Die Lichter des George Psalmanazar
Roman. Ausgezeichnet mit dem Anna Seghers-Preis 2009
Wer ist George Psalmanazar? Eine Fußnote brachte die junge Autorin Daniela Dröscher auf diese Frage: ein kleiner Moment, aus dem ein Debüt von beispielloser Sprachgewalt entstanden ist. Auf den Spuren des großen englischen Gelehrten Dr. Samuel Johnson...
Leider schon ausverkauft
Buch (Gebunden)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Lichter des George Psalmanazar “
Wer ist George Psalmanazar? Eine Fußnote brachte die junge Autorin Daniela Dröscher auf diese Frage: ein kleiner Moment, aus dem ein Debüt von beispielloser Sprachgewalt entstanden ist. Auf den Spuren des großen englischen Gelehrten Dr. Samuel Johnson betritt der Leser eine Welt, deren Farbenpracht und Klangkulisse ihn zutiefst berühren.
Klappentext zu „Die Lichter des George Psalmanazar “
Fischmann!, verspotten die Kinder den seltsamen Jungen, der im Jahr 1749 in einem schottischen Küstendorf erscheint. Mit bloßen Händen fängt er Doraden, und während er sie verkauft, singt er immer neue fremdländisch klingende Schicksalsweisen. Der alte Bischof von Innes wird Zeuge des Schauspiels. Er lockt den Jungen fort vom Meer und nimmt ihn mit sich. Die Folianten in der bischöflichen Bibliothek ziehen George magisch an. In einer Nacht blättert er in einem Buch über die Insel Formosa, die er am nächsten Tag als Ort seiner Herkunft besingt. Der geschäftstüchtige Innes gibt dem Jungen den Namen George Psalmanazar und bringt ihn in die Hauptstadt. In aller Öffentlichkeit erzählt er von Formosa, und er präsentiert das formosische Alphabet. Auch Mr Johnson, der Löwenmann, ist gekommen. Er kauft dem Bischof den wundersamen Jungen ab und nimmt ihn zu sich in die Fleet Street, wo er mit seiner üppigen Frau Elizabeth und Stieftochter Lucy lebt. George und Lucy sind klein, unschuldig, nicht von dieser Welt. Ihre Begegnung ist der Beginn einer zarten Liebesgeschichte im London des 18. Jahrhunderts. Unvereinbare Passionen gehen wie ein Riss durch die Figuren: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Liebe zu den kleinen Dingen; Erfolg und Genügsamkeit. Der Versuch, das Kleine und das Große zusammenzuführen, scheitert. Am Ende bleibt nicht mehr als das Eingehen dahin, wo Paradoxien überleben können: ins Kunstwerk. Die Lichter des George Psalmanazar ist ein grandioses Erzähldebüt und eine Liebesgeschichte, die schöner, sonderbarer - und zeitloser nicht sein könnte.
Fischmann!, verspotten die Kinder den seltsamen Jungen, der im Jahr 1749 in einem schottischen Küstendorf erscheint. Mit bloßen Händen fängt er Doraden, und während er sie verkauft, singt er immer neue fremdländisch klingende Schicksalsweisen. Der alte Bischof von Innes wird Zeuge des Schauspiels. Er lockt den Jungen fort vom Meer und nimmt ihn mit sich. Die Folianten in der bischöflichen Bibliothek ziehen George magisch an. In einer Nacht blättert er in einem Buch über die Insel Formosa, die er am nächsten Tag als Ort seiner Herkunft besingt. Der geschäftstüchtige Innes gibt dem Jungen den Namen George Psalmanazar und bringt ihn in die Hauptstadt. In aller Öffentlichkeit erzählt er von Formosa, und er präsentiert das formosische Alphabet. Auch Mr Johnson, der Löwenmann, ist gekommen. Er kauft dem Bischof den wundersamen Jungen ab und nimmt ihn zu sich in die Fleet Street, wo er mit seiner üppigen Frau Elizabeth und Stieftochter Lucy lebt. George und Lucy sind klein, unschuldig, nicht von dieser Welt. Ihre Begegnung ist der Beginn einer zarten Liebesgeschichte im London des 18. Jahrhunderts. Unvereinbare Passionen gehen wie ein Riss durch die Figuren: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Liebe zu den kleinen Dingen; Erfolg und Genügsamkeit. Der Versuch, das Kleine und das Große zusammenzuführen, scheitert. Am Ende bleibt nicht mehr als das Eingehen dahin, wo Paradoxien überleben können: ins Kunstwerk. Die Lichter des George Psalmanazar ist ein grandioses Erzähldebüt und eine Liebesgeschichte, die schöner, sonderbarer - und zeitloser nicht sein könnte.
Lese-Probe zu „Die Lichter des George Psalmanazar “
Die Lichter des George Psalmanazar von Daniela DröscherInmitten von dichten silbrigen Halmen, die über das Ufer bis ins Meer hinein wuchsen, lag, die Glieder weit von sich gestreckt, ein Mensch. Er hatte die Lider geschlossen. Er lächelte. Die Luft roch nach Salz und Pinien. Am Himmel zogen Möwen ihre Kreise, am Boden liefen Sterntaucher ihre Bahnen. Der Einzige, der mit Gewissheit hätte Auskunft darüber geben können, ob der Mensch inmitten der Halme wach war oder schlief, war der Mensch selbst. Niemand aber hätte ihn zu stören gewagt, auch dann nicht, als er langsam über das Gras hinweg und über das Ufer ins Wasser glitt. Er trieb als stilles, leichtes Kreuz, vorbei an Bäumen, durch deren Geäst man die Wolken sah, und wenn der Wind in sie fuhr, fiel schütteres Laub auf ihn. Er lag auf den Wellen, und erst als Sterne aus dem nachtblauen Tuch hervorgekrochen kamen, trieb er ans Ufer, legte sich ins Gras und fing zu schreiben an.
Der Mensch, der im Licht der aufgehenden Sonne sein Tagwerk begann, war George. George waren Sonne und Mond heilig. Wenn die kalte und die heiße Luft einander berührten und das Meer mit weich tanzenden Funken bedeckten, dann betete er. Er betete, indem er die Hände gen Himmel reckte, mit der Stirn den Boden berührte und eine Geschichte, die er »Fata« nannte, hinauf zu den großen Lichtern sang. George liebte das Licht, aber seine Haut war sehr weiß und errötete schnell, und so waren alle frei liegenden Körperteile vom Hals abwärts mit einfachem Tuch umwickelt. Darüber trug er einen grauen Rock, dessen einstige Form sich nur noch schwer erraten ließ, so ganz und gar verzogen von Handgriffen wirkte er. Den Kopf bedeckte ein Fell, das er wie zu einem Turban geflochten hatte. Es hatte einmal einem weißen Tier gehört.
George stand auf dem Marktplatz eines
... mehr
kleinen schottischen Küstenortes. Die zahnlosen Kinder des Dorfes waren ihm, so wie es häufig geschah, wenn er irgendwo auftauchte, bei seinem morgendlichen Gebet über den Platz nachgejagt und hatten versucht, ihm den Schutz über die Ohren zu ziehen. George war auf einen hohen Felsen geflüchtet. Dort hatte er gesessen und ins Meer geblickt, und irgendwann war er mit einem Satz hinuntergesprungen, um später mit einem Bündel Fische unter dem Arm auf den Marktplatz zurückzukehren.
Das Wasser aus seinem Rock auswringend, schlug George die noch zuckenden Tiere gegen den Stein. Einem Barsch biss er den Kopf ab. Er kaute den Bissen und schluckte einen Teil hinunter, die andere Hälfte ließ er in seinem Brotbeutel verschwinden. Dann zog er aus seinem Seesack beschriebene Blätter hervor und begann, die übrigen Fische darin einzuwickeln. Die Umstehenden standen still, nur das Muschelband um Georges Handgelenk raschelte.
Wer er sei, fragte ein Mann, der nur noch einen einzigen vorderen Zahn in seinem Mund vorzuweisen hatte.
Woher er käme, fragte ein anderer, dessen Gesicht kein Lächeln zu kennen schien.
George aber hätte nicht einmal zu sagen gewusst, ob er sich an einer französischen oder an einer schottischen Küste befand.
Fischmann!, Seemann!, kreischten die Kinder und zeigten mit winzigen schmutzschwarzen Fingern auf Georges tropfende Silhouette.
George stand da und blickte in die neugierigen Gesichter. Sein Gedächtnis aber glich einem von vielen winzigen Spiegeln durchwirkten Draht, der alles aufnahm, doch kaum etwas bei sich hielt. In den drahtenen Spiegeln bewahrt, lagen die Fata des Meeres und der Staub der Wege, die er auf seinen Wanderungen beschritt. Dass seine Vergangenheit im Dunkeln lag, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Seine Tage waren klar wie die Silberlinge, die er am Abend in Essig sauber kochte. Er streifte die Küsten entlang und verweilte, wenn Form und Anzahl der Fische ihm behagten.
Der Einzahnige, der ihn eben noch spöttisch belächelt hatte, verstummte, als George, der den ersten Fisch des Tages, eine schlanke, hochmütige Dorade, zum Verkauf in die Höhe hielt, mit summender Stimme zu fabulieren begann. Der Mann starrte verwundert auf das Blatt, in das die Dorade dabei eingewickelt wurde. Mitten in Georges Fata hinein streckte sich ihm eine Hand aus sonderbar weißem Fleisch entgegen. Von den Fingern der Hand wuchsen bunte Steine, die an glänzenden Ringen steckten. Die Hand war eine Hand aus E isen, über die ein weißer Handschuh gezogen war.
Als George von der Hand aufsah, blendeten ihn zwei kleine Augen, die im Gesicht eines alten Mannes hockten. George zog die Nase kraus und schnüffelte. Der Mann verströmte den Duft von Myrrhe. Der Fisch hing, nicht mehr George und noch nicht dem Käufer gehörend, schwankend in der Luft. Und in der Luft hing auch Georges, mit schuppigem Tuch umwickelte Hand mit dem Muschelband, leise raschelnd wartete sie auf die Münzen.
Es hatte ein dumpfes Raunen unter den Bewohnern gegeben, als der Bischof von Innes aus der Kutsche gestiegen war. Die Leute des Küstenstriches fürchteten den Mann, von dem man sich hinter verborgener Hand zuflüsterte, dass er den Einfällen der Inquisition nicht so abgeneigt war wie die Landeskirche, der er neuerdings diente. Er war in den Aufstand um die katholischen Stuarts und Bonnie Prince Charlie verwickelt gewesen, war aber, nachdem die Franzosen nicht die versprochenen Männer geschickt hatten und die schottischen Bauern niedergeschlachtet worden waren, zum Glauben der britischen Krone hinübergewechselt. Während der Prinz nach Frankreich fliehen konnte, waren die Bauern einer nach dem anderen vom gestrengen König der Exekution übergeben worden, und im Geheimen betete der Bischof für sie.
George summte nichtsahnend seine Fata zu Ende, verbeugte sich, zeichnete den Umriss einer Münze in die Luft und überreichte dem Einzahnigen schnell seine Dorade.
Dann trat er heran, um die andere Hand des Bischofs zu bestau10 nen. In ihr floss gewöhnliches Blut, aber auch sie war mit einem edlen Handschuh bekleidet. George deutete auf sein schuppiges Tuch, das bis zu den Fingerspitzen reichte.
Weiße Hände, sagte er und hielt einen Fisch in die Luft, hätte er gern, doch müsse man arg viele Fische dafür hergeben.
Der Bischof sah George mit zusammengekniffenen Augen an, dann griff er nach dem oberen Ende des ihm dargebotenen Makrelenpäckchens und schüttelte es, bis sich das Blatt aufrollte und der Fisch zurück in Georges Hände fiel. Der Bischof starrte auf das ölige Blatt. Es war dicht beschrieben mit einer Fata und wurde elegant um das Tier gewickelt, um es mit dem Klang der Worte zu berühren. Die meisten konnten das Geschriebene, das George aus seinem Seesack zog, nicht lesen, geschweige denn verstehen, doch gaben sie ihm bereitwillig ihre Münzen, denn sie freuten sich über die wundersame Zugabe des Blattes, auf dem ein zartes, überaus schön anzusehendes Muster hinterlassen worden war.
George verwendete alles, was ihm auf seinen Wanderungen begegnete. Er schrieb auf getrocknete Palmblätter, auf dünne Holzscheite, auf Leinentücher, manchmal sogar auf die eigene Haut. Das Kostbarste, was George besaß, war eine granitene Mine, mit der er alle Zeichen schrieb, die er kannte, und die manchmal wie von selbst ihre Sprünge und Wege über die holprig rauen Flächen unternahm. Die Makrele des Bischofs war eingewickelt in eine Erzählung von Adam, der unter dem Baum im Garten Eden saß. Eva sang ihm aus einem Folianten vor, während sich eine kleine Schlange träge und zutraulich um ihrer beider Fesseln rollte.
Nehmen Sie Herr Gott, sang George mit summender Stimme, diesen Fisch, nehmen Sie diese Fata Herr Gott Herr Gott ich wünsche Ihnen einen schönen guten Tag.
Den Heilbutt, den er daraufhin verlangte, erhielt der Bischof zusammen mit einer dramatischen Schilderung über eine Stadt, in der bunt glänzende Schriftzeichen von den Dächern hingen.
Der blättrigen Hülle eines Barsches zufolge wiederum lebte George lange Zeit im Inneren eines Wals in einer Art Gelehrtenstube. Mitsamt den Büchern spuckte der Meeresfisch ihn an Land, wo er von sonderbar tanzenden Menschen in Empfang genommen wurde.
Die Dorfbewohner lauschten seiner Stimme, die immer wieder unverhofft hinüberwechselte in ein langsames ehrwürdiges Latein, das an Sonntagen von den prächtigen Kanzeln der Kirchenmänner auf sie herabregnete. Während George sprach, zeichnete seine Hand mit anmutigen Bewegungen Gestalten in die Luft. Und wie er da stand und fabulierte, erschien der sonderbare Mensch in dem abgetragenen Rock, dessen singende Augen unter dem schützenden Tuch in den schottischen Himmel leuchteten, den Bewohnern des Dorfes von unerhörter Schönheit. Die Leute klatschten und warfen die Hände empor, denn längst auch hatte der sternhelle Raum, der sich um George drehte, die Umstehenden erfasst.
George bot auf der Mitte des Platzes einen eleganten Kopfstand dar, und die Dorfkinder hüpften um ihn herum. Das Klatschen hörte auf, als die Kinder es ihm nachtaten, ihre Körper den Kampf gegen die Schwerkraft verloren und Kopf auf Stein und Stein auf Kopf aufschlug. Die Sonne hing als stille Scheibe über dem Hafenbecken. Der Bischof schnüffelte an den Blättern. Was die Leute sich im schottischen Landesinneren über den an den Küsten umherstreifenden Fremdling, den alle nur »den Fischmann« nannten, erzählten, schien wahr zu sein. Er tupfte den Schweiß von der Stirn, dennoch verschwamm ihm das Blatt vor den Augen.
Bevor der Bischof aus der Kutsche gestiegen war, hatte er zwischen den Vorhängen hindurch beobachtet, wie der Kerl lange Zeit in völliger Reglosigkeit, doch mit einem zum Schuss gespannten Körper auf den Klippen gesessen hatte, dann aber in einer für das alte bischöfliche Auge schwer zu fassenden Geschwindigkeit in die Tiefe geschnellt war, um mit einem Arm voll zappelnder glänzender Häute ans Ufer zurückzukehren. Dort hatte er gesungen und getanzt und beschriebene Blätter umhergeworfen, und zwischendurch war er ohne jeden Anlass ins Meer gesprungen, um – wie ein Hund! – darin herumzuplanschen.
Obwohl das Geschriebene dem Bischof sprunghaft, unvollständig und allzu farbenfroh erschien, war es doch schön und fromm gepredigt. Einen solch famosen Schreiber konnte er brauchen, denn wann immer er seine Predigten verfasste, sträubte sich die Schrift sonderbar unter seiner Hand. Wenn er auf die Kanzel trat, um die mühsam gefertigten Zeilen aufzusagen, klangen ihm die Worte dumpf und falsch. Vielleicht hielten sich seine Schäfchen deshalb zunehmend fern. Wenn sie Gott doch einmal in seinem Haus aufsuchten, um die Verlängerung ihres elenden Lebens zu erflehen, rochen ihre Mäuler nach Gin und den Huren der vergangenen Nacht. Seit er wieder im Namen der Landeskirche predigte, machte niemand sich mehr die Mühe, ihn um Vergebung zu ersuchen. Er schüttelte sich bei dem Gedanken an die fauligen, stinkenden Gesichter, die ihm sündig aus dem Kirchenschiff entgegenschielten.
Wenn er den Jungen bei sich aufnähme, ließe sich womöglich das im Grunde mildtätige bischöfliche Herz unter Beweis stellen. Es gab Gerüchte, wonach er eine furchterregende Kammer besaß, in die er alle Sünder, die in die Nähe des Pfarrhauses gerieten, ohne Unterschied einsperrte. Gerüchte, die auch dem verehrten Bischof von London zu Ohren gekommen waren. Da Folter neuerdings als unsittlich galt, hatte man ihm den Entzug seines Sprengels angedroht. Ein solch frommer Zögling, dachte er, würde die unsinnigen Gerüchte gewiss zu zerstreuen helfen.
Der Bischof tippelte mit dem steifen Zeigefinger gegen seine Lippen. Es gab Grund genug, den Jungen bei sich aufzunehmen. Doch gab es noch etwas. Eine dunkle, trübe – eine mächtige Vorstellung, die sein haariges Herz erhitzte. Was auch immer unter dem Tuch, das den Kerl umhüllte, an Merkwürdigkeiten hervorkommen mochte, hier hatte er jedenfalls einen prächtigen Schreiber vor sich, einen, der ihm das mühsame Basteln an Worten und Zeilen ersparen konnte. Er steckte die Makrele, den Heilbutt und den Barsch in seine Rocktaschen und winkte den Jungen zu sich heran.
George beugte sich vor, er schob das schützende Fell ein Stück über seine Ohren und sog den Duft der Myrrhe durch die Nase.
Eine warme Mahlzeit, ein warmes Bett, ein Dach über dem Kopf, eine schützende Hand. Dies alles erhalte er, wenn er nur mit ihm käme, um fortan das Schreiben der bischöflichen Predigten zu übernehmen.
Herr Gott, sagte George mit einem freundlichen Nicken, die warme Mahlzeit könne auch kalt sein, das Bett sei nicht vonnöten. Aber ein kleines Dach über dem Kopf, eines, das man überall mit hinnehmen könne, freue ihn sehr, und auch eine schützende Hand habe er sich schon immer gewünscht.
Unter den neugierigen Augen der Dorfbewohner packte George seine Fische zusammen, schnürte den Seesack und bestieg, während die Kinder ihm auf schmutzschwarzen Fingern hinterherpfiffen, die bischöfliche Kutsche.
Sie fuhren über Wege und Straßen, Klippen und Kornfelder wechselten einander ab, und überall glaubte sich George vom Duft des Meeres begleitet.
Als die Kutsche am Abend ein kleines Dorf erreichte und vor dem bischöflichen Anwesen hielt, reckte George augenblicklich die Arme in die Luft und warf sich nieder, um, wie es seine Gewohnheit war, der im Meer untergehenden Sonne die Ehre zu bezeugen. Ein Wasser aber war hier nirgendwo zu sehen.
Der Bischof führte ihn auf geradem Weg in seine Gelehrtenstube. Dort stand der Junge lange still in der Mitte des Raumes. Die großen Augen schienen unter dem Tuch hinauszudrängen. Schließlich trat er auf das Bücherregal zu und näherte sich einem der dort aufgestellten Folianten.
Nie zuvor hatte George so viele Bücher aus der Nähe gesehen, aber es war, als gebe es hier etwas zu erinnern. Gerade noch rechtzeitig fuhr der Bischof mit erhobenem Arm dazwischen, und mit einem Satz entfernte sich die schuppige Gestalt vom Regal. Mit jedem Schritt, den der Bischof auf ihn zutat, trat George zurück. Die Ecken des Zimmers dienten ihm als immer neue Zuflucht, so dass der Bischof schließlich von einem Klaps auf die Hände absah.
War er anfangs noch zuversichtlich, das Geheimnis des Fischmannes durch das Aufgebot seiner Wortkunst, die noch jede Sünde ans Licht hervorgezerrt hatte, enträtseln zu können, so misstraute der Bischof bald entschieden jedem Wort, das der Kerl von sich gab. Im Hinblick auf die Fragen nach Name, Herkunft und Konfession gab ihm die Einbildungskraft die übelsten Einfälle ein. Nach seinem Alter befragt, blieb er gänzlich stumm. Er saß dumm da, kratzte sich, starrte in die Luft oder schickte die Pupille das Regal mit den Folianten entlang.
Zuerst sagte er, er heiße Stuart und sei in einem kleinen Ort namens White an der schottischen Grenze aufgewachsen und von zwei spröden Franziskanermönchen erzogen worden. Einer anderen Lügenmär zufolge war George ein französischer Waisenjunge mit Namen Alban. Seine Kindheit hatte er bei einem stiernackigen Jesuitenbruder im normannischen Caen zugebracht, nachdem dieser ihn in den provenzalischen Wäldern vor einem wilden Eber gerettet hatte. Dann wieder behauptete er, eine aus Flandern ausgewanderte Person zu sein, die auf den Namen Olfert hörte und eine Dominikanerschule in Rotterdam besucht hatte.
Dazu zog George Fata um Fata aus seinem Seesack und rollte sie auf den bischöflichen Dielen aus. Das religiöse Durcheinander, das dieser Mensch ihm servierte, war für den Bischof nicht zu entwirren. Am Ende war George bei der Behauptung angelangt, dass er ein verfolgter irischer Pilger mit Namen Samuel sei. Zu jeder Geschichte schien er das passende Requisit zu besitzen. Mal war es ein aus Holz geschnitzter Vogel, den er sich auf die Schulter setzte, dann eine aus Haselnüssen und Astenden gefertigte Puppe, die er mit lateinischen Worten anredete und zärtlich durch die Luft wirbelte. Seine Hände fuhren durch die Lüfte, wie um unsichtbare Gegenstände zu bewegen. Von einem Kopfstand war der Junge nicht einmal durch Androhung von Schlägen abzuhalten. Als er jedoch so wild Rad zu schlagen begann, dass die Folianten aus den Schränken sprangen, stürzte sich der Bischof in jäher Wut, die ihn der ehrenwerte Bonnie Prince Charlie einst gelehrt hatte, auf ihn und riss Kleid und Tuch von Leib und Händen.
Vor ihm stand ein etwa sechzehn Jahre alter Junge mit blasser, durchscheinender Haut, bedeckt von rötlichem Flaum. Die Gestalt war so schmal und weiß, dass sie an einen mageren Fisch erinnerte. Glatt und flachsfarben war das Haar, die Augen sahen rund und wie Kiesel aus tiefen Höhlen hervor, und darüber formten die Brauen, die zusammengewachsen waren, ein struppiges Dach.
Der Bischof, der Narben erwartet hatte, Entstellungen, vielleicht sogar einen kleinen in der Schulter verborgenen Kopf, wie man ihn bei Gestalten des Londoner Bartholomäus-Marktes zu sehen bekam, kaute enttäuscht auf den Lippen herum.
Bald aber begriff er die merkwürdige Aufmachung. Als das Tageslicht durch das offene Fenster die Haut des Jungen berührte, begann sich diese im Nu mit einer hellen, pickligen Röte zu überziehen, und er flüchtete in eine dunkle Ecke. Der Bischof trat auf ihn zu und streckte eine Hand nach ihm aus, doch er sprang davon und schützte sich mit weit von sich gereckten, in die Luft gespreizten Fingern.
Der Bischof ordnete die Folianten wieder ein und befahl dem Jungen, in die kleine Kammer einzutreten, die in eine Wand der Gelehrtenstube hineingebaut war. Dann wurde die Kammer sorgfältig bis auf Weiteres verriegelt.
Anfänglich trat George auf der Stelle, wechselte von einem Bein auf das andere wie ein Tier in einem zu engen Pflock, um die Kälte aus den nackten Gliedern zu vertreiben. Je mehr Zeit verging, desto langsamer wurden seine Bewegungen. Nur seine Hand vollführte unablässig winzige Kreisbewegungen, er wünschte seine Mine, seine Papiere zurück, die man ihm genommen hatte.
In der zweiten Nacht stand George einfach da. Rücken und Stirn wurden von seinem Gewicht gegen die hölzerne Wand gepresst, Knie und Füße waren schwer. Seine Lunge sog die wenige Luft in sich ein, die durch die Öffnungen der Türränder drang. Splitter bohrten sich aus dem Holz in sein Fleisch, das sich taub von den Knochen löste. Das Dunkel, das in der Kammer herrschte, war ein anderes Dunkel als das Dunkel der Nacht. Ganz gleich, wie schmal und schwach die Sichel des Mondes war, so kannte sie doch Schatten, Stufen, Grau um Grau. Das Dunkel der Kammer aber war ein steinernes Schwarz, in dem es nichts zu sehen gab und nichts zu spüren. George wusste nicht, was ärger war: das Dunkel, das er vor Augen hatte, oder das, was in ihn Einzug hielt, wenn er sie schloss. Er atmete den Geruch von harzigem Kiefernholz und schmeckte seinen Speichel. Doch erst als eine schläfrige Ameise an der Wand vor ihm hinauf- und über sein Gesicht in Richtung Decke kroch, stoben und funkelten die Spiegel in seinem drahtenen Gedächtnis. Er spürte den Geschmack, den ein solcher Körper hinterließ, wenn die Zunge ihn gegen die Zähne schob, der Zahn ihn mahlte und das Innere ausquoll. Um das Tier in seiner Mundhöhle mitsamt der Nacht zu vertreiben, hob er zu fabulieren an.
George sang die Genesis und das Buch Hiob, er sang, bis die Ordnung der Laute ihm entglitt. Er sang Worte, die er nie zuvor gesprochen hatte, und dabei sank er hinab zu einem Grund, an dem es nichts mehr gab, nicht Schmerz, nicht Licht, nur Hunger und Rüben, an denen die schwarze Erde klebte. Immer enger schienen sich die Worte, die er sang, ineinanderzuwinden, so lange, bis sie, ununterscheidbar geworden, einen großen, dunklen Schacht bildeten.
Den Bischof, der nicht leicht zu entsetzen war, durchfuhr es, nachdem er aus seinem Bett geschlichen war und ein Ohr an das Äußere der Kammer gelegt hatte.
Gott/du bist mein GOTT/bist du mein Gott?/Gott du bist mein/Du Gott bist mein/mein Gott bist/Du AMEN klang es hinter Holz hervor, und irgendwann wichen auch die Konturen dieser Worte einem unverständlichen Gesang.
Der Bischof begab sich zurück ins Bett und entschied, die Kerzen brennen zu lassen.
Am Morgen des dritten Tages wurde George aus der Kammer hervorgezogen. Er reckte die Glieder, woraufhin einzelne Knochen einen erstaunten Ton von sich gaben. Gewöhnlichen Schmerz, dachte der Bischof, schien der Kerl nicht zu kennen, jedenfalls gab er keinen Klagelaut von sich. Er befahl den Jungen, als dieser in seine alte Kleidung schlüpfen wollte, in einen einfachen Rock. Das Fensterglas, versprach er, schütze vor Sonnenlicht, so dass die Tücher nicht mehr vonnöten seien. Und während der brave Junge den neuen Rock anlegte, erkundigte sich der Bischof nach dem, was die Kammer an Einsicht gebracht hatte.
Das Einzige, sagte George, an das er sich erinnere, seien Hunger und Furcht.
Dem Bischof schien diese Antwort zu gewöhnlich, doch erlaubte er dem Jungen aus einem Anfall von Mildtätigkeit, ein Frühstück zu sich zu nehmen. Er setzte ihm Brot vom Vortag und dazu ein gekochtes Ei vor, doch behauptete der Kerl, dass er nichts Gekochtes zu sich nehme, sondern Vergorenes bevorzuge, auch rohen Fisch oder rohes Fleisch, und Früchte, Beeren und Knollen. Als ihm daraufhin zwei faulige Rüben auf den Teller gelegt wurden, überzog der Junge sie mit einer dicken Schicht Salz und Pfeffer, dann nahm er einen Bissen, schluckte die eine Hälfte hinunter und spuckte die andere in seinen Brotbeutel.
Vielleicht, dachte der Bischof, während er den kauenden und spuckenden Jungen betrachtete, hatte er schlicht eine jener erbärmlichen Gestalten in Obhut genommen, denen man in der Hauptstadt drei Guineen oder gar ein Stück Silber zusteckte und sich so einbilden konnte, dass die Armen im eigenen Land immer noch besser versorgt würden als anderswo. Einen gewöhnlichen Armen, dachte der Bischof, hatte er vor sich, eine Laus, der vom brennenden Hunger das Hirn versengt worden war. Er zwang sich zur Besinnung. Woher aber, sann er weiter, nahm eine Laus wie diese dann solch erstaunliche Kenntnisse der Heiligen Schrift? Die Armut hatte die geistigen Kräfte des Jungen offenbar nicht gemindert. Latein schrieb er und ebenso flüssig sprach er es, besser als der Bischof selbst.
Als der vom vielen Rätselraten erschöpfte Bischof zur Nachtruhe rief, machte der Kerl neuerlich Ärger. Nicht nur wollte er kein Bett benutzen, er wollte nicht einmal schlafen, sondern, man stelle sich vor, Sonne und Mond anbeten! Aufgeregt zeigte er auf die untergehende Sonne und sagte, dass die Sonne sich in der Nacht in den Mond verwandle. Man habe die Pflicht, die Sonne, die man als Mutter aller Lichter besonders verehren müsse, zu begleiten, denn ohne einen schützenden Blick drohe sie, sich nicht mehr in ihre Taggestalt zurück zu verwandeln. Jemand müsse ein Auge darauf haben, dass die Verwandlung glücke. Dort, wo er herkomme, sei dies jungen Männern vorbehalten.
Ja, wo komme er denn her, zürnte der Bischof.
Das wisse er nicht, antwortete George mit trauriger Stimme. Was er wisse, sei, dass der Morgenstern und der Abendstern ein und dasselbe waren.
Der Bischof, dem die Ohren von dem heidnischen Unsinn rauschten, wollte den unbelehrbaren Wicht schon durch Androhung der engen Kammer zum Schlaf bewegen, als er sich eines Besseren besann. Zu sehr ängstigte ihn die Aussicht auf den schaurigen Gesang. Knurrend suchte er das Bett auf. Georges Bitte, in der Nacht die weißen Handschuhe, die der schlafende Bischof vor dem Zubettgehen abstreifte, einmal selbst anlegen zu dürfen, gab er nach.
Die Sonne sank einen tiefroten Horizont hinab. Als einzig der Mond als silbernes Loch am Himmel hing, wanderte Georges Blick zurück ins Innere der Gelehrtenstube. Mit klopfendem Herzen sah er die Wände hinauf. Er ließ Luft in seine Brust, stand auf, trat vor das Regal, hob die Hand und strich mit den Fingern über die Buchrücken. Bei einem machten die Hände Halt, und die Finger tasteten den Rücken entlang und befühlten die dicht an dicht liegenden Seiten.
Er zog den verstaubten Band hervor, blätterte die erste Seite um und begann zu lesen.
Noch vor dem ersten Satz hörte er einen anderen darin Atem nehmen. Erschrocken sah er vom Buch auf, horchte, die Stimme verschwand. Ein Echo durchflutete den Raum. Sogleich lenkte er den Blick in die begonnene Zeile zurück. Ein Herzschlag hatte dort eingesetzt, sein eigener oder der eines anderen. Die Stimme trug ihn hinauf, hinab, hinein in einen Namen, den er nicht kannte. Den er nicht verstand. Den er noch nie gesehen hatte. Ein Flüstern ging durch ihn hindurch. Das Wort pisperte und rief ihn zu sich, hauchte ihm ins Ohr, umschlang ihn, wärmte ihn und lockte ihn hinein. Den spiegelnden Draht in seinem Kopf durchfuhr ein Licht, das gleißend war. George wusste nicht, wie ihm geschah und was er eigentlich las. Aber er las. Von Komma zu Komma trug es ihn, die Lettern funkelten, nahmen einander an die Hand. George las, und irgendwann sah er durch das Papier hindurch ein Eiland vor sich. Es war von solch unerhörter Schönheit, dass er vom Buch aufsah. Durch das Fenster schimmerte der Mond, und sein Glanz berührte sacht die Träne, die Georges Wange hinunterrollte.
© BERLIN VERLAG
Das Wasser aus seinem Rock auswringend, schlug George die noch zuckenden Tiere gegen den Stein. Einem Barsch biss er den Kopf ab. Er kaute den Bissen und schluckte einen Teil hinunter, die andere Hälfte ließ er in seinem Brotbeutel verschwinden. Dann zog er aus seinem Seesack beschriebene Blätter hervor und begann, die übrigen Fische darin einzuwickeln. Die Umstehenden standen still, nur das Muschelband um Georges Handgelenk raschelte.
Wer er sei, fragte ein Mann, der nur noch einen einzigen vorderen Zahn in seinem Mund vorzuweisen hatte.
Woher er käme, fragte ein anderer, dessen Gesicht kein Lächeln zu kennen schien.
George aber hätte nicht einmal zu sagen gewusst, ob er sich an einer französischen oder an einer schottischen Küste befand.
Fischmann!, Seemann!, kreischten die Kinder und zeigten mit winzigen schmutzschwarzen Fingern auf Georges tropfende Silhouette.
George stand da und blickte in die neugierigen Gesichter. Sein Gedächtnis aber glich einem von vielen winzigen Spiegeln durchwirkten Draht, der alles aufnahm, doch kaum etwas bei sich hielt. In den drahtenen Spiegeln bewahrt, lagen die Fata des Meeres und der Staub der Wege, die er auf seinen Wanderungen beschritt. Dass seine Vergangenheit im Dunkeln lag, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Seine Tage waren klar wie die Silberlinge, die er am Abend in Essig sauber kochte. Er streifte die Küsten entlang und verweilte, wenn Form und Anzahl der Fische ihm behagten.
Der Einzahnige, der ihn eben noch spöttisch belächelt hatte, verstummte, als George, der den ersten Fisch des Tages, eine schlanke, hochmütige Dorade, zum Verkauf in die Höhe hielt, mit summender Stimme zu fabulieren begann. Der Mann starrte verwundert auf das Blatt, in das die Dorade dabei eingewickelt wurde. Mitten in Georges Fata hinein streckte sich ihm eine Hand aus sonderbar weißem Fleisch entgegen. Von den Fingern der Hand wuchsen bunte Steine, die an glänzenden Ringen steckten. Die Hand war eine Hand aus E isen, über die ein weißer Handschuh gezogen war.
Als George von der Hand aufsah, blendeten ihn zwei kleine Augen, die im Gesicht eines alten Mannes hockten. George zog die Nase kraus und schnüffelte. Der Mann verströmte den Duft von Myrrhe. Der Fisch hing, nicht mehr George und noch nicht dem Käufer gehörend, schwankend in der Luft. Und in der Luft hing auch Georges, mit schuppigem Tuch umwickelte Hand mit dem Muschelband, leise raschelnd wartete sie auf die Münzen.
Es hatte ein dumpfes Raunen unter den Bewohnern gegeben, als der Bischof von Innes aus der Kutsche gestiegen war. Die Leute des Küstenstriches fürchteten den Mann, von dem man sich hinter verborgener Hand zuflüsterte, dass er den Einfällen der Inquisition nicht so abgeneigt war wie die Landeskirche, der er neuerdings diente. Er war in den Aufstand um die katholischen Stuarts und Bonnie Prince Charlie verwickelt gewesen, war aber, nachdem die Franzosen nicht die versprochenen Männer geschickt hatten und die schottischen Bauern niedergeschlachtet worden waren, zum Glauben der britischen Krone hinübergewechselt. Während der Prinz nach Frankreich fliehen konnte, waren die Bauern einer nach dem anderen vom gestrengen König der Exekution übergeben worden, und im Geheimen betete der Bischof für sie.
George summte nichtsahnend seine Fata zu Ende, verbeugte sich, zeichnete den Umriss einer Münze in die Luft und überreichte dem Einzahnigen schnell seine Dorade.
Dann trat er heran, um die andere Hand des Bischofs zu bestau10 nen. In ihr floss gewöhnliches Blut, aber auch sie war mit einem edlen Handschuh bekleidet. George deutete auf sein schuppiges Tuch, das bis zu den Fingerspitzen reichte.
Weiße Hände, sagte er und hielt einen Fisch in die Luft, hätte er gern, doch müsse man arg viele Fische dafür hergeben.
Der Bischof sah George mit zusammengekniffenen Augen an, dann griff er nach dem oberen Ende des ihm dargebotenen Makrelenpäckchens und schüttelte es, bis sich das Blatt aufrollte und der Fisch zurück in Georges Hände fiel. Der Bischof starrte auf das ölige Blatt. Es war dicht beschrieben mit einer Fata und wurde elegant um das Tier gewickelt, um es mit dem Klang der Worte zu berühren. Die meisten konnten das Geschriebene, das George aus seinem Seesack zog, nicht lesen, geschweige denn verstehen, doch gaben sie ihm bereitwillig ihre Münzen, denn sie freuten sich über die wundersame Zugabe des Blattes, auf dem ein zartes, überaus schön anzusehendes Muster hinterlassen worden war.
George verwendete alles, was ihm auf seinen Wanderungen begegnete. Er schrieb auf getrocknete Palmblätter, auf dünne Holzscheite, auf Leinentücher, manchmal sogar auf die eigene Haut. Das Kostbarste, was George besaß, war eine granitene Mine, mit der er alle Zeichen schrieb, die er kannte, und die manchmal wie von selbst ihre Sprünge und Wege über die holprig rauen Flächen unternahm. Die Makrele des Bischofs war eingewickelt in eine Erzählung von Adam, der unter dem Baum im Garten Eden saß. Eva sang ihm aus einem Folianten vor, während sich eine kleine Schlange träge und zutraulich um ihrer beider Fesseln rollte.
Nehmen Sie Herr Gott, sang George mit summender Stimme, diesen Fisch, nehmen Sie diese Fata Herr Gott Herr Gott ich wünsche Ihnen einen schönen guten Tag.
Den Heilbutt, den er daraufhin verlangte, erhielt der Bischof zusammen mit einer dramatischen Schilderung über eine Stadt, in der bunt glänzende Schriftzeichen von den Dächern hingen.
Der blättrigen Hülle eines Barsches zufolge wiederum lebte George lange Zeit im Inneren eines Wals in einer Art Gelehrtenstube. Mitsamt den Büchern spuckte der Meeresfisch ihn an Land, wo er von sonderbar tanzenden Menschen in Empfang genommen wurde.
Die Dorfbewohner lauschten seiner Stimme, die immer wieder unverhofft hinüberwechselte in ein langsames ehrwürdiges Latein, das an Sonntagen von den prächtigen Kanzeln der Kirchenmänner auf sie herabregnete. Während George sprach, zeichnete seine Hand mit anmutigen Bewegungen Gestalten in die Luft. Und wie er da stand und fabulierte, erschien der sonderbare Mensch in dem abgetragenen Rock, dessen singende Augen unter dem schützenden Tuch in den schottischen Himmel leuchteten, den Bewohnern des Dorfes von unerhörter Schönheit. Die Leute klatschten und warfen die Hände empor, denn längst auch hatte der sternhelle Raum, der sich um George drehte, die Umstehenden erfasst.
George bot auf der Mitte des Platzes einen eleganten Kopfstand dar, und die Dorfkinder hüpften um ihn herum. Das Klatschen hörte auf, als die Kinder es ihm nachtaten, ihre Körper den Kampf gegen die Schwerkraft verloren und Kopf auf Stein und Stein auf Kopf aufschlug. Die Sonne hing als stille Scheibe über dem Hafenbecken. Der Bischof schnüffelte an den Blättern. Was die Leute sich im schottischen Landesinneren über den an den Küsten umherstreifenden Fremdling, den alle nur »den Fischmann« nannten, erzählten, schien wahr zu sein. Er tupfte den Schweiß von der Stirn, dennoch verschwamm ihm das Blatt vor den Augen.
Bevor der Bischof aus der Kutsche gestiegen war, hatte er zwischen den Vorhängen hindurch beobachtet, wie der Kerl lange Zeit in völliger Reglosigkeit, doch mit einem zum Schuss gespannten Körper auf den Klippen gesessen hatte, dann aber in einer für das alte bischöfliche Auge schwer zu fassenden Geschwindigkeit in die Tiefe geschnellt war, um mit einem Arm voll zappelnder glänzender Häute ans Ufer zurückzukehren. Dort hatte er gesungen und getanzt und beschriebene Blätter umhergeworfen, und zwischendurch war er ohne jeden Anlass ins Meer gesprungen, um – wie ein Hund! – darin herumzuplanschen.
Obwohl das Geschriebene dem Bischof sprunghaft, unvollständig und allzu farbenfroh erschien, war es doch schön und fromm gepredigt. Einen solch famosen Schreiber konnte er brauchen, denn wann immer er seine Predigten verfasste, sträubte sich die Schrift sonderbar unter seiner Hand. Wenn er auf die Kanzel trat, um die mühsam gefertigten Zeilen aufzusagen, klangen ihm die Worte dumpf und falsch. Vielleicht hielten sich seine Schäfchen deshalb zunehmend fern. Wenn sie Gott doch einmal in seinem Haus aufsuchten, um die Verlängerung ihres elenden Lebens zu erflehen, rochen ihre Mäuler nach Gin und den Huren der vergangenen Nacht. Seit er wieder im Namen der Landeskirche predigte, machte niemand sich mehr die Mühe, ihn um Vergebung zu ersuchen. Er schüttelte sich bei dem Gedanken an die fauligen, stinkenden Gesichter, die ihm sündig aus dem Kirchenschiff entgegenschielten.
Wenn er den Jungen bei sich aufnähme, ließe sich womöglich das im Grunde mildtätige bischöfliche Herz unter Beweis stellen. Es gab Gerüchte, wonach er eine furchterregende Kammer besaß, in die er alle Sünder, die in die Nähe des Pfarrhauses gerieten, ohne Unterschied einsperrte. Gerüchte, die auch dem verehrten Bischof von London zu Ohren gekommen waren. Da Folter neuerdings als unsittlich galt, hatte man ihm den Entzug seines Sprengels angedroht. Ein solch frommer Zögling, dachte er, würde die unsinnigen Gerüchte gewiss zu zerstreuen helfen.
Der Bischof tippelte mit dem steifen Zeigefinger gegen seine Lippen. Es gab Grund genug, den Jungen bei sich aufzunehmen. Doch gab es noch etwas. Eine dunkle, trübe – eine mächtige Vorstellung, die sein haariges Herz erhitzte. Was auch immer unter dem Tuch, das den Kerl umhüllte, an Merkwürdigkeiten hervorkommen mochte, hier hatte er jedenfalls einen prächtigen Schreiber vor sich, einen, der ihm das mühsame Basteln an Worten und Zeilen ersparen konnte. Er steckte die Makrele, den Heilbutt und den Barsch in seine Rocktaschen und winkte den Jungen zu sich heran.
George beugte sich vor, er schob das schützende Fell ein Stück über seine Ohren und sog den Duft der Myrrhe durch die Nase.
Eine warme Mahlzeit, ein warmes Bett, ein Dach über dem Kopf, eine schützende Hand. Dies alles erhalte er, wenn er nur mit ihm käme, um fortan das Schreiben der bischöflichen Predigten zu übernehmen.
Herr Gott, sagte George mit einem freundlichen Nicken, die warme Mahlzeit könne auch kalt sein, das Bett sei nicht vonnöten. Aber ein kleines Dach über dem Kopf, eines, das man überall mit hinnehmen könne, freue ihn sehr, und auch eine schützende Hand habe er sich schon immer gewünscht.
Unter den neugierigen Augen der Dorfbewohner packte George seine Fische zusammen, schnürte den Seesack und bestieg, während die Kinder ihm auf schmutzschwarzen Fingern hinterherpfiffen, die bischöfliche Kutsche.
Sie fuhren über Wege und Straßen, Klippen und Kornfelder wechselten einander ab, und überall glaubte sich George vom Duft des Meeres begleitet.
Als die Kutsche am Abend ein kleines Dorf erreichte und vor dem bischöflichen Anwesen hielt, reckte George augenblicklich die Arme in die Luft und warf sich nieder, um, wie es seine Gewohnheit war, der im Meer untergehenden Sonne die Ehre zu bezeugen. Ein Wasser aber war hier nirgendwo zu sehen.
Der Bischof führte ihn auf geradem Weg in seine Gelehrtenstube. Dort stand der Junge lange still in der Mitte des Raumes. Die großen Augen schienen unter dem Tuch hinauszudrängen. Schließlich trat er auf das Bücherregal zu und näherte sich einem der dort aufgestellten Folianten.
Nie zuvor hatte George so viele Bücher aus der Nähe gesehen, aber es war, als gebe es hier etwas zu erinnern. Gerade noch rechtzeitig fuhr der Bischof mit erhobenem Arm dazwischen, und mit einem Satz entfernte sich die schuppige Gestalt vom Regal. Mit jedem Schritt, den der Bischof auf ihn zutat, trat George zurück. Die Ecken des Zimmers dienten ihm als immer neue Zuflucht, so dass der Bischof schließlich von einem Klaps auf die Hände absah.
War er anfangs noch zuversichtlich, das Geheimnis des Fischmannes durch das Aufgebot seiner Wortkunst, die noch jede Sünde ans Licht hervorgezerrt hatte, enträtseln zu können, so misstraute der Bischof bald entschieden jedem Wort, das der Kerl von sich gab. Im Hinblick auf die Fragen nach Name, Herkunft und Konfession gab ihm die Einbildungskraft die übelsten Einfälle ein. Nach seinem Alter befragt, blieb er gänzlich stumm. Er saß dumm da, kratzte sich, starrte in die Luft oder schickte die Pupille das Regal mit den Folianten entlang.
Zuerst sagte er, er heiße Stuart und sei in einem kleinen Ort namens White an der schottischen Grenze aufgewachsen und von zwei spröden Franziskanermönchen erzogen worden. Einer anderen Lügenmär zufolge war George ein französischer Waisenjunge mit Namen Alban. Seine Kindheit hatte er bei einem stiernackigen Jesuitenbruder im normannischen Caen zugebracht, nachdem dieser ihn in den provenzalischen Wäldern vor einem wilden Eber gerettet hatte. Dann wieder behauptete er, eine aus Flandern ausgewanderte Person zu sein, die auf den Namen Olfert hörte und eine Dominikanerschule in Rotterdam besucht hatte.
Dazu zog George Fata um Fata aus seinem Seesack und rollte sie auf den bischöflichen Dielen aus. Das religiöse Durcheinander, das dieser Mensch ihm servierte, war für den Bischof nicht zu entwirren. Am Ende war George bei der Behauptung angelangt, dass er ein verfolgter irischer Pilger mit Namen Samuel sei. Zu jeder Geschichte schien er das passende Requisit zu besitzen. Mal war es ein aus Holz geschnitzter Vogel, den er sich auf die Schulter setzte, dann eine aus Haselnüssen und Astenden gefertigte Puppe, die er mit lateinischen Worten anredete und zärtlich durch die Luft wirbelte. Seine Hände fuhren durch die Lüfte, wie um unsichtbare Gegenstände zu bewegen. Von einem Kopfstand war der Junge nicht einmal durch Androhung von Schlägen abzuhalten. Als er jedoch so wild Rad zu schlagen begann, dass die Folianten aus den Schränken sprangen, stürzte sich der Bischof in jäher Wut, die ihn der ehrenwerte Bonnie Prince Charlie einst gelehrt hatte, auf ihn und riss Kleid und Tuch von Leib und Händen.
Vor ihm stand ein etwa sechzehn Jahre alter Junge mit blasser, durchscheinender Haut, bedeckt von rötlichem Flaum. Die Gestalt war so schmal und weiß, dass sie an einen mageren Fisch erinnerte. Glatt und flachsfarben war das Haar, die Augen sahen rund und wie Kiesel aus tiefen Höhlen hervor, und darüber formten die Brauen, die zusammengewachsen waren, ein struppiges Dach.
Der Bischof, der Narben erwartet hatte, Entstellungen, vielleicht sogar einen kleinen in der Schulter verborgenen Kopf, wie man ihn bei Gestalten des Londoner Bartholomäus-Marktes zu sehen bekam, kaute enttäuscht auf den Lippen herum.
Bald aber begriff er die merkwürdige Aufmachung. Als das Tageslicht durch das offene Fenster die Haut des Jungen berührte, begann sich diese im Nu mit einer hellen, pickligen Röte zu überziehen, und er flüchtete in eine dunkle Ecke. Der Bischof trat auf ihn zu und streckte eine Hand nach ihm aus, doch er sprang davon und schützte sich mit weit von sich gereckten, in die Luft gespreizten Fingern.
Der Bischof ordnete die Folianten wieder ein und befahl dem Jungen, in die kleine Kammer einzutreten, die in eine Wand der Gelehrtenstube hineingebaut war. Dann wurde die Kammer sorgfältig bis auf Weiteres verriegelt.
Anfänglich trat George auf der Stelle, wechselte von einem Bein auf das andere wie ein Tier in einem zu engen Pflock, um die Kälte aus den nackten Gliedern zu vertreiben. Je mehr Zeit verging, desto langsamer wurden seine Bewegungen. Nur seine Hand vollführte unablässig winzige Kreisbewegungen, er wünschte seine Mine, seine Papiere zurück, die man ihm genommen hatte.
In der zweiten Nacht stand George einfach da. Rücken und Stirn wurden von seinem Gewicht gegen die hölzerne Wand gepresst, Knie und Füße waren schwer. Seine Lunge sog die wenige Luft in sich ein, die durch die Öffnungen der Türränder drang. Splitter bohrten sich aus dem Holz in sein Fleisch, das sich taub von den Knochen löste. Das Dunkel, das in der Kammer herrschte, war ein anderes Dunkel als das Dunkel der Nacht. Ganz gleich, wie schmal und schwach die Sichel des Mondes war, so kannte sie doch Schatten, Stufen, Grau um Grau. Das Dunkel der Kammer aber war ein steinernes Schwarz, in dem es nichts zu sehen gab und nichts zu spüren. George wusste nicht, was ärger war: das Dunkel, das er vor Augen hatte, oder das, was in ihn Einzug hielt, wenn er sie schloss. Er atmete den Geruch von harzigem Kiefernholz und schmeckte seinen Speichel. Doch erst als eine schläfrige Ameise an der Wand vor ihm hinauf- und über sein Gesicht in Richtung Decke kroch, stoben und funkelten die Spiegel in seinem drahtenen Gedächtnis. Er spürte den Geschmack, den ein solcher Körper hinterließ, wenn die Zunge ihn gegen die Zähne schob, der Zahn ihn mahlte und das Innere ausquoll. Um das Tier in seiner Mundhöhle mitsamt der Nacht zu vertreiben, hob er zu fabulieren an.
George sang die Genesis und das Buch Hiob, er sang, bis die Ordnung der Laute ihm entglitt. Er sang Worte, die er nie zuvor gesprochen hatte, und dabei sank er hinab zu einem Grund, an dem es nichts mehr gab, nicht Schmerz, nicht Licht, nur Hunger und Rüben, an denen die schwarze Erde klebte. Immer enger schienen sich die Worte, die er sang, ineinanderzuwinden, so lange, bis sie, ununterscheidbar geworden, einen großen, dunklen Schacht bildeten.
Den Bischof, der nicht leicht zu entsetzen war, durchfuhr es, nachdem er aus seinem Bett geschlichen war und ein Ohr an das Äußere der Kammer gelegt hatte.
Gott/du bist mein GOTT/bist du mein Gott?/Gott du bist mein/Du Gott bist mein/mein Gott bist/Du AMEN klang es hinter Holz hervor, und irgendwann wichen auch die Konturen dieser Worte einem unverständlichen Gesang.
Der Bischof begab sich zurück ins Bett und entschied, die Kerzen brennen zu lassen.
Am Morgen des dritten Tages wurde George aus der Kammer hervorgezogen. Er reckte die Glieder, woraufhin einzelne Knochen einen erstaunten Ton von sich gaben. Gewöhnlichen Schmerz, dachte der Bischof, schien der Kerl nicht zu kennen, jedenfalls gab er keinen Klagelaut von sich. Er befahl den Jungen, als dieser in seine alte Kleidung schlüpfen wollte, in einen einfachen Rock. Das Fensterglas, versprach er, schütze vor Sonnenlicht, so dass die Tücher nicht mehr vonnöten seien. Und während der brave Junge den neuen Rock anlegte, erkundigte sich der Bischof nach dem, was die Kammer an Einsicht gebracht hatte.
Das Einzige, sagte George, an das er sich erinnere, seien Hunger und Furcht.
Dem Bischof schien diese Antwort zu gewöhnlich, doch erlaubte er dem Jungen aus einem Anfall von Mildtätigkeit, ein Frühstück zu sich zu nehmen. Er setzte ihm Brot vom Vortag und dazu ein gekochtes Ei vor, doch behauptete der Kerl, dass er nichts Gekochtes zu sich nehme, sondern Vergorenes bevorzuge, auch rohen Fisch oder rohes Fleisch, und Früchte, Beeren und Knollen. Als ihm daraufhin zwei faulige Rüben auf den Teller gelegt wurden, überzog der Junge sie mit einer dicken Schicht Salz und Pfeffer, dann nahm er einen Bissen, schluckte die eine Hälfte hinunter und spuckte die andere in seinen Brotbeutel.
Vielleicht, dachte der Bischof, während er den kauenden und spuckenden Jungen betrachtete, hatte er schlicht eine jener erbärmlichen Gestalten in Obhut genommen, denen man in der Hauptstadt drei Guineen oder gar ein Stück Silber zusteckte und sich so einbilden konnte, dass die Armen im eigenen Land immer noch besser versorgt würden als anderswo. Einen gewöhnlichen Armen, dachte der Bischof, hatte er vor sich, eine Laus, der vom brennenden Hunger das Hirn versengt worden war. Er zwang sich zur Besinnung. Woher aber, sann er weiter, nahm eine Laus wie diese dann solch erstaunliche Kenntnisse der Heiligen Schrift? Die Armut hatte die geistigen Kräfte des Jungen offenbar nicht gemindert. Latein schrieb er und ebenso flüssig sprach er es, besser als der Bischof selbst.
Als der vom vielen Rätselraten erschöpfte Bischof zur Nachtruhe rief, machte der Kerl neuerlich Ärger. Nicht nur wollte er kein Bett benutzen, er wollte nicht einmal schlafen, sondern, man stelle sich vor, Sonne und Mond anbeten! Aufgeregt zeigte er auf die untergehende Sonne und sagte, dass die Sonne sich in der Nacht in den Mond verwandle. Man habe die Pflicht, die Sonne, die man als Mutter aller Lichter besonders verehren müsse, zu begleiten, denn ohne einen schützenden Blick drohe sie, sich nicht mehr in ihre Taggestalt zurück zu verwandeln. Jemand müsse ein Auge darauf haben, dass die Verwandlung glücke. Dort, wo er herkomme, sei dies jungen Männern vorbehalten.
Ja, wo komme er denn her, zürnte der Bischof.
Das wisse er nicht, antwortete George mit trauriger Stimme. Was er wisse, sei, dass der Morgenstern und der Abendstern ein und dasselbe waren.
Der Bischof, dem die Ohren von dem heidnischen Unsinn rauschten, wollte den unbelehrbaren Wicht schon durch Androhung der engen Kammer zum Schlaf bewegen, als er sich eines Besseren besann. Zu sehr ängstigte ihn die Aussicht auf den schaurigen Gesang. Knurrend suchte er das Bett auf. Georges Bitte, in der Nacht die weißen Handschuhe, die der schlafende Bischof vor dem Zubettgehen abstreifte, einmal selbst anlegen zu dürfen, gab er nach.
Die Sonne sank einen tiefroten Horizont hinab. Als einzig der Mond als silbernes Loch am Himmel hing, wanderte Georges Blick zurück ins Innere der Gelehrtenstube. Mit klopfendem Herzen sah er die Wände hinauf. Er ließ Luft in seine Brust, stand auf, trat vor das Regal, hob die Hand und strich mit den Fingern über die Buchrücken. Bei einem machten die Hände Halt, und die Finger tasteten den Rücken entlang und befühlten die dicht an dicht liegenden Seiten.
Er zog den verstaubten Band hervor, blätterte die erste Seite um und begann zu lesen.
Noch vor dem ersten Satz hörte er einen anderen darin Atem nehmen. Erschrocken sah er vom Buch auf, horchte, die Stimme verschwand. Ein Echo durchflutete den Raum. Sogleich lenkte er den Blick in die begonnene Zeile zurück. Ein Herzschlag hatte dort eingesetzt, sein eigener oder der eines anderen. Die Stimme trug ihn hinauf, hinab, hinein in einen Namen, den er nicht kannte. Den er nicht verstand. Den er noch nie gesehen hatte. Ein Flüstern ging durch ihn hindurch. Das Wort pisperte und rief ihn zu sich, hauchte ihm ins Ohr, umschlang ihn, wärmte ihn und lockte ihn hinein. Den spiegelnden Draht in seinem Kopf durchfuhr ein Licht, das gleißend war. George wusste nicht, wie ihm geschah und was er eigentlich las. Aber er las. Von Komma zu Komma trug es ihn, die Lettern funkelten, nahmen einander an die Hand. George las, und irgendwann sah er durch das Papier hindurch ein Eiland vor sich. Es war von solch unerhörter Schönheit, dass er vom Buch aufsah. Durch das Fenster schimmerte der Mond, und sein Glanz berührte sacht die Träne, die Georges Wange hinunterrollte.
© BERLIN VERLAG
... weniger
Autoren-Porträt von Daniela Dröscher
Daniela Dröscher, geboren 1977 in München, wurde für ihr Schreiben mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Bayer 2-Wortspiele-Preis und zuletzt mit dem Koblenzer Literaturpreis 2012. Im Berlin Verlag erschienen bisher die Romane »Die Lichter des Georg Psalmanazar« (2009) und »Pola« (2012) sowie der Erzählband »Gloria«. (2010). Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Daniela Dröscher
- 2009, 1. Auflage, 368 Seiten, Maße: 14,6 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008735
- ISBN-13: 9783827008732
- Erscheinungsdatum: 04.08.2009
Kommentar zu "Die Lichter des George Psalmanazar"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Lichter des George Psalmanazar".
Kommentar verfassen