Die See
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Anna und der Kunsthistoriker Max sind glücklich verheiratet, als sie erfahren, dass Anna unheilbar an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange leben wird. Nach ihrem Tod flüchtet Max ans Meer, in den Ort, in dem er als Kind aufregende Sommer verlebte. Damals lernte er die unkonventionelle Familie Grace kennen mit ihrem Zwillingspaar Myles und Chloe. Mrs. Grace zieht den jungen Max magisch an und erweckt eine große Sehnsucht in ihm. Indem sich Max fast manisch erinnert, an seine erwachende Sexualität in diesem Sommer, an seine erotischen Phantasien und die spätere Liebe zu Chloe, an seine glückliche Zeit mit Anna und ihre letzten Tage im Krankenhaus, versucht er, sich mit dem erlittenen Verlust zu versöhnen.
LESEPROBE
I
Sie sindgegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut. Den ganzen Morgen,unterm milchigen Himmel, war das Wasser der Bucht immer weiter angeschwollen,zu unerhörter Höhe, und die kleinen Wellen krochen über den ausgedörrten Sand,der seit Jahren nicht mehr durchnässt worden war, außer vom Regen, bis an dieDünen krochen sie und leckten ihnen die Füße. Der rostige Koloss des Frachters,der vor langer Zeit, länger, als wir alle uns zurückerinnern können, am anderenEnde der Bucht gestrandet war, glaubte wohl gar, es wäre ihm vergönnt, nocheinmal auszulaufen. Ich sollte nie mehr schwimmen gehen nach diesem Tag. DieSeevögel wimmerten und stießen herab, als hätten sie die Nerven verloren beimAnblick dieser riesigen Schale voll blasenartig sich blähenden, bleiblauen,böse glitzernden Wassers. Unnatürlich weiß sahen sie aus an diesem Tag, dieVögel. Am Ufer hinterließen die Wellen eine Spitzenborte von schmutzig gelbemSchaum. Kein Segel verschandelte den hohen Horizont. Ich sollte nie mehrschwimmen gehen, nein, nie mehr wieder. Gerade schritt einer über mein Grab.
Irgendeiner.
Die Villaheißt Zu den Zedern, wie eh und je. Links davon blickt immer noch diesestruppige, affenbraune, nach Teer stinkende Baumgruppe mit ihren gespenstischineinander verstrickten Stämmen über den ungepflegten Rasen hinweg auf dasgroße Bogenfenster des einstigen Wohnzimmers, das Miss Vavasour imVermieterinnenjargon freilich die Lounge zu nennen beliebt. Auf deranderen Seite befindet sich die Haustür und davor das ölfleckige Kieskarreehinter dem noch immer grün gestrichenen Eisentor, dessen Gestänge
Als ichvor all den Jahren hier war, damals, zu Zeiten der Götter, war die Pension Zuden Zedern eine Sommerfrische, die man jeweils für vierzehn Tage oder fürvier Wochen mieten konnte. Jedes Jahr im Juni fiel ein reicher Arzt mit seinergroßen, kreischenden Familie dort ein und blieb den ganzen Monat - wir konntendie Arztkinder mit ihren lauten Stimmen nicht leiden, sie lachten uns aus,standen auf der anderen Seite des Tors, jener unüberwindbaren Schranke, undbewarfen uns mit Steinen, und nach ihnen kam ein ominöses Paar mittlerenAlters, das mit niemandem sprach und jeden Morgen um dieselbe Zeit grimmigschweigend seinen wurstförmigen Hund auf der Station Road spazieren führte,hinunter an den Strand. Aber der interessanteste Monat in der Pension Zu denZedern war für uns der August. Da waren nämlich jedes Jahr andere Mieterda, Leute aus England oder vom Kontinent, hin und wieder auch ein Pärchen inden Flitterwochen, dem wir nachspionierten, und einmal sogar eine Schauspieltruppevon einer Wanderbühne, die in dem Zinkblechkino unten im Dorf eineNachmittagsvorstellung auf die Beine stellte.
Und dannkam damals in dem Jahr Familie Grace.
Das Erste,was ich von den Leuten sah, war ihr Auto, das drüben, jenseits des Tores, aufdem Kieskarree parkte. Ein ziemlich zerkratzter und zerbeulter schwarzer Wagenmit lang gezogener Motorhaube, beigefarbenen Ledersitzen und einem großenSpeichenlenkrad aus poliertem Holz. Hinten, auf der Ablage unterm sportlichabgeschrägten Heckfenster, achtlos hingeworfene Bücher mit ausgeblichenen,zerfledderten Schutzumschlägen und dazu eine sehr abgegriffene Wanderkarte vonFrankreich. Die Haustür stand weit offen; von drinnen aus dem Erdgeschoss hörteich Stimmen, oben das Patschen nackter Füße auf den Dielen, ein Mädchen lachte.Ich war draußen am Tor stehen geblieben, hatte unverhohlen gelauscht, und jetztkam plötzlich ein Mann mit einem Glas in der Hand aus dem Haus. Er war kleinund oberlastig, breite Schultern, breite Brust, großer runder Kopf mit kurzgeschnittenem, krausem, schwarz glänzendem, stellenweise vorzeitig graumeliertem Haar und ebenfalls meliertem Spitzbart. Er trug ein weites grünes,offen stehendes Hemd und khakifarbene Shorts und war barfuß. Und so braungebrannt, dass die Haut richtig violett schimmerte. Selbst seine Füße, fiel mirauf, waren oben auf dem Spann gebräunt, wo doch die meisten Väter, die ichkannte, von der Kragenlinie abwärts bleich waren wie ein Fisch am Bauch. Erstellte sein Glas - eisblauer Gin mit Eiswürfeln und einer Zitronenscheibe -gefährlich schief aufs Autodach, öffnete die Beifahrertür, beugte sich hineinund kramte unter dem Armaturenbrett herum. Im unsichtbaren Obergeschoss desHauses lachte abermals das Mädchen und stieß übermütig einen schrill kollernden- und unverkennbar gespielten - Angstschrei aus, dann wieder das Patschenhastig davonlaufender Füße. Sie spielten Fangen, sie und jemand anders, derkeine Stimme hatte. Der Mann richtete sich auf, nahm seinen Gin vom Wagendachund warf die Autotür zu. Er hatte das, wonach er suchte, nicht gefunden. Als ersich umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, begegneten sich unsere Blicke, under zwinkerte mir zu. Aber nicht auf diese schelmische und zugleicheinschmeichelnde Art, die ich normalerweise von Erwachsenen kannte. Nein, eswar ein komplizenhaftes, ein verschwörerisches Zwinkern, fast wie bei denFreimaurern, als hätte dieser Augenblick, den wir, zwei Fremde, der eine einErwachsener, der andere ein Junge, miteinander geteilt hatten und der, reinäußerlich betrachtet, keinen tieferen Sinn, keinen Inhalt besaß, dennoch etwaszu bedeuten. Der Mann hatte ungewöhnlich blassblaue, geradezu durchsichtigeAugen. Er ging hinein und fing, noch in der Tür, zu reden an. »Dieses verdammteDing«, sagte er, »hat sich anscheinend «, dann war er weg. Ich blieb noch einpaar Minuten draußen stehen und fixierte die Fenster im oberen Stockwerk. Woaber kein Gesicht sich zeigte.
Dies alsowar meine erste Begegnung mit den Graces: Die von oben kommende Stimme desMädchens, die hastigen Schritte und der Mann hier unten mit den blauen Augen,der mir so lässig und vertraulich und fast schon diabolisch zugezwinkert hatte.
Eben habeich mich wieder dabei ertappt, bei diesem dünnen, eintönigen Pfeifen durch dieVorderzähne, das ich mir neuerdings angewöhnt habe.
Diedeldiedel diedel, geht das, wie ein Zahnarztbohrer. So hat mein Vater immergepfiffen, werde ich jetzt etwa er? Im Zimmer gegenüber lässt Colonel Blundendas Radio spielen. Am liebsten hört er die Gesprächssendungen am Nachmittag, indenen aufgebrachte Bürger anrufen und sich über die verbrecherischen Politiker,die Alkoholpreise und andere Dauerreizthemen beschweren. »Gesellschaft«, sagter kurz, räuspert sich, guckt leicht verschämt, und seine hervorstehenden, halbbeduselt wirkenden Augen weichen mir aus, obwohl ich ihn gar nicht zur Redegestellt habe. Ob er beim Radiohören auf dem Bett liegt? Schwer, ihn sich dadrinnen vorzustellen, dicke Wollsocken an den Füßen, zehenwackelnd, Krawatteab, klaffender Hemdkragen und die Hände hinter dem sehnigen alten Nackenverschränkt. Außerhalb seiner vier Wände läuft er immer rum, als ob er einenSpazierstock verschluckt hat, kerzengerade vom spitzen Scheitel seineskegelförmigen Schädels bis zu den Sohlen seiner vielfach geflickten, blankgewienerten derben braunen Straßenschuhe. Er lässt sich jeden Samstagmorgenbeim Dorffriseur die Haare schneiden, Fassonschnitt, hinten alles ab und an denSeiten auch, da kennt er kein Pardon, nur oben bleibt ein steifes grauesBüschel, raubvogelartig. Seine ledrigen Ohren mit den langen Ohrläppchen stehenab; wie erst getrocknet und danach geräuchert sehen sie aus; auch das Weiß inseinen Augen hat einen Stich ins Gelbliche, wie Räucherware. Ich höre dasStimmenbrummen aus seinem Radio, verstehe aber nicht, wovon die Rede ist. Kannsein, ich werde hier verrückt. Diedel diedel.
Späterdann an jenem Tag, dem Tag, als die Graces angekommen waren, oder auch amnächsten Tag oder an dem darauf, sah ich das schwarze Auto wieder, ich habe essofort erkannt, gleich, als es über die kleine Buckelbrücke über denBahngleisen gerumpelt kam. Sie ist immer noch da, diese Brücke, direkt hintermBahnhof. Ja, die Dinge bleiben bestehen, das Leben aber muss vergehen. DerWagen kam aus dem Dorf und brauste zur Stadt, die zwanzig Kilometer von hierentfernt ist; Ballymore will ich sie nennen. Die Stadt heißt Ballymore unddieses Dorf hier Ballyless, mal mehr, mal minder Bally, albern, kann schonsein, doch das ist mir egal. Der Mann mit dem Bart, der mir zugezwinkert hatte,saß am Lenkrad, sagte irgendwas, warf den Kopf in den Nacken und lachte. Nebenihm saß, das helle Haar im Fahrtwind flatternd, eine Frau, die den Ellbogen ausdem heruntergekurbelten Fenster gestreckt hatte und ebenfalls den Kopf in denNacken warf, aber nicht lachte, sondern bloß lächelte, mit diesem skeptischen,nachgiebigen, gelinde amüsierten Lächeln, das sie allein für ihn reservierthatte. Sie trug eine weiße Bluse und eine Sonnenbrille mit weißemPlastikgestell und rauchte eine Zigarette. Und wo bin
ich, wohab ich mich versteckt, dass ich die Lage überblicken kann? Ich kann mich nichtentdecken. Und schon raste der Wagen mit seinem windschlüpfrigen Heck davon,bog in eine Kurve und war in einer dicken Abgaswolke verschwunden. Das hoheGras im Straßengraben, blond wie das Haar der Frau, schrak kurz zusammen, umgleich darauf wieder in seine gewohnte traumverlorene Reglosigkeit zuverfallen. In der sonnengleißenden Leere des Nachmittags ging ich die StationRoad hinunter. Der Strand am Fuße des Hügels war ein rehbraunes Schimmern,darüber Indigo. An der See besteht alles aus schmalen Waagerechten, die ganzeWelt reduziert sich auf ein paar lange, gerade, zwischen Erde und Himmelgezwängte Linien. Misstrauisch um mich blickend, näherte ich mich der Pension Zuden Zedern. Wie kommt es bloß, dass in der Kindheit alles Neue, das meinInteresse weckte, irgendwie die Aura des Unheimlichen besaß, wo es doch inallen Quellen übereinstimmend heißt, das Unheimliche sei mitnichten etwasNeues, sondern vielmehr etwas Wohlbekanntes, das nur in veränderter Gestaltwieder zu uns zurückkehrt, das zum Wiedergänger wird? So viele Fragen, auf diees keine Antwort gibt, und die hier hat am wenigsten Bedeutung. Als ich näherherankam, hörte ich ein rhythmisch wiederkehrendes, rostig quietschendesGeräusch. Ein Junge, so alt wie ich, hing malerisch über das grüne Tordrapiert, ließ die Arme schlaff über die obere Eisenstange baumeln und schwang,mit einem Fuß sich abstoßend, im Viertelkreis auf dem Kieskarree hin und her. Erhatte das gleiche strohbleiche Haar wie die Frau im Auto und dieunverwechselbaren azurblauen Augen des Mannes. Als ich langsam vorüberging, undja, kann sein, ich blieb sogar stehen, oder besser, hielt inne, da rammte erseinen Segeltuchturnschuh mit der Spitze in den Kies, um das schwingende Tor zustoppen, und schaute mich feindselig und fragend an. Es war derselbe Blick, mitdem wir uns immer beäugten, wir Kinder, wenn wir uns das erste Mal begegneten.Hinter ihm sah ich den schmalen Garten an der Rückseite des Hauses, dahinterdie schräge Reihe von Bäumen, die die Gleise der Eisenbahn säumten - sie sindinzwischen weg, die Bäume, gefällt, um einer Zeile pastellfarbener, anPuppenhäuser erinnernder Bungalows Platz zu machen -, und noch weiter hinten, landeinwärts,hügelige Felder mit Kühen und kleinen grellgelben Einsprengseln, dieGinsterbüsche waren, und in der Ferne einen einsamen Kirchturm und dann denHimmel mit eingerollten weißen Wolken. Auf einmal fuhr der Junge hoch undschnitt mir eine Fratze, er drehte die Augäpfel einwärts, ließ die Zunge überdie Unterlippe baumeln. Und als ich weiterging, spürte ich seinen höhnischenBlick im Nacken.
Segeltuchturnschuhe.Auch so ein Wort, das man heute nicht mehr hört, oder nur noch selten, sehrselten. Der Colonel ist schon wieder draußen auf dem Klo. Ich wette, der hat esmit der Prostata. Wenn er an meiner Tür vorbeigeht, tritt er immer extravorsichtig auf, knarrt auf Zehenspitzen über die Dielen, aus Mitgefühl mit demtrauernden Hinterbliebenen. Ein eifriger Verfechter von Sitte und Anstand,unser tapferer Colonel. Ich gehe die Station Road entlang.
Übersetzung: Christa Schuenke
© Kiepenheuer & Witsch
- Autor: John Banville
- 2006, 4. Aufl., 224 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christa Schuenke
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 346203717X
- ISBN-13: 9783462037173
- Erscheinungsdatum: 15.08.2006
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