Die Puppenmacherin / Nils Trojan Bd.2
Psychothriller
Keiner tötet wie er. Er wird nicht ruhen, bis er sie hat. Damit er endlich seinen Frieden findet
Als der Berliner Kommissar Nils Trojan an den Schauplatz eines neuen Mordfalles gerufen wird, ist er zutiefst erschüttert von dem Anblick, der sich...
Als der Berliner Kommissar Nils Trojan an den Schauplatz eines neuen Mordfalles gerufen wird, ist er zutiefst erschüttert von dem Anblick, der sich...
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Produktinformationen zu „Die Puppenmacherin / Nils Trojan Bd.2 “
Keiner tötet wie er. Er wird nicht ruhen, bis er sie hat. Damit er endlich seinen Frieden findet
Als der Berliner Kommissar Nils Trojan an den Schauplatz eines neuen Mordfalles gerufen wird, ist er zutiefst erschüttert von dem Anblick, der sich ihm bietet: Der Täter hatte eine junge Frau in den Keller gelockt und sie dort auf ungeahnte Weise ermordet - ihr Körper ist erstarrt in einem monströsen Sarkophag aus getrocknetem Schaum. Bei seiner Recherche stößt Trojan auf einen älteren Fall, der verblüffende Parallelen aufweist: Damals konnte die Puppenmacherin Josephin Maurer in letzter Sekunde aus einem Keller befreit werden, der Angreifer hatte bereits Spuren seiner makabren Handschrift auf ihrem Körper hinterlassen. Doch der als Täter identifizierte Karl Junker gilt inzwischen als tot - kann es sein, dass jemand ihn kopiert? Oder ist er doch noch am Leben, besessen davon, sein grausames Werk fortzusetzen?
Als der Berliner Kommissar Nils Trojan an den Schauplatz eines neuen Mordfalles gerufen wird, ist er zutiefst erschüttert von dem Anblick, der sich ihm bietet: Der Täter hatte eine junge Frau in den Keller gelockt und sie dort auf ungeahnte Weise ermordet - ihr Körper ist erstarrt in einem monströsen Sarkophag aus getrocknetem Schaum. Bei seiner Recherche stößt Trojan auf einen älteren Fall, der verblüffende Parallelen aufweist: Damals konnte die Puppenmacherin Josephin Maurer in letzter Sekunde aus einem Keller befreit werden, der Angreifer hatte bereits Spuren seiner makabren Handschrift auf ihrem Körper hinterlassen. Doch der als Täter identifizierte Karl Junker gilt inzwischen als tot - kann es sein, dass jemand ihn kopiert? Oder ist er doch noch am Leben, besessen davon, sein grausames Werk fortzusetzen?
Klappentext zu „Die Puppenmacherin / Nils Trojan Bd.2 “
Keiner tötet wie er. Er wird nicht ruhen, bis er sie hat. Damit er endlich seinen Frieden findetAls der Berliner Kommissar Nils Trojan an den Schauplatz eines neuen Mordfalles gerufen wird, ist er zutiefst erschüttert von dem Anblick, der sich ihm bietet: Der Täter hatte eine junge Frau in den Keller gelockt und sie dort auf ungeahnte Weise ermordet - ihr Körper ist erstarrt in einem monströsen Sarkophag aus getrocknetem Schaum. Bei seiner Recherche stößt Trojan auf einen älteren Fall, der verblüffende Parallelen aufweist: Damals konnte die Puppenmacherin Josephin Maurer in letzter Sekunde aus einem Keller befreit werden, der Angreifer hatte bereits Spuren seiner makabren Handschrift auf ihrem Körper hinterlassen. Doch der als Täter identifizierte Karl Junker gilt inzwischen als tot - kann es sein, dass jemand ihn kopiert? Oder ist er doch noch am Leben, besessen davon, sein grausames Werk fortzusetzen?
Lese-Probe zu „Die Puppenmacherin / Nils Trojan Bd.2 “
Die Puppenmacherin von Max Bentow PROLOG
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Alles war finster um sie herum. Sie wollte die Augen öffnen, aber es gelang ihr nicht. Da klebte etwas an ihren Brauen und auf den Wangenknochen, da presste sich etwas auf ihre Lider, wie ein festes Band.
Ein Zucken durchfuhr sie, dann folgte der Schmerz. Es war ihr nicht möglich, die Arme zu bewegen, sie waren weit nach hinten gestreckt, die Handgelenke eingeschnürt. Sie versuchte ihre Füße aufzustellen, aber auch dort schienen Fesseln zu sein, sie schnitten sich in ihr Fleisch.
Der Untergrund, auf dem sie lag, war kalt, es roch modrig und feucht. Für einen Moment glaubte sie, sie sei in einem Sarg, begraben bei lebendigem Leib, dann dachte sie an einen Keller, irgendein dunkles Verlies, und sie wollte um Hilfe schreien, doch es kamen nur unzusammenhängende
Laute aus ihr heraus. Ihr war schwindlig, ein Brechreiz kroch ihre Kehle hinauf. Etwas musste sie betäubt haben, sie erinnerte sich vage an einen stechenden Geruch und das Zuschlagen einer Autotür. Da hörte sie plötzlich, wie etwas über den Boden scharrte, nicht weit von ihr entfernt. Entsetzt lauschte sie in die Dunkelheit hinein. Sie fragte tonlos, ob da jemand sei. Es antwortete bloß ihr dumpf schlagendes Herz. Kurz darauf drang das Geräusch erneut an ihre Ohren, es klang, als würde ein metallischer Gegenstand hin und her rollen, schurrend, drohend. Und mit einem Mal spürte sie, dass sie nicht allein war.
Jäh kehrte die Erinnerung zurück. Sie war auf der Straße gewesen, auf dem Weg zu ihrer Freundin. Sie dachte an den Mann mit dem Basecap, sie hatte ihn gesehen, als sie in den Van gestoßen wurde. Selbst das Kennzeichen hatte sie sich eingeprägt, es war ein B, dann kam der Bindestrich, gefolgt von einem G oder einem H, schließlich die Ziffernfolge 589. Sie durfte es nicht wieder vergessen. Sie lauschte. Und dann hörte sie ihn atmen.
Er war ihr nah, ganz nah. Sein Atem traf heiß auf ihr Gesicht, und er roch schlecht, gierig und säuerlich. Sie warf den Kopf herum. »Was wollen Sie von mir?«, stieß sie hervor. Es kam keine Antwort.
»Bitte, lassen Sie mich gehen!« Sie begann zu wimmern, ein Zittern durchlief ihren Körper. Lange Zeit passierte nichts.
Doch dann spürte sie etwas an den Beinen. Es war kalt, Metall auf ihrer nackten Haut. Sie hörte den ratschenden Stoff, wie er aufklaffte, eine Schere schnappte, und plötzlich waren da Hände und zerrten ihr die Jeans vom Körper, und sie bettelte den Fremden leise an, ihr das nicht anzutun, aber er sagte nichts, und die Schere wanderte von ihrem Bauch aufwärts hin zu ihrem Hals, und für kurze Zeit verlor sie wieder das Bewusstsein. Sie fiel, es war beinahe eine Erleichterung zu fallen, tief hinab, fort von allem.
Als sie wieder zu sich kam, schlugen ihre Zähne aufeinander. Sie bebte, unter ihr der nackte Steinboden. Sie lauschte, versuchte herauszufinden, ob ihr Peiniger noch immer in der Nähe war. Da hörte sie wieder, wie etwas über den Boden rollte, und dann sprach eine Stimme zu ihr. Sie klang tief
und gepresst, als drückte jemand beim Sprechen das Kinn auf die Brust: »Komm her zu Karli. Nun mach schon, hab Dich nicht so. Karli wartet auf Dich.«
Sie zitterte, schnappte nach Luft. »Hören Sie«, stammelte sie, »wenn Sie mich gehen lassen, werde ich nichts verraten, gar nichts.« Doch die Stimme schien überhaupt nicht auf sie zu reagieren, sie sprach einfach weiter: »Komm doch, komm her zu Karli. er wartet schon.« »Bitte, ich flehe Sie an -.«
Die Stimme aber verfiel in eine Art Singsang, wiederholte die Sätze, immer und immer wieder.
Es war ihr unheimlich. Als sie noch überlegte, was sie darauf entgegnen sollte, vernahm sie plötzlich ein schüttelndes Geräusch. Und dann zischte etwas. Sie schrie auf. Sie spürte es an den Füßen. Es war klebrig, wie ein Schaum überzog es sie. Und es wurde immer mehr. Sie schrie noch einmal. Sie wollte die Füße wegziehen, doch ohne Erfolg, sie zog ihre Fesseln dabei nur fester zu.
Das Zischen setzte für einen Moment aus. Sie hörte Gelächter. Dann wurde weiter auf sie eingesprüht. Sie hatte dieses klebrige Zeug auf der Haut, es ekelte sie. Bis über die Waden und die Schienbeine breitete es sich aus. Es war wie ein kriechendes Getier, das sich schmatzend über sie hermachte. Es dauerte lange. Sie wimmerte. Schließlich wurde ihr der Mund mit einem Tape verklebt. Kurz darauf entfernten sich Schritte, und dann hörte sie das Klappen einer Tür. Sie war allein. Die Masse an ihren nackten Beinen härtete allmählich ein. Immer fester wurde sie, umhüllte ihre Füße und ihre Unterschenkel bis hin zu ihren Knien. Als würde ein formloses Wesen sie umklammern, gespenstisch und kalt. Sie konnte nicht einmal um Hilfe schreien.
Niemand kam. Und viel später, obwohl sie nicht gläubig war, schickte sie in Gedanken ein Stoßgebet in die Finsternis hinaus: »Hilf mir, lieber Gott, ich bitte dich, lass mich entkommen, lass mich hier raus.«
ERSTER TEIL
EINS
Er hatte nicht viel Zeit, aber er musste den richtigen Moment abpassen. Eine falsche Bewegung, ein verfrühtes Zucken mit der Waffe, ein unplatzierter Schuss, und die junge Frau vor ihm wäre tot.
Nils Trojan kniff die Augen zusammen, registrierte seinen rasenden Puls, das Adrenalin in seinen Adern. Er fühlte eine leichte Schwäche in seinem rechten Arm, ein Zittern, das er sofort wieder unter Kontrolle brachte. Der Mund der Frau öffnete sich zu einem Schrei, aber er
konnte sie nicht hören. Er versuchte sich auf ihren Angreifer zu konzentrieren, bemerkte den vorgeschobenen Kiefer, die zusammengepressten Lippen, der war zu allem bereit. Er hielt sie im Würgegriff, drückte den Lauf seiner Pistole an ihren Hinterkopf und stieß sie vor sich her.
Da waren überall Menschen, unmöglich, jetzt abzudrücken. Auf der Straße war dichter Verkehr, ein Sonnenstrahl blitzte auf, traf Trojan mitten im Gesicht. Er blinzelte. Für einen Moment konnte er die beiden nicht mehr erkennen, sie waren in der Menge abgetaucht, endlich erblickte er einen Zipfel von seinem Mantel, und da war sein Haarschopf und wieder das angstverzerrte Gesicht der Frau. Sie kamen näher. Jetzt. Er zog die Waffe aus dem Holster und lud sie durch. Der Kopf der Frau war genau in der Schusslinie. Hinter ihnen hielt der Bus, nun ahnte Trojan, wo der Kerl mit ihr hinwollte. Zu viele Menschen um sie herum, er fuhr mit der Waffe am ausgestreckten Arm hin und her, nahm die Linke zu Hilfe, umklammerte den Griff mit beiden Händen und zielte.
Für einen Augenblick waren sie von den anderen isoliert. Er hatte den Kerl deutlich vor sich, der Finger am Abzug war unter Spannung: Jetzt, jetzt! Doch schon tauchten wieder Passanten um sie herum auf, und er horchte in sich hinein. Sollte er das wirklich tun?
Der Typ war am Bus, die Frau drehte den Kopf weg, wenn sie jetzt nur keinen Ärger machte und sich zur Wehr setzte. Sobald sie das Innere des Wagens erreicht hätten, wäre alles zu spät. Nicht länger nachdenken.
Trojan drückte ab. Der Schussknall war merkwürdig dumpf, als sei sein Gehör geschädigt.
Er glaubte, dass er ihn an der Schulter getroffen hatte, aber er war sich nicht sicher, also drückte er ein zweites Mal ab. Die Patronenhülse, eine 9mm Parabellum, sprang aus seiner Sig Sauer und fiel zu Boden. Er feuerte ein drittes Mal.
Plötzlich gefror das Bild. Schweiß rann an seinem Rücken hinunter. Lange Zeit blieb es still. Dann meldete sich eine Stimme hinter ihm. »Guter Treffer, Nils.«
Trojan versuchte seine Anspannung zu verbergen. »Die Frau hat wirklich nichts abbekommen?« »Nein. Schau doch genau hin.« Der Instrukteur trat vor und wies auf den Geiselnehmer. »Du triffst ihn an der Schulter und am Bein.« Trojan blickte auf die Löcher in der Leinwand. Es roch nach Blei in der Indoorschießbahn im Keller des Kommissariats. »Nur der dritte Schuss war völlig überflüssig.«
Trojan hörte seinen Trainer durch die Kopfhörer hindurch, die lediglich die Frequenzen der Schüsse dämmten.
Breier zeigte auf das Einschussloch in der Karosserie des Busses. Trojan ließ die Waffe sinken. Er mochte das Schießtraining nicht besonders, aber es half nichts, er musste es tun, zumal sein Arm ein paar Wochen lang eingegipst war, nachdem er ihn sich bei einem seiner letzten Einsätze gebrochen hatte. Dieser Einsatz wäre beinahe tödlich für ihn verlaufen. Und nicht nur für ihn. »Das ging erstaunlich gut, Nils, wirklich.« Trojan versuchte zu lächeln. Er zwang sich, an die Umstände seiner Verletzung nicht mehr zu denken. Er musste nach vorne schauen, nur nach vorn.
»Machen wir Schluss für heute?«, fragte er. »Wenn du willst, kannst du noch ein paar Kugeln abfeuern, ich hab Zeit.« Trojan schüttelte den Kopf und nahm das Magazin aus seiner Waffe. »Beim nächsten Mal wieder.«
Breier zuckte mit den Achseln. Er betätigte einen Knopf, und die Leinwand für den nächsten Trainingsfilm wurde von der Decke herabgelassen. Trojan nahm sich die Kopfhörer ab, legte sie auf den Tisch, nickte Breier noch einmal zu und verließ den Schießkorridor.
Er ging die Treppen zu seinem Büro hinauf, reinigte seine Waffe und verschloss sie im Stahlschrank.
Als er wieder auf dem Weg nach unten war, kam ihm ein Angestellter aus dem Archiv entgegen. Er balancierte einen Karton auf den Unterarmen, am Treppenabsatz stolperte er, und der Inhalt fiel heraus, unzähliges Aktenmaterial und ein paar alte Polaroids von einem Tatort. Er fluchte.
Trojan bückte sich und half ihm beim Aufsammeln. Er kannte den anderen nur vom Sehen.
»Die wickeln in der dritten Mordkommission gerade einen alten Fall auf, und wer muss das Zeug aus dem Archiv schleppen? Natürlich ich.«
Trojan blickte auf die Bilder, Fehlfarben aus ferner Vergangenheit. Er sah einen blutbefleckten Teppich, eine altmodische Wohnungseinrichtung.
»Polaroids«, murmelte er, und mit einem Mal schlug sein Herz heftiger. Da war die Nahaufnahme von einer Toten. Ihr Haar war mit Hirnmasse verklebt. Man hatte ihr den Schädel eingeschlagen.
Der Archivar grinste. »Aus der unschuldigen Zeit, als es noch keine Digitalkameras gab.«
Trojan wollte sich wieder aufrichten, doch dann spürte er das Stechen in der Brust. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Er wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton heraus. »Alles in Ordnung? Du bist ja kreidebleich.« Er verzog das Gesicht.
Endlich stand er wieder, aber er musste sich an die Wand im Treppenhaus lehnen. »Der Anblick sollte dir doch eigentlich vertraut sein, Kollege. Bloß eine Tote, mehr nicht.« Sein Grinsen wurde breiter. Trojan mochte diesen Sarkasmus nicht.
Woher aber plötzlich diese Panik? Erinnerungsbilder flackerten vor ihm auf, mit einer Wucht, die ihm den Atem nahm. Da war die Neubausiedlung, in der er groß geworden war, die hässlichen Waschbetonbauten. Eine Tür stand sperrangelweit offen, es war das Haus in der Nachbarschaft. Etwas Schreckliches war geschehen, wie ein Lauffeuer sprach es sich herum. Die Frau aus Nummer 87, eine junge Frau, sie war tot. Man flüsterte sich zu, sie sei ermordet worden. Da waren die Absperrbänder und die Männer in den weißen Overalls. Und dann wurde die Trage herausgebracht, darauf befand sich der Leichensack.
Er war noch ein kleiner Junge, und er wusste etwas über die Tote, aber das durfte er niemandem verraten. Trojan erhaschte einen letzten Blick auf das Polaroid in der Hand des Archivars. All das Blut, die Hirnmasse.
War das die Frau? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte nur wenig Ähnlichkeit mit ihr, und überhaupt lag das doch alles schon eine Ewigkeit zurück. Warum aber diese Angst? Der Archivar verstaute die Bilder in dem Karton. »Alles Schnee von gestern, Kollege, mach's gut.«
Er entfernte sich durch den Gang. Trojan blickte ihm nach.
Nur ein einfacher Angestellter, dachte er, keiner seiner Kollegen aus der Fünften Mordkommission. Wenn ihn einer von ihnen in diesem Zustand erleben würde, was dann? Als Bulle durfte er keine Schwäche zeigen und schon gar keine Angst. Er massierte sich die Herzgegend.
Ruhig, nur ruhig, dachte er.
Langsam, Stufe für Stufe, stieg er die Treppe hinab. Der Wachpolizist im Erdgeschoss warf ihm einen fragenden Blick zu. Trojan antwortete mit einer schiefen Grimasse. Dann stieß er das Eingangstor auf und trat hinaus. Die Karthagostraße war in tiefes Abendlicht getaucht. Vögel lärmten in den Bäumen. Die Augusthitze hatte noch immer nicht nachgelassen. Es roch nach Sommer und Staub und ganz schwach aus den Gehegen im nahe gelegenen Zoo. Trojan löste das Schloss von seinem Fahrrad und schob es zur Kurfürstenstraße. Er bog nach links ein und ging so lange weiter, bis er sich halbwegs beruhigt hatte. Erst an der Urania schwang er sich auf den Sattel und fuhr in Richtung Kreuzberg.
Das alte Polaroid, dachte er unterwegs. Er musste es wiederfinden. Irgendwo hatte er es versteckt.
Wieder wurde es dunkel im Saal, gleich würde der zwanzigste Kurzfilm an diesem Abend folgen. Josephin Maurer war bereits ziemlich erschöpft.
Sie mochte es nicht, wenn das Licht ausging, Dunkelheit machte sie nervös. Sie versuchte sich zu konzentrieren, um den letzten Film an diesem Abend wenigstens auch ein bisschen genießen zu können, immerhin hatte sie an ihm mitgewirkt. Die Hauptfigur war gewissermaßen sie selbst, wenn auch nur mit einem Puppengesicht.
Sie hatte sie in einer einzigen Nacht angefertigt, ein Amigurumi, das war die japanische Kunst, kleine, gestopfte Tiere und menschenähnliche Kreaturen zu häkeln oder zu stricken. Nachdem sie einmal im Internet etwas darüber gelesen hatte, war sie regelrecht besessen davon. Sie hatte mit Schweinen, Hasen, Igeln und einem Opossum angefangen und war schließlich dazu übergegangen, Menschenpuppen im Manga-Stil herzustellen.
Sie verkauften sich einigermaßen gut, zumindest reichte es, um die Miete für ihren kleinen Laden in der Weserstraße zu bezahlen, es gab auch selbstentworfene T-Shirts im Angebot und allerlei Krimskrams. Zur Not konnte sie immer auf die Unterstützung ihrer Eltern rechnen.
Die Musik setzte ein. Josephin Maurer holte tief Luft. Der Film begann.
Es war später Abend, man sah die Puppe in ihrem Puppen- heim. Sie hatte große Augen, so groß wie die ihrer Schöpferin, und auch sie trug ihre Strickmütze tief in die Stirn gezogen. Niemals hätte Josephin Maurer auf ihre Mütze verzichtet, nicht im heißen August und auch nicht hier im Kino, so glaubte sie sich sicherer, unbehelligt, als dürfte ein Teil von ihr in ihrem Versteck bleiben. Diese Eigenschaft hatte sie ihrer Puppe mitgegeben, ebenso wie sie ihr ihren eigenen Spitznamen verpasst hatte: Josie.
Milan wollte das nicht wahrhaben. Milan weigerte sich, in der Puppe Josie seine Freundin Josie wiederzuerkennen, für ihn war sie bloß irgendeine Manga-Figur, zufällig auch mit Strickmütze, zufällig mit ihrem Namen. Josie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Denn dieses Wesen dort auf der Leinwand war niemand anderes als sie selbst.
Milan hatte den Film in Stop-Motion-Technik gedreht. Das war eine mühselige Kleinarbeit, in der er jede Bewegung der Puppe einzeln aufnehmen musste, ein halbes Jahr hatte er für den zehnminütigen Clip gebraucht. Josie fand das zu lang, sie hätte nicht die Geduld dafür, aber das Drehen war nun mal Milans Part.
Die Puppe streifte sich ein Nachthemd über und zog die Vorhänge vor. Josie hatte sie in den Schuhkarton gehängt, der das Puppenzimmer darstellte, auch die Tapeten hatte sie angeklebt und die kleinen Möbelstücke gebastelt. Ausstattung: Josephin Maurer. So wäre es im Abspann vermerkt, doch sie wusste nicht, ob sie bis dahin durchhalten würde.
Sie war viel zu nervös, konnte nicht stillsitzen. Die Dunkelheit rief Beklemmungen in ihr hervor. Dazu kam die stickige Luft im Kino, was für eine idiotische Idee der Veranstalter, ein Animations-Kurzfilmfestival im August abzuhalten. Im Sommer sollte man sich nicht zu oft in geschlossenen Räumen aufhalten. Josie stellte sich vor, in diesem Moment irgendwo in dieser Stadt unterm befreienden Nachthimmel zu sitzen und ein kühles Getränk zu sich zu nehmen, irgendeinen Cocktail mit frischer Minze, ja, etwas Alkohol, das würde sie entspannen.
Plötzlich tippte sie jemand von hinten an. Jede Berührung im Dunkeln war ihr unangenehm. Entsetzt fuhr sie herum. »Entschuldige, aber du zappelst so.«
Sie konnte ihren Hintermann nicht genau erkennen, aber so viel stand für sie fest: Sein Gesicht gefiel ihr nicht. Sie drehte sich wieder nach vorn. Milan, der neben ihr saß, sagte etwas zu ihr, aber sie hörte schon nicht mehr zu. Sie murmelte eine Entschuldigung und stand auf.
Die Puppe Josie wälzte sich gerade in ihrem Bett hin und her, sie trug noch immer ihre Strickmütze, selbst zum Schlafengehen setzte sie sie nicht ab, zumindest darin unterschied sie sich von der realen Josie. Die Tür, die kleine Papptür im Schuhkarton, wurde aufgestoßen, dazu erklang das grässliche Sounddesign, auch dafür war Milan verantwortlich. Das Knarren der Tür war unheimlich verstärkt, ein paar verzerrte Akkorde erschallten, und gleich würde dieses Spinnenwesen im Zimmer auftauchen. Josie hatte Tage dafür gebraucht, ihm all die kleinen metallischen Teile anstelle der Beine anzubringen, fiese, spitze Instrumente, die das Wesen vor der erschreckten Puppe Josie ausbreiten würde.
Die Musik wurde lauter, und das Ungetüm näherte sich dem Bett. Josie kannte die Szene, Milan hatte sie ihr bestimmt an die hundert Mal vorgeführt. Die Spinne war seine Idee gewesen, und sie hatte eingewilligt, sie für ihn anzufertigen, aber es hatte ihr nicht gefallen. Sie musste sich eingestehen, dass ihr ein Großteil des Films nicht gefiel, aber so war Milan eben nun mal. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, brachte ihn nichts mehr davon ab.
1. Auflage Copyright © 2012 by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alles war finster um sie herum. Sie wollte die Augen öffnen, aber es gelang ihr nicht. Da klebte etwas an ihren Brauen und auf den Wangenknochen, da presste sich etwas auf ihre Lider, wie ein festes Band.
Ein Zucken durchfuhr sie, dann folgte der Schmerz. Es war ihr nicht möglich, die Arme zu bewegen, sie waren weit nach hinten gestreckt, die Handgelenke eingeschnürt. Sie versuchte ihre Füße aufzustellen, aber auch dort schienen Fesseln zu sein, sie schnitten sich in ihr Fleisch.
Der Untergrund, auf dem sie lag, war kalt, es roch modrig und feucht. Für einen Moment glaubte sie, sie sei in einem Sarg, begraben bei lebendigem Leib, dann dachte sie an einen Keller, irgendein dunkles Verlies, und sie wollte um Hilfe schreien, doch es kamen nur unzusammenhängende
Laute aus ihr heraus. Ihr war schwindlig, ein Brechreiz kroch ihre Kehle hinauf. Etwas musste sie betäubt haben, sie erinnerte sich vage an einen stechenden Geruch und das Zuschlagen einer Autotür. Da hörte sie plötzlich, wie etwas über den Boden scharrte, nicht weit von ihr entfernt. Entsetzt lauschte sie in die Dunkelheit hinein. Sie fragte tonlos, ob da jemand sei. Es antwortete bloß ihr dumpf schlagendes Herz. Kurz darauf drang das Geräusch erneut an ihre Ohren, es klang, als würde ein metallischer Gegenstand hin und her rollen, schurrend, drohend. Und mit einem Mal spürte sie, dass sie nicht allein war.
Jäh kehrte die Erinnerung zurück. Sie war auf der Straße gewesen, auf dem Weg zu ihrer Freundin. Sie dachte an den Mann mit dem Basecap, sie hatte ihn gesehen, als sie in den Van gestoßen wurde. Selbst das Kennzeichen hatte sie sich eingeprägt, es war ein B, dann kam der Bindestrich, gefolgt von einem G oder einem H, schließlich die Ziffernfolge 589. Sie durfte es nicht wieder vergessen. Sie lauschte. Und dann hörte sie ihn atmen.
Er war ihr nah, ganz nah. Sein Atem traf heiß auf ihr Gesicht, und er roch schlecht, gierig und säuerlich. Sie warf den Kopf herum. »Was wollen Sie von mir?«, stieß sie hervor. Es kam keine Antwort.
»Bitte, lassen Sie mich gehen!« Sie begann zu wimmern, ein Zittern durchlief ihren Körper. Lange Zeit passierte nichts.
Doch dann spürte sie etwas an den Beinen. Es war kalt, Metall auf ihrer nackten Haut. Sie hörte den ratschenden Stoff, wie er aufklaffte, eine Schere schnappte, und plötzlich waren da Hände und zerrten ihr die Jeans vom Körper, und sie bettelte den Fremden leise an, ihr das nicht anzutun, aber er sagte nichts, und die Schere wanderte von ihrem Bauch aufwärts hin zu ihrem Hals, und für kurze Zeit verlor sie wieder das Bewusstsein. Sie fiel, es war beinahe eine Erleichterung zu fallen, tief hinab, fort von allem.
Als sie wieder zu sich kam, schlugen ihre Zähne aufeinander. Sie bebte, unter ihr der nackte Steinboden. Sie lauschte, versuchte herauszufinden, ob ihr Peiniger noch immer in der Nähe war. Da hörte sie wieder, wie etwas über den Boden rollte, und dann sprach eine Stimme zu ihr. Sie klang tief
und gepresst, als drückte jemand beim Sprechen das Kinn auf die Brust: »Komm her zu Karli. Nun mach schon, hab Dich nicht so. Karli wartet auf Dich.«
Sie zitterte, schnappte nach Luft. »Hören Sie«, stammelte sie, »wenn Sie mich gehen lassen, werde ich nichts verraten, gar nichts.« Doch die Stimme schien überhaupt nicht auf sie zu reagieren, sie sprach einfach weiter: »Komm doch, komm her zu Karli. er wartet schon.« »Bitte, ich flehe Sie an -.«
Die Stimme aber verfiel in eine Art Singsang, wiederholte die Sätze, immer und immer wieder.
Es war ihr unheimlich. Als sie noch überlegte, was sie darauf entgegnen sollte, vernahm sie plötzlich ein schüttelndes Geräusch. Und dann zischte etwas. Sie schrie auf. Sie spürte es an den Füßen. Es war klebrig, wie ein Schaum überzog es sie. Und es wurde immer mehr. Sie schrie noch einmal. Sie wollte die Füße wegziehen, doch ohne Erfolg, sie zog ihre Fesseln dabei nur fester zu.
Das Zischen setzte für einen Moment aus. Sie hörte Gelächter. Dann wurde weiter auf sie eingesprüht. Sie hatte dieses klebrige Zeug auf der Haut, es ekelte sie. Bis über die Waden und die Schienbeine breitete es sich aus. Es war wie ein kriechendes Getier, das sich schmatzend über sie hermachte. Es dauerte lange. Sie wimmerte. Schließlich wurde ihr der Mund mit einem Tape verklebt. Kurz darauf entfernten sich Schritte, und dann hörte sie das Klappen einer Tür. Sie war allein. Die Masse an ihren nackten Beinen härtete allmählich ein. Immer fester wurde sie, umhüllte ihre Füße und ihre Unterschenkel bis hin zu ihren Knien. Als würde ein formloses Wesen sie umklammern, gespenstisch und kalt. Sie konnte nicht einmal um Hilfe schreien.
Niemand kam. Und viel später, obwohl sie nicht gläubig war, schickte sie in Gedanken ein Stoßgebet in die Finsternis hinaus: »Hilf mir, lieber Gott, ich bitte dich, lass mich entkommen, lass mich hier raus.«
ERSTER TEIL
EINS
Er hatte nicht viel Zeit, aber er musste den richtigen Moment abpassen. Eine falsche Bewegung, ein verfrühtes Zucken mit der Waffe, ein unplatzierter Schuss, und die junge Frau vor ihm wäre tot.
Nils Trojan kniff die Augen zusammen, registrierte seinen rasenden Puls, das Adrenalin in seinen Adern. Er fühlte eine leichte Schwäche in seinem rechten Arm, ein Zittern, das er sofort wieder unter Kontrolle brachte. Der Mund der Frau öffnete sich zu einem Schrei, aber er
konnte sie nicht hören. Er versuchte sich auf ihren Angreifer zu konzentrieren, bemerkte den vorgeschobenen Kiefer, die zusammengepressten Lippen, der war zu allem bereit. Er hielt sie im Würgegriff, drückte den Lauf seiner Pistole an ihren Hinterkopf und stieß sie vor sich her.
Da waren überall Menschen, unmöglich, jetzt abzudrücken. Auf der Straße war dichter Verkehr, ein Sonnenstrahl blitzte auf, traf Trojan mitten im Gesicht. Er blinzelte. Für einen Moment konnte er die beiden nicht mehr erkennen, sie waren in der Menge abgetaucht, endlich erblickte er einen Zipfel von seinem Mantel, und da war sein Haarschopf und wieder das angstverzerrte Gesicht der Frau. Sie kamen näher. Jetzt. Er zog die Waffe aus dem Holster und lud sie durch. Der Kopf der Frau war genau in der Schusslinie. Hinter ihnen hielt der Bus, nun ahnte Trojan, wo der Kerl mit ihr hinwollte. Zu viele Menschen um sie herum, er fuhr mit der Waffe am ausgestreckten Arm hin und her, nahm die Linke zu Hilfe, umklammerte den Griff mit beiden Händen und zielte.
Für einen Augenblick waren sie von den anderen isoliert. Er hatte den Kerl deutlich vor sich, der Finger am Abzug war unter Spannung: Jetzt, jetzt! Doch schon tauchten wieder Passanten um sie herum auf, und er horchte in sich hinein. Sollte er das wirklich tun?
Der Typ war am Bus, die Frau drehte den Kopf weg, wenn sie jetzt nur keinen Ärger machte und sich zur Wehr setzte. Sobald sie das Innere des Wagens erreicht hätten, wäre alles zu spät. Nicht länger nachdenken.
Trojan drückte ab. Der Schussknall war merkwürdig dumpf, als sei sein Gehör geschädigt.
Er glaubte, dass er ihn an der Schulter getroffen hatte, aber er war sich nicht sicher, also drückte er ein zweites Mal ab. Die Patronenhülse, eine 9mm Parabellum, sprang aus seiner Sig Sauer und fiel zu Boden. Er feuerte ein drittes Mal.
Plötzlich gefror das Bild. Schweiß rann an seinem Rücken hinunter. Lange Zeit blieb es still. Dann meldete sich eine Stimme hinter ihm. »Guter Treffer, Nils.«
Trojan versuchte seine Anspannung zu verbergen. »Die Frau hat wirklich nichts abbekommen?« »Nein. Schau doch genau hin.« Der Instrukteur trat vor und wies auf den Geiselnehmer. »Du triffst ihn an der Schulter und am Bein.« Trojan blickte auf die Löcher in der Leinwand. Es roch nach Blei in der Indoorschießbahn im Keller des Kommissariats. »Nur der dritte Schuss war völlig überflüssig.«
Trojan hörte seinen Trainer durch die Kopfhörer hindurch, die lediglich die Frequenzen der Schüsse dämmten.
Breier zeigte auf das Einschussloch in der Karosserie des Busses. Trojan ließ die Waffe sinken. Er mochte das Schießtraining nicht besonders, aber es half nichts, er musste es tun, zumal sein Arm ein paar Wochen lang eingegipst war, nachdem er ihn sich bei einem seiner letzten Einsätze gebrochen hatte. Dieser Einsatz wäre beinahe tödlich für ihn verlaufen. Und nicht nur für ihn. »Das ging erstaunlich gut, Nils, wirklich.« Trojan versuchte zu lächeln. Er zwang sich, an die Umstände seiner Verletzung nicht mehr zu denken. Er musste nach vorne schauen, nur nach vorn.
»Machen wir Schluss für heute?«, fragte er. »Wenn du willst, kannst du noch ein paar Kugeln abfeuern, ich hab Zeit.« Trojan schüttelte den Kopf und nahm das Magazin aus seiner Waffe. »Beim nächsten Mal wieder.«
Breier zuckte mit den Achseln. Er betätigte einen Knopf, und die Leinwand für den nächsten Trainingsfilm wurde von der Decke herabgelassen. Trojan nahm sich die Kopfhörer ab, legte sie auf den Tisch, nickte Breier noch einmal zu und verließ den Schießkorridor.
Er ging die Treppen zu seinem Büro hinauf, reinigte seine Waffe und verschloss sie im Stahlschrank.
Als er wieder auf dem Weg nach unten war, kam ihm ein Angestellter aus dem Archiv entgegen. Er balancierte einen Karton auf den Unterarmen, am Treppenabsatz stolperte er, und der Inhalt fiel heraus, unzähliges Aktenmaterial und ein paar alte Polaroids von einem Tatort. Er fluchte.
Trojan bückte sich und half ihm beim Aufsammeln. Er kannte den anderen nur vom Sehen.
»Die wickeln in der dritten Mordkommission gerade einen alten Fall auf, und wer muss das Zeug aus dem Archiv schleppen? Natürlich ich.«
Trojan blickte auf die Bilder, Fehlfarben aus ferner Vergangenheit. Er sah einen blutbefleckten Teppich, eine altmodische Wohnungseinrichtung.
»Polaroids«, murmelte er, und mit einem Mal schlug sein Herz heftiger. Da war die Nahaufnahme von einer Toten. Ihr Haar war mit Hirnmasse verklebt. Man hatte ihr den Schädel eingeschlagen.
Der Archivar grinste. »Aus der unschuldigen Zeit, als es noch keine Digitalkameras gab.«
Trojan wollte sich wieder aufrichten, doch dann spürte er das Stechen in der Brust. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Er wollte etwas sagen, aber er brachte keinen Ton heraus. »Alles in Ordnung? Du bist ja kreidebleich.« Er verzog das Gesicht.
Endlich stand er wieder, aber er musste sich an die Wand im Treppenhaus lehnen. »Der Anblick sollte dir doch eigentlich vertraut sein, Kollege. Bloß eine Tote, mehr nicht.« Sein Grinsen wurde breiter. Trojan mochte diesen Sarkasmus nicht.
Woher aber plötzlich diese Panik? Erinnerungsbilder flackerten vor ihm auf, mit einer Wucht, die ihm den Atem nahm. Da war die Neubausiedlung, in der er groß geworden war, die hässlichen Waschbetonbauten. Eine Tür stand sperrangelweit offen, es war das Haus in der Nachbarschaft. Etwas Schreckliches war geschehen, wie ein Lauffeuer sprach es sich herum. Die Frau aus Nummer 87, eine junge Frau, sie war tot. Man flüsterte sich zu, sie sei ermordet worden. Da waren die Absperrbänder und die Männer in den weißen Overalls. Und dann wurde die Trage herausgebracht, darauf befand sich der Leichensack.
Er war noch ein kleiner Junge, und er wusste etwas über die Tote, aber das durfte er niemandem verraten. Trojan erhaschte einen letzten Blick auf das Polaroid in der Hand des Archivars. All das Blut, die Hirnmasse.
War das die Frau? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte nur wenig Ähnlichkeit mit ihr, und überhaupt lag das doch alles schon eine Ewigkeit zurück. Warum aber diese Angst? Der Archivar verstaute die Bilder in dem Karton. »Alles Schnee von gestern, Kollege, mach's gut.«
Er entfernte sich durch den Gang. Trojan blickte ihm nach.
Nur ein einfacher Angestellter, dachte er, keiner seiner Kollegen aus der Fünften Mordkommission. Wenn ihn einer von ihnen in diesem Zustand erleben würde, was dann? Als Bulle durfte er keine Schwäche zeigen und schon gar keine Angst. Er massierte sich die Herzgegend.
Ruhig, nur ruhig, dachte er.
Langsam, Stufe für Stufe, stieg er die Treppe hinab. Der Wachpolizist im Erdgeschoss warf ihm einen fragenden Blick zu. Trojan antwortete mit einer schiefen Grimasse. Dann stieß er das Eingangstor auf und trat hinaus. Die Karthagostraße war in tiefes Abendlicht getaucht. Vögel lärmten in den Bäumen. Die Augusthitze hatte noch immer nicht nachgelassen. Es roch nach Sommer und Staub und ganz schwach aus den Gehegen im nahe gelegenen Zoo. Trojan löste das Schloss von seinem Fahrrad und schob es zur Kurfürstenstraße. Er bog nach links ein und ging so lange weiter, bis er sich halbwegs beruhigt hatte. Erst an der Urania schwang er sich auf den Sattel und fuhr in Richtung Kreuzberg.
Das alte Polaroid, dachte er unterwegs. Er musste es wiederfinden. Irgendwo hatte er es versteckt.
Wieder wurde es dunkel im Saal, gleich würde der zwanzigste Kurzfilm an diesem Abend folgen. Josephin Maurer war bereits ziemlich erschöpft.
Sie mochte es nicht, wenn das Licht ausging, Dunkelheit machte sie nervös. Sie versuchte sich zu konzentrieren, um den letzten Film an diesem Abend wenigstens auch ein bisschen genießen zu können, immerhin hatte sie an ihm mitgewirkt. Die Hauptfigur war gewissermaßen sie selbst, wenn auch nur mit einem Puppengesicht.
Sie hatte sie in einer einzigen Nacht angefertigt, ein Amigurumi, das war die japanische Kunst, kleine, gestopfte Tiere und menschenähnliche Kreaturen zu häkeln oder zu stricken. Nachdem sie einmal im Internet etwas darüber gelesen hatte, war sie regelrecht besessen davon. Sie hatte mit Schweinen, Hasen, Igeln und einem Opossum angefangen und war schließlich dazu übergegangen, Menschenpuppen im Manga-Stil herzustellen.
Sie verkauften sich einigermaßen gut, zumindest reichte es, um die Miete für ihren kleinen Laden in der Weserstraße zu bezahlen, es gab auch selbstentworfene T-Shirts im Angebot und allerlei Krimskrams. Zur Not konnte sie immer auf die Unterstützung ihrer Eltern rechnen.
Die Musik setzte ein. Josephin Maurer holte tief Luft. Der Film begann.
Es war später Abend, man sah die Puppe in ihrem Puppen- heim. Sie hatte große Augen, so groß wie die ihrer Schöpferin, und auch sie trug ihre Strickmütze tief in die Stirn gezogen. Niemals hätte Josephin Maurer auf ihre Mütze verzichtet, nicht im heißen August und auch nicht hier im Kino, so glaubte sie sich sicherer, unbehelligt, als dürfte ein Teil von ihr in ihrem Versteck bleiben. Diese Eigenschaft hatte sie ihrer Puppe mitgegeben, ebenso wie sie ihr ihren eigenen Spitznamen verpasst hatte: Josie.
Milan wollte das nicht wahrhaben. Milan weigerte sich, in der Puppe Josie seine Freundin Josie wiederzuerkennen, für ihn war sie bloß irgendeine Manga-Figur, zufällig auch mit Strickmütze, zufällig mit ihrem Namen. Josie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Denn dieses Wesen dort auf der Leinwand war niemand anderes als sie selbst.
Milan hatte den Film in Stop-Motion-Technik gedreht. Das war eine mühselige Kleinarbeit, in der er jede Bewegung der Puppe einzeln aufnehmen musste, ein halbes Jahr hatte er für den zehnminütigen Clip gebraucht. Josie fand das zu lang, sie hätte nicht die Geduld dafür, aber das Drehen war nun mal Milans Part.
Die Puppe streifte sich ein Nachthemd über und zog die Vorhänge vor. Josie hatte sie in den Schuhkarton gehängt, der das Puppenzimmer darstellte, auch die Tapeten hatte sie angeklebt und die kleinen Möbelstücke gebastelt. Ausstattung: Josephin Maurer. So wäre es im Abspann vermerkt, doch sie wusste nicht, ob sie bis dahin durchhalten würde.
Sie war viel zu nervös, konnte nicht stillsitzen. Die Dunkelheit rief Beklemmungen in ihr hervor. Dazu kam die stickige Luft im Kino, was für eine idiotische Idee der Veranstalter, ein Animations-Kurzfilmfestival im August abzuhalten. Im Sommer sollte man sich nicht zu oft in geschlossenen Räumen aufhalten. Josie stellte sich vor, in diesem Moment irgendwo in dieser Stadt unterm befreienden Nachthimmel zu sitzen und ein kühles Getränk zu sich zu nehmen, irgendeinen Cocktail mit frischer Minze, ja, etwas Alkohol, das würde sie entspannen.
Plötzlich tippte sie jemand von hinten an. Jede Berührung im Dunkeln war ihr unangenehm. Entsetzt fuhr sie herum. »Entschuldige, aber du zappelst so.«
Sie konnte ihren Hintermann nicht genau erkennen, aber so viel stand für sie fest: Sein Gesicht gefiel ihr nicht. Sie drehte sich wieder nach vorn. Milan, der neben ihr saß, sagte etwas zu ihr, aber sie hörte schon nicht mehr zu. Sie murmelte eine Entschuldigung und stand auf.
Die Puppe Josie wälzte sich gerade in ihrem Bett hin und her, sie trug noch immer ihre Strickmütze, selbst zum Schlafengehen setzte sie sie nicht ab, zumindest darin unterschied sie sich von der realen Josie. Die Tür, die kleine Papptür im Schuhkarton, wurde aufgestoßen, dazu erklang das grässliche Sounddesign, auch dafür war Milan verantwortlich. Das Knarren der Tür war unheimlich verstärkt, ein paar verzerrte Akkorde erschallten, und gleich würde dieses Spinnenwesen im Zimmer auftauchen. Josie hatte Tage dafür gebraucht, ihm all die kleinen metallischen Teile anstelle der Beine anzubringen, fiese, spitze Instrumente, die das Wesen vor der erschreckten Puppe Josie ausbreiten würde.
Die Musik wurde lauter, und das Ungetüm näherte sich dem Bett. Josie kannte die Szene, Milan hatte sie ihr bestimmt an die hundert Mal vorgeführt. Die Spinne war seine Idee gewesen, und sie hatte eingewilligt, sie für ihn anzufertigen, aber es hatte ihr nicht gefallen. Sie musste sich eingestehen, dass ihr ein Großteil des Films nicht gefiel, aber so war Milan eben nun mal. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, brachte ihn nichts mehr davon ab.
1. Auflage Copyright © 2012 by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Max Bentow
Max Bentow wurde in Berlin geboren. Nach seinem Schauspielstudium war er an verschiedenen Bühnen tätig. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Seit seinem Debütroman »Der Federmann« hat sich Max Bentow als einer der erfolgreichsten deutschen Thrillerautoren etabliert, alle seine Bücher waren große SPIEGEL-Bestsellererfolge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Max Bentow
- 2014, 400 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442480035
- ISBN-13: 9783442480036
- Erscheinungsdatum: 12.02.2014
Rezension zu „Die Puppenmacherin / Nils Trojan Bd.2 “
»Finger weg, wenn Sie schwache Nerven haben sollten. Ansonsten: Atmen nicht vergessen!"« Frankfurter Stadtkurier
Pressezitat
»Finger weg, wenn Sie schwache Nerven haben sollten. Ansonsten: Atmen nicht vergessen!"« Frankfurter Stadtkurier
Kommentar zu "Die Puppenmacherin / Nils Trojan Bd.2"