Die rot-grünen Jahre
In seiner Autobiografie stellt der deutsche Ex-Vizekanzler und Außenminister a.D. die deutsche Außenpolitik während der rot-grünen Jahre von 1998 bis 2005 - einer Zeit tiefster weltpolitischer Umbrüche - dar. Er schreibt über die Krisen vom Kosovo, den...
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In seiner Autobiografie stellt der deutsche Ex-Vizekanzler und Außenminister a.D. die deutsche Außenpolitik während der rot-grünen Jahre von 1998 bis 2005 - einer Zeit tiefster weltpolitischer Umbrüche - dar. Er schreibt über die Krisen vom Kosovo, den 11. September oder den Irak-Krieg, er porträtiert internationale Akteure von George W. Bush bis zu Kofi Annan. Und er beleuchtet innenpolitische Ereignisse, parteipolitische Kämpfe oder Kontroversen etwa um die Visa-Politik oder die 68er-Vergangenheit von Fischer selbst. Eine hochlebendige Darstellung.
Die sieben Jahre der rot-grünen Regierungszeit von 1998 bis 2005 sind schneller als erwartet zum Gegenstand zeitgeschichtlicher Erinnerung und Bewertung geworden. Joschka Fischer hat als Außenminister und Vizekanzler die Politik der Regierungskoalition entscheidend geprägt und getragen. In seinem großen autobiographischen Buch stellt Joschka Fischer die Außenpolitik in diesen Jahren tiefster weltpolitischer Umbrüche dar, schildert die Krisen vom Kosovo bis zum 11. September, von Afghanistan bis zum Irak-Krieg. Er zeichnet eindringlich die historischen Entscheidungssituationen nach, denen sich die Regierung ausgesetzt sah, porträtiert die internationalen Akteure von George W. Bush bis zu Jassir Arafat oder Kofi Annan und analysiert die Bedrohungsszenarien vom Nahen Osten bis zum pakistanisch-indischen Konflikt. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen über den EU-Beitritt der Türkei, die Reform der UN, die Russland- und Chinapolitik.
Eingebettet sind diese Erinnerungen in die wichtigsten innenpolitischen Ereignisse und Krisen der Zeit, parteipolitische Kämpfe und die Kontroversen etwa um die Visa-Politik und die 68er-Vergangenheit von Joschka Fischer.Joschka Fischer, der seit Sommer 2006 in Princeton an der Woodrow Wilson School als Gastprofessor Internationale Krisen-Diplomatie unterrichtet, hat ein hochlebendiges, kontroverses, kritisches und selbstkritisches Buch von großer erzählerischer und analytischer Qualität geschrieben.
Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch:»Risiko Deutschland«, 1994. »Für einen neuen Gesellschaftsvertrag«, 1998. »Die Rückkehr der Geschichte. USA, Europa und die Welt nach dem 11. September«, 2005.
Die rot-grünen Jahre von Joschka Fischer
LESEPROBE
Wir warenendlich angekommen. »Kneif mich«, flüsterte ich meinem neben mir stehendenMinisterkollegen und Freund Otto Schily zu. »Ich kann es einfach nicht glauben.Sag mir, dass es kein Traum ist.« BundespräsidentRoman Herzog hatte uns soeben die Ernennungsurkunden überreicht, und wirstanden jetzt während dessen kurzer Rede einträchtig nebeneinander. Ort derHandlung war die ehrwürdige Villa Hammerschmidt in Bonn am Rhein. Am Morgenhatte die erfolgreiche Kanzlerwahl stattgefunden, und jetzt, am spätenNachmittag dieses denkwürdigen Tages, hielten wir, die Mitglieder derrot-grünen Bundesregierung, unsere Urkunden in der Hand. Anschließend würdenoch die Vereidigung im Bundestag erfolgen und am frühen Abend dann die ersteSitzung des neuen Bundeskabinetts.
Ich saß zumersten Mal im großen Kabinettssaal des Kanzleramtes in Bonn. Ein wahresBlitzlichtgewitter tobte sich vor unseren Augen aus. Wir - die SPD und DieGrünen, die Generation der 68er - waren angekommen im Zentrum der politischenMacht, in der Bundesregierung, im Kanzleramt, in den Bundesministerien. VierJahre sollten wir jetzt unser Land, Deutschland, regieren. Lust oder Last? -vermutlich beides. Verantwortung, Bürde und viel Mühsal auf jeden Fall. HelmutKohl, der scheinbar »ewige« Kanzler, war nach sechzehn langen, endlos langenJahren abgewählt worden und damit Geschichte. Vor wenigen Stunden, am 27.Oktober 1998, hatte der 14. Deutsche Bundestag den Abgeordneten GerhardSchröder (SPD), gemäß der Vorgabe der Verfassung »ohne Aussprache«, zum Kanzlergewählt. Die rot-grüne Koalition verfügte über einundzwanzig Mandate Vorsprungvor der Opposition, und Gerhard Schröder hatte, wie die Auszählung zeigensollte, in der geheimen Kanzlerwahl noch sieben Stimmen aus den Reihen derOpposition bekommen. Dies war zwar noch kein Wunder, wohl aber ein Zeichen derHoffnung. Schienen es die höheren Mächte gut mit uns zu meinen? Die Ursachenfür diese zusätzlichen Stimmen waren jedoch höchst irdischer Natur, d. h. eswurden informelle Gespräche mit einzelnen Mitgliedern der Opposition geführt,damit diese für Gerhard Schröder stimmten, nichts weiter. Wir hatten dieKanzlerwahl einfach nur sorgfältig vorbereitet, gut gearbeitet, wie dieEingeweihten wussten.
Ich saßjetzt also im großen Kabinettssaal, neben Gerhard Schröder und all den anderenMinistern - als Mitglied der Bundesregierung, als Bundesaußenminister undVizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Irgendwie verrückt, unfassbareigentlich, und obwohl ich mich selbst für einen großen Realisten hielt, hatteich in diesem Moment einige innere Zweifel daran zu überwinden, ob ich wirklichwach war oder am Ende nur träumte. Es kam jedoch niemand, der mich wachrüttelte,kein Wecker klingelte, und niemand machte das Licht an. Stattdessen hörte ichdie Stimme des Bundeskanzlers, sah einen vergnügten Otto Schily und all diezufriedenen und zugleich erstaunten Gesichter der anderen Kabinettsmitglieder.
Die gesamteSzenerie war das gerade Gegenteil eines trügerischen Traumbildes. Tatsächlichbefand ich mich innerlich im Zustand einer aufgewühlten Wachheit. Rot-Grünwürde also in den kommenden vier Jahren Deutschland regieren. Willkommen in derharten Realität! Zum ersten Mal würde die Bundesrepublik Deutschland von einerlinken Mehrheit regiert werden, nicht Mitte-Links,wie es die sozialliberale Koalition gewesen war, sondern Links. Machtpolitischhatte die Gründungsidee der Partei Die Grünen mit diesem Tag ihr zweites Etappenzielerreicht: Erst der Einzug in den Bundestag im Jahr 1983, jetzt, mit einemAbstand von fünfzehn Jahren, die Bildung der ersten rot-grünen Bundesregierung,und nun lag als letzte Herausforderung die ökologische und soziale Erneuerungunseres Landes vor uns.
MeineGedanken gingen zurück zu jenem kühlen Märzmorgen im Jahr 1983, als sich dieerste Fraktion der Grünen - eine angeblich am sauren Regen verstorbene, trauriganzusehende Nadelbaumleiche mit sich schleppend - auf dem Weg zurkonstituierenden Sitzung des neu gewählten Bundestages gemacht hatte und imBlitzlichtgewitter der Fotografen gerade am Kanzleramt vorbeizog. Das ist unsernächstes Ziel, sagte ich damals zu mir selbst. Dort residierte erst seitwenigen Monaten Helmut Kohl. Sechzehn Jahre insgesamt sollte er dannBundeskanzler bleiben, und wenn ich diese Zahl schon damals gekannt hätte, sohätte ich wohl eher resigniert, als meinen luftigen Gedanken über diezugegebenermaßen recht utopischen weiteren Ziele des grünen Marsches durch dieInstitutionen nachzuhängen. Und ich wusste damals auch noch nicht, dass fastmein gesamtes parlamentarisches Oppositionsleben eigentlich darin bestehenwürde, Helmut Kohl aus dem Sattel zu heben und eine rot-grüne Mehrheit zuschaffen. Selbst meine neun Jahre in Regierung und Opposition in Hessen folgtenschlussendlich immer diesem großen Ziel, die Grünen im Bund in die Regierung zuführen und damit zum eigenständigen Gestaltungsfaktor in der deutschen Politikzu machen. Und jetzt - jetzt! - war dieses Ziel erreicht, fünfzehn Jahrespäter.
Ich warglücklich, aber zugleich dachte ich zurück an jenes furchtbare Jahr, vollerRückschläge und Beinahe-Katastrophen, das hinter mir lag. Dieses verfluchteJahr 1998 hatte für mich bis zur Bundestagswahl im Wesentlichen darin bestandenzu verhindern, dass die Grünen erfolgreich Selbstmord begingen und dadurch eineerschöpfte bürgerliche Bundesregierung unter Helmut Kohl vier weitere Jahre imAmt halten würden. Zugleich wäre damit auch der Traum von einer rot-grünenMehrheit im Bund erledigt gewesen. Ich erinnerte mich in dieser Stunde desTriumphes aus guten Gründen auch an all die Plagen, die Mühen und das mehrfachdrohende Scheitern der zweiten rot-grünen Landesregierung in Hessen zwischen1991-94, an all die kaum vorhersehbaren Fallen und Abgründe desRegierungsalltages als hessischer Umweltminister.
Und ichahnte auch, ja ich wusste es, dass es noch um ein Vielfaches härter werdenwürde, die Bundesrepublik Deutschland mit ihren 82 Millionen Menschen zuregieren. Ein Deutschland, das jetzt wieder vereinigt und nach wie vor diedrittgrößte Volkswirtschaft auf dem Globus war, zudem mit einer, diplomatischformuliert, sehr schwierigen Geschichte, in der Mitte Europas gelegen und damitfür die zukünftige Entwicklung des gesamten Kontinents, für dessen Frieden undfür die Stabilität des atlantischen Bündnisses nach wie vor von entscheidenderBedeutung.
Würdeunsere rot-grüne Koalition diesen Herausforderungen gerecht werden können? Sindwir Grüne, die von der konservativen Opposition immer wieder und nicht immer zuUnrecht als »Chaoten« attackiert wurden, dazu erfahren genug, im Kopf genügendaufgeräumt, hart genug? Und vor allem: Weiß meine Partei dies alles und wirdsie die vor uns liegenden vier Jahre in der Regierung durchhalten, vomerfolgreichen Gestalten ganz zu schweigen?
Damals, anjenem 27. Oktober 1998, wäre ich darauf gewiss keine Wette eingegangen, dennerstens hatten wir Grüne mit unserer Performance im Wahljahr 98 derkonservativen These von den grünen Chaoten überreichlich Nahrung gegeben, undzweitens erinnerte das ganze Unternehmen Rot-Grün außenpolitisch, angesichtsder sich dramatisch zuspitzenden Lage im Kosovo, mehr und mehr an die Ballade»Der Reiter und der Bodensee« von Gustav Schwab, die das geflügelte Wort vom»Ritt über den Bodensee« so berühmt gemacht hatte. »Es stocketsein Herz, es sträubt sich sein Haar, dicht hinter ihm grinst noch die grauseGefahr«, heißt es dort. Der Reiter soll zwar den Ritt über den zugefrorenen Seeunwissentlich und unbeschadet hinter sich gebracht haben, aber anschließend, sodie Geschichte, traf ihn am rettenden anderen Ufer vor Schreck der Schlag, alser der Wahrheit schließlich gewahr wurde.
Hoffentlich,so dachte ich damals, würde es uns nicht ebenso ergehen. Zudem war bei uns dieWahrscheinlichkeit, mitten im See einzubrechen, noch um Faktoren größer als beiSchwabs wackrem Reitersmann.
Aber anjenem großen Tag eins der rot-grünen Bundesregierung waren das nur bänglicheNachtgedanken eines frisch vereidigten Bundesministers und Vizekanzlers. Jetztgalt es, unseren »Bodensee« anzugehen und unbeschadet hinter uns zu bringen.
Wir standenmit der ersten Sitzung der neuen Bundesregierung am Beginn einerHerausforderung, die keiner der hier im Bundeskabinett versammelten Minister, unterEinschluss des Bundeskanzlers, auch nur annähernd überschauen konnte.Vielleicht war und ist das ja auch gut so, denn wenn eine neue Regierungantritt, dann strahlen die Augen und färben sich die Wangen vor Aufregung undvor Glückshormonen leicht rot. Das gibt sich dann sehr schnell imRegierungsalltag, und das frische Wangenrot wird durch ein verhärmtes Grau imGesicht abgelöst. Allein der alte Wehner machte nach Wahlsiegen im Fernsehenauf mich immer den Eindruck, als wenn es statt zur Siegesfeier zu einerBeerdigung ginge. Er hatte eben vieles durchgemacht in seinem Leben und wardabei ein gnadenloser Realist geworden. Von diesem reifen Stadium politischerWeisheit waren wir an unserem großen Tag aber noch weit entfernt, denn keinerder im Kabinettssaal Versammelten hatte in seinem bisherigen politischen Lebenauch nur annähernd Vergleichbares erlebt und durchzustehen gehabt.
Gewiss,Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine waren erfolgreiche Ministerpräsidentengewesen, ich stellvertretender Ministerpräsident, darüber hinaus gab es einigeehemalige Landesminister in der neuen Bundesregierung. An Regierungserfahrungauf Landesebene gab es keinen Mangel, aber die Bundesregierung war etwasanderes, eine ganz andere Größenordnung politischer Verantwortung und Handelns.Und diese Herausforderung galt es nun mit meiner Partei, den Grünen, anzugehen,deren Verhältnis zur Realität nach wie vor durchaus verbesserungsbedürftig war.Dennoch waren wir alle stolz und glücklich an diesem Tag, wenn auch nur füreinen längeren Augenblick. Was Wunder also, dass sich bei allem Glück und allerFreude, die ich in dieser Stunde genoss, mich doch zugleich auch ein nagendmulmiges Gefühl beschlich. Es war keine Angst, gleichwohl aber eine Ahnungdessen, was kommen sollte, Re¬spekt eher vor derGröße der Herausforderung, der Verantwortung und der Aufgabe.
Rückblick.Wir schreiben den 13. Oktober 1997. Die ersten nebelverhangenenTage legten sich über Bonn am Rhein, als eine gutgelaunte, weil in derOpposition während der vergangenen drei Jahre erfolgreiche grüneBundestagsfraktion die immer noch ganz andere Realität (oder besser:Irrealität) der eigenen Bundespartei mit aller Macht wieder einholte. DerBundesvorstand stellte an diesem Tag den ersten Entwurf eines grünen Wahlprogrammsfür die im nächsten Jahr stattfindenden Bundestagswahlen vor, und die Wirkungdieses Entwurfes auf die bis dahin für die Grünen sehr positive politischeStimmung war umwerfend. Saurer Regen auf junges Grün muss wohl eine ähnlicheWirkung haben.
©Kiepenheuer & Witsch
- Autor: Joschka Fischer
- 2007, 3. Aufl., 448 Seiten, Maße: 14,2 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462037714
- ISBN-13: 9783462037715
- Erscheinungsdatum: 01.10.2007
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