Die letzte Spur
Kriminalroman
Elaine Dawson ist vom Pech verfolgt. Als sie nach Gibraltar zur Hochzeit einer Freundin reisen will, werden sämtliche Flüge in Heathrow wegen Nebels gestrichen.
Anstatt in der Abflughalle zu warten, nimmt sie das Angebot...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die letzte Spur “
Elaine Dawson ist vom Pech verfolgt. Als sie nach Gibraltar zur Hochzeit einer Freundin reisen will, werden sämtliche Flüge in Heathrow wegen Nebels gestrichen.
Anstatt in der Abflughalle zu warten, nimmt sie das Angebot eines Fremden an, in seiner Wohnung zu übernachten und wird von diesem Moment an nie wieder gesehen. Fünf Jahre später rollt die Journalistin Rosanna Hamilton den Fall neu auf.
Plötzlich gibt es Hinweise, dass elaine noch lebt. Doch als Rosanna diesen Spuren folgt, ahnt sie nicht, dass sie selbst bald in Lebensgefahr schweben wird...
Klappentext zu „Die letzte Spur “
Wenn ein Vermisstenfall zur spannendsten und gefährlichsten Story deines Lebens wird ... Elaine Dawson ist vom Pech verfolgt. Als sie nach Gibraltar zur Hochzeit einer Freundin reisen will, werden sämtliche Flüge in Heathrow wegen Nebels gestrichen. Anstatt in der Abflughalle zu warten, nimmt sie das Angebot eines Fremden an, in seiner Wohnung zu übernachten - und wird von diesem Moment an nie wieder gesehen.
Fünf Jahre später rollt die Journalistin Rosanna Hamilton den Fall neu auf. Plötzlich gibt es Hinweise, dass Elaine noch lebt. Doch als Rosanna diesen Spuren folgt, ahnt sie nicht, dass sie selbst bald in Lebensgefahr schweben wird ...
Millionen Fans sind von den fesselnden Krimis von Charlotte Link begeistert. Dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle erwarten Sie. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Lese-Probe zu „Die letzte Spur “
November 2002Es würde schneien an diesem Wochenende. Das hatten die Meteorologen prophezeit, und es sah aus, als könnten sie recht behalten: Es war eisig kalt an diesem Novembernachmittag. Ein scharfer Wind blies aus Nordost. Wer aus dem Haus musste, dem tränten rasch die Augen und die Haut brannte. Die frühe winterliche Dunkelheit brach bereits herein. Den ganzen Tag war es nicht richtig hell geworden, und nun schien die Dämmerung schon wieder in den Abend überzugehen.
Die junge Frau sah erbärmlich aus. Verfroren, bleich, mit roten Flecken auf den Wangen. Sie hielt beide Arme um ihren Körper geschlungen, als könnte sie der gnadenlosen Kälte, die draußen herrschte, auch hier drinnen nicht entkommen. Dabei war der Keller des gerichtsmedizinischen Institutes gut geheizt. Jedenfalls der kleine Vorraum, in den Inspector Fiedler und seine Mitarbeiterin, Sergeant Christy McMarrow, die Besucherin geleitet hatten, nachdem diese die unbekannte Tote aus dem Epping Forest identifiziert hatte.
Sie hatte nur einen einzigen, kurzen Blick auf das wächserne Gesicht geworfen, sich dann rasch abgewandt und hörbar mit einem Würgen in der Kehle zu kämpfen gehabt. Dabei hatte sie nicht einmal den übel zugerichteten Körper gesehen.
Der so hatte Fiedler gedacht, hätte sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen lassen.
Es hatte ein paar Augenblicke gedauert, bis sie hatte sprechen können.
"Das ist sie. Das ist Jane. Jane French."
Im Vorraum bat sie um eine Zigarette. Fiedler gab ihr Feuer. Ihre Hände zitterten heftig, aber das lag nicht nur an der belastenden Situation. Die Frau war drogensüchtig, das hatte er auf den ersten Blick erkannt. Prostituierte, wie ihre Kleidung verriet. Ihr Rock war so kurz, dass es nicht viel geändert hätte, wenn sie ihn überhaupt nicht getragen hätte. Hauchdünne schwarze Strümpfe, nicht im Mindesten geeignet, sie vor der Kälte zu schützen. Hochhackige Stiefel, eine blousonähnliche Jacke aus einem metallisch glänzenden Stoff, weit geöffnet,
... mehr
um
möglichst viel von ihren üppigen, gutgeformten Brüsten zur Geltung zu bringen. Sie war jung, Anfang zwanzig, schätzte Fiedler.
"Also, Miss Kearns", sagte er, bemüht, besonders sachlich und kühl zu erscheinen, um auch ihr Gelegenheit zu geben, sich zu fassen, "Sie sind völlig sicher, dass es sich bei der Toten um eine ... Jane French handelt?"
Lil Kearns zog heftig an ihrer Zigarette und nickte. "Absolut. Das ist sie. Hab sie sofort erkannt. Sieht schon . na ja, verändert aus, aber klar, sie ist es!"
"Sie muss fast eine Woche im Wald gelegen haben, ehe sie gefunden wurde. Das heißt, sie wurde um den zehnten November herum ermordet."
"Ermordet ... ist das sicher?"
"Leider ja. Die Art ihrer Verletzungen, die Tatsache, dass sie gefesselt war, als sie gefunden wurde, lässt keinen anderen Schluss zu."
"Schöne Scheisse", sagte Lil.
Sie hatte sich am Morgen dieses Tages gemeldet, nachdem die Polizei es schon fast aufgegeben hatte, noch irgendeinen Hinweis auf die Identität der Toten aus dem Epping Forest zu bekommen. Man tappte seit fast vierzehn Tagen völlig im Dunkeln. Spaziergänger hatten die Frau gefunden, und die Art ihrer Verletzungen, die Grausamkeit, die sich in der Gewalttätigkeit offenbarte, mit der sie gequält und umgebracht worden war, hatte selbst hart gesottenen Beamten erst einmal die Sprache verschlagen.
"Das war ein Psychopath", hatte irgendjemand schließlich gesagt, und alle hatten genickt. Die junge Frau musste einem völlig durchgeknallten Typen in die Hände gefallen sein.
Ihre Kleidung - oder vielmehr: was von ihrer Kleidung noch übrig war - hatte sie als Prostituierte ausgewiesen, so dass die Vermutung nahe lag, dass sie zu dem falschen Freier ins Auto gestiegen war. Leider kamen solche Fälle nicht allzu selten vor, auch wenn sie dann nicht mit einer solch beispiellosen Brutalität einhergingen. Aber es liefen jede Menge Perverse herum, und nirgendwo konnten sie sich so bequem bedienen wie auf dem Straßenstrich. Nicht jedem sah man es an, dass er falsch tickte. Inspector Fiedler hatte Triebtäter erlebt, die ein Aussehen und Auftreten hatten, dass jede Mutter sie sich als Schwiegersohn gewünscht hätte.
Die Tote hatte keine Papiere bei sich gehabt, und sie passte auch zu keiner der vorliegenden Vermisstenmeldungen. Man hatte ihr Bild in den Zeitungen veröffentlicht, aber auch darauf hatte es zunächst keine Reaktion gegeben. Bis Lil Kearns aufgekreuzt war und behauptet hatte, ihre ehemalige Zimmergenossin erkannt zu haben.
"Die ist seit Anfang März verschwunden! Ohne ein Wort zu sagen. Kam plötzlich nicht mehr wieder. Und jetzt sehe ich sie auf einmal in der Zeitung!"
Fiedler hatte wissen wollen, weshalb Miss Kearns das Verschwinden ihrer Freundin nicht angezeigt habe, doch er hatte nur ein Schulterzucken als Antwort bekommen. Er konnte sich den Grund denken: Lil Kearns war auf einen näheren Umgang mit der Polizei alles andere als erpicht. Als Drogenabhängige war sie vermutlich in kriminelle Aktivitäten verstrickt, oder sie kannte zumindest genügend Leute, die sich in der Verbrecherszene bewegten. Sie hatte keine Lust, plötzlich selbst in irgendeinem Schlamassel zu stecken.
Obwohl sie behauptete, das Bild ihrer Freundin erst jetzt in einer alten Zeitung entdeckt zu haben, vermutete Inspector Fiedler, dass sie schon über einen längeren Zeitraum hinweg Kenntnis davon gehabt hatte. Sie hatte einigen Anlauf gebraucht, den Weg zu einem Polizeirevier zu wagen. Immerhin aber, sie hatte es getan. Er hatte kein Interesse daran, ihr an den Karren zu fahren. Ihm ging es lediglich um Informationen zur Person des Opfers.
Leider wusste Lil nicht viel zu sagen. Während sie in dem kleinen Zimmer der Gerichtsmedizin stand, an ihrer Zigarette zog und nervös auf ihren halsbrecherisch hohen Absätzen wippte, zählte sie auf, was sie wusste.
"Jane French. Stammt aus Manchester. Ich glaube, nur ihre Mutter lebt noch. Ist vor drei Jahren nach London gekommen. Wollte Karriere machen!" Sie betonte das Wort Karriere in einer Art, dass es fast obszön klang. "Na ja, unter uns, in Wahrheit wollte sie einen netten Typen kennen lernen. Irgendeinen Kerl, der sie heiratet und ihr ein besseres Leben bietet als das, was sie hatte. Sie hat mal diesen Job, mal jenen gemacht . keine Ahnung, was genau. Schließlich stellte sie sich an den Straßenrand. Hatte nichts mehr zu beißen und kein Dach über dem Kopf. Ich hab sie noch angemotzt. Weil es mein Revier war."
"Wann war das?", hakte Christy McMarrow ein.
"Vor'm Jahr etwa. Hatte dann Mitleid. Sie durfte bei mir einziehen. Wir sind zusammen anschaffen gegangen."
"Für wen?"
Lil blitzte Christy an. "Für niemanden! Ich liefere nicht mein Geld bei irgendeinem miesen Zuhälter ab! Jane und ich waren unabhängig."
"Und im darauf folgenden März verschwand sie?"
"Ja. Tauchte plötzlich nicht mehr auf. Ich komme nachts zurück, sie ist nicht da. Nicht ungewöhnlich. Aber, na ja, sie kam dann eben nie mehr wieder!" Sie warf die Zigarettenkippe auf den Linoleumboden, trat sie aus. "Aber seit März ist sie nicht tot, oder?"
"Nein", sagte Fiedler, "wie gesagt, nicht länger als inzwischen drei Wochen."
"Komisch. Wo war sie denn in der Zeit dazwischen?"
Das hätte Inspector Fiedler auch gern gewusst, aber es sah nicht so aus, als könne Lil Kearns ihnen in dieser Frage weiterhelfen.
"Kennen Sie Freunde von ihr? Bekannte? Irgendjemanden, mit dem sie Kontakt hatte?"
"Nein. Da gab's, glaube ich, auch niemanden. Obwohl... einmal hab ich gedach..." Sie sprach nicht weiter.
"Ja?", hakte Inspector Fiedler nach.
"Das war im Januar ungefähr. Da hab ich sie mal gefragt, ob sie jemanden kennen gelernt hat. Näher. Weil sie auf einmal besser angezogen war."
"Was genau heißt besser angezogen?"
"Na ja, schon noch ...", sie grinste, "schon noch Berufskleidung. Sie wissen schon. So wie ich. Aber irgendwie . bessere Qualität. Teurer. Als ob sie plötzlich einfach mehr Kohle gehabt hätte."
"Und sie gab Ihrer Ansicht nach dabei nicht das Geld aus, das sie selbst verdiente?"
"Nee. Ich kriegte ja mit, was sie verdiente. Das reichte im Grunde vorn und hinten nicht."
"Sie meinen, Sie hatte einen Freund, der ihr Geschenke machte?"
"Hab ich vermutet, ja. Aber sie stritt das ab. Ich hab auch nicht groß weiter gefragt. War mir letztlich egal." Fiedler seufzte. Sie waren insofern weitergekommen, als die Tote nun einen Namen, eine Identität hatte. Leider aber schien der Fall an dieser Stelle zu stagnieren. Lil Kearns führte selbst einen so erbarmungslosen Überlebenskampf, dass sie auf ihre Zimmergenossin nur sehr am Rande hatte achten können. Sie steckte längst in einer Situation, in der ihr andere Menschen egal waren, es sei denn, sie finanzierten ihr den nächsten Schuss.
"Sie haben uns sehr geholfen, Miss Kearns", sagte er dennoch, "vielen Dank, dass Sie gekommen sind."
"Ja, klar... ich meine... mir tut das total leid mit Jane. Echt blöd gelaufen!" Sie strich sich die Haare aus der Stirn, auf der noch immer Schweiß glänzte. Es ging ihr gar nicht gut, seitdem sie die Leiche hatte ansehen müssen.
Inspector Fiedler kramte seinen Autoschlüssel aus der Tasche. "Kommen Sie", sagte er, "ich fahre Sie nach Hause."
"Ehrlich? Das ist total nett!", sagte Lil dankbar.
Er würde dabei das Zimmer in Augenschein nehmen können, in dem Jane French bis zu ihrem Verschwinden gelebt hatte. Leider hatte er bereits die Ahnung, dass ihn auch das nicht weiterbringen würde.
Er verfügte über viele Jahre Berufserfahrung, und er hätte fast gewettet, dass er den Fall Jane French zu seinen Niederlagen würde rechnen müssen. Die junge Frau hatte in einem schwierigen sozialen Umfeld gelebt, das machte die Sache so kompliziert.
Zeugen für die Tat schien es ebenfalls nicht zu geben.
Und sollte doch irgendjemand Näheres zum grausamen Tod der jungen Jane French aussagen können, so bewegte sich diese Person aller Wahrscheinlichkeit nach in derselben Szene, in der Jane beheimatet gewesen war. Mit Informationen an die Polizei war man in diesem Umfeld äußerst vorsichtig. Um nicht selbst wegen irgendwelcher kriminellen Machenschaften aufzufliegen, aber auch aus Angst vor Vergeltung.
Höchst unwahrscheinlich also, dass sich ein möglicher Zeuge melden würde.
Inspector Fiedler hasste es, sich diesen Gedanken einzugestehen, aber es sah ganz danach aus, als werde der Mörder von Jane French ungestraft davonkommen.
Freitag, 10. Januar 2003
Hätte sie die Frühmaschine von Heathrow nach Malaga genommen, wäre sie jetzt längst am Ziel. In Gibraltar. Vermutlich war das Wetter in der britischen Enklave am südlichsten Zipfel der iberischen Halbinsel wesentlich besser als in London, wo sich der Nebel seit den Morgenstunden nicht verzogen hatte, ja sogar immer dichter geworden war. Jetzt, verstärkt durch die frühe winterliche Dunkelheit, versank die Stadt in einer Art undurchdringlicher, feuchter Masse, die alle Lichter und sogar Geräusche und Bewegungen zu schlucken schien.
Während in Gibraltar die Sonne als roter Feuerball von einem pastelligen Himmel in ein dunkelblaues Meer gefallen war, und nun erste Sterne aufzublitzen begannen. Wahrscheinlich. Und wenn nicht, so wäre das auch egal: Hauptsache, sie wäre jetzt dort.
Ohne Geoffs tränenreichen Zusammenbruch am Vorabend wäre sie bei ihrem Plan geblieben, die Maschine am Vormittag zu nehmen. Sie hätte sehr früh aufstehen müssen, um rechtzeitig in London zu sein, und das hätte bedeutet, dass die für die nächsten drei Tage angeheuerte Krankenschwester bereits das Frühstück für Geoff hätte zubereiten müssen. Aber alles war abgesprochen gewesen. Die resolute Pflegerin hatte zugesagt, pünktlich zu sein.
"Machen Sie sich mal keine Sorgen, Miss Dawson! Reisen Sie in aller Ruhe ab. Wir werden das Kind schon schaukeln."
Später wusste sie, dass sie die ganze Zeit über insgeheim schon auf einen Zusammenbruch Geoffs gewartet hatte. Er hatte ihre Ankündigung, für drei Tage nach Gibraltar zu reisen, allzu ruhig aufgenommen. Er war nicht erfreut gewesen, aber er war auf eine ziemlich erwachsene Art damit umgegangen.
"Es tut dir gut, mal rauszukommen, Elaine. Klar bin ich nicht glücklich. Aber du tust so viel für mich, da will ich nicht egoistisch sein. Du brauchst mal ein bisschen Abstand!"
"Ich verstehe ja selber nicht, weshalb Rosanna mich eingeladen hat. Eigentlich hatten wir ja nie viel miteinander zu tun. Ich meine, ich bin nicht direkt eine Freundin von ihr ..."
An dieser Stelle hatte Geoff durchblicken lassen, dass er ihre Reise nach Gibraltar im Grunde auch für völlig überflüssig hielt.
"Du musst wissen, was du tust, Elaine. Ich denke, es ist ein Almosen von Rosanna. Wahrscheinlich hat ihre Mutter sie dazu überredet. Die war doch schon immer so sozial angehaucht. Wir müssen der armen, lieben Elaine mal etwas Gutes tun ... Und schließlich hat sich Rosanna seufzend bereit erklärt... Na ja ..." Er schwieg vielsagend. Unausgesprochen standen die Worte im Raum: Wenn dir das trotzdem Spaß macht ...
Spaß vielleicht nicht, dachte sie jetzt, während sie verzweifelt die blinkende Schalttafel anstarrte, die ihr signalisierte, dass ihr Flug nach Spanien gestrichen war, so wie alle anderen Flüge auch, die Heathrow an diesem späten Januarnachmittag hätten verlassen sollen, aber es erschien mir wie eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, dass sich . irgendetwas ändert. Es hätte eine Chance sein können, die mir das Schicksal schenkt.
An allen Schaltern drängten sich aufgeregte Menschen, Reisende, die wissen wollten, wie es nun weitergehen würde. Überfordertes Flughafenpersonal versuchte, die Ruhe zu bewahren und Auskunft zu geben. Im Grunde stand aber nur eines klar und unveränderlich fest: An diesem Abend würden von Heathrow keine Flüge mehr starten.
Es gelang ihr, eine Angestellte von British Airways anzusprechen.
"Entschuldigen Sie bitte ... ich muss unbedingt heute Abend noch nach Malaga fliegen!"
Die andere lächelte, professionell und unbeteiligt. "Es tut mir leid. Wir können nichts gegen den Nebel unternehmen. Es wäre einfach zu gefährlich."
"Ja aber ." Sie konnte es einfach nicht fassen. Einmal, ein einziges Mal in ihrem verdammten dreiundzwanzigjährigen Leben verließ sie das Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, und schickte sich an, eine Reise anzutreten, versuchte, sich aus der tödlichen Routine und Eintönigkeit ihres Alltags zu befreien, und dann scheiterte sie am Londoner Nebel. Sie merkte, dass Tränen in ihr aufstiegen, und mühte sich panisch, sie zurückzuhalten. "Ich wollte eigentlich schon heute Morgen fliegen", erklärte sie unsinnigerweise, "aber ich hatte umgebucht ..."
"Das ist schade", meinte die Angestellte, "bis heute Mittag ging noch alles klar."
Geoff war am Vorabend völlig unvermittelt zusammengebrochen. Beim Abendessen hatte er plötzlich seinen Löffel sinken lassen. Schon vorher hatte er in allen Speisen nur lustlos gestochert, aber das tat er auch sonst oft. Nun rannen auf einmal Tränen über seine Wangen.
"Es tut mir leid", schluchzte er, "es tut mir leid!"
"Ach, Geoff! Geoff, nicht weinen! Ist es wegen mir? Weil ich ... weil ich nach Gibraltar reise?"
Eine rein rhetorische Frage. Sie wusste, dass es wegen Gibraltar war. Seltsamerweise hatte sich im darauf folgenden Gespräch alles um den Zeitpunkt ihrer Abreise gedreht, nicht um die Reise selbst.
"Wenn du wenigstens noch zum Frühstück da wärst!
Dass du so früh weg musst . dass ich dann so bald schon dieser Fremden ausgeliefert bin ..."
"Vielleicht", hatte sie halbherzig angeboten, "geht noch ein späterer Flug. Die Hochzeit ist ja erst am Samstag ."
Er war sofort darauf angesprungen. "Das würdest du tun? Das würdest du wirklich tun? Am Nachmittag fliegen? Mein Gott, Elaine, das würde einfach alles viel leichter für mich machen!"
Wieso eigentlich? Die paar Stunden? Das Frühstück? Aber sie hatte sich in all den Jahren an derartige Verhaltensweisen bei Geoff gewöhnt. Irrational. Unverständlich. Nicht nachvollziehbar. Aber so war er eben. So würde er immer sein.
"Was soll ich denn nun machen?", fragte sie ratlos. "Glauben Sie, dass andere Flughäfen... Gatwick? Stansted? Glauben Sie, dort gehen Flüge?"
Die Angestellte von British Airways schüttelte den Kopf. "Die haben mit demselben Problem zu kämpfen wie wir."
"Ja, aber ."
"Wohnen Sie in London?", fragte die andere.
"Nein. Ich wohne in Kingston St. Mary." Glaube ich ernsthaft, irgendjemand kennt das Kaff?, fragte sie sich. "In Somerset", setzte sie hastig hinzu. "Es ist leider nicht allzu nah."
Und verkehrstechnisch eine Katastrophe, wollte sie weiter erklären, hätte sie nicht gemerkt, dass ihr Gegenüber schon sein Lächeln verloren hatte und zwischen Entnervtheit und Gereiztheit schwankte. "Ich glaube, da komme ich heute Abend nicht mehr hin."
"Dann würde ich mir rasch ein Hotel suchen. Hier in Heathrow sind heute Abend so viele Menschen gestrandet, da wird im Umkreis sehr schnell nichts mehr zu haben sein. Oder Sie sichern sich einen Platz in einer der Wartehallen und verbringen die Nacht dort. Essen und Getränke kann man sich hier ja überall besorgen."
"Denken Sie, dass ich morgen früh fliegen kann?"
Schon im Weiterlaufen, zuckte die andere mit den Schultern. "Das kann Ihnen niemand garantieren. Aber es ist möglich!"
Eine Frau, die das Gespräch mitangehört hatte, schimpfte los. "Unmöglich! Keiner hilft einem hier weiter! Keine Ahnung, wohin ich jetzt gehen soll! Die müssten doch irgendetwas unternehmen!"
Elaine sah sich in der Abfertigungshalle um. Ein solches Gewimmel von Menschen hatte sie noch nie gesehen. Wer sollte da irgendetwas unternehmen? Die Angestellte hatte ihr vermutlich den einzigen Rat gegeben, der realistisch war: Sie musste sich einen halbwegs bequemen Platz für die Nacht suchen.Schon wieder wollten ihr die Tränen kommen. Minutenlang blieb sie mit hängenden Armen inmitten des Chaos stehen, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen vernünftigen Plan zu fassen. Das Stimmengewirr der Menschen schwoll an zu einem Orkan. Lautsprecheransagen übertönten den Lärm. Vorbeihastende Reisende rempelten sie an. Sie vermochte nicht zu reagieren. Sie stand nur da, in ihrem abgetragenen braunen Wintermantel, der schon nicht elegant gewesen war, als sie ihn vor vier Jahren gekauft hatte, und der jetzt wie ein Sack aussah, den sie sich um die Schultern gehängt hatte. Neben ihr stand ihr Koffer. In der einen Hand hielt sie ihre Plastikhandtasche, eine Designerimitation, die bei Woolworth zehn Pfund gekostet hatte. Mit der anderen Hand umklammerte sie ihren Pass, der in ihrer Manteltasche steckte. Bereit zum Vorzeigen. Was sich offensichtlich für heute erledigt hatte.
möglichst viel von ihren üppigen, gutgeformten Brüsten zur Geltung zu bringen. Sie war jung, Anfang zwanzig, schätzte Fiedler.
"Also, Miss Kearns", sagte er, bemüht, besonders sachlich und kühl zu erscheinen, um auch ihr Gelegenheit zu geben, sich zu fassen, "Sie sind völlig sicher, dass es sich bei der Toten um eine ... Jane French handelt?"
Lil Kearns zog heftig an ihrer Zigarette und nickte. "Absolut. Das ist sie. Hab sie sofort erkannt. Sieht schon . na ja, verändert aus, aber klar, sie ist es!"
"Sie muss fast eine Woche im Wald gelegen haben, ehe sie gefunden wurde. Das heißt, sie wurde um den zehnten November herum ermordet."
"Ermordet ... ist das sicher?"
"Leider ja. Die Art ihrer Verletzungen, die Tatsache, dass sie gefesselt war, als sie gefunden wurde, lässt keinen anderen Schluss zu."
"Schöne Scheisse", sagte Lil.
Sie hatte sich am Morgen dieses Tages gemeldet, nachdem die Polizei es schon fast aufgegeben hatte, noch irgendeinen Hinweis auf die Identität der Toten aus dem Epping Forest zu bekommen. Man tappte seit fast vierzehn Tagen völlig im Dunkeln. Spaziergänger hatten die Frau gefunden, und die Art ihrer Verletzungen, die Grausamkeit, die sich in der Gewalttätigkeit offenbarte, mit der sie gequält und umgebracht worden war, hatte selbst hart gesottenen Beamten erst einmal die Sprache verschlagen.
"Das war ein Psychopath", hatte irgendjemand schließlich gesagt, und alle hatten genickt. Die junge Frau musste einem völlig durchgeknallten Typen in die Hände gefallen sein.
Ihre Kleidung - oder vielmehr: was von ihrer Kleidung noch übrig war - hatte sie als Prostituierte ausgewiesen, so dass die Vermutung nahe lag, dass sie zu dem falschen Freier ins Auto gestiegen war. Leider kamen solche Fälle nicht allzu selten vor, auch wenn sie dann nicht mit einer solch beispiellosen Brutalität einhergingen. Aber es liefen jede Menge Perverse herum, und nirgendwo konnten sie sich so bequem bedienen wie auf dem Straßenstrich. Nicht jedem sah man es an, dass er falsch tickte. Inspector Fiedler hatte Triebtäter erlebt, die ein Aussehen und Auftreten hatten, dass jede Mutter sie sich als Schwiegersohn gewünscht hätte.
Die Tote hatte keine Papiere bei sich gehabt, und sie passte auch zu keiner der vorliegenden Vermisstenmeldungen. Man hatte ihr Bild in den Zeitungen veröffentlicht, aber auch darauf hatte es zunächst keine Reaktion gegeben. Bis Lil Kearns aufgekreuzt war und behauptet hatte, ihre ehemalige Zimmergenossin erkannt zu haben.
"Die ist seit Anfang März verschwunden! Ohne ein Wort zu sagen. Kam plötzlich nicht mehr wieder. Und jetzt sehe ich sie auf einmal in der Zeitung!"
Fiedler hatte wissen wollen, weshalb Miss Kearns das Verschwinden ihrer Freundin nicht angezeigt habe, doch er hatte nur ein Schulterzucken als Antwort bekommen. Er konnte sich den Grund denken: Lil Kearns war auf einen näheren Umgang mit der Polizei alles andere als erpicht. Als Drogenabhängige war sie vermutlich in kriminelle Aktivitäten verstrickt, oder sie kannte zumindest genügend Leute, die sich in der Verbrecherszene bewegten. Sie hatte keine Lust, plötzlich selbst in irgendeinem Schlamassel zu stecken.
Obwohl sie behauptete, das Bild ihrer Freundin erst jetzt in einer alten Zeitung entdeckt zu haben, vermutete Inspector Fiedler, dass sie schon über einen längeren Zeitraum hinweg Kenntnis davon gehabt hatte. Sie hatte einigen Anlauf gebraucht, den Weg zu einem Polizeirevier zu wagen. Immerhin aber, sie hatte es getan. Er hatte kein Interesse daran, ihr an den Karren zu fahren. Ihm ging es lediglich um Informationen zur Person des Opfers.
Leider wusste Lil nicht viel zu sagen. Während sie in dem kleinen Zimmer der Gerichtsmedizin stand, an ihrer Zigarette zog und nervös auf ihren halsbrecherisch hohen Absätzen wippte, zählte sie auf, was sie wusste.
"Jane French. Stammt aus Manchester. Ich glaube, nur ihre Mutter lebt noch. Ist vor drei Jahren nach London gekommen. Wollte Karriere machen!" Sie betonte das Wort Karriere in einer Art, dass es fast obszön klang. "Na ja, unter uns, in Wahrheit wollte sie einen netten Typen kennen lernen. Irgendeinen Kerl, der sie heiratet und ihr ein besseres Leben bietet als das, was sie hatte. Sie hat mal diesen Job, mal jenen gemacht . keine Ahnung, was genau. Schließlich stellte sie sich an den Straßenrand. Hatte nichts mehr zu beißen und kein Dach über dem Kopf. Ich hab sie noch angemotzt. Weil es mein Revier war."
"Wann war das?", hakte Christy McMarrow ein.
"Vor'm Jahr etwa. Hatte dann Mitleid. Sie durfte bei mir einziehen. Wir sind zusammen anschaffen gegangen."
"Für wen?"
Lil blitzte Christy an. "Für niemanden! Ich liefere nicht mein Geld bei irgendeinem miesen Zuhälter ab! Jane und ich waren unabhängig."
"Und im darauf folgenden März verschwand sie?"
"Ja. Tauchte plötzlich nicht mehr auf. Ich komme nachts zurück, sie ist nicht da. Nicht ungewöhnlich. Aber, na ja, sie kam dann eben nie mehr wieder!" Sie warf die Zigarettenkippe auf den Linoleumboden, trat sie aus. "Aber seit März ist sie nicht tot, oder?"
"Nein", sagte Fiedler, "wie gesagt, nicht länger als inzwischen drei Wochen."
"Komisch. Wo war sie denn in der Zeit dazwischen?"
Das hätte Inspector Fiedler auch gern gewusst, aber es sah nicht so aus, als könne Lil Kearns ihnen in dieser Frage weiterhelfen.
"Kennen Sie Freunde von ihr? Bekannte? Irgendjemanden, mit dem sie Kontakt hatte?"
"Nein. Da gab's, glaube ich, auch niemanden. Obwohl... einmal hab ich gedach..." Sie sprach nicht weiter.
"Ja?", hakte Inspector Fiedler nach.
"Das war im Januar ungefähr. Da hab ich sie mal gefragt, ob sie jemanden kennen gelernt hat. Näher. Weil sie auf einmal besser angezogen war."
"Was genau heißt besser angezogen?"
"Na ja, schon noch ...", sie grinste, "schon noch Berufskleidung. Sie wissen schon. So wie ich. Aber irgendwie . bessere Qualität. Teurer. Als ob sie plötzlich einfach mehr Kohle gehabt hätte."
"Und sie gab Ihrer Ansicht nach dabei nicht das Geld aus, das sie selbst verdiente?"
"Nee. Ich kriegte ja mit, was sie verdiente. Das reichte im Grunde vorn und hinten nicht."
"Sie meinen, Sie hatte einen Freund, der ihr Geschenke machte?"
"Hab ich vermutet, ja. Aber sie stritt das ab. Ich hab auch nicht groß weiter gefragt. War mir letztlich egal." Fiedler seufzte. Sie waren insofern weitergekommen, als die Tote nun einen Namen, eine Identität hatte. Leider aber schien der Fall an dieser Stelle zu stagnieren. Lil Kearns führte selbst einen so erbarmungslosen Überlebenskampf, dass sie auf ihre Zimmergenossin nur sehr am Rande hatte achten können. Sie steckte längst in einer Situation, in der ihr andere Menschen egal waren, es sei denn, sie finanzierten ihr den nächsten Schuss.
"Sie haben uns sehr geholfen, Miss Kearns", sagte er dennoch, "vielen Dank, dass Sie gekommen sind."
"Ja, klar... ich meine... mir tut das total leid mit Jane. Echt blöd gelaufen!" Sie strich sich die Haare aus der Stirn, auf der noch immer Schweiß glänzte. Es ging ihr gar nicht gut, seitdem sie die Leiche hatte ansehen müssen.
Inspector Fiedler kramte seinen Autoschlüssel aus der Tasche. "Kommen Sie", sagte er, "ich fahre Sie nach Hause."
"Ehrlich? Das ist total nett!", sagte Lil dankbar.
Er würde dabei das Zimmer in Augenschein nehmen können, in dem Jane French bis zu ihrem Verschwinden gelebt hatte. Leider hatte er bereits die Ahnung, dass ihn auch das nicht weiterbringen würde.
Er verfügte über viele Jahre Berufserfahrung, und er hätte fast gewettet, dass er den Fall Jane French zu seinen Niederlagen würde rechnen müssen. Die junge Frau hatte in einem schwierigen sozialen Umfeld gelebt, das machte die Sache so kompliziert.
Zeugen für die Tat schien es ebenfalls nicht zu geben.
Und sollte doch irgendjemand Näheres zum grausamen Tod der jungen Jane French aussagen können, so bewegte sich diese Person aller Wahrscheinlichkeit nach in derselben Szene, in der Jane beheimatet gewesen war. Mit Informationen an die Polizei war man in diesem Umfeld äußerst vorsichtig. Um nicht selbst wegen irgendwelcher kriminellen Machenschaften aufzufliegen, aber auch aus Angst vor Vergeltung.
Höchst unwahrscheinlich also, dass sich ein möglicher Zeuge melden würde.
Inspector Fiedler hasste es, sich diesen Gedanken einzugestehen, aber es sah ganz danach aus, als werde der Mörder von Jane French ungestraft davonkommen.
Freitag, 10. Januar 2003
Hätte sie die Frühmaschine von Heathrow nach Malaga genommen, wäre sie jetzt längst am Ziel. In Gibraltar. Vermutlich war das Wetter in der britischen Enklave am südlichsten Zipfel der iberischen Halbinsel wesentlich besser als in London, wo sich der Nebel seit den Morgenstunden nicht verzogen hatte, ja sogar immer dichter geworden war. Jetzt, verstärkt durch die frühe winterliche Dunkelheit, versank die Stadt in einer Art undurchdringlicher, feuchter Masse, die alle Lichter und sogar Geräusche und Bewegungen zu schlucken schien.
Während in Gibraltar die Sonne als roter Feuerball von einem pastelligen Himmel in ein dunkelblaues Meer gefallen war, und nun erste Sterne aufzublitzen begannen. Wahrscheinlich. Und wenn nicht, so wäre das auch egal: Hauptsache, sie wäre jetzt dort.
Ohne Geoffs tränenreichen Zusammenbruch am Vorabend wäre sie bei ihrem Plan geblieben, die Maschine am Vormittag zu nehmen. Sie hätte sehr früh aufstehen müssen, um rechtzeitig in London zu sein, und das hätte bedeutet, dass die für die nächsten drei Tage angeheuerte Krankenschwester bereits das Frühstück für Geoff hätte zubereiten müssen. Aber alles war abgesprochen gewesen. Die resolute Pflegerin hatte zugesagt, pünktlich zu sein.
"Machen Sie sich mal keine Sorgen, Miss Dawson! Reisen Sie in aller Ruhe ab. Wir werden das Kind schon schaukeln."
Später wusste sie, dass sie die ganze Zeit über insgeheim schon auf einen Zusammenbruch Geoffs gewartet hatte. Er hatte ihre Ankündigung, für drei Tage nach Gibraltar zu reisen, allzu ruhig aufgenommen. Er war nicht erfreut gewesen, aber er war auf eine ziemlich erwachsene Art damit umgegangen.
"Es tut dir gut, mal rauszukommen, Elaine. Klar bin ich nicht glücklich. Aber du tust so viel für mich, da will ich nicht egoistisch sein. Du brauchst mal ein bisschen Abstand!"
"Ich verstehe ja selber nicht, weshalb Rosanna mich eingeladen hat. Eigentlich hatten wir ja nie viel miteinander zu tun. Ich meine, ich bin nicht direkt eine Freundin von ihr ..."
An dieser Stelle hatte Geoff durchblicken lassen, dass er ihre Reise nach Gibraltar im Grunde auch für völlig überflüssig hielt.
"Du musst wissen, was du tust, Elaine. Ich denke, es ist ein Almosen von Rosanna. Wahrscheinlich hat ihre Mutter sie dazu überredet. Die war doch schon immer so sozial angehaucht. Wir müssen der armen, lieben Elaine mal etwas Gutes tun ... Und schließlich hat sich Rosanna seufzend bereit erklärt... Na ja ..." Er schwieg vielsagend. Unausgesprochen standen die Worte im Raum: Wenn dir das trotzdem Spaß macht ...
Spaß vielleicht nicht, dachte sie jetzt, während sie verzweifelt die blinkende Schalttafel anstarrte, die ihr signalisierte, dass ihr Flug nach Spanien gestrichen war, so wie alle anderen Flüge auch, die Heathrow an diesem späten Januarnachmittag hätten verlassen sollen, aber es erschien mir wie eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, dass sich . irgendetwas ändert. Es hätte eine Chance sein können, die mir das Schicksal schenkt.
An allen Schaltern drängten sich aufgeregte Menschen, Reisende, die wissen wollten, wie es nun weitergehen würde. Überfordertes Flughafenpersonal versuchte, die Ruhe zu bewahren und Auskunft zu geben. Im Grunde stand aber nur eines klar und unveränderlich fest: An diesem Abend würden von Heathrow keine Flüge mehr starten.
Es gelang ihr, eine Angestellte von British Airways anzusprechen.
"Entschuldigen Sie bitte ... ich muss unbedingt heute Abend noch nach Malaga fliegen!"
Die andere lächelte, professionell und unbeteiligt. "Es tut mir leid. Wir können nichts gegen den Nebel unternehmen. Es wäre einfach zu gefährlich."
"Ja aber ." Sie konnte es einfach nicht fassen. Einmal, ein einziges Mal in ihrem verdammten dreiundzwanzigjährigen Leben verließ sie das Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, und schickte sich an, eine Reise anzutreten, versuchte, sich aus der tödlichen Routine und Eintönigkeit ihres Alltags zu befreien, und dann scheiterte sie am Londoner Nebel. Sie merkte, dass Tränen in ihr aufstiegen, und mühte sich panisch, sie zurückzuhalten. "Ich wollte eigentlich schon heute Morgen fliegen", erklärte sie unsinnigerweise, "aber ich hatte umgebucht ..."
"Das ist schade", meinte die Angestellte, "bis heute Mittag ging noch alles klar."
Geoff war am Vorabend völlig unvermittelt zusammengebrochen. Beim Abendessen hatte er plötzlich seinen Löffel sinken lassen. Schon vorher hatte er in allen Speisen nur lustlos gestochert, aber das tat er auch sonst oft. Nun rannen auf einmal Tränen über seine Wangen.
"Es tut mir leid", schluchzte er, "es tut mir leid!"
"Ach, Geoff! Geoff, nicht weinen! Ist es wegen mir? Weil ich ... weil ich nach Gibraltar reise?"
Eine rein rhetorische Frage. Sie wusste, dass es wegen Gibraltar war. Seltsamerweise hatte sich im darauf folgenden Gespräch alles um den Zeitpunkt ihrer Abreise gedreht, nicht um die Reise selbst.
"Wenn du wenigstens noch zum Frühstück da wärst!
Dass du so früh weg musst . dass ich dann so bald schon dieser Fremden ausgeliefert bin ..."
"Vielleicht", hatte sie halbherzig angeboten, "geht noch ein späterer Flug. Die Hochzeit ist ja erst am Samstag ."
Er war sofort darauf angesprungen. "Das würdest du tun? Das würdest du wirklich tun? Am Nachmittag fliegen? Mein Gott, Elaine, das würde einfach alles viel leichter für mich machen!"
Wieso eigentlich? Die paar Stunden? Das Frühstück? Aber sie hatte sich in all den Jahren an derartige Verhaltensweisen bei Geoff gewöhnt. Irrational. Unverständlich. Nicht nachvollziehbar. Aber so war er eben. So würde er immer sein.
"Was soll ich denn nun machen?", fragte sie ratlos. "Glauben Sie, dass andere Flughäfen... Gatwick? Stansted? Glauben Sie, dort gehen Flüge?"
Die Angestellte von British Airways schüttelte den Kopf. "Die haben mit demselben Problem zu kämpfen wie wir."
"Ja, aber ."
"Wohnen Sie in London?", fragte die andere.
"Nein. Ich wohne in Kingston St. Mary." Glaube ich ernsthaft, irgendjemand kennt das Kaff?, fragte sie sich. "In Somerset", setzte sie hastig hinzu. "Es ist leider nicht allzu nah."
Und verkehrstechnisch eine Katastrophe, wollte sie weiter erklären, hätte sie nicht gemerkt, dass ihr Gegenüber schon sein Lächeln verloren hatte und zwischen Entnervtheit und Gereiztheit schwankte. "Ich glaube, da komme ich heute Abend nicht mehr hin."
"Dann würde ich mir rasch ein Hotel suchen. Hier in Heathrow sind heute Abend so viele Menschen gestrandet, da wird im Umkreis sehr schnell nichts mehr zu haben sein. Oder Sie sichern sich einen Platz in einer der Wartehallen und verbringen die Nacht dort. Essen und Getränke kann man sich hier ja überall besorgen."
"Denken Sie, dass ich morgen früh fliegen kann?"
Schon im Weiterlaufen, zuckte die andere mit den Schultern. "Das kann Ihnen niemand garantieren. Aber es ist möglich!"
Eine Frau, die das Gespräch mitangehört hatte, schimpfte los. "Unmöglich! Keiner hilft einem hier weiter! Keine Ahnung, wohin ich jetzt gehen soll! Die müssten doch irgendetwas unternehmen!"
Elaine sah sich in der Abfertigungshalle um. Ein solches Gewimmel von Menschen hatte sie noch nie gesehen. Wer sollte da irgendetwas unternehmen? Die Angestellte hatte ihr vermutlich den einzigen Rat gegeben, der realistisch war: Sie musste sich einen halbwegs bequemen Platz für die Nacht suchen.Schon wieder wollten ihr die Tränen kommen. Minutenlang blieb sie mit hängenden Armen inmitten des Chaos stehen, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen vernünftigen Plan zu fassen. Das Stimmengewirr der Menschen schwoll an zu einem Orkan. Lautsprecheransagen übertönten den Lärm. Vorbeihastende Reisende rempelten sie an. Sie vermochte nicht zu reagieren. Sie stand nur da, in ihrem abgetragenen braunen Wintermantel, der schon nicht elegant gewesen war, als sie ihn vor vier Jahren gekauft hatte, und der jetzt wie ein Sack aussah, den sie sich um die Schultern gehängt hatte. Neben ihr stand ihr Koffer. In der einen Hand hielt sie ihre Plastikhandtasche, eine Designerimitation, die bei Woolworth zehn Pfund gekostet hatte. Mit der anderen Hand umklammerte sie ihren Pass, der in ihrer Manteltasche steckte. Bereit zum Vorzeigen. Was sich offensichtlich für heute erledigt hatte.
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Autoren-Porträt von Charlotte Link
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Ohne Schuld« und zuletzt »Einsame Nacht« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 33 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Link
- 2014, Neuveröffentlichung, 640 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442383714
- ISBN-13: 9783442383719
- Erscheinungsdatum: 08.10.2014
Rezension zu „Die letzte Spur “
"Raffiniert konstruiert." Centaur, Kundenmagazin Rossmann
Pressezitat
"Raffiniert konstruiert." Centaur, Kundenmagazin Rossmann
Kommentar zu "Die letzte Spur"