Die Stunde des Reglers / Gabriel Tretjak Bd.2
Thriller
DIE REGLER-THRILLER: SPITZENSPANNUNG MADE IN GERMANY
Er ist der REGLER. Für andere regelt er Leben, Geld, Macht, Sex. Nur die Zeit hat er nicht unter Kontrolle. Denn da draußen ist jemand, der tötet. Und die Opfer tragen alle den gleichen...
Er ist der REGLER. Für andere regelt er Leben, Geld, Macht, Sex. Nur die Zeit hat er nicht unter Kontrolle. Denn da draußen ist jemand, der tötet. Und die Opfer tragen alle den gleichen...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Stunde des Reglers / Gabriel Tretjak Bd.2 “
DIE REGLER-THRILLER: SPITZENSPANNUNG MADE IN GERMANY
Er ist der REGLER. Für andere regelt er Leben, Geld, Macht, Sex. Nur die Zeit hat er nicht unter Kontrolle. Denn da draußen ist jemand, der tötet. Und die Opfer tragen alle den gleichen Namen: seinen. Gabriel Tretjak hat sich in die Berge über dem Lago Maggiore zurückgezogen. Als die Quantenphysikerin Sophia Welterlin ihn aufsucht, ahnt er nicht, dass eine eiskalte Jagd im Gang ist: Wenn die Zeit in mehr als eine Richtung läuft, gegen wen arbeitet sie?
"Ein filmreifer, rasanter und raffinierter Thriller, der für Blitzlichtgewitter sorgt!"
MDR
"Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Mein Tipp: Die REGLER-Thriller hintereinander lesen!"
Anouk Schollähn, NDR 2
"Alles, was ein intelligenter Thriller braucht."
Bücher
"Story und Spannung vom feinsten."
Stuttgarter Zeitung
"Rasant, subtil, vielschichtig: Dieser Regler ist wirklich ein spannender Typ."
Für Sie
"Äußerst gekonnt und spannend."
Südwest Presse
Er ist der REGLER. Für andere regelt er Leben, Geld, Macht, Sex. Nur die Zeit hat er nicht unter Kontrolle. Denn da draußen ist jemand, der tötet. Und die Opfer tragen alle den gleichen Namen: seinen. Gabriel Tretjak hat sich in die Berge über dem Lago Maggiore zurückgezogen. Als die Quantenphysikerin Sophia Welterlin ihn aufsucht, ahnt er nicht, dass eine eiskalte Jagd im Gang ist: Wenn die Zeit in mehr als eine Richtung läuft, gegen wen arbeitet sie?
"Ein filmreifer, rasanter und raffinierter Thriller, der für Blitzlichtgewitter sorgt!"
MDR
"Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Mein Tipp: Die REGLER-Thriller hintereinander lesen!"
Anouk Schollähn, NDR 2
"Alles, was ein intelligenter Thriller braucht."
Bücher
"Story und Spannung vom feinsten."
Stuttgarter Zeitung
"Rasant, subtil, vielschichtig: Dieser Regler ist wirklich ein spannender Typ."
Für Sie
"Äußerst gekonnt und spannend."
Südwest Presse
Klappentext zu „Die Stunde des Reglers / Gabriel Tretjak Bd.2 “
DIE REGLER-THRILLER: SPITZENSPANNUNG MADE IN GERMANY Er ist der REGLER. Für andere regelt er Leben, Geld, Macht, Sex. Nur die Zeit hat er nicht unter Kontrolle. Denn da draußen ist jemand, der tötet. Und die Opfer tragen alle den gleichen Namen: seinen.
Gabriel Tretjak hat sich in die Berge über dem Lago Maggiore zurückgezogen. Als die Quantenphysikerin Sophia Welterlin ihn aufsucht, ahnt er nicht, dass eine eiskalte Jagd im Gang ist: Wenn die Zeit in mehr als eine Richtung läuft, gegen wen arbeitet sie?
»Ein filmreifer, rasanter und raffinierter Thriller, der für Blitzlichtgewitter sorgt!« MDR
»Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Mein Tipp: Die REGLER-Thriller hintereinander lesen!« Anouk Schollähn, NDR 2
»Alles, was ein intelligenter Thriller braucht.« Bücher
»Story und Spannung vom feinsten.« Stuttgarter Zeitung
»Rasant, subtil, vielschichtig: Dieser Regler ist wirklich ein spannender Typ.« Für Sie
»Äußerst gekonnt und spannend.« Südwest Presse
Lese-Probe zu „Die Stunde des Reglers / Gabriel Tretjak Bd.2 “
Die Stunde des Reglers von Max LandorffProlog
Der Mann redete auf die Hunde ein. Schon seit einer halben Stunde tat er das, da sie etwas müde wirkten, jetzt, am Ende der langen Tagestour. Er wollte sie auf den letzten Metern aufmuntern. Seine Worte galten vor allem dem Leithund an der Spitze des Gespannes, einem großen braunen Canadian Husky, der es ihm gelegentlich durch einen Blick über die Schulter dankte. Heja, Igor, zeig, was du für einer bist, komm, weiter, auf dich kann man sich verlassen ... Solche Sachen sagte der Mann. Er musste laut reden, fast schreien, denn nicht nur sein Körper, sondern auch sein Kopf war dick vermummt. Das Gesicht steckte in einer Art Strumpfmaske, zwei Schlitze für die Augen, eine Schneebrille darüber. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze, die unterm Kinn zugebunden war, und darüber noch die Kapuze des Daunenanoraks.
Es war der 2. Dezember, der Tag vor dem ersten Advent, nachmittags gegen vier. Der Mann stand auf einem Hundeschlitten, die Füße in unförmig dicken Schuhen auf den verlängerten Kufen, die Hände in unförmig dicken Handschuhen an zwei Haltegriffen. Sein Schlitten war drei Meter lang, hochbepackt mit Proviant und Gerätschaften. Davor liefen die sechs Hunde, immer zwei nebeneinander in einem ausgeklügelten System aus Nylonschnüren. Gleichmäßig strampelten sie in ihren Geschirren, ihr Atem produzierte kleine Dampfwolken, ihre Pfoten wirbelten den Pulverschnee auf, so dass eine feine weiße Gischt entstand und das Gefährt wie ein Boot wirken ließ, das übers Wasser schoss.
... mehr
Die Sonne war schon untergegangen. Um diese Jahreszeit hielt sie sich im Norden Schwedens nur fünf Stunden pro Tag am Himmel. Aber ein fetter Vollmond beleuchtete die Szenerie. Die Luft war klar, und es war relativ warm, nur 20 Grad unter null. Seit Stunden bewegte sich der Schlitten durch eine Landschaft, die vor allem eines war: weiß. Über zugefrorene Flussbetten war er gefahren, die ausgesehen hatten wie verlassene Straßen, Wälder hatte er durchquert, in denen die Fichten wie eisige weiße Skulpturen aufgereiht waren. Jetzt ging es leicht bergab über eine freie Fläche auf einem Bergrücken.
Der vermummte Mann, den hier alle nur unter seinem Vornamen Krister kannten, war nicht allein unterwegs. Er führte einen kleinen Konvoi von sechs weiteren Schlitten an. Sie folgten ihm in derselben Spur wie Knoten in einer Schnur, in jeweils ungefähr dreihundert Meter Abstand. Eine kleine Reisegruppe, die sich hier am ersten Wochenende der Weihnachtszeit auf ihr Ziel freute, eine unter Schnee begrabene Holzhütte ohne Strom. Krister mochte diese besondere Tour mit dem Adventsfeuer als Höhepunkt, weil sie besondere Menschen zusammenführte. Wer kam schon auf die Idee, ausgerechnet zu dieser Zeit eine solche Fahrt zu buchen? Wer um diese Zeit in den Norden aufbrach und sich auf einen Hundeschlitten stellte, war an einer besonderen Zwischenstation seines Lebens angelangt. So jedenfalls schien es Krister. Die Gespräche abends vorm Feuer in den Hütten waren anders als bei anderen Touren und die Stimmung immer ein spezielles Erlebnis. Der erste Schlitten hinter Krister wurde von einer jungen Frau aus Berlin gesteuert, die gerade von ihrem Freund verlassen worden war, obwohl schon ein gemeinsamer Skiurlaub mit Eltern und Schwiegereltern geplant war. Ganz hinten in der Reihe fuhr ein älterer alleinstehender Mann aus Kopenhagen, Besitzer eines Elektroladens. Er hatte die Reise in einem Preisausschreiben gewonnen - für zwei Personen natürlich, aber er hatte keine zweite Person gefunden, die sie mit ihm hatte antreten wollen.
Seit vier Tagen waren sie unterwegs. Die Leute hatten gelernt, mit den Hunden umzugehen - wie man sie anspannte, ausspannte, fütterte, fürs Nachtlager ankettete. Sie wussten inzwischen, was zu tun war, wenn man eine Hütte erreichte. Wie man sie vom Schnee befreite, ein Feuer im Ofen machte, Schnee auftaute, damit man Wasser hatte - und wie man aus dem gefrorenen Proviant eine Mahlzeit zubereitete. Die Hütte heute würde etwas größer sein als sonst, man würde morgen einen Ruhetag einlegen und die abendliche Party vorbereiten.
Krister betrieb sein Unternehmen seit über zehn Jahren, er war also ein erfahrener Musher, wie die Hundeschlittenführer hießen. Als die Hütte im Mondlicht vor ihm auftauchte, sah er sofort, dass etwas nicht stimmte. Den Hütteneingang konnte er nicht sehen, nur die von hohen Schneewehen umgebene Rückseite und das im Weiß eingegrabene Dach. Aber er sah, dass die Tür des Brennholzschuppens offen stand und dass der Korb, den man zum Scheiteholen benutzte, davor im Schnee lag. Das System mit den Unterkünften im riesigen, einsamen Gebiet des Sånfjället-Nationalparks funktionierte gut, aber es funktionierte nur, weil sich alle, die einen Schlüssel hatten, an die Regeln hielten. Die Wichtigste war, dass man die Hütte so verließ, wie man sie vorgefunden hatte. Sauber, mit frischem Brennholzvorrat - und verschlossen.
Stå. Das Kommando für seine Hunde, anzuhalten. Krister hob die Hand als Zeichen für seine Gruppe, dass sie aufschließen und ebenfalls anhalten sollten. Er wies die Leute an, die Schneeanker in den Boden zu schlagen und bei ihren Schlitten zu warten. Er selbst fuhr auf die Hütte zu. Was er dort vorfand, musste er später bei der Polizei sehr genau zu Protokoll geben: ein umgestürzter Schlitten vor dem Eingang der Hütte, ein einzelner, halbverhungerter knurrender Hund, der noch in seinem Geschirr hing, die rechte Vorderpfote gebrochen. Die offene Tür zur Hütte. Er musste den Beamten mehrmals erklären, warum er den Mann, der drinnen am Boden lag, erst so spät entdeckt hatte. Weil es stockfinster war, weil er zwar eine starke Taschenlampe hatte, aber eben nur eine Taschenlampe. Weil er erst die Verwüstungen im großen Gemeinschaftsraum inspizierte, die umgestürzten Tische und Bänke. Erst dann betrat er die offenen Zimmer mit den Stockbetten, die den Gemeinschaftsraum umgaben. Im zweiten fand er den Mann. Er lag auf der Seite, es war Blut am Boden. Der Mann war bekleidet, sein Gesicht weiß, kalt, leblos. Ein Toter, so schien es jedenfalls.
Früher war Krister Feuerwehrmann in Stockholm gewesen. Er hatte also gute Nerven und wusste, wie man in solchen Situationen vorging: mit Bedacht und klaren Prioritäten. Als Erstes breitete er zwei Decken über dem Mann aus, dann schnürte er die Ladung auf seinem Schlitten auf und förderte das alte Satellitentelefon zutage. Es gab hier kein Mobilfunknetz. Ein Rettungshubschrauber würde in 55 Minuten vor Ort sein. Danach kümmerte sich Krister um seine Reisegruppe. Die Hunde mussten versorgt, es musste Feuer gemacht werden.
24 Stunden später, am Abend des ersten Advents, bot die Hütte an dem sanften Bergrücken des Fjällduken ein anderes Bild. Drinnen war aufgeräumt, Feuer prasselte im Ofen und in zwei Kaminen. Gaslampen verbreiteten ein gemütliches Licht. Man war schon damit beschäftigt, den Rehrücken zuzubereiten, die erste Flasche Champagner war geöffnet.
200 Kilometer entfernt, auf der Intensivstation des Krankenhauses von Sundsvall, lag der Mann, den man in der Hütte gefunden hatte. Im Hubschrauber hatte man festgestellt, dass er noch lebte. Er hatte zwei Schusswunden; eine Kugel hatte im Oberschenkel, die andere in der Lunge gesteckt, nah am Herzen. Man hatte ihn umgehend operieren müssen, auch wenn der Mann dramatisch unterkühlt gewesen war. Inzwischen wurde er beatmet und hing an einem riesigen Medikamentenbaum, wie die Metallständer mit den Infusionsflaschen genannt wurden. Die Ärzte waren sich nicht sicher, ob er überleben würde. Seine Identität war zunächst nicht festzustellen, er hatte keinen Ausweis bei sich oder sonstige Hinweise darauf, wer er war. Nur ein unbeschriftetes Kuvert hatte man in der Innentasche seines Anoraks gefunden und sichergestellt.
Es enthielt einen handgeschriebenen Brief. Das Papier war schon ziemlich zerknittert und mehrfach gefaltet, doch es war dickes, teures Papier. Der Inhalt bestand aus wenigen Worten in blauer Füllerschrift.
Lieber Bruder,
wir müssen reden. Der Zeitpunkt ist da. t0 = JETZT.
Luca.
Teil 1
Vertrauen
Mittwoch, 4. Oktober
(t0 minus 58)
Er hörte dieses schlagende Geräusch. Wieder und wieder. Etwas aus Holz schlug auf etwas aus ... Stein? Gabriel Tretjak versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihm nicht, sosehr er sich auch anstrengte. Seine Lider fühlten sich an, als wären sie zugeklebt. In der Nase hatte er den Geruch von nassen Badeanzügen, vielen nassen Badeanzügen, die allesamt Frauen gehörten. Und wieder schlug etwas aus Holz auf etwas aus Stein.
Das menschliche Gehirn ist ein Spieler. Beim Übergang vom Schlaf zum Bewusstsein lässt es sich besonders viele Varianten einfallen. Manche Tage werden angeknipst wie Lichtschalter. Man öffnet die Augen, und die Nacht ist vorbei. Aber manchmal muss man noch eine Weile im Casino des Gehirns bleiben, wo Neurotransmitter mit unserem gesamten Leben spielen, ganz neue Wetten abschließen. Gabriel Tretjak hatte das Gehirn immer als eigenes Wesen betrachtet, bei sich selbst und bei anderen, ein Wesen, das im Kopf wohnte, das man sich zunutze machen konnte, meistens, nicht immer. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tretjak an diesem Morgen sein Gehirn dazu brachte, die Karten auf den Tisch zu legen.
Seine Augen waren nicht verklebt, sie waren schon offen. Aber der Raum, in dem er sich befand, war stockfinster. Es war das Schlafzimmer im Haus seines Vaters. Und er lag im Bett seines Vaters, der seit einem Jahr tot war. Oben in der Küche schlug der Fensterladen, den man nicht festmachen konnte, gegen die Mauer. Es war Wind aufgekommen in der Nacht.
Er schloss die Augen wieder. Einen Moment wollte er bei den nassen Badeanzügen bleiben. Es kam nicht oft vor, dass ihn etwas aus seiner Kindheit nachts überfiel, und schon gar nicht aus der kurzen glücklichen Zeit dieser Kindheit - bevor die Katastrophen gekommen waren. Die Badeanzüge in der Umkleidekabine am Pool. Sein Bruder Luca hatte ihn immer wieder dort hingeschleppt. Ein kleines Holzhäuschen, reserviert für Hotelgäste, die schwimmen wollten. Es konnte immer nur von einer Person benutzt werden, man nahm seine Kleider nach dem Umziehen wieder mit. Doch mittags oder auch abends hängten die Gäste ihre nasse Badebekleidung an den Haken in der Kabine auf. Männer rechts, Frauen links. Luca und er lauerten kichernd hinter der Buchenhecke auf den richtigen Moment, dann schlichen sie hinein. Wie alt waren sie damals? Luca 15, er selbst sieben? Luca fasste die Anzüge an, fast ehrfürchtig, und er flüsterte ihm zu, welchen Frauen welches Teil gehörte: der großen Blonden mit dem Riesenbusen zum Beispiel, oder der Tochter der dicken Deutschen, der Frau des Millionärs mit dem Porsche ... Der Geruch in dem Häuschen war eine Mischung aus Chlorwasser, von der Sonne aufgeheiztem Holz und dem Duft der Frauen, ihren Parfums und Cremes. Für die beiden Jungs das aufregendste Gemisch, das man sich vorstellen konnte. Gabriel Tretjak versuchte sich zu erinnern, was sein Bruder ihm im Traum gesagt hatte. Aber er sah immer nur das Bild vor sich: Luca, der sich in der Kabine zu ihm umdrehte, seine dunklen Augen und dass er plötzlich fast erschrocken aussah, bevor er sprach.
Tretjak richtete sich im Bett auf, stellte die Füße auf den Holzboden, schlüpfte in die Lederpantoffeln seines Vaters, des toten, des ermordeten Vaters. Er durchquerte den finsteren Raum, öffnete das Fester und stieß den dunkelgrünen Holzladen auf. Es war schon hell draußen. Er blickte auf die Uhr. 20 Minuten vor neun. In den ersten Wochen hier war er oft morgens einfach liegen geblieben. Eingemummelt in eine Decke und in ein Gespinst aus Gedanken und Gefühlen. In letzter Zeit zwang er sich dazu, aufzustehen und eine Art Tagwerk zu beginnen, eine Hecke zu schneiden zum Beispiel oder Brennholz zu hacken. Auch eine kleine Steinmauer hatte er hochgezogen und einen toten Baum gefällt. Solche Dinge kosteten an diesem Ort viel Kraft und Zeit.
Das kleine Bauernhaus, in dem sein Vater die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, befand sich in den italienischen Alpen. Es stand seit etwa hundert Jahren wie ein kleiner Turm im steilen Berg, direkt über dem Ort Maccagno am Lago Maggiore, dem großen Gletschersee. An seinen Ufern war es so warm, dass Palmen wuchsen, aber auf den Spitzen der Berge, die ihn umgaben, war es so kalt, dass der Schnee auch im Sommer liegen blieb. Das Haus bestand aus lediglich vier Räumen, Schlafzimmer und Bad im unteren Teil, darüber Wohnzimmer und Küche. Eine Steintreppe verband die beiden Ebenen. Von jedem Raum aus konnte man ins Freie treten, auf kleine Terrassen. Von der Küche aus blickte Tretjak jetzt direkt über den Herd auf den See. Es war ein warmer, klarer Herbsttag, Mittwoch, glaubte er zu wissen. Mittwoch, der 4. Oktober, so sollte es auch später in den Polizeiprotokollen festgehalten werden. Unten in dem kleinen Hafen fuhr ein Segelboot auf den See hinaus, ein weißes Segel auf dem weißlich glitzernden Wasser.
Die kleine Espressokanne aus Metall, die auf dem Herd stand, zischte jetzt und brodelte. Tretjak öffnete den Kühlschrank, holte eine Packung Milch heraus, goss sie in eine Tasse und schenkte darauf den heißen Kaffee. Dann setzte er die kleine Geschirrspülmaschine in Gang, in der ein paar benutzte Teller und Gläser der letzten Tage standen. Er zog die Jeans an, die über dem Stuhl hing, und ging hinaus auf die Veranda.
Zum ersten Mal hatte Tretjak diese Veranda am Tag der Beerdigung seines Vaters betreten. Das war schon über ein Jahr her. Von hier aus war er ins Haus gelangt, mit den Schlüsseln, die ihm die Polizei ausgehändigt hatte. Sprachlos und wie in Trance hatte er in den kargen Überresten des Lebens seines Vaters herumgestanden, im letzten Zuhause des Mannes, den er so gehasst hatte. Damals hatte er gedacht, nun sei alles vorbei, nun könne er neu beginnen. Wie froh er gewesen war, dass er nicht allein hatte herkommen müssen. Dass Fiona ihn begleitet hatte. Fiona ...
Vor Weihnachten war er dann noch einmal von München aus hierher an den Lago Maggiore gefahren. Eigentlich nur, um den Makler zu treffen, der das Haus für ihn verkaufen sollte. Und vielleicht noch, um den ein oder anderen Gegenstand mit zurückzunehmen. Vielleicht. Vergangenheit aufzuheben war noch nie seine Sache gewesen. Und diese hier schon gar nicht.
Das Besondere an dem Haus war, dass es an einem alten Eselsweg lag und nur zu Fuß zu erreichen war. Den winzigen alten Geländewagen seines Vaters entdeckte Tretjak erst später unter einer Plane. Als er damals vor Weihnachten oben angekommen war, hatte er drei Fehler gemacht. Zuerst hatte er sich auf die Veranda gesetzt, um zu Atem zu kommen. Er hatte über den See geblickt und den Geruch des winterlichen Waldes eingeatmet, der Erde, des Laubes auf dem Boden, den Duft des großen Rosmarinstrauches in dem Steintopf neben sich. Dann hatte er, als er im Haus war, in allen Kaminen Feuer angezündet. Und als alle drei brannten, das Holz krachte und es draußen dunkel wurde, da hatte er beschlossen, ein paar Tage zu bleiben. Niemand wartete auf ihn in München. Sein Leben dort war in die Luft gesprengt worden, die neue Wohnung bedeutete ihm nichts. Plötzlich schien ihm das Haus der richtige Ort für Weihnachten. Zwei Wochen später war der Makler des Auftrags enthoben, das Haus zu verkaufen. Und Ende Januar schleppte Tretjak insgesamt fünf schwere Rucksäcke den Berg hinauf, Kleidung, Bücher, Computer, ein kleines Teleskop. Das große stand noch immer in seiner Sternwarte auf einem Bauernhof bei München. Wahrscheinlich hatte es inzwischen Spinnweben angesetzt.
Graue Mauern durchzogen den Berg und das Grundstück, auf dem Tretjaks Haus stand. Aus Natursteinen errichtet, viele inzwischen halb eingestürzt und von Pflanzen überwuchert, erinnerten sie an die Zeit, als die Menschen an den steilen Hängen Landwirtschaft betrieben hatten. Auch der Eselsweg wurde zum Berg hin von einer solchen Steinmauer beschützt, die von der Gemeinde in Schuss gehalten wurde. Den Weg selbst konnte man deshalb von Tretjaks Veranda aus nicht sehen, doch wenn ein Mensch darauf nach oben gelaufen kam, tauchte sein Kopf immer wieder zwischen den Büschen und Bäumen auf.
Der Hut, den Tretjak jetzt von der Veranda aus sah, war ein billiger Strohhut, von der Art, wie sie unten am See und an allen Stränden der Welt verkauft wurden. Er wippte auf und ab und bewegte sich ziemlich schnell vorwärts. Tretjaks Blick war inzwischen geübt, und er erkannte sofort, dass die Person unter dem Hut körperlich fit war. Er war ein wenig überrascht, als er schließlich sah, dass es eine Frau war, die sich da zügig näherte und schon die letzte Biegung vor seinem Haus erreicht hatte. Jetzt konnte er die ganze Gestalt sehen. Die Frau hatte eine kräftige, beinahe bullige Statur. Sie trug eine helle Leinenhose, eine weiße Bluse und eine Sonnenbrille. Ihre langen braunen Haare hatte sie im Nacken zu einem schweren Zopf geflochten, die Füße steckten in leichten Wanderschuhen. Tretjak schätzte ihr Alter auf etwa vierzig.
Der Weg war inzwischen ein markierter Wanderweg, man gelangte an Tretjaks Haus vorbei in etwa anderthalb Stunden Fußweg zu einem höher gelegenen Bauerndorf. Touristen gingen den Weg gelegentlich, um den Blick auf den See zu genießen, Einheimische benutzten ihn manchmal, um im Wald Pilze und Heidelbeeren zu sammeln. Unlängst hatte eine Pfadfindergruppe irgendwo dort oben ihr Camp aufgeschlagen. Wer Tretjaks Grundstück betreten wollte, musste unten beim Haus ein grüngestrichenes Holztor aufstoßen. Er wusste nicht, ob es sein Vater gewesen war oder der Vorbesitzer, der an diesem Tor eine Vorrichtung angebracht hatte, wie es sie früher in kleinen Lebensmittelläden gegeben hatte. Wenn man die Tür öffnete, ertönte ein kurzes, etwas abgedämpftes Klingelgeräusch, ein angenehm tiefer Ton, der aber doch so laut war, dass man ihn überall gut hören konnte. Der Ton überraschte Tretjak in dem kleinen Schuppen, wo er seine Motorsäge aufbewahrte.
Als er zurück zur Veranda kam, stand die Frau mit dem Strohhut bereits dort. Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und schaute ihn aus auffallend dunkelblauen Augen an.
»Sie sind Gabriel Tretjak, nicht wahr?«, sagte sie mit dem unverkennbaren Akzent der Schweizer. Und fügte ein freundliches »Guten Morgen« hinzu. Ihr Blick schwenkte einmal über den Garten zum See. »Schön haben Sie es hier.«
Tretjak fiel auf, dass sie keine einzige Schweißperle auf der Stirn hatte und ihr Atem völlig normal war.
»Sind Sie Hochleistungssportlerin?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie, »aber ich bin in Zermatt geboren und aufgewachsen, am Fuß des Matterhorns, 16oo Meter hoch.« Sie lachte, und Tretjak sah, dass sie eher fünfzig war, vielleicht sogar älter. »Ich heiße Sophia Welterlin«, sagte sie und schaute zu der Bank und dem Tisch. »Ich muss mit Ihnen reden, Herr Tretjak. Darf ich mich setzen?«
Tretjak nickte nur, stellte seine Motorsäge auf den Boden. Früher hätte er dieser Frau ein paar klare Fragen gestellt und sie entweder schnell abgewiesen oder höflicher empfangen. An seinem fast schon unbeholfenen Benehmen erkannte er, dass sein Eremitenleben nun schon eine ganze Weile andauerte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Die Sonne war schon untergegangen. Um diese Jahreszeit hielt sie sich im Norden Schwedens nur fünf Stunden pro Tag am Himmel. Aber ein fetter Vollmond beleuchtete die Szenerie. Die Luft war klar, und es war relativ warm, nur 20 Grad unter null. Seit Stunden bewegte sich der Schlitten durch eine Landschaft, die vor allem eines war: weiß. Über zugefrorene Flussbetten war er gefahren, die ausgesehen hatten wie verlassene Straßen, Wälder hatte er durchquert, in denen die Fichten wie eisige weiße Skulpturen aufgereiht waren. Jetzt ging es leicht bergab über eine freie Fläche auf einem Bergrücken.
Der vermummte Mann, den hier alle nur unter seinem Vornamen Krister kannten, war nicht allein unterwegs. Er führte einen kleinen Konvoi von sechs weiteren Schlitten an. Sie folgten ihm in derselben Spur wie Knoten in einer Schnur, in jeweils ungefähr dreihundert Meter Abstand. Eine kleine Reisegruppe, die sich hier am ersten Wochenende der Weihnachtszeit auf ihr Ziel freute, eine unter Schnee begrabene Holzhütte ohne Strom. Krister mochte diese besondere Tour mit dem Adventsfeuer als Höhepunkt, weil sie besondere Menschen zusammenführte. Wer kam schon auf die Idee, ausgerechnet zu dieser Zeit eine solche Fahrt zu buchen? Wer um diese Zeit in den Norden aufbrach und sich auf einen Hundeschlitten stellte, war an einer besonderen Zwischenstation seines Lebens angelangt. So jedenfalls schien es Krister. Die Gespräche abends vorm Feuer in den Hütten waren anders als bei anderen Touren und die Stimmung immer ein spezielles Erlebnis. Der erste Schlitten hinter Krister wurde von einer jungen Frau aus Berlin gesteuert, die gerade von ihrem Freund verlassen worden war, obwohl schon ein gemeinsamer Skiurlaub mit Eltern und Schwiegereltern geplant war. Ganz hinten in der Reihe fuhr ein älterer alleinstehender Mann aus Kopenhagen, Besitzer eines Elektroladens. Er hatte die Reise in einem Preisausschreiben gewonnen - für zwei Personen natürlich, aber er hatte keine zweite Person gefunden, die sie mit ihm hatte antreten wollen.
Seit vier Tagen waren sie unterwegs. Die Leute hatten gelernt, mit den Hunden umzugehen - wie man sie anspannte, ausspannte, fütterte, fürs Nachtlager ankettete. Sie wussten inzwischen, was zu tun war, wenn man eine Hütte erreichte. Wie man sie vom Schnee befreite, ein Feuer im Ofen machte, Schnee auftaute, damit man Wasser hatte - und wie man aus dem gefrorenen Proviant eine Mahlzeit zubereitete. Die Hütte heute würde etwas größer sein als sonst, man würde morgen einen Ruhetag einlegen und die abendliche Party vorbereiten.
Krister betrieb sein Unternehmen seit über zehn Jahren, er war also ein erfahrener Musher, wie die Hundeschlittenführer hießen. Als die Hütte im Mondlicht vor ihm auftauchte, sah er sofort, dass etwas nicht stimmte. Den Hütteneingang konnte er nicht sehen, nur die von hohen Schneewehen umgebene Rückseite und das im Weiß eingegrabene Dach. Aber er sah, dass die Tür des Brennholzschuppens offen stand und dass der Korb, den man zum Scheiteholen benutzte, davor im Schnee lag. Das System mit den Unterkünften im riesigen, einsamen Gebiet des Sånfjället-Nationalparks funktionierte gut, aber es funktionierte nur, weil sich alle, die einen Schlüssel hatten, an die Regeln hielten. Die Wichtigste war, dass man die Hütte so verließ, wie man sie vorgefunden hatte. Sauber, mit frischem Brennholzvorrat - und verschlossen.
Stå. Das Kommando für seine Hunde, anzuhalten. Krister hob die Hand als Zeichen für seine Gruppe, dass sie aufschließen und ebenfalls anhalten sollten. Er wies die Leute an, die Schneeanker in den Boden zu schlagen und bei ihren Schlitten zu warten. Er selbst fuhr auf die Hütte zu. Was er dort vorfand, musste er später bei der Polizei sehr genau zu Protokoll geben: ein umgestürzter Schlitten vor dem Eingang der Hütte, ein einzelner, halbverhungerter knurrender Hund, der noch in seinem Geschirr hing, die rechte Vorderpfote gebrochen. Die offene Tür zur Hütte. Er musste den Beamten mehrmals erklären, warum er den Mann, der drinnen am Boden lag, erst so spät entdeckt hatte. Weil es stockfinster war, weil er zwar eine starke Taschenlampe hatte, aber eben nur eine Taschenlampe. Weil er erst die Verwüstungen im großen Gemeinschaftsraum inspizierte, die umgestürzten Tische und Bänke. Erst dann betrat er die offenen Zimmer mit den Stockbetten, die den Gemeinschaftsraum umgaben. Im zweiten fand er den Mann. Er lag auf der Seite, es war Blut am Boden. Der Mann war bekleidet, sein Gesicht weiß, kalt, leblos. Ein Toter, so schien es jedenfalls.
Früher war Krister Feuerwehrmann in Stockholm gewesen. Er hatte also gute Nerven und wusste, wie man in solchen Situationen vorging: mit Bedacht und klaren Prioritäten. Als Erstes breitete er zwei Decken über dem Mann aus, dann schnürte er die Ladung auf seinem Schlitten auf und förderte das alte Satellitentelefon zutage. Es gab hier kein Mobilfunknetz. Ein Rettungshubschrauber würde in 55 Minuten vor Ort sein. Danach kümmerte sich Krister um seine Reisegruppe. Die Hunde mussten versorgt, es musste Feuer gemacht werden.
24 Stunden später, am Abend des ersten Advents, bot die Hütte an dem sanften Bergrücken des Fjällduken ein anderes Bild. Drinnen war aufgeräumt, Feuer prasselte im Ofen und in zwei Kaminen. Gaslampen verbreiteten ein gemütliches Licht. Man war schon damit beschäftigt, den Rehrücken zuzubereiten, die erste Flasche Champagner war geöffnet.
200 Kilometer entfernt, auf der Intensivstation des Krankenhauses von Sundsvall, lag der Mann, den man in der Hütte gefunden hatte. Im Hubschrauber hatte man festgestellt, dass er noch lebte. Er hatte zwei Schusswunden; eine Kugel hatte im Oberschenkel, die andere in der Lunge gesteckt, nah am Herzen. Man hatte ihn umgehend operieren müssen, auch wenn der Mann dramatisch unterkühlt gewesen war. Inzwischen wurde er beatmet und hing an einem riesigen Medikamentenbaum, wie die Metallständer mit den Infusionsflaschen genannt wurden. Die Ärzte waren sich nicht sicher, ob er überleben würde. Seine Identität war zunächst nicht festzustellen, er hatte keinen Ausweis bei sich oder sonstige Hinweise darauf, wer er war. Nur ein unbeschriftetes Kuvert hatte man in der Innentasche seines Anoraks gefunden und sichergestellt.
Es enthielt einen handgeschriebenen Brief. Das Papier war schon ziemlich zerknittert und mehrfach gefaltet, doch es war dickes, teures Papier. Der Inhalt bestand aus wenigen Worten in blauer Füllerschrift.
Lieber Bruder,
wir müssen reden. Der Zeitpunkt ist da. t0 = JETZT.
Luca.
Teil 1
Vertrauen
Mittwoch, 4. Oktober
(t0 minus 58)
Er hörte dieses schlagende Geräusch. Wieder und wieder. Etwas aus Holz schlug auf etwas aus ... Stein? Gabriel Tretjak versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihm nicht, sosehr er sich auch anstrengte. Seine Lider fühlten sich an, als wären sie zugeklebt. In der Nase hatte er den Geruch von nassen Badeanzügen, vielen nassen Badeanzügen, die allesamt Frauen gehörten. Und wieder schlug etwas aus Holz auf etwas aus Stein.
Das menschliche Gehirn ist ein Spieler. Beim Übergang vom Schlaf zum Bewusstsein lässt es sich besonders viele Varianten einfallen. Manche Tage werden angeknipst wie Lichtschalter. Man öffnet die Augen, und die Nacht ist vorbei. Aber manchmal muss man noch eine Weile im Casino des Gehirns bleiben, wo Neurotransmitter mit unserem gesamten Leben spielen, ganz neue Wetten abschließen. Gabriel Tretjak hatte das Gehirn immer als eigenes Wesen betrachtet, bei sich selbst und bei anderen, ein Wesen, das im Kopf wohnte, das man sich zunutze machen konnte, meistens, nicht immer. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tretjak an diesem Morgen sein Gehirn dazu brachte, die Karten auf den Tisch zu legen.
Seine Augen waren nicht verklebt, sie waren schon offen. Aber der Raum, in dem er sich befand, war stockfinster. Es war das Schlafzimmer im Haus seines Vaters. Und er lag im Bett seines Vaters, der seit einem Jahr tot war. Oben in der Küche schlug der Fensterladen, den man nicht festmachen konnte, gegen die Mauer. Es war Wind aufgekommen in der Nacht.
Er schloss die Augen wieder. Einen Moment wollte er bei den nassen Badeanzügen bleiben. Es kam nicht oft vor, dass ihn etwas aus seiner Kindheit nachts überfiel, und schon gar nicht aus der kurzen glücklichen Zeit dieser Kindheit - bevor die Katastrophen gekommen waren. Die Badeanzüge in der Umkleidekabine am Pool. Sein Bruder Luca hatte ihn immer wieder dort hingeschleppt. Ein kleines Holzhäuschen, reserviert für Hotelgäste, die schwimmen wollten. Es konnte immer nur von einer Person benutzt werden, man nahm seine Kleider nach dem Umziehen wieder mit. Doch mittags oder auch abends hängten die Gäste ihre nasse Badebekleidung an den Haken in der Kabine auf. Männer rechts, Frauen links. Luca und er lauerten kichernd hinter der Buchenhecke auf den richtigen Moment, dann schlichen sie hinein. Wie alt waren sie damals? Luca 15, er selbst sieben? Luca fasste die Anzüge an, fast ehrfürchtig, und er flüsterte ihm zu, welchen Frauen welches Teil gehörte: der großen Blonden mit dem Riesenbusen zum Beispiel, oder der Tochter der dicken Deutschen, der Frau des Millionärs mit dem Porsche ... Der Geruch in dem Häuschen war eine Mischung aus Chlorwasser, von der Sonne aufgeheiztem Holz und dem Duft der Frauen, ihren Parfums und Cremes. Für die beiden Jungs das aufregendste Gemisch, das man sich vorstellen konnte. Gabriel Tretjak versuchte sich zu erinnern, was sein Bruder ihm im Traum gesagt hatte. Aber er sah immer nur das Bild vor sich: Luca, der sich in der Kabine zu ihm umdrehte, seine dunklen Augen und dass er plötzlich fast erschrocken aussah, bevor er sprach.
Tretjak richtete sich im Bett auf, stellte die Füße auf den Holzboden, schlüpfte in die Lederpantoffeln seines Vaters, des toten, des ermordeten Vaters. Er durchquerte den finsteren Raum, öffnete das Fester und stieß den dunkelgrünen Holzladen auf. Es war schon hell draußen. Er blickte auf die Uhr. 20 Minuten vor neun. In den ersten Wochen hier war er oft morgens einfach liegen geblieben. Eingemummelt in eine Decke und in ein Gespinst aus Gedanken und Gefühlen. In letzter Zeit zwang er sich dazu, aufzustehen und eine Art Tagwerk zu beginnen, eine Hecke zu schneiden zum Beispiel oder Brennholz zu hacken. Auch eine kleine Steinmauer hatte er hochgezogen und einen toten Baum gefällt. Solche Dinge kosteten an diesem Ort viel Kraft und Zeit.
Das kleine Bauernhaus, in dem sein Vater die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, befand sich in den italienischen Alpen. Es stand seit etwa hundert Jahren wie ein kleiner Turm im steilen Berg, direkt über dem Ort Maccagno am Lago Maggiore, dem großen Gletschersee. An seinen Ufern war es so warm, dass Palmen wuchsen, aber auf den Spitzen der Berge, die ihn umgaben, war es so kalt, dass der Schnee auch im Sommer liegen blieb. Das Haus bestand aus lediglich vier Räumen, Schlafzimmer und Bad im unteren Teil, darüber Wohnzimmer und Küche. Eine Steintreppe verband die beiden Ebenen. Von jedem Raum aus konnte man ins Freie treten, auf kleine Terrassen. Von der Küche aus blickte Tretjak jetzt direkt über den Herd auf den See. Es war ein warmer, klarer Herbsttag, Mittwoch, glaubte er zu wissen. Mittwoch, der 4. Oktober, so sollte es auch später in den Polizeiprotokollen festgehalten werden. Unten in dem kleinen Hafen fuhr ein Segelboot auf den See hinaus, ein weißes Segel auf dem weißlich glitzernden Wasser.
Die kleine Espressokanne aus Metall, die auf dem Herd stand, zischte jetzt und brodelte. Tretjak öffnete den Kühlschrank, holte eine Packung Milch heraus, goss sie in eine Tasse und schenkte darauf den heißen Kaffee. Dann setzte er die kleine Geschirrspülmaschine in Gang, in der ein paar benutzte Teller und Gläser der letzten Tage standen. Er zog die Jeans an, die über dem Stuhl hing, und ging hinaus auf die Veranda.
Zum ersten Mal hatte Tretjak diese Veranda am Tag der Beerdigung seines Vaters betreten. Das war schon über ein Jahr her. Von hier aus war er ins Haus gelangt, mit den Schlüsseln, die ihm die Polizei ausgehändigt hatte. Sprachlos und wie in Trance hatte er in den kargen Überresten des Lebens seines Vaters herumgestanden, im letzten Zuhause des Mannes, den er so gehasst hatte. Damals hatte er gedacht, nun sei alles vorbei, nun könne er neu beginnen. Wie froh er gewesen war, dass er nicht allein hatte herkommen müssen. Dass Fiona ihn begleitet hatte. Fiona ...
Vor Weihnachten war er dann noch einmal von München aus hierher an den Lago Maggiore gefahren. Eigentlich nur, um den Makler zu treffen, der das Haus für ihn verkaufen sollte. Und vielleicht noch, um den ein oder anderen Gegenstand mit zurückzunehmen. Vielleicht. Vergangenheit aufzuheben war noch nie seine Sache gewesen. Und diese hier schon gar nicht.
Das Besondere an dem Haus war, dass es an einem alten Eselsweg lag und nur zu Fuß zu erreichen war. Den winzigen alten Geländewagen seines Vaters entdeckte Tretjak erst später unter einer Plane. Als er damals vor Weihnachten oben angekommen war, hatte er drei Fehler gemacht. Zuerst hatte er sich auf die Veranda gesetzt, um zu Atem zu kommen. Er hatte über den See geblickt und den Geruch des winterlichen Waldes eingeatmet, der Erde, des Laubes auf dem Boden, den Duft des großen Rosmarinstrauches in dem Steintopf neben sich. Dann hatte er, als er im Haus war, in allen Kaminen Feuer angezündet. Und als alle drei brannten, das Holz krachte und es draußen dunkel wurde, da hatte er beschlossen, ein paar Tage zu bleiben. Niemand wartete auf ihn in München. Sein Leben dort war in die Luft gesprengt worden, die neue Wohnung bedeutete ihm nichts. Plötzlich schien ihm das Haus der richtige Ort für Weihnachten. Zwei Wochen später war der Makler des Auftrags enthoben, das Haus zu verkaufen. Und Ende Januar schleppte Tretjak insgesamt fünf schwere Rucksäcke den Berg hinauf, Kleidung, Bücher, Computer, ein kleines Teleskop. Das große stand noch immer in seiner Sternwarte auf einem Bauernhof bei München. Wahrscheinlich hatte es inzwischen Spinnweben angesetzt.
Graue Mauern durchzogen den Berg und das Grundstück, auf dem Tretjaks Haus stand. Aus Natursteinen errichtet, viele inzwischen halb eingestürzt und von Pflanzen überwuchert, erinnerten sie an die Zeit, als die Menschen an den steilen Hängen Landwirtschaft betrieben hatten. Auch der Eselsweg wurde zum Berg hin von einer solchen Steinmauer beschützt, die von der Gemeinde in Schuss gehalten wurde. Den Weg selbst konnte man deshalb von Tretjaks Veranda aus nicht sehen, doch wenn ein Mensch darauf nach oben gelaufen kam, tauchte sein Kopf immer wieder zwischen den Büschen und Bäumen auf.
Der Hut, den Tretjak jetzt von der Veranda aus sah, war ein billiger Strohhut, von der Art, wie sie unten am See und an allen Stränden der Welt verkauft wurden. Er wippte auf und ab und bewegte sich ziemlich schnell vorwärts. Tretjaks Blick war inzwischen geübt, und er erkannte sofort, dass die Person unter dem Hut körperlich fit war. Er war ein wenig überrascht, als er schließlich sah, dass es eine Frau war, die sich da zügig näherte und schon die letzte Biegung vor seinem Haus erreicht hatte. Jetzt konnte er die ganze Gestalt sehen. Die Frau hatte eine kräftige, beinahe bullige Statur. Sie trug eine helle Leinenhose, eine weiße Bluse und eine Sonnenbrille. Ihre langen braunen Haare hatte sie im Nacken zu einem schweren Zopf geflochten, die Füße steckten in leichten Wanderschuhen. Tretjak schätzte ihr Alter auf etwa vierzig.
Der Weg war inzwischen ein markierter Wanderweg, man gelangte an Tretjaks Haus vorbei in etwa anderthalb Stunden Fußweg zu einem höher gelegenen Bauerndorf. Touristen gingen den Weg gelegentlich, um den Blick auf den See zu genießen, Einheimische benutzten ihn manchmal, um im Wald Pilze und Heidelbeeren zu sammeln. Unlängst hatte eine Pfadfindergruppe irgendwo dort oben ihr Camp aufgeschlagen. Wer Tretjaks Grundstück betreten wollte, musste unten beim Haus ein grüngestrichenes Holztor aufstoßen. Er wusste nicht, ob es sein Vater gewesen war oder der Vorbesitzer, der an diesem Tor eine Vorrichtung angebracht hatte, wie es sie früher in kleinen Lebensmittelläden gegeben hatte. Wenn man die Tür öffnete, ertönte ein kurzes, etwas abgedämpftes Klingelgeräusch, ein angenehm tiefer Ton, der aber doch so laut war, dass man ihn überall gut hören konnte. Der Ton überraschte Tretjak in dem kleinen Schuppen, wo er seine Motorsäge aufbewahrte.
Als er zurück zur Veranda kam, stand die Frau mit dem Strohhut bereits dort. Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und schaute ihn aus auffallend dunkelblauen Augen an.
»Sie sind Gabriel Tretjak, nicht wahr?«, sagte sie mit dem unverkennbaren Akzent der Schweizer. Und fügte ein freundliches »Guten Morgen« hinzu. Ihr Blick schwenkte einmal über den Garten zum See. »Schön haben Sie es hier.«
Tretjak fiel auf, dass sie keine einzige Schweißperle auf der Stirn hatte und ihr Atem völlig normal war.
»Sind Sie Hochleistungssportlerin?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie, »aber ich bin in Zermatt geboren und aufgewachsen, am Fuß des Matterhorns, 16oo Meter hoch.« Sie lachte, und Tretjak sah, dass sie eher fünfzig war, vielleicht sogar älter. »Ich heiße Sophia Welterlin«, sagte sie und schaute zu der Bank und dem Tisch. »Ich muss mit Ihnen reden, Herr Tretjak. Darf ich mich setzen?«
Tretjak nickte nur, stellte seine Motorsäge auf den Boden. Früher hätte er dieser Frau ein paar klare Fragen gestellt und sie entweder schnell abgewiesen oder höflicher empfangen. An seinem fast schon unbeholfenen Benehmen erkannte er, dass sein Eremitenleben nun schon eine ganze Weile andauerte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
... weniger
Autoren-Porträt von Max Landorff
Max Landorff ist ein Pseudonym. Seine REGLER-Thriller sind Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Max Landorff
- 2013, 1. Auflage, 368 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596193036
- ISBN-13: 9783596193035
- Erscheinungsdatum: 20.11.2013
Kommentar zu "Die Stunde des Reglers / Gabriel Tretjak Bd.2"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Stunde des Reglers / Gabriel Tretjak Bd.2".
Kommentar verfassen