Die natürliche Ordnung der Dinge
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Ein älterer Mann erzählt seiner jungen Geliebten nachts von seiner Kindheit. Für sie ist er eher lästig und nur »der, der bei mir schläft«. Aus seiner Geschichte, die von anderen Erzählern ergänzt wird, entwickelt sich ein grotesk-surreales Familienepos, das mehrere Generationen umspannt und die gar nicht natürliche Geschichte Portugals seit den Fünfzigern einfängt.
Einer der wichtigsten europäischen Autoren der Gegenwart erzählt von einem Leben voll Düsternis und Verzweiflung, aber auch voll Komik und Zärtlichkeit.
"Eine furiose, auch vor Wut zitternde, vertrackte Liebeserklärung an sein Land und die Weiße Stadt am Tejo - geschrieben mit der unendlichen, ekstatischen Barmherzigkeit der Leidenschaft, wie sie nur diesem portugiesischen Lyriker eigen ist." -- Frankfurter Rundschau
Die natürliche Ordnung der Dinge von António Lobo Antunes
LESEPROBE
Bis ich sechs Jahre alt war, Iolanda, kannte ich weder die Familie
meiner Mutter noch den Duft derKastanienbäume,
den der Septemberwind von Buraca herüberwehte mit dem
Geruch der Schafe und Ziegen, die,von einem Alten mit
Schirmmütze und den Stimmen derToten vorwärts getrieben,
über die Calçadazum aufgelassenen Friedhof hinaufsprangen.
Heute noch, meine Liebste, wenn ich,im Bett
ausgestreckt, warte, daß das Valium wirkt, geht es mirwie
einst an den Sommernachmittagen,wenn ich mich auf der
Suche nach Kühle in einer Siedlungzerborstener Grabmäler
niederlegte: Ich spüre das Ornamenteines Grabes
schmerzhaft am Bein, ich höre aufdem Bettuch das Gras
der Grabstätten, sehedie Engel und Christusse aus Gips
mich mit zerbrochenen Händenbedrohen; eine Frau mit
Hut pflanzte Kohl und Rüben in dieWurzeln der Zypressen;
das Meckern der Zicklein läutete inder Kapelle ohne
Heiligenbilder, von der nur nochdrei verkohlte Wände und
ein von Rankgewächsen überwucherterAltar mit einem
Tüchlein darauf übrig war; und ichbeobachtete die Nacht,
wie sie von Grabstein zu Grabsteinweiter vorrückte und die
Segnungen der Heiligen zu düsterenFlecken gerinnen ließ.
Doch gestern zum Beispiel, als ichdeinen Körper umschlungen
hielt, während ich darauf wartete, daß mich die
Barmherzigkeit der Arznei vomÜberfall der Erinnerungen
befreite, kam mir eine vergangeneDämmerung in den
Sinn, aus dem Jahr fünfzig odereinundfünfzig, die Beete im
Garten warenfrisch gegossen, Senhor Fernando, im Unterhemd,
machte auf der Veranda Gymnastik, imHof vor der
Küche wuselten Katzen herum, und ichsaß oben auf der
Mauer, schnupperte die Brise von Monsanto und hörte die
Pferde der besiegten Monarchistenvom Gebirge herunterkommen
(wie mir DonaAnita erzählt hatte, die damals ein
Mädchen war) auf dem Weg in dieGefängniszellen.
Ich verstehe nicht, warum du dichnie für meine Kindheit
interessiert hast, meine Liebste. Wennich von mir erzähle,
zuckst du immer mit den Schultern,dein Mund verzieht
sich, deine Augenlider dehnen sichverächtlich, spöttische
Falten entstehen hinter dem Pony ausblondem Haar, so daß
ich schließlich beschämt schweige,die Gläser, die Teller für
das Mittagessen auf den Tisch stelleund das Besteck dazulege,
während deine Tante in derSpeisekammer hustet und
dein Vater auf der Suche nach demGekreische der Telenovela
an den Knöpfen des Fernsehers dreht.Und dennoch,
Iolanda, sobald du eingeschlafen bist,erhält dein ins Kissen
geknautschtes Gesicht wieder dieChristkindkrippenunschuld
von damals zurück, als ich dich zum erstenmal in der
Konditorei an der Ecke desGymnasiums gesehen habe, als
deine tintenfleckigen Finger unddeine Schulhefte mich mit
sinnlos freudiger Rührung erfüllten,
sobald du eingeschlafen bist und dieFahlheit vogelbevölkerter
Ulmen unser Zimmer durchquert, redeich, über dir
schwebend, ohne daßdu mich verspottest, mit deinen reglosen
Handflächen und deinenausgelieferten Schenkeln,
und das Haus, in dem ich früher mitder Familie meiner
Mutter wohnte, tritt aus der Nachtheraus, einem Flecken
im Spiegel oder der Schublade einerKommode entsprungen,
in der sich unsere Wäsche mitMottennestern und
Kupfergriffen vermischt, seit du mirvor Monaten befohlen
hast, Komm, und ich kam,präsentierte mich mit Regenschirm
und zwei abgewetzten Koffern indieser kleinen
Wohnung in der Quinta do Jacinto in Alcântara, um zuerklären,
daß ich in der Tat einunddreißig Jahreälter sei als du,
aber die Anstellung beim Staat, Senhor Oliveira, ist ganz
ordentlich, und selbstverständlichwürde ich den Strom, die
Miete und die Rechnung beimFleischer zahlen.
Meine Liebste, hör mir zu. YVielleicht verstehst du mich in
deinem Schlaf, vielleicht befreitsich dein Körper von der
Ironie mir gegenüber und liebt mich,vielleicht erzittern
deine nunmehr sanften Augenlider,wenn ich sage, wie gern
ich es hätte, wenn du michberührtest und erlaubtest, daß
ich dich berühre, vielleicht lehnstdu das Haarbüschel an
deinem Bauch an mich, und deine Knieöffnen sich langsam
über der feuchten, glatten zartenGrottenweichheit, die
meine Begierde inPerlmutterfestigkeit gefangenhält. Doch
seit dem Sommer ignorierst du mich,bist in einen Klassenkameraden
mit lodernder Akne und sprießendemBart verliebt,
der Unsicherheiten in Geographieoder Mathematik
zum Vorwand nimmt, um uns zubesuchen, und mir in
grausamer Begrüßung die Finger quetscht, bis die Knochen
knacken. Ich bin nur noch ein nichtnäher bezeichneter Verwandter,
in Weste und Krawatte und mit grauemschütterem
Haar, der unfähig ist, einenHandstand zu machen, unfähig,
ohne Brille zu lesen, wegenHerzzauderns unfähig,
zwanzig Meter zu laufen, kurz,unfähig, gegen diesen pickligen
Knaben zu bestehen, der größer istals ich, keinen
Bauch, keine Glatze, keine Schuppenhat, dessen achtzehn
Jahre mich vernichten, und ich wartereglos wie eine Tarantel
auf die Nacht, wenn dein mit einerVinaigrette aus
Zahnpasta und billigem Parfümgewürzter Körper sich zusammenrollt,
um sich auf der Matratzeeinzukuscheln, das
Auf und Ab deiner Brust verschwiegenwird wie das der
Schiffe, wenn deine schmollend imSchlaf aufgeworfenen
Lippen einen Kußhauchen, der nicht mir gilt, ich warte auf
die Nacht und messe die Dichte derDunkelheit an der
Schlaflosigkeit deines Vaters undder Bronchitis deiner
Tante auf der anderen Seite derHolzwand und greife meine
Geschichte bei der Stelle wiederauf, bei der ich stehengeblieben
war, kehre wieder in das Hauszurück, Iolanda, in
dem ich gelebt habe, bevor ich dieFamilie meiner Mutter
kennenlernte, das Haus mit seinen tausendKorridoren, seinen
tausend Schlupfwinkeln, seinentausend Verstecken,
das Haus, das Haus,
das Haus, mein Gott, das vonSeeschwalben belagerte
Haus über der Steilküste und demDunst des Ozeans, mit
den Türen, die im Wind schlugen, undden zerschlissenen
Vorhängen, mit dem Hinweis »HotelCentral« im Halbkreis
an der Fassade und den dreiGeheimpolizisten, die, immer
in Schwarz, den Arm zum nationalenGruß erhoben, im
kleinen Wohnraum den morgendlichenMuckefuck tranken.
In solchen Augenblicken erinnere ichmich an die Äquinoktialstürme,
die die auf dem Gläserbord und aufden Verzierungen
des Treppengeländers hockendenBachstelzen in
die Irre geweht hatten, und an dieBenommenheit bei Stirnhöhlenentzündungen
und an den Sturm, der den kleinen
Platz vor der Pension fegte, an demder Laden eines Antiquitätenhändlers
im Dunkeln lag mit seinen spanischen
Fächern und geflickten Buddhas, insolchen Augenblicken
erinnere ich mich an die Werkstattdes Albinomechanikers,
der im Sommer die Autos reparierte,wobei er rücklings zu
den Motorenbäuchen robbte. DieKäuzchen, Iolanda, wurden
an der Dachluke meines Kabuffszerdrückt, das neben
dem Verschlag der Köchin lag und indessen WC neben dem
Bett ständig die Ebbe gurgelte, unddie Bewohner des Hotels
waren wir zwei und dazu meinePatentante und die drei
Geheimpolizisten, doch wenn der Julikam, der Strand vom
Unrat gereinigt wurde und einebittere Hitze die Wellen besänftigte,
wechselten sich die Köchin und dieAlte einander
sogleich in der Eingangshalle ab,die Häkelarbeit auf dem
Schoß, in der falschen Hoffnung,einem Wundertaxi würde
eine Gruppe matter, von derNiedergedrücktheit der Kiefern
und den Sprungfedern der Sitzeerschlagener Amerikanerinnen
entsteigen.
Wenn ich an den kleinen Ort denke,meine Liebste, der
über den Klippen und dem Geschreider Vögel die Balance
hielt mit seinem halben Dutzendzusammengestürzter Villen
ohne Besitzer, in denen die Spinnendie Verlassenheit zu
Fäden zogen, und ihn mit dieserWohnung in Alcântara
neben dem Bahnübergang und denTejoschiffen, die unsere
delphingekrönten Kopfkissenstreifen, vergleiche, dann suchen
meine Beine, ohne daß ich mir dessen bewußt werde,
die Höhlung deiner Knie, und ichdrücke meine Brust gegen
deinen Rücken in einem Flehen umSchutz, das mich verwirrt,
weil es mir lächerlich erscheint, daß ein Mann von
neunundvierzig Jahren Hilfe beieinem achtzehnjährigen
Mädchen sucht, das gerade vonErzengeln in Lederjacken
auf Mofas träumt, die Gas geben, umsie vor einem harmlosen
Alten wie mir zu retten, der vorSchüchternheit und
Überraschung den Kopf verloren hat.Und dennoch, Iolanda,
glaube nicht, daßmein Leben in einem kleinen Dorf in der
Gegend von Ericeira,in dem die Eukalyptusbäume Tränen
unheilbarer Enttäuschung tropften,nicht angenehm gewesen
wäre: Es war angenehm. Wenn sienicht gerade der
Ischias plagte, der sie leidend aufder Matratze vom Fleische
fallen ließ, spielte die Köchin mitmir Karten in dem Raum,
in dem der kaputte Heizkessel stand,während die Geheimpolizisten
Foltermethoden und Gefängnisseausheckten und
über unseren Köpfen den Dielenbodenerzittern ließen. Im
Herbst beruhigtensich an manchen Tagen früh am Morgen
das Meer und der Wind, und eineZunge aus Sand war dann
zu erkennen, die bald vonUmkleidezelten, Picknickkörben,
Pantoffelpyramiden und Familien imBademantel bevölkert
wurde. Mimosen sprossen aus denFelsen, und durch die
Villen segelten die Öllampen ihrereinstigen Bewohner, bis
ein Linienbus die Herden vonSommerfrischlern wieder
einsammelte, die scheppernd nachLissabon fuhren, während
die Wellen den Strand verschluckten,der Himmel sich
mit Sturmwolken bedeckte, an derenKanten zwischen den
Felsen Möwen schrien,die Wipfel der Bäume Schwärme
umnachteter Rotkehlchen freigaben und meinePatin, die
der Sturm kaltließ,zu ihrer Häkelnadel griff und von extravaganten
Amerikanerinnen träumte,die Sandalen und Panamahüte
trugen wie zu einer Expedition indie Tropen.
Ein Zug zerteilte die Nacht lotrechtzu den Laternen der
Avenida de Ceutaund parallel zum Fluß, gesäumt von Speichern,
Pontons, Kränen, Winden, Containernund Lastern,
die auf das Verbenenlichtdes Sonnenaufgangs und die Arbeiter
warteten, die, in der zögerndenSonne nur schwer erkennbar,
zum Tejo hinuntergingen.
Der Zug, meine Liebste, bewegt sichin Richtung Estoril
und Cascais(von dem Ort aus, an dem wir wohnen, erahne
ich in der Ferne Städtchen, dieAlbatrosse und Passagierdampfer
in ihren Fingern halten), und unsererstes Stockwerk
in der Quinta do Jacintoerzittert, als zerspalte es ein
Wirbel aus Pleuelstangen mit einemSchlag, der die Bären
aus Ton und die Elefanten aus Glas,die Stoffclowns und den
verchromten Wagner auf den Regalendurchschüttelt und
das Emaillekästchen von der Kommodeauf den Boden
fallen läßt,in dem du die Ringe, die Armbänder und die
Ohrringe aus falschem Silberaufbewahrst, die ich dir zu
Weihnachten schenke, wenn mir ein bißchen vom zusätzlichen
Gehalt übrigbleibt.Der Zug bewegte sich, während
Klingeln schrillten und Warnleuchtenan- und ausgingen,
nach Estoril,er brachte die Häuser in Alcântara durcheinander,
und du drehtest dich im Schlaf um,ohne aufzuwachen,
bis du dich mir mit einem kindlichenWimmern zuwandtest.
Deine Fußgelenke preßtensich an meine, und
ohne mit dem Reden aufzuhören,näherte mein Mund sich
deinem, tückisch, verstohlen, vorsichtig: Ich roch deinen
Atem, roch dein Haar, roch deinenHals, roch die Falten an
deiner Taille, die Falten an deinemBauch und wollte gerade
deine Scham liebkosen, das Gewebe,aus dem du gemacht
bist, als die Katze, von der Rasereimeines Freudenausbruchs
erschreckt, auf die Matratze sprangund sich dabei in
einer Lampe verhedderte, derenSchirm zerbrach und die
eine Sekunde lang die Möbel imZimmer erleuchtete. Und
plötzlich bewegten sich deineEllenbogen, dein Körper
wandte sich in einer Drehung derHüften und der Schulterblätter
ab, von denen die Träger sichlösten, und ich war wieder
allein, sabberte Bitterkeit, währendmich die Zugwag-
gons in den Schlaf wiegten, dievorbeigaloppierten auf dem
Weg zu den Abwasserrohren, denStränden, den Booten der
Küstenstraße, während mich dieWellen des Flusses in den
Schlaf wiegten, meine Liebste, undich mit bittender Geste
die Abwesenheit eines sanftgerundeten Hinterns in Händen
hielt.
In der Pension, in der ich vor derZeit der Familie meiner
Mutter lebte, Liebste, gab es keineKatzen: Es war zu feucht,
zu windig, zu grau, und imHintergärtchen mit seinem
Nebel, seinen Röhrichtfontänen undseinen aufgebrachten
Eulen stürzten die ablaufenden undanrollenden Wellen in
einem Schaumstrudel in die Zimmer.So daß die Katzen
trotz der Bemühungen der Köchin, siemit Schüsseln voller
Meeraal zu verführen, zwischen denEukalyptusbäumen
verschwanden, weil der Wirrwarr desMeeres sie beunruhigte
und die an Bruchstücke vonSchiffsrudern geklammerten
Seemannsleichen, die uns zwischenHutschachteln von
den Schränken her anstarrten.
Es gab keine Katzen, aber wir hatteneinen Raben mit gestutzten
Flügeln, der wie ein Schiffsjungeschwankte und
den Geheimpolizisten, die von derFurcht ergriffen waren,
das Hotel könnte bei einem falschenManöver die Felsen
rammen und an den Erkern einirreparables Leck entstehen,
die Breitengrade zurief.Morgens bereits hinkte der Rabe
auf der Kommandobrücke desErdgeschosses herum, überprüfte
den Kurs und stellte dasNichtvorhandensein geharnischter
Feinde fest, und er war es auch, der
- Alle Mann Backbord, Rettungsbootezu Wasser lassen
rief, als er, bei der Inspektion derEingangshallenkajüte,
auf meine Patin stieß, diebäuchlings auf dem Boden lag, in
der Hand die Häkelnadel.
Selbstverständlich habe ich dieKommodorestimme gehört,
Iolanda, doch im Traum, als gehörte sie zuder Geschichte,
in der mich eine Schar Nymphen aufden Gartenwegen
verfolgte (die molligen, rosigen, tunikabekleideten
Göttinnen von den kleinen Öldruckenim Flur, die einander
in einem Wald und einem Bachumschlungen hielten), und
selbst als die Köchin an mein Bettkam, um mich zu rufen,
wirkte ihre Stimme anfangs wie dasKnistern der Büsche, es
dauerte, bis sie über Metamorphosenreal wurde, die mein
Baumleib mitzumachen schien, derunter Rascheln von
Rückenwirbeln wuchs und schrumpfte.
Gewiß ist, daßich beim Hinuntersteigen, von den Möwen
in den offenen Fenstern gestört, denRaben verzweifelt
fragen hörte
- Und wo zum Teufel sind dieSchwimmwesten?
und gleich darauf traf ich auf dieGeheimpolizisten, die
sich berieten, Notizen machten undaufgrund der Befehle,
die sie von niemandem erhielten, essei denn vom Murmeln
der Bäume oder dem Knacken desTisches, entschlossen waren,
den Wind zu erschießen oder dieWolken zu verhaften.
Ich entsinne mich, mit derDeutlichkeit kindlicher Erinnerungen,
an die Wipfel der Kiefern jenseitsder Häuser am
Platz, an die Geißblattranken unddie Eukalyptusbäume, die
uns die Straße versperrten,und an den Jeep der Guarda Republicana
am Eingang der Pension, in dem einSoldat mit
Gewehr saß und rauchte. In derEingangshalle betrachteten
der Hauptmann, der vor meiner Geburtder Köchin den Hof
gemacht hatte, und ein weitererSoldat, den ich nicht kannte,
beide in Gamaschen und mitPatronengürtel, das Schiffchen
jedoch in der Hand, meine Patin,wagten nicht, sie zu berühren,
beteten, daßdas Kurbeltelefon funktionieren möge,
damit sie den Arzt aus Mafra herbestellen könnten, der mir
hin und wieder das Kinn hielt undHalsentzündungen mit
einer rabiaten Tinktur kurierte. DerAlbino drehte, seine
Ferkelwimpern zum Himmel erhoben,beunruhigt im Regen
seine Runden,
und der Arzt, Iolanda,kam nach dem Mittagessen, Unheil
witternd, im Gummiregenmantel und inKabeljaufischerstiefeln,
in Algen piepsende Seepapageien imSchlepptau.
Der Rabe, der sich trotz desPfeifens der Kiefern am Ufer
gegenüber den Wellen wieder beruhigthatte, stieg, Nonius-
berechnungen vor sich hin grummelnd, die Treppezum ersten
Stock hinauf. Der Hauptmann zeigtemit dem kleinen
Finger auf meine Patin, und derDoktor ging mit kompetenten
Augenbrauen in die Hocke, um sie zuuntersuchen,
und befahl
- Husten Sie,
und zog aus dem Regenmantel einStethoskop, dessen in
der unergründlichen Tasche wiederund wieder zusammengerollten
Schläuche kein Ende nahmen.
- Da sie nicht hustet, ist siewahrscheinlich tot,
folgerte er mit vorhangdumpferStimme, während der
Sturm ihm die Silben verwehte wiedie Blätter der Akazie
im Garten, die wegen des Wassers,des Windes und der in
den Zweigen gekreuzigten Tauben nurnoch die Struktur
anatomisch präparierter Rippenhatte. Die Köchin kratzte
ein Augenlid mit dem Schürzenzipfel,der Hauptmann salutierte.
Der Soldat entblößte, an die Wand gepreßt, zur
Toten hin sein falsches Gebiß: Er und ich waren wohl die
einzigen in der Pension, die nochnie eine Leiche gesehen
hatten, und die zweite, die ichbetrachten konnte, war viele
Jahre später die einesWeichenstellers, der auf der Nebenstrecke
in der BeiraBaixa einen Zug umklammert hielt, in
dem ich mit einem Kollegen auf einerDienstreise saß. Ich
erinnere mich an den Selbstmörderauf dem Schotter der
Schwellen, meine Liebste, und wieverblüfft ich über sein
unversehrtes Gesicht und diefriedlichen, gefaßten Züge
war: Ich glaube, von diesem Tage anhatte ich keine Angst
mehr vor Grippe. ()
© btbVerlag
Übersetzung: MaraldeMeyer-Minnemann
- Autor: António Lobo Antunes
- 2006, 349 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maralde Meyer-Minnemann
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442733898
- ISBN-13: 9783442733897