Die Päpstin
Sie weiß, dass ihr als Frau die Tore der Weisheit verschlossen bleiben,...
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Sie weiß, dass ihr als Frau die Tore der Weisheit verschlossen bleiben, deshalb tritt sie als Mönch verkleidet ins Kloster Fulda ein.
In ständiger Furcht vor Entdeckung studiert sie dort die Heilige Schrift und eignet sich umfassende medizinische Kenntnisse an.
Sie gelangt nach Rom, wird Leibarzt des Papstes und soll bald selbst die Geschicke der Kirche leiten.
"Lebendig, eingängig, fesselnd. Ein faszinierender Historienroman und ein packender Stoff." Rhein-Zeitung
Weltweit ein Roman-Erfolg!
DiePäpstin von Donna WoolfolkCross
LESEPROBE
1.
Ganz in der Nähe des Grubenhauses grollte Donner, und daskleine Mädchen erwachte. Es bewegte sich in seinem Bett und suchte die Wärmeund Behaglichkeit, die von den Körpern seiner schlafenden älteren Brüderausgingen. Dann fiel es dem Mädchen wieder ein: die Brüder waren fort.
Regen prasselte; Donner krachte. Ein heftigesFrühlingsgewitter tobte und erfüllte die Nachtluft mit dem süßsauren Geruchfeuchter, frisch gepflügter Erde. Der Regen trommelte laut auf das Dach derHütte des Dorfpriesters, doch das dicht verwobene Strohdach hielt das Inneretrocken, sah man von den ein, zwei Stellen in den Zimmerecken ab, in denen dasWasser sich sammelte, um dann in dicken, schweren Tropfen träge auf denfestgestampften, lehmigen Fußboden zu klatschen.
Der Wind frischte auf, und eine Eiche, die neben der Hüttestand, begann unrhythmisch gegen die Wände zu klopfen. Der Schatten ihrer Ästefiel ins Zimmer. Das Mädchen betrachtete gebannt, wie die riesenhaften dunklenFinger an den Bettkanten zu zerren schienen. Dann griffen sie plötzlich gierignach dem Kind, und es schrak zurück.
Mama! dachte das kleine Mädchen ängstlich und öffnete denMund, um die Mutter zu rufen, hielt dann aber inne. Falls es ein Geräuschmachte, würde die drohende schwarze Hand es packen und zerquetschen. DasMädchen lag wie erstarrt da, beobachtete voller Entsetzen das Zucken der Blitzeund brachte weder den Mut noch die Willenskraft auf, sich zu bewegen. Dann aberreckte es voller Entschlossenheit das kleine Kinn vor. Es mußtegetan werden; also würde Johanna es tun. Sie bewegte sich mit größterLangsamkeit und nahm nicht für einen Moment den Blick vom Feind, als sie ausdem Bett kroch. Ihre Füße spürten die kalte Oberfläche des Fußbodens, unddieses vertraute Gefühl gab dem Mädchen Sicherheit. Dennoch wagte es kaum zuatmen, als es sich in Richtung der
Sie hatte ihr Ziel fast erreicht, als plötzlich eine Salvevon Donnerschlägen über ihr krachte. Im selben Moment wurde sie von irgendetwasberührt, das hinter ihr stand. Sie kreischte; dann warf sie sich herum, flitztehinter die Trennwand und kippte dabei den Stuhl um, auf den sie sich geflüchtethatte.
In diesem Teil des Hauses war es dunkel und still; daskleine Mädchen hörte nur das regelmäßige Atmen seiner Mutter. Am Geräuschkonnte es erkennen, daß die Mutter tief und festschlief, zumal das Poltern des Stuhles sie nicht geweckt hatte. Rasch ging dasMädchen zum Bett, hob die Wolldecke an und kroch schnell darunter.
Gudrun lag auf der Seite; ihre Lippen waren leichtgeöffnet. Das Mädchen kuschelte sich an den Körper der Mutter und spürte diewohltuende Wärme und Weichheit ihrer Haut durch das dünne Hemdkleid aus Leinen.
Gudrun gähnte und drehte sich im Halbschlaf auf die Seite.Von der Berührung geweckt, schlug sie die Augen auf und blickte schläfrig aufdas Kind. Dann erwachte sie vollends und umarmte ihre Tochter.
»Johanna«, schimpfte sie leise, wobei ihre Lippen dasweiche Haar des Mädchens berührten. »Du solltest längst schlafen, mein Kleines.«
Hastig sprudelte Johanna ihre Geschichte hervor underzählte der Mutter mit hoher, vor Anspannung atemloser Stimme von derRiesenhand.
Gudrun hörte zu, tätschelte und streichelte ihre Tochter,drückte sie an sich und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein, wobeisie ihr sanft mit den Fingerspitzen übers Gesicht strich, das in der Dunkelheitnur schemenhaft zu erkennen war. Hübsch ist sie nicht, dachte Gudrun reuevoll.Äußerlich kommt sie zu sehr nach ihm, mit seinem dicken Hals und den breitenKiefern. Johannas kleiner Körper war jetzt schon untersetzt und stämmig; ganzanders als der der hochgewachsenen, anmutigenMenschen von Gudruns Volk. Doch das Kind hatte gute Augen, groß undausdrucksvoll und von kräftiger Farbe: grün, mit dunkelgrauen Rauchringen imZentrum der Pupillen. Zärtlich nahm Gudrun eine Strähne von Johannas Haarzwischen die Finger und betrachtete es, erfreute sich an seinem Schimmer -weißgolden, sogar in der Dunkelheit. Mein Haar, dachte sie stolz. Nicht dasdicke schwarze Haar ihres Mannes oder das seines grausamen dunklenInselvolkes. Mein Kind. Sanft wickelte sie Johannas Haarsträhne um denZeigefinger und lächelte. Wenigstens dieses Kind ist meins.
Durch die Aufmerksamkeiten ihrer Mutter beruhigt,entspannte sich Johanna. In spielerischer Nachahmung zupfte sie an Gudrunslangem Zopf, bis er sich löste und die Fülle des weißblonden Haares ihr überdie Schultern fiel. Staunend betrachtete Johanna die schimmernde Pracht, diesich wie flüssiges Gold auf der Tagesdecke aus dunkler Wolle ausbreitete. Nochnie hatte Johanna das Haar ihrer Mutter offen gesehen. Der Vater bestanddarauf, daß sie es stets sorgfältig geflochten trug,verborgen unter einer Kappe aus grobem Leinen. Das Haar einer Frau, sagte derDorfpriester, ist das Netz, in dem der Teufel die Seele eines Mannes fängt. UndGudruns Haar war außergewöhnlich schön - lang und weich und von makelloser,weißgoldener Farbe, ohne jeden Hauch von Grau, obwohl sie nun schon eine alteFrau war, die vierzig Winter erlebt hatte.
»Warum sind Matthias und Johannes fortgegangen?« fragte Johanna unvermittelt. Ihre Mutter hatte es ihrschon mehrere Male gesagt; doch Johanna wollte es noch einmal hören.
»Du weißt warum. Dein Vater hat sie auf seine Missionsreisemitgenommen.«
»Warum durfte ich nicht auch mitgehen?«
Gudrun seufzte geduldig. Das Kind war so wißbegierig, so voller Fragen. »Matthias und Johannes sindJungen«, sagte sie. »Eines Tages werden sie Priester sein, genau wie deinVater. Du bist ein Mädchen; deshalb hast du mit solchen Dingen nichts zu tun.« Als Gudrun erkannte, daßJohanna mit dieser Antwort nicht zufrieden war, fügte sie hinzu: »Außerdem bistdu noch viel zu jung.«
Johanna rief entrüstet: »Im Wintarmanothwar ich schon vier!«
Gudruns Augen blitzten vor Erheiterung, als sie in dasrundliche Kleinmädchengesicht blickte. »Ach ja, das hatte ich ganz vergessen.Du bist ja schon ein großes Mädchen. Vier Jahre! Das hört sich schon sehrerwachsen an.«
Johanna lag still da, als die Mutter ihr übers Haarstreichelte. Dann fragte sie: »Was sind eigentlich Heiden?«Ihr Vater und ihre Brüder hatten sich vor ihrer Abreise ziemlich ausgiebig überHeiden unterhalten. Johanna verstand nicht genau, was ein Heide war; siehatte allerdings genug aufgeschnappt, um zu wissen, daßes etwas sehr Schlimmes sein mußte.
Gudruns Körper spannte sich an. Dieses Wort besaßZauberkräfte. Die einmarschierenden Soldaten hatten es im Munde geführt, alssie Gudruns Zuhause geplündert und ihre Freunde und Familienangehörigenabgeschlachtet hatten. Die dunklen, grausamen Soldaten des fränkischen KaisersKarl. Magnus, nannten die Leute ihn nun, da er tot war. Carolus Magnus.Karl der Große. Würden die Menschen ihn immer noch so nennen, fragte sichGudrun, wenn sie miterlebt hätten, wie seine Soldaten sächsischen Müttern dieSäuglinge aus den Armen gerissen, sie herumgeschleudert und ihre Köpfe anSteinen zerschmettert hatten, die schon rot vom Blut anderer unschuldigerKinder waren? Gudrun zog die Hand von Johanna fort und drehte sich auf denRücken.
»Was ein Heide ist, mußt dudeinen Vater fragen«, sagte sie.
Johanna wußte nicht, was siefalsch gemacht hatte, doch sie hörte die seltsame Härte in der Stimme ihrerMutter und erkannte, daß sie ins eigene Bettzurückgeschickt wurde, falls es ihr nicht gelang, den Fehler auszubügeln. Raschsagte sie: »Erzähl mir noch einmal von den alten Göttern.«
»Das kann ich nicht. Dein Vater mag es nicht, wenn ich dirsolche Märchen erzähle.« Die Worte waren zum Teil eineFrage, zum Teil eine Feststellung.
Johanna wußte, was zu tun war.Feierlich legte sie sich beide Hände aufs Herz und sprach den heiligen Eidgenau so, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Beim geheiligten Namen von Thordem Donnerer gelobte Johanna ewige Verschwiegenheit.
Gudrun lachte und zog das Mädchen wieder an sich. »Alsogut, du kleine Wachtel. Ich werde dir die Geschichte erzählen, weil du so nettzu fragen verstehst.«
Ihre Stimme war wieder warm, wehmütig und melodisch, alssie von den Göttern ihrer Kinderzeit in Sachsen erzählte, von Wotan und Thorund Freyja und all den anderen - bis Karls Armeen einmarschiert waren und mitFlamme und Schwert das Wort Christi gebracht hatten. Andächtig erzählte Gudrunvon Asgard, der strahlenden Heimstatt der Götter,einem Ort mit goldenen und silbernen Schlössern, der nur erreicht werdenkonnte, wenn man Bifrost überquerte, diegeheimnisvolle Brücke des Regenbogens, die von Heimdall dem Wächter behütetwurde, der niemals schlief und dessen Ohren so scharf waren, daß er sogar das Gras wachsen hören konnte. In Walhalla,dem schönsten aller Orte, wohnte Wotan, der Göttervater, auf dessen Schulternzwei Raben saßen: Hugin, der Gedanke, und Munin, die Erinnerung. Während die anderen Götter feierten,saß Wotan auf seinem Thron und grübelte darüber nach, was Gedanke undErinnerung ihm erzählten.
Johanna nickte glücklich. Diesen Teil der Geschichte hörtesie am liebsten. »Erzähl mir von der Quelle der Weisheit«, bettelte sie.
»Obwohl er bereits sehr, sehr klug war«, erzählte Gudrun,»war Wotan stets auf der Suche nach immer mehr Wissen. Eines Tages ging er zurQuelle der Weisheit, die von Mimir dem Weisen bewachtwurde, und bat um einen Schluck aus dieser Quelle. Was gibst du mir dafür? fragte Mimir. Wotan antwortete,daß Mimir sich wünschenkönne, was immer sein Herz begehrt. Die Weisheit mußstets mit Schmerz erkauft werden, sagte Mimir. Wenndu einen Schluck von diesem Wasser haben möchtest, mußtdu mit einem deiner Augen dafür bezahlen.«
Das Gesicht vor Aufregung gerötet, rief Johanna: »Und Wotanhat es getan, nicht wahr, Mama? Er hat es getan!«
Ihre Mutter nickte. »Obwohl es eine schwere Entscheidungwar, erklärte Wotan sich einverstanden, eins seiner Augen herzugeben. Danntrank er von dem Wasser. Später gab er die Weisheit, die er auf diese Weiseerlangt hatte, an die Menschen weiter.«
Mit großen, ernsten Augen schaute Johanna ihre Mutter an.»Hättest du das auch getan, Mama? Um weise zu sein? Um über alle Dinge Bescheidzu wissen?«
»Nur Götter treffen solche Entscheidungen«, erwiderte Gudrun,doch als sie den beharrlichen, fragenden Blick ihrer Tochter sah, gab sieschließlich zu: »Nein. Ich hätte zu große Angst gehabt.«
»Ich auch«, sagte Johanna nachdenklich. »Aber ich würde estun wollen. Ich würde wissen wollen, was die Quelle mir erzählen kann.«
Gudrun lächelte auf das kleine, entschlossene Gesichthinunter. »Aber es würde dir wahrscheinlich gar nicht gefallen, was du von derQuelle erfahren würdest. Bei meinem Volk gibt es ein Sprichwort. Das Herzeines weisen Mannes ist nur selten froh.«
Johanna nickte, obwohl sie den Sinn dieser Worte nichtrichtig verstanden hatte. »Und jetzt erzähl mir von dem Baum«, sagte sie undkuschelte sich wieder eng an ihre Mutter.
Und Gudrun beschrieb Irminsul,die Weltesche. Der Baum hatte im heiligsten aller sächsischen Wälder gestanden,an der Quelle der Lippe. Gudruns Volk hatte diesen Baum verehrt; doch er warvon den Armeen Kaiser Karls gefällt worden.
»Es war ein wunderschöner Baum«, erzählte Gudrun, »und sohoch, daß niemand den Wipfel sehen konnte. Der Baum«
Sie hielt inne. Johanna spürte plötzlich, daß noch jemand im Raum war. Sie hob den Kopf. Ihr Vaterstand im Türeingang.
Gudrun setzte sich im Bett auf. »Mein liebster Gemahl«,sagte sie erstaunt. »Ich habe dich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.«
Der Dorfpriester gab keine Antwort. Er nahm eine Wachskerzevom Tisch in der Nähe der Tür, ging zum Herdfeuer und zündete die Kerze an denglühenden Scheiten an.
»Das Kind hatte Angst vor dem Donner«, sagte Gudrun nervös,als das Licht der Kerze sich ausbreitete. »Da habe ich mir gedacht, ich lenkees mit einer harmlosen Geschichte ab.«
»Harmlos!« Die Stimme des Dorfpriesters zitterte vorAnstrengung, als er sich mühte, seine Wut im Zaum zu halten. »Eine solcheGotteslästerung nennst du harmlos?« Mit zwei langenSchritten war er neben dem Bett, stellte die Kerze ab und zog mit einem Ruckdie Decke zur Seite, so daß Mutter und Tochter imflackernden Licht der Flamme zu sehen waren. Johanna hatte die Arme um GudrunsLeib geschlungen und war halb von einem Vorhang aus langem, weißgoldenem Haarverdeckt.
Für einen Augenblick starrte der Dorfpriester fassungslosauf das Bild, das sich ihm bot, und betrachtete ungläubig Gudruns langes,gelöstes Haar. Dann übermannte ihn wilder Zorn. »Wie kannst du es wagen! Wo iches dir ausdrücklich verboten habe!« Er packte Gudrunund wollte sie aus dem Bett zerren. »Heidnische Hexe!«
Johanna klammerte sich an ihre Mutter. Das Gesicht desDorfpriesters lief dunkel an. »Scher dich fort, du Balg!«brüllte er. Johanna zögerte, hin und her gerissen zwischen Furcht und demVerlangen, ihre Mutter irgendwie zu beschützen.
Hastig und drängend stieß Gudrun sie an. »Geh. Rasch. Gehrasch!«
Johanna löste sich von ihr, sprang auf den Fußboden undrannte los. An der Tür drehte sie sich um und sah, wie ihr Vater das Haar derMutter packte, ihren Kopf brutal nach hinten drückte und sie auf die Kniezwang. Johanna lief los, wollte zur Mutter zurück. Doch vor Entsetzen blieb siewie angewurzelt stehen, als sie sah, wie ihr Vater sein langes Jagdmesser mitdem Hirschhorngriff unter dem geschnürten Gürtel hervorzog.
»Forsachistu diabolae?« fragte er Gudrun auf Sächsisch, und seine Stimme war kaummehr als ein Flüstern. Als sie nichts erwiderte, drückte er ihr dieMesserspitze an die Kehle. »Sag die Worte«, zischte er drohend. »Sag die Worte!«
»Ec forsachoallum diaboles«, schluchzteGudrun unter Tränen, doch in ihren Augen funkelte Trotz. »Wuercumund wuordum, thunaer ende woden ende saxnotes ende allum «
Vor Angst wie erstarrt, beobachtete Johanna, wie ihr Vaterwieder Gudruns Haar packte, mit der einen Hand einen dicken Zopf bildete undmit der anderen Hand das Messer darüberzog. Es gabein reißendes Geräusch, als die seidenen Strähnen durchtrennt wurden, und einlanges, dickes, weißgoldenes Haarbüschel fiel zu Boden.
Johanna schlug die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zuunterdrücken, warf sich herum und rannte los.
In der Dunkelheit prallte sie gegen eine Gestalt, die nachihr griff. Sie kreischte vor Angst, als sie gepackt wurde. Die Hand desUngeheuers! Die hatte sie vollkommen vergessen! Johanna wand sich, trommeltemit den kleinen Fäusten auf die Bestie ein und wehrte sich mit aller Kraft.Doch das Ungeheuer war riesengroß und hielt sie fest gepackt.
»Johanna! Was ist denn,Johanna? Ich bins!«
Die Worte durchdrangen den Schleier aus Angst undEntsetzen. Es war ihr zehnjähriger Bruder Matthias, der gemeinsam mit dem Vaterheimgekehrt war.
»Wir sind wieder zu Hause. Hör endlich auf, um dich zuschlagen, Johanna! Es ist alles gut! Ich bins.«Johanna streckte einen Arm aus und spürte die glatte Oberfläche desBrustkreuzes, das Matthias stets trug. Dann ließ sie sich erleichtert gegen ihnsinken.
Einige Zeit später saßen sie zusammen in der Dunkelheit undlauschten den leisen, ratschenden Lauten, mit denen das Messer des Vaters daslange Haar ihrer Mutter abtrennte. Einmal hörten sie, wie Gudrun vor Schmerzaufschrie. Matthias fluchte laut, und wie als Antwort erklang ein Schluchzenaus dem Bett, auf dem sich Johannas jüngerer, achtjähriger Bruder Johannesunter den Decken versteckt hatte.
Endlich verstummten die gräßlichenLaute. Nach einer kurzen Pause erklang die murmelnde Stimme des Dorfpriesters.Er betete. Johanna spürte, wie Matthias sich entspannte. Es war vorüber. Sieschlang die Arme um den Hals des älteren Bruders und weinte. Er hielt sie festund wiegte sie sanft.
Nach einer Weile blickte sie zu ihm auf.
»Vater hat Mama eine Heidin genannt.«
»Ja.«
»Aber das ist sie nicht«, sagte Johanna zögernd, »oder doch?«
»Sie war es.« Als er den Ausdruckentsetzten Unglaubens auf dem Gesicht der kleinen Schwester sah, fügte er raschhinzu: »Vor langer Zeit. Sie ist es längst nicht mehr. Aber was sie dir vorhinerzählt hat, waren Geschichten von den Heiden.«
Johanna hörte zu weinen auf, denn diese Information warhöchst interessant.
»Du kennst doch das erste Gebot, nicht wahr?«
Johanna nickte und zitierte gehorsam: »Du sollst keineanderen Götter neben mir haben.«
»Ja. Das bedeutet, daß es dieGötter gar nicht gibt, von denen Mama erzählt hat, und daßes Sünde ist, von ihnen zu sprechen.«
»Hat Vater sie deshalb ?«
»Ja«, unterbrach Matthias die kleine Schwester. »Mama mußte zum Wohle ihrer Seele bestraft werden. Und sie hatihrem Ehemann nicht gehorcht, und auch das ist ein Verstoß gegen Gottes Gesetz.«
»Warum?«
»Weil es so in der Heiligen Schrift steht«, erwiderteMatthias und zitierte: »Denn der Gatte ist der Beherrscher des Weibes; deshalbsollen die Weiber sich in allen Dingen dem Manne unterwerfen.«
»Warum?«
»Wa- warum?« Matthias warperplex. Diese Frage hatte ihm noch niemand gestellt. »Na ja, ich nehme an,weil weil Frauen von Natur aus den Männern unterlegen sind. Männer sindgrößer, stärker und klüger.«
»Aber «, setzte Johanna zur Erwiderung an, wurde jedochvon ihrem Bruder unterbrochen.
»Das waren vorerst genug Fragen, Schwesterchen. Du müßtest längst im Bett sein. Komm jetzt.«Er trug sie zum Bett und legte sie neben Johannes, der bereits in tiefem Schlaflag.
Wie immer war Matthias lieb zu ihr gewesen. Um ihm seineFreundlichkeit zu danken, schloß Johanna die Augen,deckte sich zu und tat so, als würde sie schlafen.
Doch sie war viel zu aufgeregt, als daßsie hätte schlafen können. Sie lag in der Dunkelheit und spähte auf den leiseschnarchenden Johannes, dessen Kinnlade schlaff herunterhing; der Mund standoffen.
Er ist schon acht Jahre alt und kann immer noch nichts ausdem Buch der Psalmen aufsagen. Johanna war erst fünf, doch sie kannte dieersten zehn Psalmen bereits auswendig.
Folglich war Johannes nicht so klug wie sie. Aber er warein Junge und hätte klüger sein müssen. Wie konnte Matthias sich so sehr irren?fragte sich Johanna. Er wußte doch alles, und späterwurde er Priester, wie ihr Vater.
Johanna lag wach in der Dunkelheit und ließ sich dieseDinge wieder und wieder durch den Kopf gehen.
Bei Anbruch der Morgendämmerung schlief sie ein, doch ihrSchlaf war ruhelos, und sie wurde von Träumen über gewaltige Kriege zwischeneifersüchtigen und zornigen Göttern heimgesucht. Der Engel Gabriel persönlichkam mit einem Flammenschwert vom Himmel, um mit Thor und Freyja den Kampf zuwagen. Die Schlacht war wild und schrecklich, doch am Ende wurden die falschenGötter zurückgeschlagen, und Gabriel stand triumphierend vor den Toren desParadieses. Sein Flammenschwert war verschwunden; in seiner Hand funkelte einkurzes Jagdmesser mit Hirschhorngriff.
© Verlagsgruppe AufbauÜbersetzung:Wolfgang Neuhaus
- Autor: Donna Woolfolk Cross
- 2009, 63. Aufl., 585 Seiten, Maße: 12 x 19,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Wolfgang Neuhaus
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746614007
- ISBN-13: 9783746614007
- Erscheinungsdatum: 30.01.2001
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