Die Teerose / Rosentrilogie Bd.1
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Spannend und voller Sinnlichkeit erzählt dieser Roman die Geschichte der Fiona Finnegan und einer großen Liebe zwischen Sühne, Mut und Leidenschaft.
Die Teerose vonJennifer Donnelly
LESEPROBE
Der Duft der frisch gerösteten indischen Teeblätter warbetäubend. Er drang aus Oliver's Wharf herüber, einem sechsstöckigen Lagerhausam Nordufer der Themse, und zog die Old Stairs hinab, eine Steintreppe inWapping, die von der gewundenen, mit Kopfstein gepflasterten High Street zumFluß hinunterführte. Der Duft des Tees überlagerte alle anderen Gerüche der Docks- den säuerlichen Gestank des schlammigen Ufers, den salzigen Geruch desFlusses, die intensiven Düfte von Zimt, Pfeffer und Muskat aus denGewürzlagern.
FionaFinnegan schloß die Augen und atmete tief ein. »Assam«, sagte sie zu sichselbst. »Für einen Darjeeling ist der Geruch zu stark, für einen Dooars zuintensiv.«
Mr. Minton,der Vorarbeiter bei Burton's, sagte, sie habe ein Näschen für Tee. Es machteihm Spaß, sie zu testen und ihr eine Handvoll Blätter unter die Nase zu halten,die sie dann benennen mußte. Sie täuschte sich nie.
Ein Näschenfür Tee? Vielleicht. Die Hände dafür ganz sicher, dachte sie und öffnete dieAugen, um ihre abgearbeiteten, vom Teestaub schwarzen Hände anzusehen. DerStaub setzte sich überall fest. Im Haar, in den Ohren, im Innern ihres Kragens.Seufzend rieb sie mit dem Rocksaum den Schmutz weg. Zum erstenmal seit halb siebenheute morgen, seit sie die Küche ihrer Mutter verlassen und auf die dunklenStraßen von Whitechapel hinausgegangen war, konnte sie sich setzen.
Um Viertelvor sieben kam sie in der Teefabrik an. Mr. Minton hatte sie an der Türerwartet und ihr aufgetragen, die Halbpfunddosen für die anderenVerpackungsarbeiterinnen herzurichten, die um sieben mit der Arbeit begannen.Diejenigen, die mit der Mischung beauftragt waren und in den oberen Stockwerkenarbeiteten, hatten am Tag zuvor zwei Tonnen Earl Grey vorbereitet, der bis zumMittag verpackt werden mußte. Fünfundfünfzig Mädchen hatten fünf Stunden Zeit,um achttausend Dosen zu füllen. Das hieß etwa zwei Minuten Arbeitszeit für eineDose. Nur Mr. Minton fand, daß zwei Minuten zu lang waren, weshalb er hinterden Mädchen stehenblieb - sie überwachte, drangsalierte und antrieb. Nur um einpaar Sekunden bei der Füllung einer Teedose herauszuschinden.
An denSamstagen wurde nur halbtags gearbeitet, aber gerade diese kamen ihr endlosvor, weil Mr. Minton dann die Mädchen ganz besonders antrieb. Das war nichtseine Schuld, wie Fiona wußte, er befolgte nur die Anweisungen von Mr. Burtonpersönlich. Wahrscheinlich war ihr Arbeitgeber sauer, weil er seinen Angestellteneinen halben Tag freigeben mußte, und dafür ließ er sie büßen. An den Samstagenbekamen sie keine Pause und mußten fünf volle Stunden stehen. Wenn sie Glückhatte, wurden ihre Beine taub, wenn nicht, taten sie allmählich immer heftigerweh, ein Schmerz, der in den Fußgelenken begann und langsam den Rücken hinaufzog.Aber noch schlimmer als das Stehen war die zermürbende, eintönige Arbeitselbst: ein Schild auf eine Dose kleben, den Tee abwiegen, ihn einfüllen, dieDose versiegeln und in eine Kiste stellen, dann alles wieder von neuem. DieMonotonie war eine Tortur für einen wachen Geist wie den ihren, und es gab Tagewie den heutigen, an denen sie dachte, sie würde wahnsinnig werden und nie davonloskommen, Tage, an denen sie sich fragte, ob all ihre großen Pläne, ihreOpfer, je zum Ziel führen würden.
Sie zog dieHaarnadeln aus dem schweren Knoten an ihrem Hinterkopf und schüttelte das Haarauf. Dann löste sie die Schnürsenkel an ihren Stiefeln, streifte sie ab, zogdie Strümpfe aus und streckte die langen Beine. Sie schmerzten immer noch vondem schier endlosen Stehen. Auch der Spaziergang zum Fluß hatte nichts geholfen.Sie konnte förmlich hören, wie ihre Mutter schimpfte: »Wenn du ein bißchenVerstand hättest, Kind, nur ein ganz kleines bißchen, würdest du gleichheimkommen und dich ausruhen, statt zum Fluß runterzurennen.«
Nicht zumFluß gehen? dachte sie und bewunderte die silbrige Themse, die in derAugustsonne glänzte. Wer könnte dem widerstehen? Muntere kleine Wellenschlugen ungeduldig gegen die Stufen der Old Stairs und spritzten sie naß. Siebeobachtete, wie sie langsam auf sie zusprangen, und stellte sich vor, daß derFluß ihre Zehen berühren, über ihre Fußgelenke schwappen, sie in seinenverlockenden Strom hineinziehen und mit sich forttragen würde. Ach, wenn siedoch fortkönnte.
Während sieübers Wasser blickte, spürte Fiona, wie ihre Müdigkeit abklang und eineplötzliche Frische an ihre Stelle trat. Der Fluß belebte sie. Die Leute sagten,daß die City, das Handels- und Regierungszentrum im Westen von Wapping, dasHerz von London sei. Wenn das stimmte, dann war dieser Fluß sein Lebenssaft.Und Fionas Herz machte einen Freudensprung angesichts seiner Schönheit.
Alles, wasauf der Welt interessant und aufregend war, lag direkt vor ihr. Voller Staunenbeobachtete sie die Schiffe, die den Fluß überquerten und mit Gütern aus denentferntesten Teilen des Empire beladen waren. Heute nachmittag herrschtedichter Verkehr auf der Themse. Stakkähne und Barkassen durchpflügten das Wasserund transportierten Männer von und zu Schiffen, die in der Mitte des Stromsankerten. Ein mächtiger Dampfer drängte kleinere Fahrzeuge aus dem Weg. Einzerbeulter Trawler, der vom Kabeljaufang in den eisigen Wassern der Nordseezurückkehrte, fuhr flußaufwärts nach Billingsgate. Lastkähne kämpften umDurchfahrtsrecht, fuhren flußauf- und flußabwärts, löschten Fracht - eine TonneMuskatnüsse hier, Säcke mit Kaffee dort. Fässer mit Melasse. Wolle, Wein undWhiskey. Tabakbündel und Kisten mit Tee.
Undüberall, auf den vorspringenden Docks, mit ihren Kapitänen konferierend oderzwischen Kisten und Kästen und hoch aufgetürmten Paletten hin und her gehend,waren Händler - energische, herrische Männer, die aus der City herbeieilten,um sofort, nachdem ihre Schiffe angekommen waren, ihre Waren zu begutachten.Sie kamen in Kutschen, trugen Spazierstöcke und ließen mit feinen, weißenHänden goldene Uhren aufspringen. Sie trugen Zylinder und Gehröcke und wurdenvon Schreibern begleitet, die sich an ihre Fersen hefteten, Rechnungsbücherschleppten und mit gerunzelter Stirn alles überprüften und notierten. DieseMänner waren Alchimisten. Sie bekamen rohe Güter, die sie in Gold verwandelten.Und Fiona sehnte sich danach, zu ihnen zu gehören. (...)
© 2003Piper Verlag GmbH, München
Übersetzung:Angelika Felenda
- Autor: Jennifer Donnelly
- 2004, 36. Aufl., 688 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Angelika Felenda
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492242588
- ISBN-13: 9783492242585
- Erscheinungsdatum: 27.10.2004