D'Arachart, N: Muse des Mörders
Ein Serienmörder im Wien des Jahres 2011. Er tötet nachts mit einem Dolch und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Chefinspektor Dominik Greve entdeckt, dass jedes Opfer ein wertvolles Schmuckstück aus der Fertigung eines Wiener Nobeljuweliers besaß....
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „D'Arachart, N: Muse des Mörders “
Ein Serienmörder im Wien des Jahres 2011. Er tötet nachts mit einem Dolch und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Chefinspektor Dominik Greve entdeckt, dass jedes Opfer ein wertvolles Schmuckstück aus der Fertigung eines Wiener Nobeljuweliers besaß. Da tritt die alternde Schriftstellerin Madeleine Scuderi auf den Plan. Durch eine missverständliche Aussage gegenüber einer Tageszeitung betrachtete sie der Täter fortan als seine Vertraute und Muse. Sie beschließt, die Morde auf eigene Faust zu klären, und setzt sich dabei einer schrecklichen Gefahr aus. Ein moderner Thriller, wie er spannender nicht sein könnte, mit der literarischen Tiefe E.T.A. Hoffmanns.
Klappentext zu „D'Arachart, N: Muse des Mörders “
Ein Serienmörder im Wien des Jahres 2011. Er tötet nachts mit einem Dolch und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Chefinspektor Dominik Greve entdeckt, dass jedes Opfer ein wertvolles Schmuckstück aus der Fertigung eines Wiener Nobeljuweliers besaß. Da tritt die alternde Schriftstellerin Madeleine Scuderi auf den Plan. Durch eine missverständliche Aussage gegenüber einer Tageszeitung betrachtet sie der Täter fortan als seine Vertraute und Muse. Sie beschließt, die Morde auf eigene Faust zu klären, und setzt sich dabei einer schrecklichen Gefahr aus. Ein moderner Thriller, wie er spannender nicht sein könnte, mit der literarischen Tiefe E.T.A. Hoffmanns.
Lese-Probe zu „D'Arachart, N: Muse des Mörders “
Die Muse des Mörders von Nadine D'Arachart und Sarah Wedler1
... mehr
Die Hitze war unerträglich und sein Hemd klebte binnen weniger Sekunden an seinem Körper. Staubflocken wirbelten durch die Gänge des Kellergewölbes und mit jedem Schritt, den Dominik Greve vorwärts tat, wurde der Geruch von Weihrauch, vermischt mit dem süßlichen Duft von Flieder und Verwesung, stärker.
Er wusste, dass es falsch war, allein herzukommen, doch sein Ehrgeiz hatte ihn leichtsinnig werden lassen. Instinktiv schloss er die Hand fester um die Glock 17 und schlich weiter durch die Schwärze, bis er ein Geräusch vernahm. Er presste sich gegen die Wand, starrte den Gang hinunter und lauschte. Unter das Heulen des Windes und das Scharren der Taubenkrallen auf den Fenstervorsprüngen mischte sich jetzt eine leise Melodie. Ihr Klang war ähnlich wie die Töne aus der Blockflöte seiner Tochter, nur heller und klarer. Ein Adrenalinschub ließ sein Herz schneller schlagen, als er vor sich das Flackern von Kerzen entdeckte. Sie war hier und er war nur noch wenige Meter davon entfernt, dem Spuk endlich ein Ende zu machen.
Als er weiterging, hatte er das Gefühl, anstatt über den feuchten Steinboden über Watte zu laufen. Obwohl er sich trotz seiner Körpergröße nahezu lautlos bewegte, fürchtete er, dass sie ihn hören und die Flucht ergreifen würde. In dem Labyrinth aus Fluren und Räumen würde sie ihm zweifellos entkommen, und das konnte er nicht riskieren. Er hatte fast zwei Jahre auf diese Chance gewartet.
Das Kerzenlicht vor ihm wurde heller und der Fäulnisgeruch steigerte sich so stark, dass Dominik die Luft anhielt, um sich nicht zu übergeben. Sie musste sich hinter der nächsten Biegung befinden. Er entschied sich gegen das Überraschungsmoment, spähte um die Ecke und wäre beinahe schreiend zurückgeprallt. Von bunt gefärbten Flüssigkeiten in gläsernen Fläschchen umgeben, saß Catharina Vecina auf dem Boden. In der einen Hand hielt sie eine Flöte, auf der sie immer wieder die gleiche Melodie spielte, in der anderen den Leichnam eines Babys. Ehe Dominik reagieren konnte, nahm sie das Instrument von den Lippen und sah ihn an. Der Blick aus ihren grauen Augen schien sich direkt in ihn zu bohren, auch wenn er sicher war, dass sie ihn im Schatten der Wände nicht erkennen konnte.
»Ich wusste, dass du kommen würdest. Margaretha hat so viel von dir erzählt.« Die heisere Stimme passte zu ihrem runzeligen Äußeren, das Dominik erstaunte. Er wusste, dass sie kaum älter als vierzig sein konnte.
Er trat vor und richtete die Glock auf ihre mit Ketten behängte Brust.
»Sie sind verhaftet. Legen Sie alles aus den Händen und stehen Sie auf.«
Vecina verzog den Mund zu einem Lächeln und platzierte die Flöte übertrieben langsam auf dem Boden. Sie hauchte dem Leichnam einen Kuss auf die Stirn und bettete ihn auf einen Haufen aus bestickten Tüchern. Die Behutsamkeit, mit der sie das tat, machte ihm den Grad ihrer Geistesgestörtheit nur umso deutlicher.
Dominik spürte die Gefahr, die von der dürren Frau ausging, und behielt jeden ihrer Handgriffe genau im Auge, um im Notfall sofort reagieren zu können. Vecina erhob sich, wobei ihr Blick erneut auf das Baby fiel.
»Es war zu schwach, um zu überleben, und hätte seine Mutter mit in den Tod gerissen«, sagte sie, während sie über die Giftfläschchen hinwegstieg. »Wusstest du, welch heilende Wirkung dem Blut eines Säuglings zugesprochen wird? Es heilt die Seele, Dominik. Jede Seele.«
»Ihre Hände. Ausstrecken!« Dominik würde sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Er vermied es, das Baby anzusehen, und konzentrierte seinen Blick auf die Arme der Hexe.
Als er ihr die Handschellen anlegte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, sonst nichts.
2
Madeleine merkte erst, dass sie wach war, als sie schon aufrecht im Bett saß. Ihr Atem ging stoßweise und sie blickte sich reflexartig im Schlafzimmer um. Von draußen erhellte Mond licht den Raum und sie konnte die Silhouette des Kleiderschranks ausmachen. In seiner Tür spiegelte sich ihr schmaler Umriss. Sie erkannte ihren Nachttisch, den spanischen Paravent und die Gardinen, die herabhingen wie tote Gespenster. Doch sie fand nichts, das das Geräusch erklärte, das sie geweckt hatte.
Entschlossen schob sie die Decke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ihre Füße den kalten Parkettboden berührten. Mit einem Stöhnen stand sie auf, ohne Licht zu machen, und durchquerte den Raum. Sie öffnete die Tür und sah in den Flur. Zu ihrer Linken befanden sich ihr Arbeitszimmer, das Bad und Lucys Zimmer. Aus keinem der Räume drang ein Laut. Rechts führte eine Eichenholztreppe hinab in die Diele, doch auch auf dieser Seite war alles still. Ratlos wandte sie sich wieder dem Schlafzimmer zu. Das Geräusch hatte geklungen, als wäre jemand mit einer Gabel über einen Teller gefahren. Alle Härchen an ihrem Körper hatten sich aufgestellt. Es gab jedoch nichts hier im Raum, das dieses Kratzen verursacht haben konnte.
Sie tappte zurück zum Bett und wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie es erneut hörte. Schnell drehte sie den Kopf zum Fenster. Es war eindeutig von dort gekommen. Zögernd machte sie ein paar Schritte auf das Rechteck aus silbrigem Licht zu und spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Es gab keine Feuerleiter an ihrem Haus und nicht einmal einen Baum in erreichbarer Nähe, an dem jemand hätte heraufklettern können. Was kratzte nachts an ihrem Fenster, wenn nicht ein Betrunkener, der sich einen Scherz erlaubte, oder eine streunende Katze, die sich verlaufen hatte? Sie zwang sich zur Ruhe, packte mit beiden Händen die Gardinen, zog sie zur Seite und sah hinaus.
Der kleine, mit Kopfsteinpflaster bedeckte Platz lag völlig still unter ihr. Die Bar, die sich über die rechte Seite erstreckte, hatte geschlossen und auch in den Nachbarhäusern brannte nirgends Licht. Ein Blick auf den Digitalwecker neben ihrem Bett bestätigte ihr, dass es bereits nach drei war. Die Geisterstunde war lange vorbei. Sie horchte auf ihren Herzschlag, der sich langsam wieder beruhigte, dann gab sie sich einen Ruck und öffnete das Fenster.
Was sie sah, ließ sie mit einem Schrei zurückweichen. Ein Teil von ihr brüllte sie an, einfach das Fenster zu schließen, doch sie war wie gelähmt. Jemand hing an der Fassade ihres Hauses und krallte seine knochigen Finger in den Efeu. Sie wagte nicht, einen Schritt nach vorn zu machen, doch wer auch immer es war, hatte sie längst bemerkt. Eine Hand löste sich aus dem Grün und streckte sich ihr entgegen. Die Finger wirkten zu lang und zu dünn, die Haut war totenbleich, fast grau. Die Hand reckte sich noch ein Stückchen weiter in ihr Schlafzimmer. Für einen Moment glaubte Madeleine, dass es der Tod persönlich war, der sie hinaus in die windstille Septembernacht zerren wollte, dann verlor die andere Hand den Halt.
Ihr war es, als hörte sie ein Flehen. Offensichtlich brauchte jemand Hilfe. Sie musste aufhören, so hysterisch zu sein, doch sie wagte immer noch nicht, nach vorn zu treten und ihre eigenen Finger auszustrecken. Ihr rasendes Herz bestärkte sie in ihrer Angst. Vielleicht war es ein Verbrecher, ein Verrückter, der an den Ranken hinaufgeklettert war, um ihr etwas anzutun.
Bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, war es zu spät. Die Hände verloren endgültig den Halt. Für einen Moment war es totenstill, dann schlug der Körper mit einem dumpfen Knall und dem Geräusch zerberstender Knochen auf den Granit.
Madeleine schreckte auf und starrte den leuchtenden Monitor an. Der Cursor blinkte hinter dem letzten Absatz, den sie geschrieben hatte, ehe sie eingenickt war. Der Arm, auf dem ihr Kopf geruht hatte, kribbelte und ihre Armbanduhr hatte einen spürbaren Abdruck auf ihrer Wange hinterlassen.
Sie richtete sich ganz auf und atmete durch. Der Albtraum steckte ihr noch in den Knochen und alles in ihrem Arbeitszimmer wirkte düster und fremd. Sie verabscheute diesen Traum. Wann immer ihr das Bild der verzweifelt ausgestreckten Hand im Schlaf erschien, verhieß es nichts Gutes.
Zum ersten Mal hatte der Albtraum sie 1945 heimgesucht. In der Nacht, bevor ihre Eltern in den Trümmern des Philipphofes ums Leben gekommen waren. Ihre Überreste ruhten noch heute dort, zu gefährlich war damals die Bergung aus den zerbombten Mauerresten gewesen. Wer heutzutage den Platz vor der Albertina überquerte, ging wortwörtlich über Leichen. Sie schauderte, denn die Vorstellung trug nicht gerade dazu bei, die unheimliche Spannung zu lösen. Um sich abzulenken, fixierte sie den Text auf dem Monitor ihres Computers und las über die letzten Sätze, die sie vor ihrem Nickerchen aufs digitale Papier gebracht hatte.
Der Wind bauscht ihr Haar auf und verschleiert ihren Blick. Noch immer starrt sie den leeren Gleisen hinterher, auch wenn sie weiß, dass er längst fort ist. Sie hat ihn nicht aufhalten können, doch sie wird jeden Tag auf seine Rückkehr hoffen, jahrzehntelang, wenn sie muss. Die Essenz ihrer Liebe ist
Madeleine nahm die Lesebrille ab und rieb sich die schmerzenden Augen. Es war sinnlos, ihr würde heute Nacht nichts mehr einfallen. Sie konnte sich einfach nicht auf diese Liebesgeschichte einlassen, obwohl sie seit mehr als vierzig Jahren erfolgreich Liebesromane veröffentlichte. Sie blickte auf die Post-its, die den Tiffanyschirm ihrer Schreibtischlampe fast zur Hälfte bedeckten. Die meisten ihrer Romane entstanden aus Notizen, aus denen sie dann im Kopf ein Netz spann, bis es so dicht war, dass ihre Leser sich darin verfingen und erst loskamen, wenn sie die letzte Zeile gelesen hatten.
Heute Nacht war ihr Kopf aber wie leer geblasen und sie konnte sich nicht einmal das Bild der am Bahnhof stehenden Schönheit vergegenwärtigen, während sie die Zeilen las. Ihr Kopfkino hatte geschlossen. Sie wusste, dass es so keinen Sinn machte, weiterzuarbeiten, also schloss sie das Dokument und fuhr den Computer herunter. Zwar mochte sie es nicht, mitten im Satz aufzuhören, doch die einzige Inspirationsquelle, aus der sie im Moment schöpfen konnte, war ein finsterer, hartnäckiger und noch dazu prophetischer Traum.
Es war halb fünf und sie sollte zu Bett gehen. Seit Tagen hatte sie kaum schlafen können, weil sie fürchtete, einen Anruf aus dem Krankenhaus zu verpassen. Vergangenen Sonntag hatte der Arzt sie gewarnt, dass von nun an mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Wenn sie Pech hatte, kam der Anruf genau dann, wenn sie schlief. Lucy hatte ohnehin einen festen Schlaf und würde das Läuten nicht hören. Madeleine wusste, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie zu spät kam. Also war sie die meiste Zeit wach, doch jetzt musste sie vernünftig sein. Sie wusste, was der Traum hatte ankündigen wollen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. Der morgige Tag würde vermutlich sehr hart werden und sie musste ihre Batterien dafür aufladen.
Madeleine stand auf und verzog den Mund, als ein Schmerz durch ihre Wirbelsäule zuckte. Mit steifen Gliedern ging sie zum Fenster, um es zu schließen. Wenn sie arbeitete, stand es meist offen, damit die Geräusche von draußen sie inspirieren konnten. Heute war es aber so ruhig, dass sie das Gefühl hatte, die Stadt sei verwaist. Sie packte den Metallgriff und schob das Fenster zu.
Für einen Moment blieb sie stehen und blickte in die Nacht. Trotz des vertrauten Ausblicks blieb ihr die unheilvolle Atmosphäre nicht verborgen, die sich über die Straßen gelegt hatte. Wie in ihrem Traum waren die vielen Fenster dunkel und sie konnte sich alle möglichen Szenarien ausmalen, die sich auf der leeren Bühne der Stadt abspielen mochten. Die Geschehnisse der letzten Monate hatten gezeigt, dass es keine Abscheulichkeit gab, zu der die Menschen nicht fähig waren.
Madeleine schloss die Gardinen, knöpfte ihre Strickjacke zu und kehrte zum Schreibtisch zurück, um das Licht auszuknipsen. Die Dunkelheit passte zu der Stimmung in ihrem Inneren. Überall war Verfall. Ihr Herz fühlte sich traurig an und sie bedauerte einmal mehr, dass es ihr heute Nacht nicht gelingen wollte, sich in ihren aktuellen Roman zu flüchten, der immerhin ein Happy End haben würde.
Sie verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Für einen Moment stand sie da und horchte in die Stille hinein. Vage vernahm sie Lucys Atemzüge, ihr Hausmädchen schlief offenbar.
Es sprach also nichts dagegen, dass sie sich in der Küche noch einen Tee genehmigte, bevor sie zu Bett ging. Earl Grey mit einem Schuss Rum war seit jeher das Rezept gegen Schlaflosigkeit, welches in ihrer einst großen Familie von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Lucy war der Meinung, dass Menschen in Madeleines Alter dem Alkohol entsagen sollten. Ihr Hausmädchen hatte aber, soweit Madeleine wusste, noch nie Probleme gehabt, nachts Ruhe zu finden. Trotzdem kam sie sich albern vor, als sie wie ein Teenager, der sich über ein elterliches Verbot hinwegsetzt, die Treppe hinunter in die Küche schlich, wo sie einen Kessel mit Wasser aufsetzte.
3
Seine Kollegen hatten eine Weile gebraucht, um das leerstehende Haus im Wald hinter der Höhenstraße zu finden. Jetzt wimmelte es in dem alten Gemäuer von Polizeibeamten und Bediensteten der Spurensicherung, die jeden Winkel durchsuchten und alles mit Rußpulver bestäubten.
Eigentlich hätte Dominik aufatmen können, doch der tote Säugling wollte ihm keine Ruhe lassen. Alle bisher verzeichneten Opfer, die durch Catharina Vecinas Gift ihr Leben hatten lassen müssen, waren Erwachsene gewesen. Das Baby passte nicht zu den anderen Taten der Giftmischerin und ihn beschlich das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Sorgfältig ließ er den Blick durch den Raum wandern. Von der Decke hingen Weidenruten und Traumfänger sowie ein selbst genähtes Etwas, das ihn stark an eine Voodoopuppe erinnerte. Nadeln mit Federn an den Enden steckten im Kopf des Püppchens und die Augen waren genähte Kreuze aus Garn. Schaudernd wandte Dominik sich ab und widmete sich den zahlreichen Flaschen und Kelchen, die auf Regalen verteilt standen. Einige waren beschriftet, aber das Dämmerlicht des Kellers reichte nicht aus, um die Buchstaben zu erkennen. Obwohl der Polizeischeinwerfer sein Bestes tat, um die Szenerie zu erhellen, verstärkte er die gespenstische Stimmung zusätzlich. Staub waberte durch den Raum und die Schatten erschienen durch das grelle Licht noch schwärzer und tiefer als zuvor.
Dominik betrachtete die mit bräunlich-roter Flüssigkeit gefüllten Fläschchen und ein dunkler Verdacht keimte in ihm auf. Mit seinem Handy leuchtete er ein Etikett an, auf dem eine Nummer und ein Datum zu lesen waren. Er erstarrte.
Vecinas Garten war nicht weniger beklemmend als der Rest des Hauses. Weißdorn- und Brombeersträucher, die den verwilderten Rasen umgaben, erschwerten die Arbeit mit den Spürhunden und sorgten für den einen oder anderen schmerz haften Aufschrei seitens der Hundeführer.
Dominik stand am Rand, betrachtete das Szenario und ließ Rauchschwaden aus seiner Zigarette in die Septembernacht steigen. Trotz der milden Luft fror er und die Kälte wurde erbarmungsloser, je mehr er über das nachdachte, was er hier im Garten vermutete.
Zu Beginn seines bisher wichtigsten Falles hatte er Margaretha Brenier, Gabriel Sailer und den Rest ihrer geistesgestörten Anhänger, zu denen auch Catharina Vecina gehörte, bloß für eine Gruppe von Dealern und Drogenköchen gehalten. Bis im Winter des vergangenen Jahres einige Menschen wie durch Geisterhand verstorben waren.
Nach und nach verstanden Dominik und seine Mitarbeiter, welche Bedrohung von Margaretha Brenier und ihrer Giftmischerbande ausging, doch er konnte ihnen weder etwas nachweisen, noch wusste er, wo sie sich aufhielten. Es war, als hätte sich die Erde aufgetan und sie einfach verschluckt.
Während das Team um Dominik jeder noch so kleinen Spur nachging, taten die Forensiker alles, um hinter die Ursache zu kommen, die so viele Menschen das Leben kostete. Obwohl die Symptome auf einen Vergiftungstod hindeuteten, konnte im Körper der Opfer nie Gift nachgewiesen werden. Es war zum Verzweifeln. Jede Spur endete irgendwann in einer Sackgasse und jeder Verdächtige schwieg eisern.
Während die Wiener Kriminalpolizei sich die Zähne an den mutmaßlichen Mördern ausbiss, wähnten sich diejenigen, die hinter all dem steckten, in Sicherheit. Für jede Dosis des Giftes kassierten sie große Summen. Geld, mit dem sie sich noch ein bisschen unsichtbarer machen und noch mehr Unheil anrichten konnten.
Die ungesühnten Toten verfolgten Dominik bis in seine Träume. Er war so besessen von dem Gedanken, Margaretha hinter Gitter zu bringen, dass seine Ehe fast daran zerbrach. Immer mehr mutierte er zum Einzelgänger.
Margaretha und ihr Gefolge verkauften das Gift, ohne auch nur einmal auf frischer Tat ertappt werden zu können. Dominik und seine Kollegen konnten zwar einige Täter schnappen, doch an die Hintermänner kamen sie nicht heran, bis Gabriel Sailer ein Fehler unterlief.
Versehentlich fiel ihm beim Zusammenbrauen der giftigen Flüssigkeiten seine gläserne Schutzmaske hinunter und zerbrach. Binnen weniger Minuten starb er an den Dämpfen seines eigenen Giftes.
Eine Woche später verständigten Nachbarn die Polizei, weil sie einen unangenehmen Geruch wahrgenommen hatten. Sailer wurde tot in seiner Garage gefunden und mit ihm ein Haufen von Schriftstücken, die unter anderem Margarethas Schuld bewiesen.
Durch seine spektakulären Ermittlungserfolge, die Dominik zwar Lob und Ehre eingebracht, ihn aber einen weitaus höheren Preis gekostet hatten, war es der Wiener Polizei gelungen, die Wogen zu glätten. Bis eine weitere Mordserie eingesetzt hatte. Die Ära der Giftmordaffäre war endlich ausgestanden, doch das Zeitalter des Dolchstoßmörders hatte begonnen.
»Inspektor, sehen Sie!«
Die Stimme des Hundeführers riss Dominik aus seinen Gedanken. Er ließ seine bis auf den Filter abgebrannte Zigarette auf die Wiese fallen und trat sie aus.
»Inspektor!« Der junge Mann tätschelte aufgeregt den Kopf seines Spürhundes, der wie von Sinnen in einem Erdloch buddelte. »Sie müssen sich ansehen, was Duffy gefunden hat.«
Dominik konnte es sich lebhaft vorstellen. Er holte noch einmal tief Luft, dann setzte er sich in Bewegung, um den Fund zu begutachten.
4
Marie fröstelte. Die vorbeifahrenden Autos warfen Schatten, die wie Skeletthände aussahen, an die beschmierten Wände. Sie verformten sich und schienen nach ihr zu greifen, wann immer sie den Kopf abwandte. Sobald sie genauer hinsah, verwandelten sie sich zurück zu den Silhouetten der Bäume, die vor dem Abrisshaus standen.
Die Abwesenheit von Licht hatte Marie schon immer beunruhigt. Eigentlich hatte sie sich gar nicht auf diesen Ausflug einlassen wollen, aber ihre Schulfreundin Jasmin hatte hartnäckig darauf bestanden, dass sie mitkam. Ein leerstehendes Haus ohne Wasser und Strom zu Zeiten von Giftmischern und Serienmördern. Marie konnte sich schönere Orte für eine Party an einem Samstagabend vorstellen.
Sie blickte sich um und ließ die Schatten für einen Moment aus den Augen. Jasmin hatte sich mit einem Jungen aus der Schule auf einen der Balkons verzogen. Marie selbst saß mit irgendwelchen Hippies, die sie nicht kannte, auf dem Boden. Zu Musik, die verlangsamt klang, ließen sie einen Joint kreisen.
Zumindest hatte sie geglaubt, dass es nur ein Joint war, bis die Dunkelheit angefangen hatte, aufdringlich zu werden. Normalerweise reagierte sie nicht mit Halluzinationen auf Cannabis, vielleicht hatte jemand Zauberpilze oder etwas Härteres in den Tabak gemischt. Es wäre ihr egal gewesen, wären da nicht diese Schattenhände, die sie unaufhörlich bedrängten.
Ein langhaariger Typ mit Bandana um den Kopf hielt ihr von links den halb abgebrannten Joint ins Sichtfeld. Marie zögerte, dann lehnte sie dankend ab. Ihr Handy zeigte nach drei Uhr an und es verriet ihr noch etwas. Oliver hatte sich noch immer nicht gemeldet. Es wurde Zeit für sie, nach Hause zu gehen.
Begleitet von protestierenden Rufen erhob sie sich aus dem Kreis und hielt nach Jasmin Ausschau, doch der Balkon war mittlerweile leer. Unsicher wankte Marie los, um die vielen Zimmer des Hauses abzusuchen. Immer wieder stieß sie mit den Füßen gegen Flaschen, die laut davonrollten. Die meisten Partygäste hatten sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Sie nach Jasmin zu fragen, wäre aussichtslos gewesen. Es hatte auch keinen Zweck, nach ihr zu rufen, denn die Musik im Abrisshaus war verstörend laut. Die wenigen Gespräche, die noch stattfanden, wurden schreiend geführt und vermischten sich mit dem lustvollen Gestöhne aus den Nachbarzimmern.
Marie kämpfte sich über Scherben und Bierlachen hinweg in den Hausflur. Hier war es leiser und bis auf ein auf dem Treppensims schlafendes Pärchen leer. Die Straßenbeleuchtung vor dem Fenster verdrängte die Schatten und sorgte für ein bisschen Sicht.
Wo wäre sie an Jasmins Stelle hingegangen? Nach oben, in den Keller oder in eine andere leere Wohnung? Es dauerte einen Moment, bis sie ihren eigenen Gedanken folgen konnte. Zweifellos hätte sie sich weder für den Keller noch für die Wohnung entschieden. Oliver und sie liebten die Sterne und hätten den Dachboden gewählt, doch wie sie Jasmin kannte, konnte es für sie nicht anstößig und schmutzig genug sein. Seufzend setzte Marie sich in Bewegung.
Der Gang zum Keller des Hauses war von Schwärze erfüllt und genauso unübersichtlich, wie sie befürchtet hatte. Zö - gernd blieb sie an der Tür zu den Kellerräumen stehen. Wenn doch nur Oliver hier gewesen wäre. Er hätte mit ihr ge meinsam nach Jasmin gesucht und sie dann sicher nach Hause gebracht. Sie schob den Gedanken fort, funktionierte ihr Handy kurzerhand zu einer Taschenlampe um und ging los. Die Kellertür fiel mit einem Knall hinter ihr ins Schloss. Er schrocken fuhr sie herum und starrte schwer atmend in
die Finsternis. Hektisch versuchte sie, den Flur mit dem Licht ihres Handys auszuleuchten. Ihr Herz raste und obwohl sie sich selbst für ihr kindisches Verhalten schämte, konnte sie sich vor Angst nicht rühren. In den Ecken schienen Monster zu lauern, die nur darauf warteten, dass sie einen Fehler beging.
»Marie?«
Gelächter ertönte hinter ihr und sie drehte sich um. Jasmin war aus einem der Räume getreten, nackt bis auf ein übergroßes T-Shirt, das sie sich vor den Körper hielt. Hinter ihr stand der Junge, mit dem sie sich den Abend über vergnügt hatte. Er trug nur Shorts und hatte die Arme um Jasmins Hüften geschlungen.
»Was machst du denn hier unten?«
»Ich wollte ... ich dachte ... Es ist schon spät und ... « Marie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und suchte nach einer Erklärung.
Jasmin winkte ab und lächelte.
»Ich zieh mir nur schnell etwas an, dann bring ich dich zu einem Taxi.«
Die Haustür öffnete sich quietschend. Marie verharrte und lauschte. Es war nichts zu hören. Entweder schlief ihr Vater oder er war in seiner Werkstatt. Trotzdem ging sie lieber auf Nummer sicher und zog die Schuhe aus, um sich in ihr Zimmer zu schleichen. Ihre Tür war nur angelehnt, obwohl sie sich erinnerte, sie vor dem Gehen verschlossen zu haben. Schnell trat sie ein und sperrte hinter sich ab, bevor sie Licht machte. Er durfte ihn nicht gefunden haben!
Marie ließ sich auf die Knie fallen und tastete unter dem Bett nach ihrem Koffer. Er war noch da. Sie atmete auf. Jetzt fehlte nur noch eine Nachricht von Oliver.
Während sie wartete, dass der Laptop hochfuhr, fiel ihr Blick erneut unters Bett. Selbst wenn ihr Vater den Koffer entdeckte, er würde ihr nie zutrauen, dass sie fortgehen wollte. Für ihn war sie noch immer sein kleines Mädchen, unfähig auf eigenen Beinen zu stehen und zu jung für die Liebe. Möglicherweise war sie naiv gewesen, als sie die Beziehung mit Oliver begonnen und geglaubt hatte, ihr Vater würde sich damit arrangieren. Allenfalls hatte sie Enttäuschung, niemals jedoch diese Wut erwartet, mit der er reagiert hatte. Wenn es nach ihm ging, dann sollte sie noch eine Weile Kind bleiben. Er hatte ihr jeden Kontakt zu Oliver verboten und wenn sie abends fortging, musste sie sich regelmäßig melden. Manchmal fragte Marie sich, in welcher Zeit ihr Vater eigentlich lebte. Sie war achtzehn und keine zwölf mehr, er konnte von Glück sagen, dass sie überhaupt noch auf ihn hörte. Das tat sie nur, weil er immer so gut zu ihr gewesen war, weil die Beziehung zwischen ihnen immer etwas Besonderes gewesen war. Sie hatte ihm nicht noch mehr wehtun wollen, sie wusste, wie groß seine Angst war, sie zu verlieren. Sie hatte gehofft, er würde irgendwann zur Vernunft kommen, doch er ließ ihr keine Wahl. Andere Mädchen in ihrem Alter waren längst selbstständig, wohnten allein und niemand redete in ihre Beziehungen hinein. Sie hingegen wurde immer noch behütet wie ein Kind und sollte sich auf die Matura vorbereiten, obwohl sie überhaupt keine Lust hatte, die Schule zu Ende zu machen. Oliver hatte sie mit seiner Abenteuerlust angesteckt.
Der Laptop war hochgefahren und ein grinsender Oliver begrüßte sie auf ihrem Desktop. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn und in seinen Augen lag dieses Glitzern, das ihm eigen war. Das Foto hatte sie vor einigen Monaten im Prater geschossen. Oliver liebte diesen Ort, vor allem nachts, wenn keine Besucher mehr dort waren. Mehrfach hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, um mit ihm gemeinsam den einsamen Park aufzusuchen. Sie waren zwischen den geschlossenen Buden und Fahrgeschäften herumgelaufen und er hatte
ihr Geschichten erzählt, von denen sie die Hälfte nicht glauben wollte. Stets hatten sie einen großen Bogen um das Ponykarussell gemacht. Oliver wusste, wie viel Mitleid sie mit den Tieren hatte.
Marie öffnete den Browser und rief ihre E-Mails ab. Keine Nachricht von Oliver, nur zwei von Jasmin, mit dem Handy von der Party aus verschickt. Sie überflog die Texte, schloss das Programm und trat ans Fenster. Sie starrte nach draußen.
In der Goldschmiede ihres Vaters brannte kein Licht, also schlief er schon. Hoffentlich würde er nicht doch noch aufwachen und merken, dass sie high war. Ihr schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar und gleichzeitig wurde sie wütend. Sie fühlte sich eingesperrt. Eingepfercht wie die Karussellponys, nur dass sie nicht jeden Tag im Kreis laufen und auf das Mitgefühl ihres Besitzers hoffen musste. Marie lachte auf, in ihrem immer noch vernebelten Kopf klang es wie ein Schluchzen. Ihr Besitzer war dann wohl ihr Vater.
...
© 2012 LABOR
Die Hitze war unerträglich und sein Hemd klebte binnen weniger Sekunden an seinem Körper. Staubflocken wirbelten durch die Gänge des Kellergewölbes und mit jedem Schritt, den Dominik Greve vorwärts tat, wurde der Geruch von Weihrauch, vermischt mit dem süßlichen Duft von Flieder und Verwesung, stärker.
Er wusste, dass es falsch war, allein herzukommen, doch sein Ehrgeiz hatte ihn leichtsinnig werden lassen. Instinktiv schloss er die Hand fester um die Glock 17 und schlich weiter durch die Schwärze, bis er ein Geräusch vernahm. Er presste sich gegen die Wand, starrte den Gang hinunter und lauschte. Unter das Heulen des Windes und das Scharren der Taubenkrallen auf den Fenstervorsprüngen mischte sich jetzt eine leise Melodie. Ihr Klang war ähnlich wie die Töne aus der Blockflöte seiner Tochter, nur heller und klarer. Ein Adrenalinschub ließ sein Herz schneller schlagen, als er vor sich das Flackern von Kerzen entdeckte. Sie war hier und er war nur noch wenige Meter davon entfernt, dem Spuk endlich ein Ende zu machen.
Als er weiterging, hatte er das Gefühl, anstatt über den feuchten Steinboden über Watte zu laufen. Obwohl er sich trotz seiner Körpergröße nahezu lautlos bewegte, fürchtete er, dass sie ihn hören und die Flucht ergreifen würde. In dem Labyrinth aus Fluren und Räumen würde sie ihm zweifellos entkommen, und das konnte er nicht riskieren. Er hatte fast zwei Jahre auf diese Chance gewartet.
Das Kerzenlicht vor ihm wurde heller und der Fäulnisgeruch steigerte sich so stark, dass Dominik die Luft anhielt, um sich nicht zu übergeben. Sie musste sich hinter der nächsten Biegung befinden. Er entschied sich gegen das Überraschungsmoment, spähte um die Ecke und wäre beinahe schreiend zurückgeprallt. Von bunt gefärbten Flüssigkeiten in gläsernen Fläschchen umgeben, saß Catharina Vecina auf dem Boden. In der einen Hand hielt sie eine Flöte, auf der sie immer wieder die gleiche Melodie spielte, in der anderen den Leichnam eines Babys. Ehe Dominik reagieren konnte, nahm sie das Instrument von den Lippen und sah ihn an. Der Blick aus ihren grauen Augen schien sich direkt in ihn zu bohren, auch wenn er sicher war, dass sie ihn im Schatten der Wände nicht erkennen konnte.
»Ich wusste, dass du kommen würdest. Margaretha hat so viel von dir erzählt.« Die heisere Stimme passte zu ihrem runzeligen Äußeren, das Dominik erstaunte. Er wusste, dass sie kaum älter als vierzig sein konnte.
Er trat vor und richtete die Glock auf ihre mit Ketten behängte Brust.
»Sie sind verhaftet. Legen Sie alles aus den Händen und stehen Sie auf.«
Vecina verzog den Mund zu einem Lächeln und platzierte die Flöte übertrieben langsam auf dem Boden. Sie hauchte dem Leichnam einen Kuss auf die Stirn und bettete ihn auf einen Haufen aus bestickten Tüchern. Die Behutsamkeit, mit der sie das tat, machte ihm den Grad ihrer Geistesgestörtheit nur umso deutlicher.
Dominik spürte die Gefahr, die von der dürren Frau ausging, und behielt jeden ihrer Handgriffe genau im Auge, um im Notfall sofort reagieren zu können. Vecina erhob sich, wobei ihr Blick erneut auf das Baby fiel.
»Es war zu schwach, um zu überleben, und hätte seine Mutter mit in den Tod gerissen«, sagte sie, während sie über die Giftfläschchen hinwegstieg. »Wusstest du, welch heilende Wirkung dem Blut eines Säuglings zugesprochen wird? Es heilt die Seele, Dominik. Jede Seele.«
»Ihre Hände. Ausstrecken!« Dominik würde sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Er vermied es, das Baby anzusehen, und konzentrierte seinen Blick auf die Arme der Hexe.
Als er ihr die Handschellen anlegte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, sonst nichts.
2
Madeleine merkte erst, dass sie wach war, als sie schon aufrecht im Bett saß. Ihr Atem ging stoßweise und sie blickte sich reflexartig im Schlafzimmer um. Von draußen erhellte Mond licht den Raum und sie konnte die Silhouette des Kleiderschranks ausmachen. In seiner Tür spiegelte sich ihr schmaler Umriss. Sie erkannte ihren Nachttisch, den spanischen Paravent und die Gardinen, die herabhingen wie tote Gespenster. Doch sie fand nichts, das das Geräusch erklärte, das sie geweckt hatte.
Entschlossen schob sie die Decke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ihre Füße den kalten Parkettboden berührten. Mit einem Stöhnen stand sie auf, ohne Licht zu machen, und durchquerte den Raum. Sie öffnete die Tür und sah in den Flur. Zu ihrer Linken befanden sich ihr Arbeitszimmer, das Bad und Lucys Zimmer. Aus keinem der Räume drang ein Laut. Rechts führte eine Eichenholztreppe hinab in die Diele, doch auch auf dieser Seite war alles still. Ratlos wandte sie sich wieder dem Schlafzimmer zu. Das Geräusch hatte geklungen, als wäre jemand mit einer Gabel über einen Teller gefahren. Alle Härchen an ihrem Körper hatten sich aufgestellt. Es gab jedoch nichts hier im Raum, das dieses Kratzen verursacht haben konnte.
Sie tappte zurück zum Bett und wollte sich gerade wieder hinlegen, als sie es erneut hörte. Schnell drehte sie den Kopf zum Fenster. Es war eindeutig von dort gekommen. Zögernd machte sie ein paar Schritte auf das Rechteck aus silbrigem Licht zu und spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Es gab keine Feuerleiter an ihrem Haus und nicht einmal einen Baum in erreichbarer Nähe, an dem jemand hätte heraufklettern können. Was kratzte nachts an ihrem Fenster, wenn nicht ein Betrunkener, der sich einen Scherz erlaubte, oder eine streunende Katze, die sich verlaufen hatte? Sie zwang sich zur Ruhe, packte mit beiden Händen die Gardinen, zog sie zur Seite und sah hinaus.
Der kleine, mit Kopfsteinpflaster bedeckte Platz lag völlig still unter ihr. Die Bar, die sich über die rechte Seite erstreckte, hatte geschlossen und auch in den Nachbarhäusern brannte nirgends Licht. Ein Blick auf den Digitalwecker neben ihrem Bett bestätigte ihr, dass es bereits nach drei war. Die Geisterstunde war lange vorbei. Sie horchte auf ihren Herzschlag, der sich langsam wieder beruhigte, dann gab sie sich einen Ruck und öffnete das Fenster.
Was sie sah, ließ sie mit einem Schrei zurückweichen. Ein Teil von ihr brüllte sie an, einfach das Fenster zu schließen, doch sie war wie gelähmt. Jemand hing an der Fassade ihres Hauses und krallte seine knochigen Finger in den Efeu. Sie wagte nicht, einen Schritt nach vorn zu machen, doch wer auch immer es war, hatte sie längst bemerkt. Eine Hand löste sich aus dem Grün und streckte sich ihr entgegen. Die Finger wirkten zu lang und zu dünn, die Haut war totenbleich, fast grau. Die Hand reckte sich noch ein Stückchen weiter in ihr Schlafzimmer. Für einen Moment glaubte Madeleine, dass es der Tod persönlich war, der sie hinaus in die windstille Septembernacht zerren wollte, dann verlor die andere Hand den Halt.
Ihr war es, als hörte sie ein Flehen. Offensichtlich brauchte jemand Hilfe. Sie musste aufhören, so hysterisch zu sein, doch sie wagte immer noch nicht, nach vorn zu treten und ihre eigenen Finger auszustrecken. Ihr rasendes Herz bestärkte sie in ihrer Angst. Vielleicht war es ein Verbrecher, ein Verrückter, der an den Ranken hinaufgeklettert war, um ihr etwas anzutun.
Bevor sie auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, war es zu spät. Die Hände verloren endgültig den Halt. Für einen Moment war es totenstill, dann schlug der Körper mit einem dumpfen Knall und dem Geräusch zerberstender Knochen auf den Granit.
Madeleine schreckte auf und starrte den leuchtenden Monitor an. Der Cursor blinkte hinter dem letzten Absatz, den sie geschrieben hatte, ehe sie eingenickt war. Der Arm, auf dem ihr Kopf geruht hatte, kribbelte und ihre Armbanduhr hatte einen spürbaren Abdruck auf ihrer Wange hinterlassen.
Sie richtete sich ganz auf und atmete durch. Der Albtraum steckte ihr noch in den Knochen und alles in ihrem Arbeitszimmer wirkte düster und fremd. Sie verabscheute diesen Traum. Wann immer ihr das Bild der verzweifelt ausgestreckten Hand im Schlaf erschien, verhieß es nichts Gutes.
Zum ersten Mal hatte der Albtraum sie 1945 heimgesucht. In der Nacht, bevor ihre Eltern in den Trümmern des Philipphofes ums Leben gekommen waren. Ihre Überreste ruhten noch heute dort, zu gefährlich war damals die Bergung aus den zerbombten Mauerresten gewesen. Wer heutzutage den Platz vor der Albertina überquerte, ging wortwörtlich über Leichen. Sie schauderte, denn die Vorstellung trug nicht gerade dazu bei, die unheimliche Spannung zu lösen. Um sich abzulenken, fixierte sie den Text auf dem Monitor ihres Computers und las über die letzten Sätze, die sie vor ihrem Nickerchen aufs digitale Papier gebracht hatte.
Der Wind bauscht ihr Haar auf und verschleiert ihren Blick. Noch immer starrt sie den leeren Gleisen hinterher, auch wenn sie weiß, dass er längst fort ist. Sie hat ihn nicht aufhalten können, doch sie wird jeden Tag auf seine Rückkehr hoffen, jahrzehntelang, wenn sie muss. Die Essenz ihrer Liebe ist
Madeleine nahm die Lesebrille ab und rieb sich die schmerzenden Augen. Es war sinnlos, ihr würde heute Nacht nichts mehr einfallen. Sie konnte sich einfach nicht auf diese Liebesgeschichte einlassen, obwohl sie seit mehr als vierzig Jahren erfolgreich Liebesromane veröffentlichte. Sie blickte auf die Post-its, die den Tiffanyschirm ihrer Schreibtischlampe fast zur Hälfte bedeckten. Die meisten ihrer Romane entstanden aus Notizen, aus denen sie dann im Kopf ein Netz spann, bis es so dicht war, dass ihre Leser sich darin verfingen und erst loskamen, wenn sie die letzte Zeile gelesen hatten.
Heute Nacht war ihr Kopf aber wie leer geblasen und sie konnte sich nicht einmal das Bild der am Bahnhof stehenden Schönheit vergegenwärtigen, während sie die Zeilen las. Ihr Kopfkino hatte geschlossen. Sie wusste, dass es so keinen Sinn machte, weiterzuarbeiten, also schloss sie das Dokument und fuhr den Computer herunter. Zwar mochte sie es nicht, mitten im Satz aufzuhören, doch die einzige Inspirationsquelle, aus der sie im Moment schöpfen konnte, war ein finsterer, hartnäckiger und noch dazu prophetischer Traum.
Es war halb fünf und sie sollte zu Bett gehen. Seit Tagen hatte sie kaum schlafen können, weil sie fürchtete, einen Anruf aus dem Krankenhaus zu verpassen. Vergangenen Sonntag hatte der Arzt sie gewarnt, dass von nun an mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Wenn sie Pech hatte, kam der Anruf genau dann, wenn sie schlief. Lucy hatte ohnehin einen festen Schlaf und würde das Läuten nicht hören. Madeleine wusste, dass sie es sich nie verzeihen würde, wenn sie zu spät kam. Also war sie die meiste Zeit wach, doch jetzt musste sie vernünftig sein. Sie wusste, was der Traum hatte ankündigen wollen, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. Der morgige Tag würde vermutlich sehr hart werden und sie musste ihre Batterien dafür aufladen.
Madeleine stand auf und verzog den Mund, als ein Schmerz durch ihre Wirbelsäule zuckte. Mit steifen Gliedern ging sie zum Fenster, um es zu schließen. Wenn sie arbeitete, stand es meist offen, damit die Geräusche von draußen sie inspirieren konnten. Heute war es aber so ruhig, dass sie das Gefühl hatte, die Stadt sei verwaist. Sie packte den Metallgriff und schob das Fenster zu.
Für einen Moment blieb sie stehen und blickte in die Nacht. Trotz des vertrauten Ausblicks blieb ihr die unheilvolle Atmosphäre nicht verborgen, die sich über die Straßen gelegt hatte. Wie in ihrem Traum waren die vielen Fenster dunkel und sie konnte sich alle möglichen Szenarien ausmalen, die sich auf der leeren Bühne der Stadt abspielen mochten. Die Geschehnisse der letzten Monate hatten gezeigt, dass es keine Abscheulichkeit gab, zu der die Menschen nicht fähig waren.
Madeleine schloss die Gardinen, knöpfte ihre Strickjacke zu und kehrte zum Schreibtisch zurück, um das Licht auszuknipsen. Die Dunkelheit passte zu der Stimmung in ihrem Inneren. Überall war Verfall. Ihr Herz fühlte sich traurig an und sie bedauerte einmal mehr, dass es ihr heute Nacht nicht gelingen wollte, sich in ihren aktuellen Roman zu flüchten, der immerhin ein Happy End haben würde.
Sie verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Für einen Moment stand sie da und horchte in die Stille hinein. Vage vernahm sie Lucys Atemzüge, ihr Hausmädchen schlief offenbar.
Es sprach also nichts dagegen, dass sie sich in der Küche noch einen Tee genehmigte, bevor sie zu Bett ging. Earl Grey mit einem Schuss Rum war seit jeher das Rezept gegen Schlaflosigkeit, welches in ihrer einst großen Familie von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Lucy war der Meinung, dass Menschen in Madeleines Alter dem Alkohol entsagen sollten. Ihr Hausmädchen hatte aber, soweit Madeleine wusste, noch nie Probleme gehabt, nachts Ruhe zu finden. Trotzdem kam sie sich albern vor, als sie wie ein Teenager, der sich über ein elterliches Verbot hinwegsetzt, die Treppe hinunter in die Küche schlich, wo sie einen Kessel mit Wasser aufsetzte.
3
Seine Kollegen hatten eine Weile gebraucht, um das leerstehende Haus im Wald hinter der Höhenstraße zu finden. Jetzt wimmelte es in dem alten Gemäuer von Polizeibeamten und Bediensteten der Spurensicherung, die jeden Winkel durchsuchten und alles mit Rußpulver bestäubten.
Eigentlich hätte Dominik aufatmen können, doch der tote Säugling wollte ihm keine Ruhe lassen. Alle bisher verzeichneten Opfer, die durch Catharina Vecinas Gift ihr Leben hatten lassen müssen, waren Erwachsene gewesen. Das Baby passte nicht zu den anderen Taten der Giftmischerin und ihn beschlich das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Sorgfältig ließ er den Blick durch den Raum wandern. Von der Decke hingen Weidenruten und Traumfänger sowie ein selbst genähtes Etwas, das ihn stark an eine Voodoopuppe erinnerte. Nadeln mit Federn an den Enden steckten im Kopf des Püppchens und die Augen waren genähte Kreuze aus Garn. Schaudernd wandte Dominik sich ab und widmete sich den zahlreichen Flaschen und Kelchen, die auf Regalen verteilt standen. Einige waren beschriftet, aber das Dämmerlicht des Kellers reichte nicht aus, um die Buchstaben zu erkennen. Obwohl der Polizeischeinwerfer sein Bestes tat, um die Szenerie zu erhellen, verstärkte er die gespenstische Stimmung zusätzlich. Staub waberte durch den Raum und die Schatten erschienen durch das grelle Licht noch schwärzer und tiefer als zuvor.
Dominik betrachtete die mit bräunlich-roter Flüssigkeit gefüllten Fläschchen und ein dunkler Verdacht keimte in ihm auf. Mit seinem Handy leuchtete er ein Etikett an, auf dem eine Nummer und ein Datum zu lesen waren. Er erstarrte.
Vecinas Garten war nicht weniger beklemmend als der Rest des Hauses. Weißdorn- und Brombeersträucher, die den verwilderten Rasen umgaben, erschwerten die Arbeit mit den Spürhunden und sorgten für den einen oder anderen schmerz haften Aufschrei seitens der Hundeführer.
Dominik stand am Rand, betrachtete das Szenario und ließ Rauchschwaden aus seiner Zigarette in die Septembernacht steigen. Trotz der milden Luft fror er und die Kälte wurde erbarmungsloser, je mehr er über das nachdachte, was er hier im Garten vermutete.
Zu Beginn seines bisher wichtigsten Falles hatte er Margaretha Brenier, Gabriel Sailer und den Rest ihrer geistesgestörten Anhänger, zu denen auch Catharina Vecina gehörte, bloß für eine Gruppe von Dealern und Drogenköchen gehalten. Bis im Winter des vergangenen Jahres einige Menschen wie durch Geisterhand verstorben waren.
Nach und nach verstanden Dominik und seine Mitarbeiter, welche Bedrohung von Margaretha Brenier und ihrer Giftmischerbande ausging, doch er konnte ihnen weder etwas nachweisen, noch wusste er, wo sie sich aufhielten. Es war, als hätte sich die Erde aufgetan und sie einfach verschluckt.
Während das Team um Dominik jeder noch so kleinen Spur nachging, taten die Forensiker alles, um hinter die Ursache zu kommen, die so viele Menschen das Leben kostete. Obwohl die Symptome auf einen Vergiftungstod hindeuteten, konnte im Körper der Opfer nie Gift nachgewiesen werden. Es war zum Verzweifeln. Jede Spur endete irgendwann in einer Sackgasse und jeder Verdächtige schwieg eisern.
Während die Wiener Kriminalpolizei sich die Zähne an den mutmaßlichen Mördern ausbiss, wähnten sich diejenigen, die hinter all dem steckten, in Sicherheit. Für jede Dosis des Giftes kassierten sie große Summen. Geld, mit dem sie sich noch ein bisschen unsichtbarer machen und noch mehr Unheil anrichten konnten.
Die ungesühnten Toten verfolgten Dominik bis in seine Träume. Er war so besessen von dem Gedanken, Margaretha hinter Gitter zu bringen, dass seine Ehe fast daran zerbrach. Immer mehr mutierte er zum Einzelgänger.
Margaretha und ihr Gefolge verkauften das Gift, ohne auch nur einmal auf frischer Tat ertappt werden zu können. Dominik und seine Kollegen konnten zwar einige Täter schnappen, doch an die Hintermänner kamen sie nicht heran, bis Gabriel Sailer ein Fehler unterlief.
Versehentlich fiel ihm beim Zusammenbrauen der giftigen Flüssigkeiten seine gläserne Schutzmaske hinunter und zerbrach. Binnen weniger Minuten starb er an den Dämpfen seines eigenen Giftes.
Eine Woche später verständigten Nachbarn die Polizei, weil sie einen unangenehmen Geruch wahrgenommen hatten. Sailer wurde tot in seiner Garage gefunden und mit ihm ein Haufen von Schriftstücken, die unter anderem Margarethas Schuld bewiesen.
Durch seine spektakulären Ermittlungserfolge, die Dominik zwar Lob und Ehre eingebracht, ihn aber einen weitaus höheren Preis gekostet hatten, war es der Wiener Polizei gelungen, die Wogen zu glätten. Bis eine weitere Mordserie eingesetzt hatte. Die Ära der Giftmordaffäre war endlich ausgestanden, doch das Zeitalter des Dolchstoßmörders hatte begonnen.
»Inspektor, sehen Sie!«
Die Stimme des Hundeführers riss Dominik aus seinen Gedanken. Er ließ seine bis auf den Filter abgebrannte Zigarette auf die Wiese fallen und trat sie aus.
»Inspektor!« Der junge Mann tätschelte aufgeregt den Kopf seines Spürhundes, der wie von Sinnen in einem Erdloch buddelte. »Sie müssen sich ansehen, was Duffy gefunden hat.«
Dominik konnte es sich lebhaft vorstellen. Er holte noch einmal tief Luft, dann setzte er sich in Bewegung, um den Fund zu begutachten.
4
Marie fröstelte. Die vorbeifahrenden Autos warfen Schatten, die wie Skeletthände aussahen, an die beschmierten Wände. Sie verformten sich und schienen nach ihr zu greifen, wann immer sie den Kopf abwandte. Sobald sie genauer hinsah, verwandelten sie sich zurück zu den Silhouetten der Bäume, die vor dem Abrisshaus standen.
Die Abwesenheit von Licht hatte Marie schon immer beunruhigt. Eigentlich hatte sie sich gar nicht auf diesen Ausflug einlassen wollen, aber ihre Schulfreundin Jasmin hatte hartnäckig darauf bestanden, dass sie mitkam. Ein leerstehendes Haus ohne Wasser und Strom zu Zeiten von Giftmischern und Serienmördern. Marie konnte sich schönere Orte für eine Party an einem Samstagabend vorstellen.
Sie blickte sich um und ließ die Schatten für einen Moment aus den Augen. Jasmin hatte sich mit einem Jungen aus der Schule auf einen der Balkons verzogen. Marie selbst saß mit irgendwelchen Hippies, die sie nicht kannte, auf dem Boden. Zu Musik, die verlangsamt klang, ließen sie einen Joint kreisen.
Zumindest hatte sie geglaubt, dass es nur ein Joint war, bis die Dunkelheit angefangen hatte, aufdringlich zu werden. Normalerweise reagierte sie nicht mit Halluzinationen auf Cannabis, vielleicht hatte jemand Zauberpilze oder etwas Härteres in den Tabak gemischt. Es wäre ihr egal gewesen, wären da nicht diese Schattenhände, die sie unaufhörlich bedrängten.
Ein langhaariger Typ mit Bandana um den Kopf hielt ihr von links den halb abgebrannten Joint ins Sichtfeld. Marie zögerte, dann lehnte sie dankend ab. Ihr Handy zeigte nach drei Uhr an und es verriet ihr noch etwas. Oliver hatte sich noch immer nicht gemeldet. Es wurde Zeit für sie, nach Hause zu gehen.
Begleitet von protestierenden Rufen erhob sie sich aus dem Kreis und hielt nach Jasmin Ausschau, doch der Balkon war mittlerweile leer. Unsicher wankte Marie los, um die vielen Zimmer des Hauses abzusuchen. Immer wieder stieß sie mit den Füßen gegen Flaschen, die laut davonrollten. Die meisten Partygäste hatten sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Sie nach Jasmin zu fragen, wäre aussichtslos gewesen. Es hatte auch keinen Zweck, nach ihr zu rufen, denn die Musik im Abrisshaus war verstörend laut. Die wenigen Gespräche, die noch stattfanden, wurden schreiend geführt und vermischten sich mit dem lustvollen Gestöhne aus den Nachbarzimmern.
Marie kämpfte sich über Scherben und Bierlachen hinweg in den Hausflur. Hier war es leiser und bis auf ein auf dem Treppensims schlafendes Pärchen leer. Die Straßenbeleuchtung vor dem Fenster verdrängte die Schatten und sorgte für ein bisschen Sicht.
Wo wäre sie an Jasmins Stelle hingegangen? Nach oben, in den Keller oder in eine andere leere Wohnung? Es dauerte einen Moment, bis sie ihren eigenen Gedanken folgen konnte. Zweifellos hätte sie sich weder für den Keller noch für die Wohnung entschieden. Oliver und sie liebten die Sterne und hätten den Dachboden gewählt, doch wie sie Jasmin kannte, konnte es für sie nicht anstößig und schmutzig genug sein. Seufzend setzte Marie sich in Bewegung.
Der Gang zum Keller des Hauses war von Schwärze erfüllt und genauso unübersichtlich, wie sie befürchtet hatte. Zö - gernd blieb sie an der Tür zu den Kellerräumen stehen. Wenn doch nur Oliver hier gewesen wäre. Er hätte mit ihr ge meinsam nach Jasmin gesucht und sie dann sicher nach Hause gebracht. Sie schob den Gedanken fort, funktionierte ihr Handy kurzerhand zu einer Taschenlampe um und ging los. Die Kellertür fiel mit einem Knall hinter ihr ins Schloss. Er schrocken fuhr sie herum und starrte schwer atmend in
die Finsternis. Hektisch versuchte sie, den Flur mit dem Licht ihres Handys auszuleuchten. Ihr Herz raste und obwohl sie sich selbst für ihr kindisches Verhalten schämte, konnte sie sich vor Angst nicht rühren. In den Ecken schienen Monster zu lauern, die nur darauf warteten, dass sie einen Fehler beging.
»Marie?«
Gelächter ertönte hinter ihr und sie drehte sich um. Jasmin war aus einem der Räume getreten, nackt bis auf ein übergroßes T-Shirt, das sie sich vor den Körper hielt. Hinter ihr stand der Junge, mit dem sie sich den Abend über vergnügt hatte. Er trug nur Shorts und hatte die Arme um Jasmins Hüften geschlungen.
»Was machst du denn hier unten?«
»Ich wollte ... ich dachte ... Es ist schon spät und ... « Marie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg und suchte nach einer Erklärung.
Jasmin winkte ab und lächelte.
»Ich zieh mir nur schnell etwas an, dann bring ich dich zu einem Taxi.«
Die Haustür öffnete sich quietschend. Marie verharrte und lauschte. Es war nichts zu hören. Entweder schlief ihr Vater oder er war in seiner Werkstatt. Trotzdem ging sie lieber auf Nummer sicher und zog die Schuhe aus, um sich in ihr Zimmer zu schleichen. Ihre Tür war nur angelehnt, obwohl sie sich erinnerte, sie vor dem Gehen verschlossen zu haben. Schnell trat sie ein und sperrte hinter sich ab, bevor sie Licht machte. Er durfte ihn nicht gefunden haben!
Marie ließ sich auf die Knie fallen und tastete unter dem Bett nach ihrem Koffer. Er war noch da. Sie atmete auf. Jetzt fehlte nur noch eine Nachricht von Oliver.
Während sie wartete, dass der Laptop hochfuhr, fiel ihr Blick erneut unters Bett. Selbst wenn ihr Vater den Koffer entdeckte, er würde ihr nie zutrauen, dass sie fortgehen wollte. Für ihn war sie noch immer sein kleines Mädchen, unfähig auf eigenen Beinen zu stehen und zu jung für die Liebe. Möglicherweise war sie naiv gewesen, als sie die Beziehung mit Oliver begonnen und geglaubt hatte, ihr Vater würde sich damit arrangieren. Allenfalls hatte sie Enttäuschung, niemals jedoch diese Wut erwartet, mit der er reagiert hatte. Wenn es nach ihm ging, dann sollte sie noch eine Weile Kind bleiben. Er hatte ihr jeden Kontakt zu Oliver verboten und wenn sie abends fortging, musste sie sich regelmäßig melden. Manchmal fragte Marie sich, in welcher Zeit ihr Vater eigentlich lebte. Sie war achtzehn und keine zwölf mehr, er konnte von Glück sagen, dass sie überhaupt noch auf ihn hörte. Das tat sie nur, weil er immer so gut zu ihr gewesen war, weil die Beziehung zwischen ihnen immer etwas Besonderes gewesen war. Sie hatte ihm nicht noch mehr wehtun wollen, sie wusste, wie groß seine Angst war, sie zu verlieren. Sie hatte gehofft, er würde irgendwann zur Vernunft kommen, doch er ließ ihr keine Wahl. Andere Mädchen in ihrem Alter waren längst selbstständig, wohnten allein und niemand redete in ihre Beziehungen hinein. Sie hingegen wurde immer noch behütet wie ein Kind und sollte sich auf die Matura vorbereiten, obwohl sie überhaupt keine Lust hatte, die Schule zu Ende zu machen. Oliver hatte sie mit seiner Abenteuerlust angesteckt.
Der Laptop war hochgefahren und ein grinsender Oliver begrüßte sie auf ihrem Desktop. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn und in seinen Augen lag dieses Glitzern, das ihm eigen war. Das Foto hatte sie vor einigen Monaten im Prater geschossen. Oliver liebte diesen Ort, vor allem nachts, wenn keine Besucher mehr dort waren. Mehrfach hatte sie sich aus dem Haus geschlichen, um mit ihm gemeinsam den einsamen Park aufzusuchen. Sie waren zwischen den geschlossenen Buden und Fahrgeschäften herumgelaufen und er hatte
ihr Geschichten erzählt, von denen sie die Hälfte nicht glauben wollte. Stets hatten sie einen großen Bogen um das Ponykarussell gemacht. Oliver wusste, wie viel Mitleid sie mit den Tieren hatte.
Marie öffnete den Browser und rief ihre E-Mails ab. Keine Nachricht von Oliver, nur zwei von Jasmin, mit dem Handy von der Party aus verschickt. Sie überflog die Texte, schloss das Programm und trat ans Fenster. Sie starrte nach draußen.
In der Goldschmiede ihres Vaters brannte kein Licht, also schlief er schon. Hoffentlich würde er nicht doch noch aufwachen und merken, dass sie high war. Ihr schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar und gleichzeitig wurde sie wütend. Sie fühlte sich eingesperrt. Eingepfercht wie die Karussellponys, nur dass sie nicht jeden Tag im Kreis laufen und auf das Mitgefühl ihres Besitzers hoffen musste. Marie lachte auf, in ihrem immer noch vernebelten Kopf klang es wie ein Schluchzen. Ihr Besitzer war dann wohl ihr Vater.
...
© 2012 LABOR
... weniger
Autoren-Porträt von Nadine d' Arachart, Sarah Wedler
Nadine d'Arachart und Sarah Wedler, geboren 1985 und 1986 in Hattingen, studieren Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und schreiben seit mehr als zehn Jahren gemeinsam. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Jahrbüchern erhielten sie verschiedene Preise für ihre Kurzgeschichten und Drehbuchideen. Außerdem nahmen sie am Finale des Open Mike 2011 statt. Zuletzt wurden sie im Januar 2012 ausgezeichnet. Ihr erster Roman „Die Muse des Mörders" ist im Frühjahr 2012 im österreichischen Labor Verlag erschienen. Ihr zweites Buch „Abgründe" erscheint im Mai 2012.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Nadine d' Arachart , Sarah Wedler
- 2012, 304 Seiten, Maße: 12,2 x 19 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: LABOR
- ISBN-10: 3902800038
- ISBN-13: 9783902800039
Kommentar zu "D'Arachart, N: Muse des Mörders"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "D'Arachart, N: Muse des Mörders".
Kommentar verfassen