fenstern des lieben Gottes), eine Liebkosung.
Ob bescheiden oder nicht, die Lüste gehören nur dem, der sie auch empfindet, und ein Philosoph könnte dem Hedonismus zu Recht dessen egoistische Grundlage vor werfen. Dennoch ist meiner Meinung nach nicht der Egoismus die Achillesferse des Hedonismus, sondern (oh, möge ich mich täuschen!) sein hoffnungslos utopischer Charakter: ich bezweifle in der Tat, dass das hedonistische Ideal sich verwirklichen lässt; ich fürchte, das Leben, das er uns empfiehlt, steht nicht im Einklang mit der menschlichen Natur.
Das 18. Jahrhundert hat in seiner Kunst die Lüste aus dem Nebel der moralischen Verbote treten lassen; es brachte die Haltung hervor, die man libertin nennt und die aus Fragonards oder Watteaus Bildern, aus den Seiten von de Sade, Crébillon oder Duclos spricht. Aus diesem Grund liebt mein junger Freund Vincent dieses Jahrhundert, und wenn er könnte, würde er das Profil des Marquis de Sade wie ein Abzeichen am Revers tragen. Ich teile seine Bewunderung, füge jedoch hinzu (ohne wirklich verstanden zu werden), dass die wahre Größe dieser Kunst nicht in irgendeiner Propaganda für den Hedonismus liegt, sondern in seiner Analyse. Das ist der Grund, weshalb ich Gefährliche Liebschaften von Choderlos de Laclos für einen der größten Romane aller Zeiten halte.
Seine Figuren beschäftigen sich mit nichts anderem als der Eroberung der Lust. Dennoch begreift der Leser nach und nach, dass es weniger die Lust als die Eroberung ist, die sie reizt. Dass nicht der Wunsch nach der Lust, sondern der Wunsch nach dem Sieg den Ausschlag gibt. Was zuerst wie ein fröhlich obszönes Spiel aussieht, verwandelt sich unmerklich und unausweichlich in einen Kampf auf Leben und Tod. Was aber hat der Kampf mit dem Hedonismus gemein? Epikur schrieb: »Der Weise sucht keine mit dem Kampf verbundene Tätigkeit.«
Die Briefform der Gefährlichen Liebschaften ist kein einfaches technisches Verfahren, das durch ein anderes ersetzt werden könnte. Diese Form spricht für sich selbst und sagt uns, dass die Figuren alles, was sie erlebt haben, nur erlebt haben, um es zu erzählen, weiterzugeben, mitzuteilen, zu gestehen, niederzuschreiben. In einer Welt, in der alles erzählt wird, ist das Bekanntmachen die naheliegendste und zugleich tödlichste Waffe. Valmont, der Held des Romans, schreibt der Frau, die er verführt hat, einen Abschiedsbrief, der sie vernichten wird; und dabei ist es seine Freundin, die Marquise de Merteuil, die ihn ihm Wort für Wort diktiert hat. Später zeigt dieselbe Madame de Merteuil aus Rache einen vertraulichen Brief Valmonts seinem Rivalen; dieser fordert ihn zum Duell heraus, und Valmont fällt. Nach seinem Tod wird der intime Briefwechsel zwischen ihm und Madame de Merteuil unter die Leute gebracht, und die Marquise beendet ihre Tage gehetzt und verbannt, der allgemeinen Verachtung preisgegeben.
Nichts in diesem Roman bleibt das ausschließliche Geheimnis zweier Menschen; jedermann scheint sich im Inneren einer riesigen tönenden Muschel zu befinden, in der jedes geflüsterte Wort verstärkt wird und in vielfältigen, endlosen Echos widerhallt. Als ich klein war, sagte man mir, wenn ich eine Muschel an mein Ohr hielte, würde ich das uralte Rauschen des Meeres hören. Auf diese Weise bleibt in Laclos' Welt jedes einmal ausgesprochene Wort für immer hörbar. Ist das das 18. Jahrhundert? Ist das das Paradies der Lust? Oder lebt der Mensch, ohne sich dessen bewusst zu sein, seit jeher in einer solchen tönenden Muschel? Auf jeden Fall ist die tönende Muschel nicht die Welt Epikurs, der seinen Schülern befiehlt: »Lebe im Verborgenen!«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2014, 2. Aufl., 160 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanna Roth
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596197481
- ISBN-13: 9783596197484
- Erscheinungsdatum: 20.05.2014
Kommentar zu "Die Langsamkeit"
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