Die Liebe der Väter
Roman
Die berührende Geschichte eines Vaters, der um seine Tochter kämpft
Peter hat eine Tochter, aber das Sorgerecht für sie hat er nicht. Annika war zwei, als er und ihre Mutter sich trennten. Seitdem gerät jede elterliche Absprache zum Machtkampf um die...
Peter hat eine Tochter, aber das Sorgerecht für sie hat er nicht. Annika war zwei, als er und ihre Mutter sich trennten. Seitdem gerät jede elterliche Absprache zum Machtkampf um die...
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Produktinformationen zu „Die Liebe der Väter “
Klappentext zu „Die Liebe der Väter “
Die berührende Geschichte eines Vaters, der um seine Tochter kämpftPeter hat eine Tochter, aber das Sorgerecht für sie hat er nicht. Annika war zwei, als er und ihre Mutter sich trennten. Seitdem gerät jede elterliche Absprache zum Machtkampf um die inzwischen dreizehnjährige Annika. Ein Silvesterurlaub auf Sylt wird für Vater und Tochter zur entscheidenden Probe auf ihre Liebe.
Die Reise auf die Insel ist für den Verlagsvertreter Peter auch eine Rückkehr in Landschaften der Vergangenheit. Hier hat er die Sommer seiner Kindheit verbracht, als seine Mutter in einer Buchhandlung in Kampen arbeitete. Die Spaziergänge am Strand, die alte Kirche von Keitum, der Leuchtturm rufen Erinnerungen in ihm wach. Zum ersten Mal versucht er, seiner Tochter von sich zu erzählen. Er begegnet Susanne wieder, einer Freundin aus der Schulzeit, mittlerweile verheiratet und Mutter zweier Kinder. Und er muss erleben, dass er auf die Väter der scheinbar heilen Familien, die diese Ferien zusammen verbringen, wie ein Menetekel wirkt.
Es ist die Zeit zwischen den Jahren, die Rauhnächte, in denen Tiere sprechen können und die Tore der Geisterwelt offen stehen. »Die Wilde Jagd« tobt um das Ferienhaus auf der Düne, ein Wintersturm. Und in der Silvesternacht, zusammen mit Freunden im »Sansibar«, steht plötzlich Peters gesamte Existenz auf dem Spiel. Atemlos folgt man seiner Stimme, die erzählt, was ihm geschieht - gegenwärtig, distanzlos, unmittelbar.
Dieser Roman über die Schwierigkeit, heute Vater zu sein, ist Thomas Hettches persönlichstes Buch. Meisterhaft gelingt es ihm, die Atmosphäre des winterlichen Sylt mit einem Familiendrama zu verbinden, in dem es um die eigene Vergangenheit geht, die persönliche Integrität und eine gemeinsame Zukunft.
Die berührende Geschichte eines Vaters, der um seine Tochter kämpft.
Peter hat eine Tochter, aber das Sorgerecht für sie hat er nicht. Annika war zwei, als er und ihre Mutter sich trennten. Seitdem gerät jede elterliche Absprache zum Machtkampf um die inzwischen dreizehnjährige Annika. Ein Silvesterurlaub auf Sylt wird für Vater und Tochter zur entscheidenden Probe auf ihre Liebe.
Die Reise auf die Insel ist für den Verlagsvertreter Peter auch eine Rückkehr in Landschaften der Vergangenheit. Hier hat er die Sommer seiner Kindheit verbracht, als seine Mutter in einer Buchhandlung in Kampen arbeitete. Die Spaziergänge am Strand, die alte Kirche von Keitum, der Leuchtturm rufen Erinnerungen in ihm wach. Zum ersten Mal versucht er, seiner Tochter von sich zu erzählen. Er begegnet Susanne wieder, einer Freundin aus der Schulzeit, mittlerweile verheiratet und Mutter zweier Kinder. Und er muss erleben, dass er auf die Väter der scheinbar heilen Familien, die diese Ferien zusammen verbringen, wie ein Menetekel wirkt.
Es ist die Zeit zwischen den Jahren, die Rauhnächte, in denen Tiere sprechen können und die Tore der Geisterwelt offen stehen. "Die Wilde Jagd" tobt um das Ferienhaus auf der Düne, ein Wintersturm. Und in der Silvesternacht, zusammen mit Freunden im "Sansibar", steht plötzlich Peters gesamte Existenz auf dem Spiel. Atemlos folgt man seiner Stimme, die erzählt, was ihm geschieht - gegenwärtig, distanzlos, unmittelbar.
Dieser Roman über die Schwierigkeit, heute Vater zu sein, ist Thomas Hettches persönlichstes Buch. Meisterhaft gelingt es ihm, die Atmosphäre des winterlichen Sylt mit einem Familiendrama zu verbinden, in dem es um die eigene Vergangenheit geht, die persönliche Integrität und eine gemeinsame Zukunft.
Peter hat eine Tochter, aber das Sorgerecht für sie hat er nicht. Annika war zwei, als er und ihre Mutter sich trennten. Seitdem gerät jede elterliche Absprache zum Machtkampf um die inzwischen dreizehnjährige Annika. Ein Silvesterurlaub auf Sylt wird für Vater und Tochter zur entscheidenden Probe auf ihre Liebe.
Die Reise auf die Insel ist für den Verlagsvertreter Peter auch eine Rückkehr in Landschaften der Vergangenheit. Hier hat er die Sommer seiner Kindheit verbracht, als seine Mutter in einer Buchhandlung in Kampen arbeitete. Die Spaziergänge am Strand, die alte Kirche von Keitum, der Leuchtturm rufen Erinnerungen in ihm wach. Zum ersten Mal versucht er, seiner Tochter von sich zu erzählen. Er begegnet Susanne wieder, einer Freundin aus der Schulzeit, mittlerweile verheiratet und Mutter zweier Kinder. Und er muss erleben, dass er auf die Väter der scheinbar heilen Familien, die diese Ferien zusammen verbringen, wie ein Menetekel wirkt.
Es ist die Zeit zwischen den Jahren, die Rauhnächte, in denen Tiere sprechen können und die Tore der Geisterwelt offen stehen. "Die Wilde Jagd" tobt um das Ferienhaus auf der Düne, ein Wintersturm. Und in der Silvesternacht, zusammen mit Freunden im "Sansibar", steht plötzlich Peters gesamte Existenz auf dem Spiel. Atemlos folgt man seiner Stimme, die erzählt, was ihm geschieht - gegenwärtig, distanzlos, unmittelbar.
Dieser Roman über die Schwierigkeit, heute Vater zu sein, ist Thomas Hettches persönlichstes Buch. Meisterhaft gelingt es ihm, die Atmosphäre des winterlichen Sylt mit einem Familiendrama zu verbinden, in dem es um die eigene Vergangenheit geht, die persönliche Integrität und eine gemeinsame Zukunft.
Lese-Probe zu „Die Liebe der Väter “
Die Liebe der Väter von Thomas Hettche... mehr
Annika heißt Annika nach der Freundin von Pippi Langstrumpf, und immer, wenn ich daran denken muß, ärgert mich wieder, das damals nicht verhindert zu haben. Die Hände am Lenkrad, den Blick auf der Straße, beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie sie sich mit dem kleinen Finger der linken Hand immer wieder dieselbe Strähne hinters Ohr streicht und eine SMS nach der anderen verschickt. Die Daumen zucken pausenlos auf und ab, der schwarze Nagellack auf ihren kindlich kurzen Nägeln ist neu, kinnlang und schwarz seit kurzem auch ihr eigentlich blondes Haar. Wie stolz sie an ihrem zwölften Geburtstag war, endlich nicht mehr auf die Rückbank krabbeln zu müssen - gerade anderthalb Jahre ist das her. Immer war sie jünger als jene Larve aus dem Kinderfernsehen mit Ringelpulli, Topffrisur und dieser quäkigen Stimme, nun ist sie es nicht mehr und wird es nie mehr sein, nun wird ihr jene andere folgen, immer und überallhin, unbarmherzig wie ein gespenstisches Kind. Niemals hätte ich zulassen dürfen, daß sie diesen Namen bekommt.
Sie hat aufgehört zu tippen und starrt hinaus in die Weite, die sich um das Auto dreht. Das Telephon ist ein billiges Samsung, an dem ein goldenes Kettchen mit mehreren Anhängern glitzert. Seit sie in Hamburg zugestiegen ist, haben wir kaum miteinander gesprochen. Braune Felder unter einem porösen weißen Himmel. Kein Schnee zu Weihnachten dieses Jahr, wieder nicht, am wenigsten hier. Fast kann man das Meer schon riechen.
Wo ist das Haus? In Kampen?
Nein, nicht in Kampen. Susanne hat was in Hörnum gefunden.
Doof, sagt sie.
Sie war noch nie auf Sylt. Doch bevor ich mich über ihre Antwort ärgern kann, stellt sie ihre Kinderfrage. Jedesmal, wenn ich sie früher bei ihrer Mutter abholte, und jedesmal bei der letzten Umarmung an der Haustür, wenn ich sie zurückbrachte, fragte sie dasselbe. Und wie früher versucht sie auch jetzt, dabei möglichst beiläufig zu klingen. Werdet ihr euch irgendwann wieder vertragen, du und Mama?
Und wie immer weiß ich nicht, was antworten. Wie sehr ich ihre Mutter hasse? Daß ich nachts noch immer wachliege, so viele Jahre nach unserer Trennung, und mir nach einem Streit am Telephon, einem Brief ihrer Anwältin, einer geplatzten Vereinbarung, noch immer ausmale, wie ihre Gesichtszüge sich verzerren, aus Überraschung zunächst, dann vor Schmerz, und wie meine Schläge sie gegen eine Wand schleudern, wie sie hinfällt, Schreie, Tränen, all das? Annika hat ihre Chucks ausgezogen und stemmt die Füße gegen das Handschuhfach. Sie trägt pinkfarbene Sportsöckchen von Nike, die nicht einmal bis zu den Knöcheln reichen.
Ach Süße, sage ich. Um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen, tue ich so, als konzentrierte ich mich gerade ganz besonders auf den Verkehr. Was zählt, ist doch, daß wir beide dich liebhaben.
Sie starrt hinaus auf die Straße und nickt wortlos, kennt diese Antwort bis zum Überdruß, holt ihren iPod aus der Tasche der schwarz-rot gestreiften Kapuzenjacke und nestelt sich die Kopfhörer an. Mein Geburtstagsgeschenk vom letzten Jahr. Zu teuer, protestierte ihre Mutter, solche Geschenke seien verdeckte Aggressionen ihr gegenüber, der Erziehungsberechtigten. Wenn es drauf ankomme, sei ich für meine Tochter nicht da, das zähle mehr als teure Geschenke. Als mich die Frauenstimme des Customer Services von Apple fragte, ob ich eine Gravur wünsche, verneinte ich zunächst, entschied mich dann aber anders und diktierte: Annika von ihrem Papa in Liebe. Ich hatte Angst, sie werde das Geschenk nicht annehmen, weil ihr dieser Satz, eingefräst ins rosa eloxierte Metall, peinlich sein könnte. Doch er schien ihr sogar zu gefallen, dieser Satz, der so klingt, als wäre alles gut.
Nichts ist gut, denke ich und steuere den Wagen auf die obere Verladefläche des Autozuges. Ich ziehe die Handbremse an, lege den ersten Gang ein und schalte den Motor aus, ohne daß Annika sich beim Musikhören stören ließe. Wie wird es werden? Susanne fand den Einfall großartig, zusammen Silvester zu feiern, doch was, wenn es Annika nicht gefällt? Wenn wir uns nicht verstehen? Wenn sie nach Hause will? Ihr Blick verliert sich im einheitlich grauen Himmel, der weit über das niedrige Land gespannt ist. Manchmal streicht sie sich mit dieser Kindergeste, mit fast zu Fäusten geschlossenen Fingern, das Haar aus dem Gesicht.
Es ist immer wieder seltsam, die vorübergleitende Landschaft betrachten zu können, ohne den Blick nach vorn, ins Rechteck der Frontscheibe, ins Fenster des Autofilms, zurückbiegen zu müssen. Über 40.000 Kilometer fahre ich im Jahr, von Buchhandlung zu Buchhandlung, und als rebellierte der dressierte Körper gegen die ungewohnte Situation, wird mir tatsächlich ein wenig übel, während ich so hinter dem Steuer sitze, die Hände nicht am Lenkrad und den Fuß nicht auf dem Gaspedal, und der Wagen fährt trotzdem, jedoch mit einem Schaukeln, das überhaupt nicht zu einem Auto paßt, sondern eher zu den Kähnen, mit denen man sich in Venedig über den Canal Grande rudern läßt. Dicht an dicht steht man da nebeneinander in den schmalen Nachen, Männer in Kamelhaarmänteln, Aktentaschen in der Hand, alte Frauen mit Kopftüchern, die sie gegen den feuchten Winternebel eng zusammenhalten, müde Kinder mit starrem Blick, alle damit beschäftigt, die rollende Bewegung des schwarzen Kahns auszubalancieren. Ich schließe die Augen. Annika summt leise, mit dem kehligen Brummen Gehörloser, ihre Musik. Seit kurzem kommt es vor, daß ich manche der Lieder mag, die sie hört, auch wenn ich mir die Namen der Bands nicht merken kann und die Teeniegesichter auf den CD-Covern albern finde. Und manchmal erzählt sie jetzt von Dingen, die mich nicht nur interessieren, weil sie es ist, die davon spricht. Ich öffne die Augen wieder. Resthöfe und Pferdeställe, eingezäunte Wiesen, weiß gestrichene Hoftore unter nassem Reet. Zum Meer hin beginnt der Horizont zu flirren und das Grau sich aufzuheben wie Rauch.
Der Zug wird schneller. Als drehten sich die Speichen zweier riesiger Räder, kippen uns von beiden Seiten des Damms dichte Reihen von Holzpflöcken in den Blick, zwischen denen das graubraune Meer steht, als würde es dort in flachen Teichen gesammelt; für einen kurzen Moment sieht man spiegelnde Wasserflächen, dann rutschen sie ins Grau, und schon kippt die nächste Pfahlreihe heran.
Was ist das? fragt Annika, viel zu laut.
Holzbuhnen, zum Deichschutz.
Sie versteht mich nicht, nimmt die Kopfhörer heraus, und ich suche nach Worten. Man pflanzt da Sachen, die den Schlick binden und das Wasser verdrängen, erkläre ich.
Annika nickt. Sieht eklig aus.
Ja.
Mir fällt nichts mehr ein, was ich sagen könnte. Das Wasser ist braun, und kleine braune Vögel stehen darin, die Schnäbel im Naß. Ich finde, es ist eigentlich noch gar nicht so lange her, daß ich sie im Arm hielt und ihr beim Schlafen zusah. Daß ein Lächeln über ihr winziges Gesicht glitt, ungerichtet und zufällig wie eine Wolke über den Himmel. Erstaunt hoben sich die Brauen über den geschlossenen Augen, und ich weiß noch: Ich überlegte, ob sie wohl träume. Ihre Stirn legte sich in Falten, vielleicht zum allerersten Mal, und ich hätte gern gewußt, warum. Dann streckte sie sich im Schlaf, als wäre es das Wichtigste auf der Welt, was es auch war. Der Zug wird langsamer und das Grau des Himmels links vom Deich heller, das Wasser fast ocker. Ich räuspere mich aus Angst, sie könnte meiner Stimme anhören, wie sehr ich sie vermisse, obwohl sie doch da ist. Schau mal, der Himmel!
Sie folgt meinem Blick mit den Augen. Ja.
Der Zug erreicht Morsum, verkrüppelte kleine Kiefern beugen sich hinter den Deich. Der Kirchturm von Keitum und die Uferlinie der Insel auf der Wattseite. Die Pferde auf den Weiden tragen Futterale.
Ist das Sylt?
Ja, das ist Sylt.
Die Wohnblocks von Westerland kommen in Sicht, der Fernmeldeturm, die verklinkerten Ferienreihenhäuschen mit den ausgebauten Dachgauben, in den Fenstern weiße Spitzenvorhänge und überall die gleiche blinkende Weihnachtsdeko. Plakate für Hermès, Louis Vuitton und Bulgari. Der Getränkemarkt neben dem Bahnhof, der Fahrradverleih, Lidl und Edeka. Heute, am ersten Weihnachtsfeiertag, ist alles geschlossen. Der Zug hält, und ich starte den Motor, während sie die Kopfhörer des iPods wieder annestelt.
Was hörst du? frage ich schnell, bevor sie die Wiedergabe startet.
The Kills.
In Hörnum, ganz im Süden der Insel, liegt das Haus wiederum an südlichster Stelle, auf der Düne und direkt neben dem Leuchtturm. Ein hoher weißer Kachelofen fällt mir zuerst auf, als ich zum Abendessen ins Wohnzimmer komme, ein runder klassizistischer Zylinder aus glänzendem Weiß, der bis unter die Decke reicht. Vor der Fensterfront im Erker ein breites Ecksofa, sicher italienisch, bezogen mit hellgrauem Rupfen, auf der Glasplatte des Couchtisches eine flache Schale aus dunklem poliertem Holz, drei hell gesprenkelte Möweneier aus Marmor darin. Eine Holzmöwe im Fenster am Eßtisch. Ich merke, daß ich aufgeregt bin. Achim ist dabei, für das Abendessen einzudecken; Sommersprossen und rote Haare auf den Unterarmen, der Kragen des grünen Lacoste-Shirts aufgestellt. Ich weiß von Susanne, daß sie ihn in der Klinik in Freiburg kennengelernt hat. Der Anfang sei schwierig gewesen, hat sie ziemlich bald erzählt, als wir uns neulich auf der Zwanzigjahrfeier unseres Abiturs wiedertrafen. Die Streitereien hätten sich aber gelegt, als die Kinder gekommen seien. Inzwischen laufe auch die Praxis sehr gut. Orthopäde, etwas älter als wir.
Wie war die Fahrt? fragt er und begrüßt mich mit festem Händedruck.
Gut, sage ich. Ich glaube, Annika braucht noch ein bißchen.
Zwischen der Tür zur Terrasse und dem Durchgang zur Küche als stilechte Weihnachtsdekoration ein Jöölboom. Achim bemerkt meinen Blick. Irgendeine Ahnung, was das sein soll?
Ein Jöölboom. Die Sylter Variante des Weihnachtsbaums. Es gab ja früher keine Bäume auf der Insel, also nahm man einen Besenstiel und behängte ihn mit grünen Zweigen und diesen Salzteigfiguren.
Das ist ein Pferd.
Pferd, Hund und Hahn, ja. Kraft, Treue, Wachsamkeit. Und da unten, am Sockel, stehen Adam und Eva mit der Schlange.
Erst jetzt entdecke ich Susanne in der Küche. Sie ist dabei, irgend etwas kleinzuschneiden, und begrüßt mich, ohne sich umzusehen oder auch nur für einen Moment das rasante Klacken des Messers zu unterbrechen: Schön, daß du da bist! ruft sie über die Schulter.
Ja, sage ich. Weiß nicht, was ich mir erhofft hatte. Doch als wir uns dann umarmen, ist es wie selbstverständlich, und ich erinnere mich wieder daran und spüre es zugleich, wie klein sie ist, umfaßt beinah mit einer Hand, und wie sie sich biegt in meinem Griff. Das Haar kurz jetzt und rot, die Haut um die Augen weich, unverändert aber der Blick, den ich nicht beschreiben könnte. Ihre Lippen leuchten durch vom Damals ins Jetzt. Ich versuche vergeblich zu verstehen, was ich empfinde. Das ist ein ganz wunderbares Haus, sage ich, das du hier entdeckt hast.
Beim Essen sitzt sie neben mir. Irgendeine alte Geschichte aus unserer Schulzeit in Münster läßt uns plötzlich loslachen, und wie Teenager steigern wir uns in das Lachen hinein, bis es uns gar nicht mehr gelingen will, aufzuhören. Dabei legt Susanne ihren Arm um meine Hüfte und lehnt sich lachend an mich. Sofort registriere ich Achims überraschten Blick, dann den von Annika; absurd, wie sie sich ähneln.
Papa? fragt Annika in einem Tonfall, der Susanne ihren Arm sofort wegziehen läßt. Was machen wir, wenn heute eine Sturmflut kommt?
Die zehnjährige Kekke, die Annika von dem Moment an, als wir das Haus betreten haben, nicht mehr von der Seite gewichen ist, sieht die Ältere neben sich erschrocken an. Auch Tim, ihr kleiner Bruder, der im Frühjahr neun wird, findet zum ersten Mal etwas wichtiger als seine Pommes mit Ketchup. Zwischen Tellern, Besteck und Servietten, Wasser- und Weißweingläsern, den Flaschen, der Platte für den Fisch und den Schüsseln mit dem Gemüse und den Pommes stehen der giftgrüne Plastikbecher des Jungen und Kekkes rosa Wendy-Pferd mit dem wasserstoffblonden Schweif und der gelockten Mähne, die dem Tier bis zu den Hufen reicht. Im Fenster hockt die Möwe aus Holz, vor dem Fenster und rund um das Haus, in dem wir die nächsten zwei Wochen verbringen werden, die Nacht.
Annika beachtet die Kinder nicht. Sie wartet, daß unser Lachen aufhört, ihr Blick ganz auf mich gerichtet. Letztes Jahr im Winter hat ein Orkan fünfzig Meter Land weggespült. Ich hab gelesen, das Meer nagt schon am Fundament der Insel.
Was ist ein Fundament? Tim sieht sich hilfesuchend nach seinem Vater um.
Am allerallermeisten ist das Kliff bei Kampen bedroht und hier das Südende, wo wir sind. Wenn wieder eine Sturmflut kommt, könnte die Insel hier sogar überspült werden. Dann ertrinken wir alle.
Papa! Tim hält seine Gabel mit einer aufgespießten Pommes Frites so verkrampft fest, daß sie zittert. Er will jetzt eine Antwort. Achim lächelt mich gequält an. Susanne zieht Kekke, die mit offenem Mund zuhört, auf ihren Schoß.
Annika, was soll das?
Es gibt vier nordfriesische Inseln. Als säße nur ich mit ihr am Tisch, zählt sie auf: Sylt, Föhr, Amrum und Pellworm. Dann gibt es noch Nordstrand und zehn Halligen. Forscher sagen, die Sturmwasserstände werden um bis zu vierzig Zentimeter steigen. Und dazu kommt noch der Anstieg des Meeresspiegels durch die Erwärmung der Erde.
Das hab ich auch gelesen. Das ist aber eine Prognose für das Ende des Jahrhunderts, sage ich genervt. Sie war schon immer so altklug, als kleines Kind schon, als wollte sie mir damit etwas heimzahlen. Oder stimmt das gar nicht und sie will mir nur gefallen? überlege ich und betrachte sie. Auf jeden Fall aber ist es meine Schuld.
Na und! sagt sie jetzt. Es gibt auch heute schon mehr Stürme.
Tim läßt die Gabel mit der aufgespießten Pommes langsam sinken und beginnt genauso langsam zu weinen. Ein weiches, rundes Gesicht, das sich wie in Zeitlupe verzerrt. Hör auf damit, entgegne ich gereizt. Merkst du denn nicht, wie sehr du Tim angst machst?
Eine Weile sagt niemand etwas am Tisch, und Tims Weinen wird langsam leiser. Doch dann kommt Annikas Blick wieder hoch, und ohne die andern zu beachten, stößt sie, mich starr fixierend, hervor: Und wenn es heute nacht geschieht? Und wenn wir alle sterben?
Und wenn wir alle sterben? echot es in mir. Das Meer ist voller Toter. Als ich so alt war wie Annika, hat mich nichts mehr interessiert als deren Geschichte. Die Küste hier, sage ich leise, hat sich immer verändert. Inseln wurden immer vom Blanken Hans ins Meer gespült, neue entstanden. Bei der Groten Mandränke im Mittelalter, als Rungholt unterging, starben Tausende. Ihre Kadaver trieben hier in der See, den Möwen zum Fraß, die auf ihnen landeten, als der Sturm vorüber war, und als erstes die Augen auspickten.
Peter! Susannes empörte Stimme.
Die Flut von 1717 gilt als größte Naturkatastrophe der Neuzeit in Mitteleuropa. Oder der Sturm im Januar 76. Niemals gab es an der Elbe höhere Pegelstände. Überall liegen hier Dörfer unter Wasser, die Stümpfe von Kirchen, verlorene Wiesen und Weiden. Weißt du das denn nicht? Und immer gibt es die Sage von versunkenen Glokken, die an besonderen Tagen läuten, zum Glück oder zum Unglück derer, die sie hören.
Peter! Jetzt hör aber auf!
Annika nickt. Das ist die Wilde Jagd, flüstert sie.
© 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Annika heißt Annika nach der Freundin von Pippi Langstrumpf, und immer, wenn ich daran denken muß, ärgert mich wieder, das damals nicht verhindert zu haben. Die Hände am Lenkrad, den Blick auf der Straße, beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie sie sich mit dem kleinen Finger der linken Hand immer wieder dieselbe Strähne hinters Ohr streicht und eine SMS nach der anderen verschickt. Die Daumen zucken pausenlos auf und ab, der schwarze Nagellack auf ihren kindlich kurzen Nägeln ist neu, kinnlang und schwarz seit kurzem auch ihr eigentlich blondes Haar. Wie stolz sie an ihrem zwölften Geburtstag war, endlich nicht mehr auf die Rückbank krabbeln zu müssen - gerade anderthalb Jahre ist das her. Immer war sie jünger als jene Larve aus dem Kinderfernsehen mit Ringelpulli, Topffrisur und dieser quäkigen Stimme, nun ist sie es nicht mehr und wird es nie mehr sein, nun wird ihr jene andere folgen, immer und überallhin, unbarmherzig wie ein gespenstisches Kind. Niemals hätte ich zulassen dürfen, daß sie diesen Namen bekommt.
Sie hat aufgehört zu tippen und starrt hinaus in die Weite, die sich um das Auto dreht. Das Telephon ist ein billiges Samsung, an dem ein goldenes Kettchen mit mehreren Anhängern glitzert. Seit sie in Hamburg zugestiegen ist, haben wir kaum miteinander gesprochen. Braune Felder unter einem porösen weißen Himmel. Kein Schnee zu Weihnachten dieses Jahr, wieder nicht, am wenigsten hier. Fast kann man das Meer schon riechen.
Wo ist das Haus? In Kampen?
Nein, nicht in Kampen. Susanne hat was in Hörnum gefunden.
Doof, sagt sie.
Sie war noch nie auf Sylt. Doch bevor ich mich über ihre Antwort ärgern kann, stellt sie ihre Kinderfrage. Jedesmal, wenn ich sie früher bei ihrer Mutter abholte, und jedesmal bei der letzten Umarmung an der Haustür, wenn ich sie zurückbrachte, fragte sie dasselbe. Und wie früher versucht sie auch jetzt, dabei möglichst beiläufig zu klingen. Werdet ihr euch irgendwann wieder vertragen, du und Mama?
Und wie immer weiß ich nicht, was antworten. Wie sehr ich ihre Mutter hasse? Daß ich nachts noch immer wachliege, so viele Jahre nach unserer Trennung, und mir nach einem Streit am Telephon, einem Brief ihrer Anwältin, einer geplatzten Vereinbarung, noch immer ausmale, wie ihre Gesichtszüge sich verzerren, aus Überraschung zunächst, dann vor Schmerz, und wie meine Schläge sie gegen eine Wand schleudern, wie sie hinfällt, Schreie, Tränen, all das? Annika hat ihre Chucks ausgezogen und stemmt die Füße gegen das Handschuhfach. Sie trägt pinkfarbene Sportsöckchen von Nike, die nicht einmal bis zu den Knöcheln reichen.
Ach Süße, sage ich. Um ihr nicht ins Gesicht sehen zu müssen, tue ich so, als konzentrierte ich mich gerade ganz besonders auf den Verkehr. Was zählt, ist doch, daß wir beide dich liebhaben.
Sie starrt hinaus auf die Straße und nickt wortlos, kennt diese Antwort bis zum Überdruß, holt ihren iPod aus der Tasche der schwarz-rot gestreiften Kapuzenjacke und nestelt sich die Kopfhörer an. Mein Geburtstagsgeschenk vom letzten Jahr. Zu teuer, protestierte ihre Mutter, solche Geschenke seien verdeckte Aggressionen ihr gegenüber, der Erziehungsberechtigten. Wenn es drauf ankomme, sei ich für meine Tochter nicht da, das zähle mehr als teure Geschenke. Als mich die Frauenstimme des Customer Services von Apple fragte, ob ich eine Gravur wünsche, verneinte ich zunächst, entschied mich dann aber anders und diktierte: Annika von ihrem Papa in Liebe. Ich hatte Angst, sie werde das Geschenk nicht annehmen, weil ihr dieser Satz, eingefräst ins rosa eloxierte Metall, peinlich sein könnte. Doch er schien ihr sogar zu gefallen, dieser Satz, der so klingt, als wäre alles gut.
Nichts ist gut, denke ich und steuere den Wagen auf die obere Verladefläche des Autozuges. Ich ziehe die Handbremse an, lege den ersten Gang ein und schalte den Motor aus, ohne daß Annika sich beim Musikhören stören ließe. Wie wird es werden? Susanne fand den Einfall großartig, zusammen Silvester zu feiern, doch was, wenn es Annika nicht gefällt? Wenn wir uns nicht verstehen? Wenn sie nach Hause will? Ihr Blick verliert sich im einheitlich grauen Himmel, der weit über das niedrige Land gespannt ist. Manchmal streicht sie sich mit dieser Kindergeste, mit fast zu Fäusten geschlossenen Fingern, das Haar aus dem Gesicht.
Es ist immer wieder seltsam, die vorübergleitende Landschaft betrachten zu können, ohne den Blick nach vorn, ins Rechteck der Frontscheibe, ins Fenster des Autofilms, zurückbiegen zu müssen. Über 40.000 Kilometer fahre ich im Jahr, von Buchhandlung zu Buchhandlung, und als rebellierte der dressierte Körper gegen die ungewohnte Situation, wird mir tatsächlich ein wenig übel, während ich so hinter dem Steuer sitze, die Hände nicht am Lenkrad und den Fuß nicht auf dem Gaspedal, und der Wagen fährt trotzdem, jedoch mit einem Schaukeln, das überhaupt nicht zu einem Auto paßt, sondern eher zu den Kähnen, mit denen man sich in Venedig über den Canal Grande rudern läßt. Dicht an dicht steht man da nebeneinander in den schmalen Nachen, Männer in Kamelhaarmänteln, Aktentaschen in der Hand, alte Frauen mit Kopftüchern, die sie gegen den feuchten Winternebel eng zusammenhalten, müde Kinder mit starrem Blick, alle damit beschäftigt, die rollende Bewegung des schwarzen Kahns auszubalancieren. Ich schließe die Augen. Annika summt leise, mit dem kehligen Brummen Gehörloser, ihre Musik. Seit kurzem kommt es vor, daß ich manche der Lieder mag, die sie hört, auch wenn ich mir die Namen der Bands nicht merken kann und die Teeniegesichter auf den CD-Covern albern finde. Und manchmal erzählt sie jetzt von Dingen, die mich nicht nur interessieren, weil sie es ist, die davon spricht. Ich öffne die Augen wieder. Resthöfe und Pferdeställe, eingezäunte Wiesen, weiß gestrichene Hoftore unter nassem Reet. Zum Meer hin beginnt der Horizont zu flirren und das Grau sich aufzuheben wie Rauch.
Der Zug wird schneller. Als drehten sich die Speichen zweier riesiger Räder, kippen uns von beiden Seiten des Damms dichte Reihen von Holzpflöcken in den Blick, zwischen denen das graubraune Meer steht, als würde es dort in flachen Teichen gesammelt; für einen kurzen Moment sieht man spiegelnde Wasserflächen, dann rutschen sie ins Grau, und schon kippt die nächste Pfahlreihe heran.
Was ist das? fragt Annika, viel zu laut.
Holzbuhnen, zum Deichschutz.
Sie versteht mich nicht, nimmt die Kopfhörer heraus, und ich suche nach Worten. Man pflanzt da Sachen, die den Schlick binden und das Wasser verdrängen, erkläre ich.
Annika nickt. Sieht eklig aus.
Ja.
Mir fällt nichts mehr ein, was ich sagen könnte. Das Wasser ist braun, und kleine braune Vögel stehen darin, die Schnäbel im Naß. Ich finde, es ist eigentlich noch gar nicht so lange her, daß ich sie im Arm hielt und ihr beim Schlafen zusah. Daß ein Lächeln über ihr winziges Gesicht glitt, ungerichtet und zufällig wie eine Wolke über den Himmel. Erstaunt hoben sich die Brauen über den geschlossenen Augen, und ich weiß noch: Ich überlegte, ob sie wohl träume. Ihre Stirn legte sich in Falten, vielleicht zum allerersten Mal, und ich hätte gern gewußt, warum. Dann streckte sie sich im Schlaf, als wäre es das Wichtigste auf der Welt, was es auch war. Der Zug wird langsamer und das Grau des Himmels links vom Deich heller, das Wasser fast ocker. Ich räuspere mich aus Angst, sie könnte meiner Stimme anhören, wie sehr ich sie vermisse, obwohl sie doch da ist. Schau mal, der Himmel!
Sie folgt meinem Blick mit den Augen. Ja.
Der Zug erreicht Morsum, verkrüppelte kleine Kiefern beugen sich hinter den Deich. Der Kirchturm von Keitum und die Uferlinie der Insel auf der Wattseite. Die Pferde auf den Weiden tragen Futterale.
Ist das Sylt?
Ja, das ist Sylt.
Die Wohnblocks von Westerland kommen in Sicht, der Fernmeldeturm, die verklinkerten Ferienreihenhäuschen mit den ausgebauten Dachgauben, in den Fenstern weiße Spitzenvorhänge und überall die gleiche blinkende Weihnachtsdeko. Plakate für Hermès, Louis Vuitton und Bulgari. Der Getränkemarkt neben dem Bahnhof, der Fahrradverleih, Lidl und Edeka. Heute, am ersten Weihnachtsfeiertag, ist alles geschlossen. Der Zug hält, und ich starte den Motor, während sie die Kopfhörer des iPods wieder annestelt.
Was hörst du? frage ich schnell, bevor sie die Wiedergabe startet.
The Kills.
In Hörnum, ganz im Süden der Insel, liegt das Haus wiederum an südlichster Stelle, auf der Düne und direkt neben dem Leuchtturm. Ein hoher weißer Kachelofen fällt mir zuerst auf, als ich zum Abendessen ins Wohnzimmer komme, ein runder klassizistischer Zylinder aus glänzendem Weiß, der bis unter die Decke reicht. Vor der Fensterfront im Erker ein breites Ecksofa, sicher italienisch, bezogen mit hellgrauem Rupfen, auf der Glasplatte des Couchtisches eine flache Schale aus dunklem poliertem Holz, drei hell gesprenkelte Möweneier aus Marmor darin. Eine Holzmöwe im Fenster am Eßtisch. Ich merke, daß ich aufgeregt bin. Achim ist dabei, für das Abendessen einzudecken; Sommersprossen und rote Haare auf den Unterarmen, der Kragen des grünen Lacoste-Shirts aufgestellt. Ich weiß von Susanne, daß sie ihn in der Klinik in Freiburg kennengelernt hat. Der Anfang sei schwierig gewesen, hat sie ziemlich bald erzählt, als wir uns neulich auf der Zwanzigjahrfeier unseres Abiturs wiedertrafen. Die Streitereien hätten sich aber gelegt, als die Kinder gekommen seien. Inzwischen laufe auch die Praxis sehr gut. Orthopäde, etwas älter als wir.
Wie war die Fahrt? fragt er und begrüßt mich mit festem Händedruck.
Gut, sage ich. Ich glaube, Annika braucht noch ein bißchen.
Zwischen der Tür zur Terrasse und dem Durchgang zur Küche als stilechte Weihnachtsdekoration ein Jöölboom. Achim bemerkt meinen Blick. Irgendeine Ahnung, was das sein soll?
Ein Jöölboom. Die Sylter Variante des Weihnachtsbaums. Es gab ja früher keine Bäume auf der Insel, also nahm man einen Besenstiel und behängte ihn mit grünen Zweigen und diesen Salzteigfiguren.
Das ist ein Pferd.
Pferd, Hund und Hahn, ja. Kraft, Treue, Wachsamkeit. Und da unten, am Sockel, stehen Adam und Eva mit der Schlange.
Erst jetzt entdecke ich Susanne in der Küche. Sie ist dabei, irgend etwas kleinzuschneiden, und begrüßt mich, ohne sich umzusehen oder auch nur für einen Moment das rasante Klacken des Messers zu unterbrechen: Schön, daß du da bist! ruft sie über die Schulter.
Ja, sage ich. Weiß nicht, was ich mir erhofft hatte. Doch als wir uns dann umarmen, ist es wie selbstverständlich, und ich erinnere mich wieder daran und spüre es zugleich, wie klein sie ist, umfaßt beinah mit einer Hand, und wie sie sich biegt in meinem Griff. Das Haar kurz jetzt und rot, die Haut um die Augen weich, unverändert aber der Blick, den ich nicht beschreiben könnte. Ihre Lippen leuchten durch vom Damals ins Jetzt. Ich versuche vergeblich zu verstehen, was ich empfinde. Das ist ein ganz wunderbares Haus, sage ich, das du hier entdeckt hast.
Beim Essen sitzt sie neben mir. Irgendeine alte Geschichte aus unserer Schulzeit in Münster läßt uns plötzlich loslachen, und wie Teenager steigern wir uns in das Lachen hinein, bis es uns gar nicht mehr gelingen will, aufzuhören. Dabei legt Susanne ihren Arm um meine Hüfte und lehnt sich lachend an mich. Sofort registriere ich Achims überraschten Blick, dann den von Annika; absurd, wie sie sich ähneln.
Papa? fragt Annika in einem Tonfall, der Susanne ihren Arm sofort wegziehen läßt. Was machen wir, wenn heute eine Sturmflut kommt?
Die zehnjährige Kekke, die Annika von dem Moment an, als wir das Haus betreten haben, nicht mehr von der Seite gewichen ist, sieht die Ältere neben sich erschrocken an. Auch Tim, ihr kleiner Bruder, der im Frühjahr neun wird, findet zum ersten Mal etwas wichtiger als seine Pommes mit Ketchup. Zwischen Tellern, Besteck und Servietten, Wasser- und Weißweingläsern, den Flaschen, der Platte für den Fisch und den Schüsseln mit dem Gemüse und den Pommes stehen der giftgrüne Plastikbecher des Jungen und Kekkes rosa Wendy-Pferd mit dem wasserstoffblonden Schweif und der gelockten Mähne, die dem Tier bis zu den Hufen reicht. Im Fenster hockt die Möwe aus Holz, vor dem Fenster und rund um das Haus, in dem wir die nächsten zwei Wochen verbringen werden, die Nacht.
Annika beachtet die Kinder nicht. Sie wartet, daß unser Lachen aufhört, ihr Blick ganz auf mich gerichtet. Letztes Jahr im Winter hat ein Orkan fünfzig Meter Land weggespült. Ich hab gelesen, das Meer nagt schon am Fundament der Insel.
Was ist ein Fundament? Tim sieht sich hilfesuchend nach seinem Vater um.
Am allerallermeisten ist das Kliff bei Kampen bedroht und hier das Südende, wo wir sind. Wenn wieder eine Sturmflut kommt, könnte die Insel hier sogar überspült werden. Dann ertrinken wir alle.
Papa! Tim hält seine Gabel mit einer aufgespießten Pommes Frites so verkrampft fest, daß sie zittert. Er will jetzt eine Antwort. Achim lächelt mich gequält an. Susanne zieht Kekke, die mit offenem Mund zuhört, auf ihren Schoß.
Annika, was soll das?
Es gibt vier nordfriesische Inseln. Als säße nur ich mit ihr am Tisch, zählt sie auf: Sylt, Föhr, Amrum und Pellworm. Dann gibt es noch Nordstrand und zehn Halligen. Forscher sagen, die Sturmwasserstände werden um bis zu vierzig Zentimeter steigen. Und dazu kommt noch der Anstieg des Meeresspiegels durch die Erwärmung der Erde.
Das hab ich auch gelesen. Das ist aber eine Prognose für das Ende des Jahrhunderts, sage ich genervt. Sie war schon immer so altklug, als kleines Kind schon, als wollte sie mir damit etwas heimzahlen. Oder stimmt das gar nicht und sie will mir nur gefallen? überlege ich und betrachte sie. Auf jeden Fall aber ist es meine Schuld.
Na und! sagt sie jetzt. Es gibt auch heute schon mehr Stürme.
Tim läßt die Gabel mit der aufgespießten Pommes langsam sinken und beginnt genauso langsam zu weinen. Ein weiches, rundes Gesicht, das sich wie in Zeitlupe verzerrt. Hör auf damit, entgegne ich gereizt. Merkst du denn nicht, wie sehr du Tim angst machst?
Eine Weile sagt niemand etwas am Tisch, und Tims Weinen wird langsam leiser. Doch dann kommt Annikas Blick wieder hoch, und ohne die andern zu beachten, stößt sie, mich starr fixierend, hervor: Und wenn es heute nacht geschieht? Und wenn wir alle sterben?
Und wenn wir alle sterben? echot es in mir. Das Meer ist voller Toter. Als ich so alt war wie Annika, hat mich nichts mehr interessiert als deren Geschichte. Die Küste hier, sage ich leise, hat sich immer verändert. Inseln wurden immer vom Blanken Hans ins Meer gespült, neue entstanden. Bei der Groten Mandränke im Mittelalter, als Rungholt unterging, starben Tausende. Ihre Kadaver trieben hier in der See, den Möwen zum Fraß, die auf ihnen landeten, als der Sturm vorüber war, und als erstes die Augen auspickten.
Peter! Susannes empörte Stimme.
Die Flut von 1717 gilt als größte Naturkatastrophe der Neuzeit in Mitteleuropa. Oder der Sturm im Januar 76. Niemals gab es an der Elbe höhere Pegelstände. Überall liegen hier Dörfer unter Wasser, die Stümpfe von Kirchen, verlorene Wiesen und Weiden. Weißt du das denn nicht? Und immer gibt es die Sage von versunkenen Glokken, die an besonderen Tagen läuten, zum Glück oder zum Unglück derer, die sie hören.
Peter! Jetzt hör aber auf!
Annika nickt. Das ist die Wilde Jagd, flüstert sie.
© 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Thomas Hettche
Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Hettche
- 2010, 6. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462041878
- ISBN-13: 9783462041873
- Erscheinungsdatum: 16.08.2010
Rezension zu „Die Liebe der Väter “
»Thomas Hettche hat das Buch einer leisen Verzweiflung geschrieben, böse traurig, abschiednehmend. Ein Buch, das jenseits aller Gesetzessprüche wahr bleibt.« Volker Weidermann FAS
Pressezitat
»Thomas Hettche hat das Buch einer leisen Verzweiflung geschrieben, böse traurig, abschiednehmend. Ein Buch, das jenseits aller Gesetzessprüche wahr bleibt.« Volker Weidermann FAS
Kommentar zu "Die Liebe der Väter"
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