Die Stimmen des Flusses
Roman
"Ein grandioses Werk" (FAZ) über das Schicksal einer Handvoll Menschen im Spanischen Bürgerkrieg. Als Gymnasiallehrerin Tina Bros ein verborgenes Tagebuch findet, ahnt sie nicht, welche Folgen das hat. Alte Leidenschaften, Hass und Rache...
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Produktinformationen zu „Die Stimmen des Flusses “
"Ein grandioses Werk" (FAZ) über das Schicksal einer Handvoll Menschen im Spanischen Bürgerkrieg. Als Gymnasiallehrerin Tina Bros ein verborgenes Tagebuch findet, ahnt sie nicht, welche Folgen das hat. Alte Leidenschaften, Hass und Rache werden neu entfacht. Was geschah wirklich vor 60 Jahren, im Oktober 1944, in dem Pyrenäenort Torena? Auf der Suche nach Wahrheit gerät Tina zwischen alle Fronten.
"Sex, Crime, Zärtlichkeit, Witz, Ironie, Schärfe, Zeitgeschichte es ist alles drin, ein Spielfilm als Buch verpackt."
WDR
"Sex, Crime, Zärtlichkeit, Witz, Ironie, Schärfe, Zeitgeschichte es ist alles drin, ein Spielfilm als Buch verpackt."
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Klappentext zu „Die Stimmen des Flusses “
Ein großer, dramatischer Roman über das engverflochtene Schicksal einer Handvoll Menschen, die der Spanische Bürgerkrieg zu Gegnern und zu Liebenden macht. Seit Carlos Ruiz Zafóns Der Schatten des Windes hat es keinen Roman aus Spanien gegeben, der seine Leser so in den Sog einer faszinierenden Geschichte zieht wie dieser.Was geschah wirklich am 18. Oktober 1944 in dem Pyrenäenort Torena? Als Tina Bros sechs Jahrzehnte später in der alten Dorfschule ein hinter der Schiefertafel verborgenes Tagebuch entdeckt, ahnt sie nicht, daß sie an Dinge rührt, die in ihrer Verquickung aus Schuld und Scham, aus Leidenschaft und Fanatismus das ganze Drama einer schlimmen Zeit spiegeln. Noch weniger ahnt sie, daß der Schatten von damals bis in ihre eigene Gegenwart ragt.In den Händen hat sie die Lebensgeschichte des Dorfschullehrers Oriol Fontelles - einen langen Brief an seine Tochter, der diese nie erreicht hat, die Bitte, von ihr und der Nachwelt nicht verurteilt zu werden. Tina, deren eigenes Leben in Unordnung geraten ist, setzt alles daran, herauszufinden, was damals tatsächlich geschah. Sie erfährt von Oriols tragischer Liebesbeziehung zu der schönen und mächtigen Elisenda Vilabrú, deren Vater und Bruder zu Beginn des Bürgerkriegs von Anarchisten ermordet wurden, davon, wie Elisenda in ihrem Bedürfnis nach Rache alle Fäden zieht und wie ihr Geliebter Oriol Fontelles als heimlicher Widerständler ein gefährliches Doppelspiel beginnt, das in der Dorfkirche von Torena sein schicksalhaftes Ende findet. Für Tina Bros jedoch ist die Geschichte nicht beendet, denn alter Haß und alte Leidenschaften gären weiter, die Vergangenheit ist nicht vergangen.Jaume Cabré ist ein Meister der Dramatik: Wie im Film wechseln die Szenen in raschem Schnitt, die Stimmen der Protagonisten lösen einander ab, und das ungeheuerliche Geschehen erschließt sich dem Leser, als wäre er selbst dabei. Er liest die bewegende Geschichte von kleinlicher Bosheit und heimlicher Größe, von mörderischem Ha
Lese-Probe zu „Die Stimmen des Flusses “
Die Stimmen des Flusses von Jaume Cabré Ein kaum merkliches Geräusch an der Tür, eine sachte Berührung. Lautlos schwang sie auf, und eine behandschuhte Hand griff nach dem Knauf an der Innenseite, um ihn am Zurückschnappen zu hindern. Die Tür schloß mit einem leisen Ächzen. Eine dunkle Gestalt schlich durch die dunkle Wohnung, schweigend verfolgt von Juris an die Finsternis gewöhnten Augen. Der Eindringling betrat das Arbeitszimmer und fluchte leise, als er die hochgezogene Jalousie sah. Der plötzliche Kälteeinbruch hatte die Landschaft in ein eisiges Grab verwandelt. Das Schneegestöber vor dem Fenster ließ die Nacht noch stiller erscheinen, nicht einmal das Rauschen des Flusses war zu hören. Er beschloß, die Jalousie nicht herunterzulassen, denn niemand durfte jemals erfahren, daß er in dieser Nacht in dieser Wohnung gewesen war.
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Mit einem verdrossenen Seufzer setzte er sich an den Computer, stellte seine Mappe neben dem Stuhl ab und schaltete das Gerät ein. Er bemerkte, daß der Tisch ordentlich aufgeräumt war. Das würde seine Arbeit erleichtern. Juri war ihm still zum Arbeitszimmer gefolgt und beobachtete ihn nun, noch stiller, von der Tür aus. Das bläuliche Licht des Bildschirms erfüllte das Zimmer, und der Eindringling hoffte, daß der schwache Schein weder von der verlassenen Straße noch vom anderen Ende der Wohnung aus zu sehen sein würde. Am Rand des Bildschirms klebte ein Post-it, auf dem stand: »Guten Morgen! Das Futter steht im Schrank über dem Kühlschrank. Danke für alles!« Er sah die Dateiordner durch, zog die Schachtel mit den Disketten aus der Tasche seines Parkas und begann, geduldig eine Datei nach der anderen zu kopieren. Irgendwo im Haus hustete jemand. Er stellte sich vor, daß es die Nachbarn von unten waren, die müde und angetrunken von einer Party nach Hause kamen und vor sich hin murrten, daß sie dafür eigentlich zu alt seien. Das Geräusch eines Wagens durchbrach die nächtliche Stille. Er fuhr langsam, wohl wegen des Schnees. Warum brauchen Computer so lange, wenn man es eilig hat? Warum summen sie so laut, wenn sie doch angeblich geräuschlos sind? Plötzlich klingelte das Telefon, und der Eindringling erstarrte. Er schaltete den Computer aus, obwohl er mitten in der Arbeit war, und blieb reglos sitzen, wie versteinert. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Nase, aber er wischte ihn nicht ab, denn eigentlich war er ja gar nicht da. Am anderen Ende der Wohnung rührte sich nichts.
»Im Augenblick bin ich nicht erreichbar. Sie können aber nach dem Piepton eine Nachricht hinterlassen.«
»Hör mal, ich kann morgen früh nicht kommen, wir haben eine weitere Ladung Steine für Tremp bekommen, und meine Tochter besteht darauf, daß ich fahre. Mach dir keine Sorgen, ich komme gegen Mittag vorbei, vor dem Essen. Tschüß. Viel Glück und einen Kuß. Ich besuche dich bald. Ach, und noch was: Du hast recht, man hört tatsächlich den Pamano rauschen.«
Ein zweimaliges Piepen. Eine Männerstimme, rauh vom Tabak und vom Kaffee mit Schuß, jemand, der unüberhörbar aus dieser Gegend kam und vertrauensvoll von morgen sprach. Der Eindringling wartete einige Minuten lang, ob sich eine Tür öffnete. Nichts. Niemand. Zu seinem Glück hatte Juri beschlossen, keinen Laut von sich zu geben und weiter bewegungslos im Verborgenen zu bleiben. Erst als die Erinnerung an das Schrillen des Telefons verklungen war, als er wieder die Schneeflocken hören konnte, die alles sanft verhüllten, atmete der Eindringling auf und schaltete den Computer wieder ein.
Juri wußte nicht, was er tun sollte, und so verließ er vorerst seinen Posten und versteckte sich im Wohnzimmer, lauschte aber auf jedes Geräusch, das aus dem Arbeitszimmer drang.
Der Eindringling machte sich wieder an die Arbeit. Rasch füllte er fünf Disketten mit allen Dateien, die in den Ordnern mit den Initialen O. F. gespeichert waren, und mit einigen anderen, um ganz sicherzugehen. Als er damit fertig war, verschob er all diese Dateien in den Papierkorb des Computers, leerte ihn und vergewisserte sich, daß wirklich alle betreffenden Dateien gelöscht waren. Dann legte er eine neue Diskette mit dem Virus ein, lud sie hoch, nahm sie wieder heraus und machte den Computer aus.
Er schaltete die Taschenlampe ein und klemmte sie sich in den Mund, um die Hände frei zu haben. Mühelos fand er im Aktenfach des Schreibtischs die drei Ordner, die ihn interessierten, und nahm sie heraus. Sie enthielten Papiere, Fotos und Dossiers. Er ließ alles in seiner Mappe verschwinden und schloß das Fach. An der Wand stand ein kleiner roter Koffer. Er öffnete ihn. Reiseutensilien. Vorsichtig durchwühlte er ihn: nichts Interessantes. Er machte ihn zu und stellte ihn an dieselbe Stelle zurück. Bevor er ging, durchsuchte er sicherheitshalber noch alle Schubladen. Leere Blätter, Notizblöcke, Schulhefte. Und eine Schachtel. Er öffnete sie und fühlte, wie ihm plötzlich der Schweiß auf die Stirn trat. Vom anderen Ende der Wohnung her glaubte er ein schmerzliches Stöhnen zu hören.
Als er die Wohnungstür hinter sich zuzog, war er sicher, keinerlei Spuren hinterlassen zu haben. Er wußte, daß er gut fünfzehn Minuten gebraucht hatte, um seinen Job zu erledigen, und daß er bei Tagesanbruch möglichst weit weg sein sollte.
Sobald er allein war, schlich Juri ins dunkle Arbeitszimmer. Alles sah aus wie immer, aber er war beunruhigt. Er hatte das unbestimmte Gefühl, versagt zu haben. Erster Teil
Der Flug des Grünfinken
Namen, hingestreckt und mit Blumen bedeckt Joan Vinyoli
Am Ostersonntag, dem 31. März Anno Domini 2002 um neun Uhr morgens, an diesem so lange ersehnten Tag, sind die Augen der zahlreichen auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen aus aller Herren Ländern erwartungsvoll auf das damastgeschmückte Fenster gerichtet, von dem aus der Heilige Vater den Segen »urbi et orbi« erteilen wird. Obwohl es schon Frühling ist, ist es bitter kalt, denn vom Tiber dringt durch die Via della Conciliazione ein tückischer Luftzug herauf und fegt übermütig über den Platz, entschlossen, die Hingabe derer zu schmälern, die auf den Auftritt des Pontifex maximus warten. Rührung und Schnupfen sorgen für gezückte Taschentücher. Da geht das Balkonfenster auf, die Scheiben blitzen im Sonnenlicht. Ein beflissener Priester stellt das Mikrophon auf die richtige Höhe, und der gekrümmte, in makelloses Weiß gekleidete Johannes Paul II. spricht ein paar Worte, die unverständlich bleiben, obwohl die Leute aufgehört haben, sich zu schneuzen. Dann erfolgt der Segen. Sechs Nonnen aus Guinea, die auf dem feuchten Pflaster des Platzes knien, vergießen Freudentränen. Die von Hochwürden Rella angeführte Gruppe, die einen guten Platz direkt vor dem Fenster des Papstes ergattert hat, schweigt ein wenig unbehaglich angesichts einiger Gläubiger, die Rosenkränze schwenken, Papstbildchen küssen oder diesen Augenblick auf einem Foto verewigen. Sind diese Gefühlsausbrüche nicht doch etwas abergläubisch? Hochwürden Rella winkt ab, wie um zu sagen, was soll’s, und sieht auf die Uhr. Wenn sie in einer halben Stunde auf der Piazza del Sant’Uffizio sein wollen, müssen sie sich sputen. Also hebt Hochwürden Rella, kaum daß der Papst nach Erteilung des Segens von seinen Ärzten vom Fenster fortgezogen wurde, den Arm, um die Richtung vorzugeben, und schickt sich an, sich mit Schlägen seines roten Regenschirms einen Weg durch die dichte Menge auf dem Platz vor dem Vatikan zu bahnen. In geschlossener Formation folgt die Gruppe von gut dreißig Frauen und Männern dem Regenschirm. Auch die anderen Leute setzen sich in Bewegung, langsam, als zögerten sie noch, diesen Ort zu verlassen, der ihnen so viel bedeutet.
Durch die Via di Porta Angelica gleitet eine Limousine mit getönten Scheiben, biegt rechts ab und hält an dem Kontrollposten der Via del Belvedere. Zwei Männer mit Knopf im Ohr, Sonnenbrille und ausrasiertem Nacken beugen sich auf jeder Seite des Wagens zu den Fenstern hinunter, die mit der Eleganz eines berechnenden Augenaufschlags herabgelassen werden. Dann richten sich die beiden gleichzeitig wieder auf und winken den Wagen durch. Allerdings begleitet einer von ihnen die Limousine im Laufschritt noch bis zur Via della Posta und zeigt an, wo genau sie parken soll. Ein Bediensteter des Vatikans, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, öffnet die rechte Wagentür. Vor dem Portal des Palazzo Apostolico steht ein bunt gekleideter Schweizergardist, der seine Umgebung mit betonter Gleichgültigkeit ignoriert. Statt dessen starrt er geradeaus, zum Wachgebäude hinüber, als gäbe es dort etwas Interessantes zu entdecken. In der Tür der Limousine erscheinen zwei zierliche Füße in tiefschwarzen Schuhen mit silbernen Schnallen und werden vorsichtig auf den Boden gesetzt.
© Suhrkamp Verlag
Übersetzung: Kirsten Brandt
»Im Augenblick bin ich nicht erreichbar. Sie können aber nach dem Piepton eine Nachricht hinterlassen.«
»Hör mal, ich kann morgen früh nicht kommen, wir haben eine weitere Ladung Steine für Tremp bekommen, und meine Tochter besteht darauf, daß ich fahre. Mach dir keine Sorgen, ich komme gegen Mittag vorbei, vor dem Essen. Tschüß. Viel Glück und einen Kuß. Ich besuche dich bald. Ach, und noch was: Du hast recht, man hört tatsächlich den Pamano rauschen.«
Ein zweimaliges Piepen. Eine Männerstimme, rauh vom Tabak und vom Kaffee mit Schuß, jemand, der unüberhörbar aus dieser Gegend kam und vertrauensvoll von morgen sprach. Der Eindringling wartete einige Minuten lang, ob sich eine Tür öffnete. Nichts. Niemand. Zu seinem Glück hatte Juri beschlossen, keinen Laut von sich zu geben und weiter bewegungslos im Verborgenen zu bleiben. Erst als die Erinnerung an das Schrillen des Telefons verklungen war, als er wieder die Schneeflocken hören konnte, die alles sanft verhüllten, atmete der Eindringling auf und schaltete den Computer wieder ein.
Juri wußte nicht, was er tun sollte, und so verließ er vorerst seinen Posten und versteckte sich im Wohnzimmer, lauschte aber auf jedes Geräusch, das aus dem Arbeitszimmer drang.
Der Eindringling machte sich wieder an die Arbeit. Rasch füllte er fünf Disketten mit allen Dateien, die in den Ordnern mit den Initialen O. F. gespeichert waren, und mit einigen anderen, um ganz sicherzugehen. Als er damit fertig war, verschob er all diese Dateien in den Papierkorb des Computers, leerte ihn und vergewisserte sich, daß wirklich alle betreffenden Dateien gelöscht waren. Dann legte er eine neue Diskette mit dem Virus ein, lud sie hoch, nahm sie wieder heraus und machte den Computer aus.
Er schaltete die Taschenlampe ein und klemmte sie sich in den Mund, um die Hände frei zu haben. Mühelos fand er im Aktenfach des Schreibtischs die drei Ordner, die ihn interessierten, und nahm sie heraus. Sie enthielten Papiere, Fotos und Dossiers. Er ließ alles in seiner Mappe verschwinden und schloß das Fach. An der Wand stand ein kleiner roter Koffer. Er öffnete ihn. Reiseutensilien. Vorsichtig durchwühlte er ihn: nichts Interessantes. Er machte ihn zu und stellte ihn an dieselbe Stelle zurück. Bevor er ging, durchsuchte er sicherheitshalber noch alle Schubladen. Leere Blätter, Notizblöcke, Schulhefte. Und eine Schachtel. Er öffnete sie und fühlte, wie ihm plötzlich der Schweiß auf die Stirn trat. Vom anderen Ende der Wohnung her glaubte er ein schmerzliches Stöhnen zu hören.
Als er die Wohnungstür hinter sich zuzog, war er sicher, keinerlei Spuren hinterlassen zu haben. Er wußte, daß er gut fünfzehn Minuten gebraucht hatte, um seinen Job zu erledigen, und daß er bei Tagesanbruch möglichst weit weg sein sollte.
Sobald er allein war, schlich Juri ins dunkle Arbeitszimmer. Alles sah aus wie immer, aber er war beunruhigt. Er hatte das unbestimmte Gefühl, versagt zu haben. Erster Teil
Der Flug des Grünfinken
Namen, hingestreckt und mit Blumen bedeckt Joan Vinyoli
Am Ostersonntag, dem 31. März Anno Domini 2002 um neun Uhr morgens, an diesem so lange ersehnten Tag, sind die Augen der zahlreichen auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen aus aller Herren Ländern erwartungsvoll auf das damastgeschmückte Fenster gerichtet, von dem aus der Heilige Vater den Segen »urbi et orbi« erteilen wird. Obwohl es schon Frühling ist, ist es bitter kalt, denn vom Tiber dringt durch die Via della Conciliazione ein tückischer Luftzug herauf und fegt übermütig über den Platz, entschlossen, die Hingabe derer zu schmälern, die auf den Auftritt des Pontifex maximus warten. Rührung und Schnupfen sorgen für gezückte Taschentücher. Da geht das Balkonfenster auf, die Scheiben blitzen im Sonnenlicht. Ein beflissener Priester stellt das Mikrophon auf die richtige Höhe, und der gekrümmte, in makelloses Weiß gekleidete Johannes Paul II. spricht ein paar Worte, die unverständlich bleiben, obwohl die Leute aufgehört haben, sich zu schneuzen. Dann erfolgt der Segen. Sechs Nonnen aus Guinea, die auf dem feuchten Pflaster des Platzes knien, vergießen Freudentränen. Die von Hochwürden Rella angeführte Gruppe, die einen guten Platz direkt vor dem Fenster des Papstes ergattert hat, schweigt ein wenig unbehaglich angesichts einiger Gläubiger, die Rosenkränze schwenken, Papstbildchen küssen oder diesen Augenblick auf einem Foto verewigen. Sind diese Gefühlsausbrüche nicht doch etwas abergläubisch? Hochwürden Rella winkt ab, wie um zu sagen, was soll’s, und sieht auf die Uhr. Wenn sie in einer halben Stunde auf der Piazza del Sant’Uffizio sein wollen, müssen sie sich sputen. Also hebt Hochwürden Rella, kaum daß der Papst nach Erteilung des Segens von seinen Ärzten vom Fenster fortgezogen wurde, den Arm, um die Richtung vorzugeben, und schickt sich an, sich mit Schlägen seines roten Regenschirms einen Weg durch die dichte Menge auf dem Platz vor dem Vatikan zu bahnen. In geschlossener Formation folgt die Gruppe von gut dreißig Frauen und Männern dem Regenschirm. Auch die anderen Leute setzen sich in Bewegung, langsam, als zögerten sie noch, diesen Ort zu verlassen, der ihnen so viel bedeutet.
Durch die Via di Porta Angelica gleitet eine Limousine mit getönten Scheiben, biegt rechts ab und hält an dem Kontrollposten der Via del Belvedere. Zwei Männer mit Knopf im Ohr, Sonnenbrille und ausrasiertem Nacken beugen sich auf jeder Seite des Wagens zu den Fenstern hinunter, die mit der Eleganz eines berechnenden Augenaufschlags herabgelassen werden. Dann richten sich die beiden gleichzeitig wieder auf und winken den Wagen durch. Allerdings begleitet einer von ihnen die Limousine im Laufschritt noch bis zur Via della Posta und zeigt an, wo genau sie parken soll. Ein Bediensteter des Vatikans, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, öffnet die rechte Wagentür. Vor dem Portal des Palazzo Apostolico steht ein bunt gekleideter Schweizergardist, der seine Umgebung mit betonter Gleichgültigkeit ignoriert. Statt dessen starrt er geradeaus, zum Wachgebäude hinüber, als gäbe es dort etwas Interessantes zu entdecken. In der Tür der Limousine erscheinen zwei zierliche Füße in tiefschwarzen Schuhen mit silbernen Schnallen und werden vorsichtig auf den Boden gesetzt.
© Suhrkamp Verlag
Übersetzung: Kirsten Brandt
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Autoren-Porträt von Jaume Cabré
Jaume Cabré, geboren 1947 in Barcelona, gehört zu den von Kritik und Publikum heute am meisten geschätzten katalanischen Autoren. Der Roman Die Stimmen des Flusses wurde mit dem Preis der spanischen Kritik ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jaume Cabré
- 2008, 16. Aufl., 666 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kirsten Brandt
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518460498
- ISBN-13: 9783518460498
- Erscheinungsdatum: 16.10.2008
Rezension zu „Die Stimmen des Flusses “
»Lassen Sie sich einfach auf die großartige Geschichte ein, die Begeisterung kommt von ganz allein. Sie werden sich am Ende nach dem kleinen Ort in den Pyrenäen sehnen und danach, dass es doch bitte noch 666 Seiten weitergehen möge. Sex, Crime, Zärtlichkeit, Witz, Ironie, Schärfe, Zeitgeschichte, es ist alles drin, ein Spielfilm als Buch verpackt.«
Pressezitat
»Bereits auf den ersten Seiten öffnet sich ein Spannungsbogen, der sich erst auf der letzten Seite schliesst, den Leser bis dahin durch ein Geflecht von Geschichten mitreisst, die, miteinander verwoben, einander in immer neuen Windungen ablösen, sich zu Mustern fügen ... Cabré ist ein Meister erzählerischer Brüche, des rasanten Wechsels zwischen Erzählebenen und Situationen.« Kersten Knipp Neue Zürcher Zeitung
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