Die Reise nach Trulala
Und vieles dürfte selbst für...
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Und vieles dürfte selbst für Experten völlig neu sein.
''Das Geheimnis Kaminers ist die Sanftheit seiner Satire.''
Die Zeit
Mit ''Russendisko'' wurde der gebürtige Moskauer Wladimir Kaminer zu einem der gefragtesten Jungautoren Deutschlands. Hier nun sein neuester ''Streich''.
Die Reise nach Trulalavon Wladimir Kaminer
LESEPROBE
VerfehltesParis
Unsererstes deutsches Dokument, das wir im Polizeipräsidium am Alexanderplatz
1990erhielten, war eine ostdeutsche Aufenthaltserlaubnis. Unserem
altenTraum, dem Recht auf Reisefreiheit, waren wir dadurch nicht
nähergekommen. Gleich auf der ersten Seite des Dokuments stand: »Beim
Verlassender Deutschen Demokratischen Republik ist diese Aufenthaltserlaubnis
bei derzuständigen Dienststelle der Volkspolizei oder dem Grenzkontrollorgan
abzugeben.Gültig bis 30. 08. 2000.«
Wir plantendann auch erst einmal keine große Reise, wir waren froh,
überhauptein Dokument bekommen zu haben. Es erlaubte uns immerhin,
leise inunserem Ausländerwohnheim in Marzahn zu sitzen und die deutschen
Biersortenkennen zu lernen. Man kann nicht alles auf einmal haben.
Mirbereitete schon allein die Tatsache, dass ich nun nicht mehr in
derSowjetunion, sondern ganz woanders war, große Freude. Ich hatte
auch früherschon versucht, unter dem einen oder anderen Vorwand die
Sowjetunionzu verlassen, also das Weite zu suchen. Doch meine Vorhaben
warenallesamt fehlgeschlagen. 1986 hatte ich zum Beispiel von der
bestenFreundin meiner Mutter, die einen Deutschen geheiratet hatte
und inBerlin lebte, eine Einladung in die DDR bekommen.
Zuerst liefalles wie am Schnürchen: Ich gab die Urin- und Blutproben
ab, und diemedizinische Untersuchung ergab, dass ich gesundheitlich
im Standewar, eine Auslandsreise zu verkraften. Nun hatte ich nur
noch eineKlippe vor mir: das KIF - das Komitee für Internationale
Freundschaft.Ohne seine Erlaubnis bekam ich keinen Reisepass. Die
KIF-Funktionäreversammelten sich nur einmal im Monat. Sie waren für
dasideologische Antlitz der sowjetischen Jugend im Ausland zuständig
und versuchtennatürlich, so wenige Jugendliche wie möglich ins Ausland
zu lassen.Obwohl ich nur in die DDR wollte, die keine ideologischen
Differenzenmit uns hatte, musste ich trotzdem beim KIF antreten.
Und nichtallein, sondern mit dem Komsomol-Vorsitzenden der Theaterschule,
an der ichdamals studierte. Der Vorsitzende hatte mich schriftlich
zucharakterisieren und mich quasi persönlich für die Reise zu empfehlen.
Zum Glückwar Oleg, unser Komsomol-Organisator, in Ordnung. Ich kaufte
zweiFlaschen Wodka und stattete ihm einen Besuch ab. Anfänglich hatte
er keinenBock auf das ganze Theater: Die KIF-Sitzung sollte im hintersten
WinkelMoskaus, in der Leningrader Chaussee, stattfinden. Doch nach
ein paarGläsern wurde er freundlicher:
»Angenommen,ich schreibe dir ein positives Gutachten, was bringst
du mirdafür aus der DDR mit?«
»Was willstdu denn haben?«, fragte ich zurück. Ich wusste damals noch
gar nicht,was es in der DDR alles gab.
»ZweiStangen Zigaretten der Marke Kent und eine Flasche Eierlikör«,
klärte michOleg auf, der sich anscheinend besser auskannte als ich.
Ich müssemich gut auf die KIF-Sitzung vorbereiten und über die politische
Situationin Deutschland Bescheid wissen, meinte er. Das war nicht
besonderskompliziert. Über Deutschland und die europäische Nachkriegsgeschichte
stand inunseren Lehrbüchern nicht viel. Die Informationen waren auf
dasWesentliche reduziert und beanspruchten nicht einmal zwei Seiten.
Diesowjetische Armee hatte es 1944-45 nicht geschafft, ganz Europa
zu befreien,weil ein Teil davon bereits von den Amerikanern befreit
worden war.Deswegen war Europa in zwei Lager getrennt, und die von
unsbefreiten Völker hatten sich dann freiwillig für den Sozialismus
entschieden.Die anderen mussten einen kapitalistischen Weg einschlagen,
weil sievon den Amerikanern unter Druck gesetzt wurden.
MitDeutschland war es etwas komplizierter. Das Land war aus ideologischen
Gründengeteilt worden. Alle Exnazis fanden in Westdeutschland Unterschlupf,
und dieAntifaschisten gründeten die sozialistische DDR. Die Mauer
ist dannerst später dazugekommen: als Symbol des getrennten Deutschlands
und weildie Westberliner die seltsame Angewohnheit entwickelt hatten,
ihrekapitalistischen Westlöhne im preiswerten Osten auszugeben und
damitpermanent alle Läden dort leer räumten. Sie wollten praktisch
auf zweiPferden gleichzeitig reiten - im Kapitalismus verdienen und
imSozialismus einkaufen. Zuerst betrachteten die ostdeutschen Arbeiter
diesenZustand mit einer gewissen Nachsicht, aber dann platzte ihnen
irgendwannder Kragen, und ihr Generalsekretär Walter Ulbricht war
zum Handelngezwungen. Er wollte soziale Gerechtigkeit und befahl,
dieWestberliner einzumauern. Über Nacht umzingelten bewaffnete Arbeiterbrigaden
den Westteilder Stadt mit einer zunächst provisorischen Mauer. Am
nächstenTag machten die Westberliner wahrscheinlich ein dummes Gesicht,
als sie wieimmer in der DDR einkaufen gehen wollten.
Auf OlegsEmpfehlung las ich das ganze Kapitel aus dem Geschichtslehrbuch
nocheinmal. Zwei Tage später standen wir beide schwitzend auf dem
Teppich vorder KIF-Kommission. Sie bestand aus vier alten Frauen
und einemSchwerinvaliden, der mich misstrauisch ansah. Der Sinn des
Gesprächsbestand darin, herauszufinden, wozu ich überhaupt in die
DDR fahrenwollte und ob ich für eine solche Reise schon reif genug
war. Wirbelogen uns gegenseitig. Die Damen vom KIF taten so, als
ob siewirklich nicht wüssten, wieso ich in die DDR fahren wollte.
Und ich tatso, als ob ich wiederum das nicht wüsste.
»Ich möchteden sozialistischen Alltag unserer Brüder in der DDR und
dieSehenswürdigkeiten Berlins kennen lernen und außerdem Erfahrungen
austauschen«,murmelte ich. In Wirklichkeit hatte ich vor, so viele
Nazareth-und AC/DC-Platten in Ostberlin zu kaufen wie nur möglich
und siedann in Moskau für das Vierfache wieder zu verkaufen. Die
DDR-Musikindustriewar damals in vielerlei Hinsicht der unseren überlegen.
Der alte Krümelkacker vom Komitee wollte aber alles genau wissen:
welche Sehenswürdigkeitenich mir anschauen wollte und wie die sozialistischen
Brüder mitNachnamen hießen, deren Alltag ich kennen lernen wollte.
Eine derFrauen las laut das Empfehlungsschreiben mit meinen Charaktereigenschaften
vor, dasOleg für mich geschrieben hatte: »Wladimir Kaminerhat sich
in derGruppe als diszipliniertes und jedem gerne entgegenkommendes
Mitgliederwiesen. Allerdings ist er oft bei der Staatsbürgerkunde
nichtanwesend und nimmt nur beschränkt an der gesellschaftlichen
Arbeitteil.«
»Was hastdu geschrieben, du Idiot?«, zischte ich außer mir vor Wut
in RichtungOleg.
»Bleibruhig«, antwortete er cool, »ich weiß, was ich tue. Alles läuft
nach Plan.«
»Gut, dassSie so ehrlich mit uns sind und Ihre Probleme vor den Genossen
nichtverheimlichen«, sagte eine der Frauen zu mir und lächelte milde.
»Aber warumgehen Sie denn nicht zur Staatsbürgerkunde und nehmen
nurbeschränkt an der gesellschaftlichen Arbeit teil, Wladimir? Erzählen
Sie uns,was los ist.«
Ich fühltemich verarscht. Ich hatte gar nicht gewusst, dass so eine
Disziplinwie Staatsbürgerkunde an der Theaterschule überhaupt Pflicht
war.
»Was sollich dazu sagen«, antwortete ich. »Wahrscheinlich weil ich
dieTheaterschule nicht richtig ernst nehme. Ich wollte eigentlich
Pilotwerden, wie mein Onkel, habe aber den Gesundheitstest nicht
bestanden.«
»Wunderbar,dass Sie beide so ehrlich zu uns sind«, freuten sich die
altenFrauen. »Sie können gehen.«
Draußenbeschimpfte ich Oleg.
»Duverstehst das nicht«, erklärte er mir. »Die Aktivisten sind sehr
misstrauischgeworden. Die neue Linie besagt nämlich, dass wir zu
unserenFehlern stehen müssen. Wir müssen aus unseren Fehlern lernen,
alsobrauchen wir auch welche. Selbstkritik ist angesagt. Man muss
nun jedenScheiß über sich und andere erzählen, wenn man bei denen
gutankommen will. Hauptsache ehrlich. Du wirst sehen, sie genehmigen.«
Erberuhigte mich. Trotzdem erhielt ich zwei Wochen später eine Absage.
Der Grunddafür lag jedoch nicht beim Komitee für Internationale Freundschaft.
Ein Studentunserer Theaterschule, dazu noch ein Sohn eines berühmten
Schauspielers,der gerne und oft Lenin spielte, hatte just in diesem
Sommerversucht, über den Zaun des schwedischen Konsulats
zu klettern,um politisches Asyl zu beantragen. Man schickte ihn zu
seinemVater zurück. Und die Studenten aller Theaterschulen des Landes
wurden miteinem generellen Ausreiseverbot belegt. Und ich blieb in
Moskau aufmeinen wunderbaren Urinproben sitzen und musste meineDDR-Einladung
wegschmeißen.Erst fünf Jahre später schaffte ich den Sprung.
Schonwenige Monate, nachdem wir Deutschland erreicht hatten, wurden
wir von dergerade aufgelösten DDR als humanitäre Flüchtlinge anerkannt,
die auseinem gerade in Auflösung begriffenen Land, der Sowjetunion,
kamen.Statt der ostdeutschen Ausweise erhielten wir neue westliche
Papiere,schöne blaue Reisepässe mit zwei schwarzen Streifen auf dem
Umschlag.In den Pässen stand, dass dieses Dokument zwar nichts über
unsereStaatsangehörigkeit aussagte, uns aber gleichzeitig die absolute
Reisefreiheitgestattete: »For all countries«, stand auf Seitesieben.
Das warnatürlich rein theoretisch gemeint. Denn praktisch hieß das
nur, wennuns ein Land ein Einreisevisum erteilen würde, könnte es
diesproblemlos in den blauen Pass stempeln. Trotzdem genossen wir
ab da dieunbeschränkte Reisefreiheit. Mein Freund Andrej und ich
plantendann auch schnell unseren ersten gemeinsamen Ausflug. Natürlich
sollte esnach Paris gehen. Diese Stadt spielte in den Köpfen der
Russen alsfast unerreichbares Paradies schon immer eine besondere
Rolle.
© GoldmannVerlag
Autoren-Porträt vonWladimir Kaminer
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. Er absolvierte eineAusbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte anschließendDramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Seit 1990 lebt er mit seiner Frau undseinen beiden Kindern in Berlin. Kaminerveröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen deutschen Zeitungen undZeitschriften, hat eine wöchentliche Sendung namens "Wladimirs Welt" beimSFB4 Radio MultiKulti, wo er jeden Samstag seineNotizen eines Alltags-Kosmonauten zu Gehör bringt, und er organisiert im KaffeeBurger Veranstaltungen wie seine inzwischen berüchtigte "Russendisko". Mitder gleichnamigen Erzählsammlung avancierte das kreative Multitalent über Nachtzu einem der beliebtesten und gefragtestenJungautoren in Deutschland.
Interview mit Wladimir Kaminer
Können Sie uns etwas über Ihr Buch "Die Reise nachTrulala" erzählen?
Es geht um Falsch-Reisen und Nicht-Reisen. Erzählt wird vonverfehlten Reisezielen, z.B. in den Kapiteln "Verfehltes Paris","Die Verdeckung Amerikas" oder "Verdorben in Sibirien".
Sie sind Buchautor, schreiben für die taz und die FAZ,moderieren literarische Veranstaltungsreihen und sind DJ in der berühmten"Russendisko" des "Kaffee Burger", betätigten sich alsTheaterregisseur und Schauspieler - welches ist Ihr liebstes Kind?
Alle diese Tätigkeiten gefallen mir gleich gut, sonst würdeich sie nicht machen. Natürlich frage ich mich manchmal, ob das nicht zu vielist. Ich habe manchmal sechs verschiedene Jobs, die alle sehr viel Zeit undFleiß erfordern. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass man nur schwer auf dieHälfte verzichten kann, um sich auf die andere zu konzentrieren. Wenn man ersteinmal angefangen hat und sich künstlerisch einsetzt, lernt man sehr viel, undes ist schade, damit aufzuhören. Das ist einer der vielen Kompromisse, die manmit sich selbst schließen muss, wenn man so aktiv bleiben will.
Sie sind 1990 nach Berlin gekommen, nachdem Sie in Moskauan der Theaterschule Tontechnik und Dramaturgie studiert hatten. Wie sind Siehier Schriftsteller geworden?
Ich hatte lange Zeit am Theater gearbeitet, auch in Berlin,und war "kunstbeschädigt". Im Herbst 1998 entdeckte ich die sogenannte Vorlesebühnen-Szene: Jede Woche lasen junge Autoren Geschichten zuverschiedensten Themen. Wichtig war ihnen, mit dem sehr verwöhntenKneipenpublikum in ein Gespräch von gegenseitigem Interesse zu kommen. DieseVeranstaltungen sind begehrt. Es ist immer voll, und ich fand es eine sehrwürdige Art, sich mit der künstlerischen und der realen Welt auseinander zusetzen und dabei noch Geld zu verdienen. Anfangs kam ich als Gast. Dann habeich die ersten Geschichten geschrieben, natürlich in einer Kneipe. Schließlichhabe ich vorgelesen... Ich schrieb und schrieb immer weiter, denn die Teilnahmean einer solchen Vorlesebühne erfordert Disziplin. Ja, und irgendwann wurde ichdann von einer Literaturagentin angesprochen, die mir anbot, ein Buch aus denGeschichten zu machen. So kam es zu meinem ersten Buch "Russendisko".
Es ist in Berlin angesiedelt.
Die Geschichten entstammen kleinen und kleinsten, oftabsurden Alltagsvorkommnissen. Sind sie eher der Beobachtung oder der Fantasieentsprungen?
Ich versuche nicht, mir Geschichten auszudenken. Ichbeobachte Außergewöhnliches und Unverständliches. Genau genommen will ich denAlltag aufklären helfen, damit man die Welt besser versteht und in Frieden mitihr leben kann. Das ist eine reizvolle Aufgabe. Ich möchte keine fiktivenGeschichten schreiben.
Charakteristisch für Ihren Stil ist der Humor. Ich findees erstaunlich, dass Sie ihn sich auch in der zunächst sehr fremden Umweltbewahrt haben. Sie mussten diesem Leben nahe kommen. Humor aber bedeutet -Distanz.
Das ist wahrscheinlich angeboren. Ehrlich gesagt, ich haltemich gar nicht für so witzig. Auf einer Lesereise durch verschiedene deutscheStädte hat mir mal ein Mann gesagt: "Ich habe auch zwei Jahre auf derSchönhauser Allee gelebt, ich habe Ihr Berlin nicht gefunden, das ist dochalles ausgedacht. Sie werden doch, wenn Sie in Nürnberg leben, genauso vieleinteressante Geschichten über Nürnberg schreiben können..." Ich wusstenicht, was ich dem Mann antworten sollte. Aber ich glaube nicht, dass ich dortso viele interessante Geschichten gefunden hätte. Ein paar vielleicht...
Ihre Bücher verkaufen sich ausgezeichnet. Wer sind nachIhren bisherigen Erfahrungen Ihre Leser?
Meine Leser sind sehr unterschiedlich. Alte und Junge,häufig sind sie im Alter meiner Eltern, und ich höre: "Danke, HerrKaminer, Sie haben unsere Lust am Leben wieder gestärkt." Wenn man so vielunterwegs ist wie ich, bildet man sich irgendwann ein, dass man eine Botschafthat und sucht nach Motivationen dafür. Aber eigentlich ist es der Reiz derVorlesebühne, den ich immer noch empfinde und den ich mit hineingenommen habein die so genannte große Literatur. Ich suche das Gespräch. Mit den Geschichtenstelle ich mich vor, danach sprechen wir über das Leben. Das sind dieinteressantesten Momente und sie liefern immer wieder Stoff für neueGeschichten.
Sie leben gerne in Berlin?
Ja, manchmal wundert mich das selbst. Die Schönhauser Alleeist eine stark befahrene Straße, sehr laut, die U-Bahn direkt vor unseremFenster. Aber es ist die richtige Umgebung für mich und meine Familie.Einerseits ist hier Großstadt mit allem, was dazu gehört, aber andererseits hatdie Gegend etwas Dörfliches. Alle kennen sich inzwischen, und bei mir ist es soweit, dass ich schon Videofilme für umsonst ausgeliehen bekomme...
Würden Sie in einem anderen Stadtteil wohnen wollen als imSzene-Bezirk Prenzlauer Berg?
Prenzlauer Berg war doch nicht immer Szene-Bezirk.Schönhauser Allee ist auf jeden Fall kein Szene-Bezirk, traditionell stimmt daseher für den Kollwitzplatz. Dort haben wir auch ein paar Jahre gewohnt. DasPublikum hier ist eine undurchsichtige Mischung unterschiedlichster Leute:Reiche mit schicken Autos, Arme, Studenten, Künstler und Arbeiter... Und einVerrückter - der läuft auch immer hier herum... Auf der Schönhauser Alleefinden Sie keine einzige Milchkaffee- oder spezifische Künstlerkneipe und auchkeine guten Restaurants. Geschäftsleute orientieren sich an Mehrheiten, und diegibt es hier nicht. Das merkt man auch bei den Wahlen. Hier haben alle Parteiengut abgeschnitten.
Welchen Eindruck haben Sie von der Wiedervereinigung derehemals geteilten Stadt?
Die Vereinigungsprozesse, die immer noch die ganze Welt inAtem halten, sind nur zu begrüßen. Ich bin für weniger Ideologie und Politik,für mehr Anarchie im Leben. Dass viele Menschen sich verunsichert fühlen undihnen Boden unter den Füßen fehlt, ist durchaus verständlich. Schade natürlich,sehr schade, dass viele gereizt reagieren auf diese Veränderungen. Die frühereIdeologie war die einer geteilten Nation. Jetzt muss zwangsläufig irgendetwasganz Neues entstehen: Die beiden Teile sollen zusammenwachsen, ein neuer Typuseines Bürgers soll entstehen... Die sollen doch alle bleiben wie sie sind undweiter leben, wie es ihnen gefällt - nur, dass es diese Mauer nicht mehr gibt.Es ist doch wunderbar, dass man hin- und herfahren kann und die ganze Weltgrößer und offener geworden ist. Die Kulturen und Lebensweisen müssen nichtzusammenwachsen, und sie müssen sich auch nicht unbedingt mögen. Früher habensich die Politiker leidenschaftlich geküsst und gehasst, jetzt ist das wenigerund vielleicht friedlicher geworden.
Was bedeutet Heimat für Sie?
Heimat ist das Land, wo man geboren wurde und die Kindheitverbracht hat. Meine Heimat ist Russland - ein sehr schönes Land, eine tolleHeimat. Gar keine Frage. Man muss nur nicht hysterisch werden und sagen:"Meine Heimat, meine Heimat, ich kann ohne dich nicht leben." Nein,ich kann durchaus ohne meine Heimat leben und sie von ferne lieben wie jedererwachsene Mensch, der ja auch irgendwann ohne seine Eltern lebt...
Welche menschlichen Eigenschaften - Trinkfestigkeitausgenommen - schätzen Sie besonders?
(Grübelt) Besondersschätze ich an Menschen die Fähigkeit, nett zu den anderen zu sein, egal, wiees einem geht. Es ist so wenig und doch so viel, Distanz zu sich selbst zugewinnen. Vielleicht trifft das Wort Lebensfreude auch besser, was ich meine.Trotz aller Umstände die Kraft zu haben, lebensfroh zu sein. Mit anderen.
Die Fragen stellte Katharina Steinke.
(DasInterview ist gekürzt und wurde erstmals veröffentlicht in: M COLLECTION,International Fashion Magazine, Deutsche Ausgabe)
- Autor: Wladimir Kaminer
- 2004, 187 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442457211
- ISBN-13: 9783442457212
- Erscheinungsdatum: 01.06.2004
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