Das Testament Gottes / Die Templer Saga Bd.5
Roman
A. D. 1184: Die sagenumwobene Templerin Robin ist die Vertraute des todkranken Königs Balduin von Jerusalem. Um sein politisches Erbe zu regeln, begibt sie sich in Begleitung von Assassinen auf eine geheime Mission nach Deutschland. Dort enthüllt...
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Produktinformationen zu „Das Testament Gottes / Die Templer Saga Bd.5 “
A. D. 1184: Die sagenumwobene Templerin Robin ist die Vertraute des todkranken Königs Balduin von Jerusalem. Um sein politisches Erbe zu regeln, begibt sie sich in Begleitung von Assassinen auf eine geheime Mission nach Deutschland. Dort enthüllt sich ihr das wahre Geheimnis des Templerordens. Das Wissen um das "Testament Gottes" droht den gesamten Erdenkreis ins Chaos zu stürzen.
Klappentext zu „Das Testament Gottes / Die Templer Saga Bd.5 “
A. D. 1184: Die sagenumwobene Templerin Robin ist die Vertraute des todkranken Königs Balduin von Jerusalem. Um sein politisches Erbe zu regeln, begibt sie sich in Begleitung von Assassinen auf eine geheime Mission nach Deutschland. Dort enthüllt sich ihr das wahre Geheimnis des Templerordens. Das Wissen um das »Testament Gottes« droht den gesamten Erdenkreis ins Chaos zu stürzen ...
Lese-Probe zu „Das Testament Gottes / Die Templer Saga Bd.5 “
Die Templerin von Wolfgang und Rebecca Hohlbein1. KAPITEL
Robin hatte mehr von der Welt gesehen als die meisten anderen Frauen ihres Alters. In den vergangenen Jahren hatten ihr zahlreiche Menschen nach dem Leben getrachtet. Das Schicksal hatte sie mehrfach auf hohe See geschickt, auf entbehrungsreiche Reisen durch die endlosen Wüsten des Heiligen Landes, in blutige Kämpfe und erbarmungslose Schlachten. Sie hatte die klaffenden und brandigen Wunden derer verbunden, die nur knapp mit dem Leben davongekommen waren, und mehr als einmal hatte es so ausgesehen, als käme für sie selbst jede Hilfe zu spät. Dennoch hatte sie einen Großteil aller Menschen überlebt, die ihr am Herzen lagen.
Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und doch hätte man meinen sollen, dass kein Grauen und kein Schrecken sie noch hätten erschüttern können, dass es nichts mehr gab, was sie sorgen, und niemanden, der sie noch hätte quälen können. Und im Großen und Ganzen war dem auch so: Was Gott ihr abverlangt hatte, hatte sie zu einem starken Menschen reifen lassen, der sich an den kleinen Freuden des Lebens erfrischen konnte und den großen, bedeutenden Dingen, wie zum Beispiel dem Krieg um das Heilige Land, der nach wie vor um Jerusalem herum tobte, mit einer beinahe kränkenden Gelassenheit entgegentrat. Nein - es gab wirklich nichts, was Robin noch aus der Ruhe bringen konnte.
Außer Leila.
Ihre Tochter, inzwischen fünf Jahre alt, war in diesen Stunden wieder einmal nicht daheim. Das allein war nicht ungewöhnlich: Zum Leidwesen ihrer Eltern neigte Leila seit annähernd einem Jahr dazu, sich mit einigen Jungen aus dem Viertel herumzutreiben, Orangen und andere exotische Früchte aus den Gärten der Nachbarschaft zu stehlen und die Ziege des alten Erdogan mit Lehmklumpen und Steinen zu bewerfen. Die Zeit, in der sie sich von ihrem Vater Salim mit
... mehr
liebevoll bestickten Kleidern hatte schmücken lassen und in der Saila und Nemeth ihr das Haar zu kleinen Kunstwerken voller goldener Nadeln und schillernder Perlen hatten aufstecken dürfen, war wie im Flug vergangen. Salim hatte seiner Tochter seit Monaten kein neues Kleid mehr anfertigen lassen - es war vergebene Liebesmüh. Die Lebensdauer jedweden Textils, mit dem sich nicht zumindest durch trockenes Gestrüpp tingeln ließ, betrug in etwa sechs Stunden; eher weniger. Saila beschränkte sich darauf, Leila am Morgen das widerspenstige schwarze Haar zu kämmen und es zu einem einfachen Zopf zusammenzubinden, und Robin kleidete sie in schlichte, aber robuste Leinenhemden, wie es in ihrer friesischen Heimat üblich war. Das Leinen kratzte auf der weichen Kinderhaut und machte nicht nur Leila, sondern auch ihre geplagten Eltern zum Gespött der Nachbarn und der gemeinhin eitlen und stolzen Mädchen Jerusalems. Leila schien es nicht zu stören. Mit den anderen Mädchen hatte sie sowieso nichts zu schaffen, wenn sie ihnen nicht gerade an den Haaren zog oder sie mit schmutzigem Wasser bespritzte. Und erwachsene Menschen nahm sie in aller Regel überhaupt nicht wahr.
Kurzum: Leila war eine Strafe, und Robin wusste nicht, wofür. Sie fragte sich, was sie getan hatte, dass der Herrgott ihr eine solche Prüfung auferlegte, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie diese kaum hüfthohe Herausforderung jemals bewältigen sollte.
Sie hatte versucht, mit dem Mädchen zu reden, sie zu schelten und sie einzusperren. Aber Leila war komplett uneinsichtig, stur und außerdem recht klug. Wenn Robin mit ihr redete, fand Leila einfach die besseren Argumente, oder sie gab sich einsichtig, um möglichst schnell wieder in Ruhe gelassen zu werden. Schalt Robin sie, demonstrierte Leila ihr den unschuldigsten Augenaufschlag, der je unter dem Himmel des Orients getan worden war, sodass Robins Zorn jäh wieder verpuffte. Und wenn man sie einsperrte, fand Leila eben irgendwie nach draußen - meistens durch das Fenster. Dass dieses im ersten Stock ihres Stadthauses gelegen war, fand Leila nicht schlimm. Wahrscheinlich nur ein bisschen abenteuerlich.
Auch innerhalb der vergangenen Stunde musste das Mädchen das Fenster als Tor in ein neues Abenteuer gewählt haben. Und nun war es bereits die Stunde nach Mitternacht.
Robin verharrte vor dem Eingang ihres Zuhauses, unschlüssig, in welche Richtung sie sich wenden sollte, als Salim an ihr vorbeischoss. Mit einem unanständigen arabischen Fluch auf den Lippen verschwand er im Eilschritt nach rechts, ohne Robin eines Blickes gewürdigt, geschweige denn sich zu einer Erklärung herabgelassen zu haben.
»Salim!« Als er auf ihren Ruf nicht reagierte, eilte Robin ihm nach und griff ihn an der Schulter. »Wo willst du hin?« Sie kannte den Sarazenen nur zu gut und wusste, dass er gerade in einer Stimmung war, in der er unter Umständen Dinge tun würde, die ihm am kommenden Tag sehr leidtaten. Seiner Tochter den Hintern zu versohlen wie ein nordischer Waffenschmied, zum Beispiel. Durch den dünnen Stoff seines schwarzen Hemdes hindurch spürte Robin die Anspannung seiner Muskeln, und in seinen Augen loderte heiße Wut, als er innehielt und zu ihr herumwirbelte.
»Was glaubst du, wohin ich will, wenn meine Tochter sich des Nachts allein auf der Straße herumtreibt, Weib?«, fluchte er. »Selbstverständlich halte ich den Zeitpunkt für günstig, mich endlich einmal im Harem meines Vaters zu vergnügen - nun, da ich von meinen väterlichen Pflichten entbunden bin, bis diesem kleinen Wechselbalg einmal nach einem Kurzbesuch im elterlichen Haushalt zumute ist.«
»Wie redest du denn daher? Sie ist deine Tochter, und ich bin deine Ehefrau!«, schnappte Robin, besann sich dann aber eines Besseren. Sie würde die Ruhe bewahren und sich lieber darum bemühen, ihren zornigen Gatten zu besänftigen, statt eine Grundsatzdiskussion über zwischenmenschliche Werte und Umgangsformen vom Zaun zu brechen. »Ich komme mit«, entschied sie. »Wo wollen wir nach ihr suchen?«
»Wo auch immer es ein Tier zu quälen oder etwas zu zerstören gibt«, fauchte Salim. »Ich werde sie finden, verlass dich darauf. Du gehst zurück ins Haus und setzt Doran mit einem Tritt vor die Tür, der ihn von Jerusalem bis nach Mekka befördert. Und zwar mit seinem hohlen Kopf voran.«
»Das werde ich nicht tun?« Robin schüttelte entschieden den Kopf. Offiziell stand der junge Doran seit einigen Wochen in ihren Diensten, um ihre Tochter vor weltlichen Gefahren jeglicher Art zu schützen. Doch alle, besonders Doran selbst, wussten, dass es eigentlich die Welt war, die vor Leila geschützt werden musste.
Robin hatte nachdrücklich darauf bestanden, den jungen Assassinen zu engagieren, den sie während ihrer Suche nach dem legendären Wasser des Lebens kennengelernt hatte. Nicht weil sie große Hoffnungen hegte, dass er tatsächlich besser mit ihrer Tochter zurande käme als alle anderen, die bislang an ihrer Erziehung verzweifelt waren, sondern weil sie ihm vertraute. Sie wusste, dass er Leila niemals etwas zuleide tun würde. Nicht einmal, wenn das Mädchen Erdogans verdammte Ziege irgendwann vierteilen und über der Öllampe in ihrem Zimmer rösten würde.
»Dann werde ich Doran vor die Tür setzen? Sobald ich zurück bin und diese fleischgewordene Strafe Allahs in den Brunnen eingemauert habe. Dieser Hohlkopf ist der Aufgabe, auf ein fünfjähriges Mädchen achtzugeben, offenkundig nicht gewachsen?« Mit einem Schnauben wandte Salim sich ab und wollte davonstürmen, aber Robin bekam ihn am Unterarm zu fassen und riss ihn zurück.
»Ich komme mit, weil du sie sonst nur wieder schlägst?« Alle erzwungene Ruhe war von ihr abgefallen, und aus ihrer Stimme klang jetzt eine wütende Entschlossenheit, die der Salims in nichts nachstand. Sie hasste es, wenn ihr Mann ihre kleine Tochter schlug. Zwar schlug er stets bloß mit der flachen Hand, nicht etwa mit Gegenständen, wie es manch anderer Vater an seiner Stelle getan hätte. Doch kräftig und voller Energie, wie er nun einmal war, musste er nicht eigens mit einem Gürtel oder einem Stock auf Leilas Gesäß eindreschen, um dafür zu sorgen, dass sie im Anschluss nur noch auf dem Bauch in den Schlaf fand.
Hätte man Robin vor einigen Jahren erzählt, dass ihr geliebter Salim, dieser kluge, warmherzige Mensch und liebende Vater, jemals die Hand gegen sein eigenes Kind erheben würde, hätte sie ihn verlacht oder wäre beleidigt gewesen - je nach Gemütslage. Doch sie hätte auch nie geglaubt, dass es ein Kind - ein Mädchen zudem! - geben könnte, das sich so benahm wie ihre Tochter. Es war die berechtigte Sorge, die Salim in seine Wut und Gewaltausbrüche trieb, und vielleicht tat er sogar das einzig Richtige, weil Regeln und Grenzen aus Worten in Leilas Welt schlicht keine Akzeptanz fanden. Dennoch blutete Robin allein in Erwartung der Tränen und Schreie des Mädchens das Herz, und ihre eigene Hilflosigkeit entlud sich in Wut auf Salim: »Ich lasse nicht zu, dass du sie verprügelst!« Sie verstärkte ihren Griff um seinen Unterarm so sehr, dass es ihn schmerzen musste. »Ich kann es nicht ertragen, wenn du ...«
»Ich habe sie noch nie verprügelt!«, fiel Salim ihr ins Wort, riss sich mit einem Ruck los, stürmte aber nicht sogleich weiter, sondern atmete hörbar tief durch. Dann mäßigte er endlich seinen Ton: »Hätte ich das getan, könnte sie das Haus nie wieder ohne fremde Hilfe verlassen, und das weißt du. Du weißt, dass ich ihr niemals irgendeinen echten Schaden zufügen könnte. Du weißt, dass ich sie nur vor sich selbst schützen möchte. Du weißt, dass ich sie vor sich selbst schützen muss, wenn sie ihre Kindheit überleben will.« Er griff nach Robins Kinn und zwang sie, seinem eindringlichen Blick im schwachen Licht, das durch die unteren Fenster auf die Straße fiel, zu begegnen. »Das weißt du doch, oder?«
Robin antwortete nicht. Selbstverständlich war sie sich all dessen bewusst. Doch sie wollte ihn spüren lassen, dass sie litt. Sie wollte, dass er sich einbildete, ganz allein schuld an ihrer Misere zu sein, damit er sich endlich etwas einfallen ließ, was ihnen wirklich half, weil sie selbst nämlich nicht mehr ein noch aus wusste. Fast wünschte sie, König Balduin käme in diesem Augenblick um die Ecke geritten, um ihr aufzutragen, die Gebeine der Heiligen Jungfrau auf einem Löwen nach Jerusalem zu holen und sie zu neuem Leben zu erwecken. Denn es erschien ihr, als wäre etwas Derartiges, verglichen mit der Erziehung eines jungen Menschen, noch die leichter zu bewältigende Herausforderung.
Doch König Balduin war dem Tod längst näher als dem Leben. Jüngst hatte er seinen Neffen Balduin V., den Sohn seiner Schwester Sibylle, zu seinem Nachfolger ernennen müssen, und weil dieser den Windeln gerade erst entwachsen war, führte nun Raimund III. von Tripolis die Regentschaft. Dieser aber, das wusste Robin, hätte sich selbst dann nicht an sie gewandt, wenn er tatsächlich einen solch absurden Wunsch verspürt hätte. Und so war Robin mit dem Rücktritt des hinfälligen Balduin IV. aus ihrer Pflicht als Erster Ritter des Jerusalemer Königshofes in ein fast normales Leben als fast normale junge Frau entlassen worden. Als junge Frau mit einem gigantischen, inzwischen fünfjährigen Problem und einem Ehemann, der ihr auch nicht helfen konnte.
»Ja«, antwortete sie schließlich widerwillig. »Ja. Das weiß ich alles. Aber ...«
Erneut ließ Salim sie nicht ausreden. »Ich werde sie nicht schlagen«, versprach er beinahe sanft und küsste Robins Stirn. »Ich verspreche es dir. Es hat die letzten zehn Male nichts gebracht, und es würde auch dieses Mal nichts bringen. Ich werde ...« Er zögerte.
»Du wirst was?« Robin zog misstrauisch die Brauen zusammen.
Salim zuckte die Schultern. »Mit ihr ... reden. Von Mann zu Mann, sozusagen.« Er grinste gequält.
Robin maß ihn skeptisch. Sie war geneigt, ihm zu glauben, dass er Leila nicht wieder gewaltsam züchtigen wollte, aber das mit dem Reden glaubte sie ihm nicht. Sein Zögern war ihr ebenso wenig entgangen wie sein plötzlicher Stimmungswechsel, der ihr sehr verdächtig erschien. Als wäre ihm viel daran gelegen, dass sie sich vertrauensvoll und halbwegs beruhigt ins Haus zurückzog.
Robin suchte seinen Blick, und Salim hielt ihrem stand. Er war ein hervorragender Lügner. Sie wusste, dass er ihr nichts verraten wollte und würde - was auch immer er vor ihr verheimlichen mochte. Darum gab sie sich geschlagen. »Einverstanden«, stimmte sie beschwichtigt zu. »Ich warte zu Hause.«
Auch sie war eine gute Lügnerin.
Salim drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Mach dir keine Sorgen, Christenweib. Ich habe mich schon weitaus größeren Gefahren gestellt.«
Und damit eilte er davon, nicht mehr stampfend, sondern leise wie eine Katze. Robin wandte sich ab und kehrte tatsächlich ins Haus zurück. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann spitzte sie vorsichtig am Türrahmen vorbei, wartete ab, bis er um die nächste Ecke verschwunden war, und folgte ihm so leise und unauffällig, wie sie es von ihm und den anderen Schattenkriegern des Alten vom Berge gelernt hatte.
Zu dieser späten Stunde regte sich nicht mehr viel im muslimischen Viertel der Stadt. Doch Salim eilte zielsicher durch die Straßen, bis er einen düsteren kleinen Bezirk erreichte, in dem das Leben erst jetzt richtig erwachte. Robin begleitete ihn ungesehen in einem Abstand von rund fünfzig Schritt und bekam nicht nur zunehmende Schwierigkeiten, ihn im Auge zu behalten, sondern lief auch Gefahr, dabei entdeckt zu werden. Aus zahlreichen Teestuben und Gasthäusern, in denen der Alkohol, den der Koran so streng verbot, in Sturzbächen die Kehlen durstiger Männer hinabfloss, fiel helles Licht auf die ungepflasterten, engen Wege. Einige Soldaten des Jerusalemer Königs torkelten Fackeln schwenkend an ihr vorüber. Einer von ihnen hatte sich selbst eingenässt, was aber niemanden zu stören schien. Ihn selbst am allerwenigsten.
Salim überquerte einen kleinen Platz, auf dem auch weit nach Mitternacht noch reger Handel getrieben wurde. Eine Hure lockte einen Freier auf einen blickdicht verhangenen Wagen; drei Burschen, denen noch kein Haar aus den Achselhöhlen spross, schlugen zur Belustigung einiger anderer Betrunkener wild aufeinander ein. Eine Schar alter Männer lungerte um eine Kiste herum, die ihnen als Tisch für ein Geldspiel diente, und zwei Juden standen mit einem kleinen Karren am Rande, um die Gewinner anschließend um ihre Gewinne zu bringen und die Verlierer um ihr letztes Hemd.
Robin lebte nun seit annähernd sechs Jahren in der Heiligen Stadt, doch in diesem Teil war sie noch nie gewesen.
Sie hatte davon gehört, aber keine Vorstellung vom Ausmaß der widerwärtigen, überaus vielseitigen Hemmungslosigkeit gehabt, die hier vorherrschte. Nun mit eigenen Augen zu sehen, wovon man sonst bloß hinter vorgehaltener Hand sprach, erschreckte sie sehr.
Was sie allerdings am allermeisten entsetzte, war der Umstand, dass dieses verkommene Gebiet so nah an dem lag, in dem sie lebte - und damit auch die Möglichkeit bestand, dass ihre kleine Tochter sich irgendwo hier herumtrieb. Dass sie irgendetwas stehlen und ohne jegliches richterliches Verfahren an Ort und Stelle enthauptet werden könnte. Dass man ihr die Zunge aus dem Rachen riss, weil sie sie nicht beherrschte. Oder dass einer dieser lüsternen alten Säcke, die hier in jedem Winkel lauerten, Leila in ein stinkendes Hinterzimmer lockte und ihr etwas unaussprechlich Schreckliches antat ...
Robin zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, und konzentrierte sich darauf, Salims Fährte nicht zu verlieren. Offenbar war er davon überzeugt, dass Leila hier irgendwo zu finden war. Oder er wusste sogar ganz genau, wo sie sich befand, jedenfalls machte er nicht den Eindruck, als ob er nach ihr suchte. Vielmehr bahnte er sich seinen Weg zielstrebig durch die Menge auf dem Platz, passierte eine schmale, unbeleuchtete Gasse und hämmerte an deren Ende an die Tür eines Hauses. Es erschien Robin eher wie ein heruntergekommener Verschlag, in dem sie halbwegs guten Gewissens bestenfalls ein lahmes Maultier untergestellt hätte. Und zwar das eines Menschen, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte.
»Tarek! Beweg deinen schrumpeligen Hintern aus dem schimmligen Stroh, sonst mache ich dir Beine!«, fluchte Salim, als niemand sofort auf sein Klopfen reagierte. »Ich bezahle dich nicht dafür, dass du deinen Rausch ausschläfst, wenn ich nach dir verlange!«
Robin duckte sich hinter einen morschen Karren, der nur noch ein einziges Rad hatte, und beobachtete ihren Mann mit zunehmender Verwunderung. Der Name Tarek war ihr fremd. Niemand dieses Namens stand in ihren Diensten. Zumindest nicht, soweit sie wusste. Außerdem hatte niemand, den Salim und sie beschäftigten, es nötig, in einer heruntergekommenen Hütte am Rande eines derart zwielichtigen Viertels zu hausen.
Ein weiterer Augenblick verging, in dem Salim abermals ungehalten gegen die hölzerne Tür hämmerte. Dann vernahm sie schlurfende Schritte, und schließlich öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Salim versetzte ihr einen Tritt, so dass sie zur Gänze aufschwang. Die Gestalt eines Mannes, den Robin in der Dunkelheit zunächst nicht deutlich erkennen konnte, stolperte mit einem leisen Fluch zurück, entzündete dann irgendwo im Inneren des Hauses eine Laterne und kehrte damit zum Eingang zurück.
»Oh, du Sohn eines verkrüppelten Esels, gezeugt in einem stinkenden Hühnerstall«, knurrte der Fremde, den Salim mit Tarek angesprochen hatte. Im Schein der kleinen Laterne in seiner Hand machte Robin ihn als Muselmanen von rund dreißig Jahren aus. Die Brauen waren über seiner Hakennase zusammengewachsen. Er war hager und trug ärmliche Kleidung. Was hatte Salim mit einem solchen Menschen zu schaffen? Und wenn er tatsächlich in seinen Diensten stand: Warum bezahlte er ihn nicht anständig, damit er sich wenigstens vernünftige Kleidung kaufen konnte?
»Hüte deine Zunge, Kerl!« Salim maß sein Gegenüber vom Kopf bis zu den Zehen, schien noch etwas hinzufügen zu wollen, winkte dann aber entnervt ab. »Hol das Pferd, und zieh dich um. Es ist so weit.«
»Schon wieder? Mir scheint, dein Töchterlein pflegt irgendwo in der Stadt eine kleine Affäre«, spöttelte Tarek und heimste sich damit prompt eine schallende Ohrfeige von Salim ein. Er schlug nur mit dem Handrücken zu und legte auch nicht sonderlich viel Kraft in den Hieb. Dennoch taumelte der fremde Muselman einen halben Schritt zurück. Er war ein Schwächling, registrierte Robin. Nicht besonders groß, krank von zu ausgelassenem Leben und außerdem recht dumm, dass er sich einen solchen Ton dem Sohn des Alten vom Berge gegenüber erlaubte. Wenn er denn wusste, mit wem er sprach.
»Sie ist fünf Jahre alt, du elender Hurensohn!«
Tarek hob die Linke, um sein Gesicht zu schützen, und nutzte sie dazu, sich die rot glühende Wange zu reiben, als er begriff, dass er zumindest für den nächsten Augenblick keinen weiteren Hieb zu befürchten hätte, sofern er Salim nicht erneut verhöhnte. »Schon gut, schon gut ... Verzeih ... Es tut mir leid. Es ist nur ... Ich habe es bereits zweimal getan. Gestern und auch in der Nacht davor ... So war es nicht abgesprochen. Ich kann nicht jede Nacht hinaus reiten und darauf hoffen, dass ich sie noch erwische, ehe sie freiwillig heimkehrt.«
Gestern und in der Nacht davor? Robin stockte der Atem. Wollte er damit sagen, dass Leila auch in den beiden vergangenen Nächten fort gewesen war, ohne dass sie, ihre eigene Mutter, es bemerkt hatte? Das konnte nicht sein! Konnte ihr Versagen wirklich solche Ausmaße angenommen haben? Robin erwartete einen Widerspruch von Salim, aber der Sarazene ging nicht auf die Behauptung ein.
»Nicht?«, erwiderte er stattdessen verächtlich. »Welcherlei Pflichten binden dich denn an deine ärmliche Hütte? Für wen musst du da sein? Für die Huren, den Alkohol, das Glücksspiel oder das Spiel mit dir selbst?«
Tarek blieb eine Antwort schuldig und fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Vielleicht wusste er doch in vollem Umfang um Salims Identität. Aber er gehorchte trotzdem nicht sofort. »Du wirst mir schon ein wenig entgegenkommen müssen«, beharrte er unbehaglich, aber entschieden.
»Elender Beutelschneider!«, schimpfte Salim. Aber aus seiner Stimme klang eine Ungeduld, die auch Tarek nicht entgehen konnte. Das brachte Salim einen Verhandlungsnachteil ein. Er wusste es selbst und schlug einen zusätzlichen Betrag vor fünf Dirham vor.
Tarek schüttelte den Kopf. »Zu wenig.«
Salim gab sich sichtlich Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. »Was willst du noch, du Hund?«
»Das Pferd«, erklärte der Muselman.
»Es ist ein ausgebildetes Schlachtross! Ein Tier, das sogar meinem Vater gerecht würde!«
»Es ist ein Wallach.«
»Aber ein ...«, begann Salim.
Tarek brachte ihn mit einer beschwichtigenden Geste zum Schweigen. »In Ordnung. Behalte den Gaul. Erhöhe um sieben Dirham, und wir sind uns einig.«
»Gut«, stimmte Salim widerwillig zu. »Und nun zieh dich endlich um.«
Tarek wandte sich ab, um - so vermutete Robin - Salims Bitte nachzukommen, hielt dann aber noch einmal inne: »Wenn ich morgen noch einmal losmuss, bekomme ich das Pferd.«
Salim beobachtete ihn durch die offene Tür. Wahrscheinlich wollte er das Haus nicht betreten. Wenn es dort roch, wie Robin es sich vorstellte, dann stank es gewiss erbärmlich. Viele der Menschen in den ärmeren Häusern lebten mit Ziegen, Hühnern und einer Unzahl von Ratten und Mäusen unter einem Dach. Salim jedenfalls drehte in regelmäßigen Abständen den Kopf zur Seite - vermutlich, um einen Hauch frischer Luft zu erhaschen. Im Inneren des Hauses raschelte, polterte und klimperte es.
»Andersherum, du Schwachkopf!«, schalt Salim Ta- rek nach einer Weile. »Du trägst den Waffenrock falsch herum ... Und schnür die Stiefel anständig zu ... Gut so. Der Helm ... Warum ist er rostig? Du solltest darauf achtgeben, bis du ihn brauchst! Hast du ihn etwa in einem Trog aufbewahrt?!«
Robin begriff immer weniger von dem, was sie sah und hörte. Salim wollte seine Tochter suchen, keinen Verbrecher zum Ritter ausbilden, um ihn in die Schlacht gegen die Kleinnager in seinem Haus zu schicken! Was zum Teufel hatte der Sarazene nur vor?
»Klapp das Visier herunter, ehe du das Haus verlässt«, bestimmte Salim nach einem letzten prüfenden Blick. »Ich werde nun nach Hause zurückgehen und abwarten. Hol das Pferd, und beeil dich, damit du sie nicht wieder verpasst. Solltest du auch nur einen Lidschlag mehr Zeit vergeuden als zwingend nötig, frag mich später lieber nicht nach den sieben Dirham. Und nie wieder nach einem weiteren Auftrag.«
Sieben Dirham!, wiederholte Robin in Gedanken. Da-
von konnte eine Familie annähernd zwei Monate leben ...
Salim machte auf dem Absatz kehrt, um den Weg zu-
rückzugehen, den er gekommen war, und Robin duckte
sich etwas tiefer hinter den morschen Karren, um nicht entdeckt zu werden. Als Salim außer Sichtweite war, richtete sie sich vorsichtig wieder auf und beobachtete die kleine, hagere Gestalt Tareks, der nun aus dem ärmlichen Eckhaus ins Freie trag.
Der Muselman trug einen Helm, dessen Visier nicht heruntergeklappt war, ein langes, rostiges Schwert und einen schmutzigen weißen Waffenrock, auf dem ein blutrotes Tatzenkreuz prangte.
Das Gewand eines Tempelritters!
Ihr Gewand?
Robin bewahrte es seit ihrer Rückkehr nach Leilas Geburt in einer Truhe unter ihrem Bett auf, die im Laufe der Jahre gelegentlich von Saila von Staub befreit, aber nicht ein einziges Mal geöffnet worden war. Hin und wieder hatte sie durchaus das Bedürfnis verspürt, den Waffenrock noch einmal hervorzuholen und überzustreifen; ein letztes Mal am Duft der reich verzweigten Wege zu schnuppern, die sie in ihr jetziges Leben geführt hatten - am Staub der Komturei, in die Bruder Abbé sie einst aufgenommen hatte, am Heu des Dachbodens, auf dem Salim und sie sich zum ersten Mal geliebt hatten, am Salz der Meere, die sie bereist (und um große Mengen halb verdauter Speisen bereichert) hatte, am Sand der Wüsten, in denen sie beinahe verdurstet wäre ... All der Schweiß und das Blut längst vergangener Strapazen hafteten an ihrem Waffenrock, und ebenso verlangte es sie manchmal danach, den schweren Helm noch einmal über den Kopf zu stülpen und sich so stark zu fühlen wie in den zahlreichen Kämpfen, die sie überstanden hatte, und vor allem die Klinge des Schwertes noch einmal zu berühren, welches das einzige Erbe des Vaters war, den sie nie gekannt hatte. Aber nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem hatte sie nichts von alle dem jemals wieder getan. Ihr Herz mochte sich zeitweilig nach den Abenteuern ihrer Jugend sehnen. Doch mindestens genauso groß wie ihr Durst nach Freiheit und ihre Lust, immerfort mehr von der Welt zu entdecken, war der Schmerz, den sie empfand, wenn sie an den Preis für die Maskerade zurückdachte, der sie sich damals hatte unterwerfen müssen: an die stete Angst, enttarnt und getötet zu werden, die teils wortwörtlich schmerzhafte Unterdrückung ihrer Weiblichkeit und all das Elend, das sie durchgestanden und mit angesehen hatte. Als wäre sie kein junges Mädchen gewesen, sondern ein gestandener Krieger, den weder abgehackte Gliedmaßen noch die Schreie der Sterbenden im Geringsten erschütterten.
Robin hatte mit alledem abschließen wollen. Sie hatte ihre eigene Identität viel zu lange verleugnen müssen, als dass sie wirklich noch einmal Robin von Tronthoff, der Tempelritter, sein wollte. Auch nicht für die Dauer weniger Minuten, in denen ihr nicht einmal jemand zusah. Die Templerin war eine Legende, deren Reliquien in einer verschlossenen Truhe unter Robins Bett ruhten. Das Mädchen aus dem friesischen Fischerdorf hingegen war nun eine erwachsene Frau. Eine Mutter, die derzeit vor der Wahl stand, gleich an ihrem ersten Kind zu verzweifeln oder es als das größte Abenteuer ihres Lebens zu betrachten. Sich ihm zu stellen, um es zu einem guten Ende zu führen wie die zahlreichen anderen Herausforderungen, die sie in jungen Jahren gemeistert hatte. Zwar rückte die vollkommene Verzweiflung in diesen Tagen stetig näher, aber Robin war trotzdem noch lange nicht bereit aufzugeben. Offenbar ging es dem Wüstenprinzen ebenso. Was aber der Fremde in dem Gewand, das sie für das ihrige hielt, damit zu schaffen hatte und was Salim plante, verstand sie noch immer nicht.
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Kurzum: Leila war eine Strafe, und Robin wusste nicht, wofür. Sie fragte sich, was sie getan hatte, dass der Herrgott ihr eine solche Prüfung auferlegte, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie diese kaum hüfthohe Herausforderung jemals bewältigen sollte.
Sie hatte versucht, mit dem Mädchen zu reden, sie zu schelten und sie einzusperren. Aber Leila war komplett uneinsichtig, stur und außerdem recht klug. Wenn Robin mit ihr redete, fand Leila einfach die besseren Argumente, oder sie gab sich einsichtig, um möglichst schnell wieder in Ruhe gelassen zu werden. Schalt Robin sie, demonstrierte Leila ihr den unschuldigsten Augenaufschlag, der je unter dem Himmel des Orients getan worden war, sodass Robins Zorn jäh wieder verpuffte. Und wenn man sie einsperrte, fand Leila eben irgendwie nach draußen - meistens durch das Fenster. Dass dieses im ersten Stock ihres Stadthauses gelegen war, fand Leila nicht schlimm. Wahrscheinlich nur ein bisschen abenteuerlich.
Auch innerhalb der vergangenen Stunde musste das Mädchen das Fenster als Tor in ein neues Abenteuer gewählt haben. Und nun war es bereits die Stunde nach Mitternacht.
Robin verharrte vor dem Eingang ihres Zuhauses, unschlüssig, in welche Richtung sie sich wenden sollte, als Salim an ihr vorbeischoss. Mit einem unanständigen arabischen Fluch auf den Lippen verschwand er im Eilschritt nach rechts, ohne Robin eines Blickes gewürdigt, geschweige denn sich zu einer Erklärung herabgelassen zu haben.
»Salim!« Als er auf ihren Ruf nicht reagierte, eilte Robin ihm nach und griff ihn an der Schulter. »Wo willst du hin?« Sie kannte den Sarazenen nur zu gut und wusste, dass er gerade in einer Stimmung war, in der er unter Umständen Dinge tun würde, die ihm am kommenden Tag sehr leidtaten. Seiner Tochter den Hintern zu versohlen wie ein nordischer Waffenschmied, zum Beispiel. Durch den dünnen Stoff seines schwarzen Hemdes hindurch spürte Robin die Anspannung seiner Muskeln, und in seinen Augen loderte heiße Wut, als er innehielt und zu ihr herumwirbelte.
»Was glaubst du, wohin ich will, wenn meine Tochter sich des Nachts allein auf der Straße herumtreibt, Weib?«, fluchte er. »Selbstverständlich halte ich den Zeitpunkt für günstig, mich endlich einmal im Harem meines Vaters zu vergnügen - nun, da ich von meinen väterlichen Pflichten entbunden bin, bis diesem kleinen Wechselbalg einmal nach einem Kurzbesuch im elterlichen Haushalt zumute ist.«
»Wie redest du denn daher? Sie ist deine Tochter, und ich bin deine Ehefrau!«, schnappte Robin, besann sich dann aber eines Besseren. Sie würde die Ruhe bewahren und sich lieber darum bemühen, ihren zornigen Gatten zu besänftigen, statt eine Grundsatzdiskussion über zwischenmenschliche Werte und Umgangsformen vom Zaun zu brechen. »Ich komme mit«, entschied sie. »Wo wollen wir nach ihr suchen?«
»Wo auch immer es ein Tier zu quälen oder etwas zu zerstören gibt«, fauchte Salim. »Ich werde sie finden, verlass dich darauf. Du gehst zurück ins Haus und setzt Doran mit einem Tritt vor die Tür, der ihn von Jerusalem bis nach Mekka befördert. Und zwar mit seinem hohlen Kopf voran.«
»Das werde ich nicht tun?« Robin schüttelte entschieden den Kopf. Offiziell stand der junge Doran seit einigen Wochen in ihren Diensten, um ihre Tochter vor weltlichen Gefahren jeglicher Art zu schützen. Doch alle, besonders Doran selbst, wussten, dass es eigentlich die Welt war, die vor Leila geschützt werden musste.
Robin hatte nachdrücklich darauf bestanden, den jungen Assassinen zu engagieren, den sie während ihrer Suche nach dem legendären Wasser des Lebens kennengelernt hatte. Nicht weil sie große Hoffnungen hegte, dass er tatsächlich besser mit ihrer Tochter zurande käme als alle anderen, die bislang an ihrer Erziehung verzweifelt waren, sondern weil sie ihm vertraute. Sie wusste, dass er Leila niemals etwas zuleide tun würde. Nicht einmal, wenn das Mädchen Erdogans verdammte Ziege irgendwann vierteilen und über der Öllampe in ihrem Zimmer rösten würde.
»Dann werde ich Doran vor die Tür setzen? Sobald ich zurück bin und diese fleischgewordene Strafe Allahs in den Brunnen eingemauert habe. Dieser Hohlkopf ist der Aufgabe, auf ein fünfjähriges Mädchen achtzugeben, offenkundig nicht gewachsen?« Mit einem Schnauben wandte Salim sich ab und wollte davonstürmen, aber Robin bekam ihn am Unterarm zu fassen und riss ihn zurück.
»Ich komme mit, weil du sie sonst nur wieder schlägst?« Alle erzwungene Ruhe war von ihr abgefallen, und aus ihrer Stimme klang jetzt eine wütende Entschlossenheit, die der Salims in nichts nachstand. Sie hasste es, wenn ihr Mann ihre kleine Tochter schlug. Zwar schlug er stets bloß mit der flachen Hand, nicht etwa mit Gegenständen, wie es manch anderer Vater an seiner Stelle getan hätte. Doch kräftig und voller Energie, wie er nun einmal war, musste er nicht eigens mit einem Gürtel oder einem Stock auf Leilas Gesäß eindreschen, um dafür zu sorgen, dass sie im Anschluss nur noch auf dem Bauch in den Schlaf fand.
Hätte man Robin vor einigen Jahren erzählt, dass ihr geliebter Salim, dieser kluge, warmherzige Mensch und liebende Vater, jemals die Hand gegen sein eigenes Kind erheben würde, hätte sie ihn verlacht oder wäre beleidigt gewesen - je nach Gemütslage. Doch sie hätte auch nie geglaubt, dass es ein Kind - ein Mädchen zudem! - geben könnte, das sich so benahm wie ihre Tochter. Es war die berechtigte Sorge, die Salim in seine Wut und Gewaltausbrüche trieb, und vielleicht tat er sogar das einzig Richtige, weil Regeln und Grenzen aus Worten in Leilas Welt schlicht keine Akzeptanz fanden. Dennoch blutete Robin allein in Erwartung der Tränen und Schreie des Mädchens das Herz, und ihre eigene Hilflosigkeit entlud sich in Wut auf Salim: »Ich lasse nicht zu, dass du sie verprügelst!« Sie verstärkte ihren Griff um seinen Unterarm so sehr, dass es ihn schmerzen musste. »Ich kann es nicht ertragen, wenn du ...«
»Ich habe sie noch nie verprügelt!«, fiel Salim ihr ins Wort, riss sich mit einem Ruck los, stürmte aber nicht sogleich weiter, sondern atmete hörbar tief durch. Dann mäßigte er endlich seinen Ton: »Hätte ich das getan, könnte sie das Haus nie wieder ohne fremde Hilfe verlassen, und das weißt du. Du weißt, dass ich ihr niemals irgendeinen echten Schaden zufügen könnte. Du weißt, dass ich sie nur vor sich selbst schützen möchte. Du weißt, dass ich sie vor sich selbst schützen muss, wenn sie ihre Kindheit überleben will.« Er griff nach Robins Kinn und zwang sie, seinem eindringlichen Blick im schwachen Licht, das durch die unteren Fenster auf die Straße fiel, zu begegnen. »Das weißt du doch, oder?«
Robin antwortete nicht. Selbstverständlich war sie sich all dessen bewusst. Doch sie wollte ihn spüren lassen, dass sie litt. Sie wollte, dass er sich einbildete, ganz allein schuld an ihrer Misere zu sein, damit er sich endlich etwas einfallen ließ, was ihnen wirklich half, weil sie selbst nämlich nicht mehr ein noch aus wusste. Fast wünschte sie, König Balduin käme in diesem Augenblick um die Ecke geritten, um ihr aufzutragen, die Gebeine der Heiligen Jungfrau auf einem Löwen nach Jerusalem zu holen und sie zu neuem Leben zu erwecken. Denn es erschien ihr, als wäre etwas Derartiges, verglichen mit der Erziehung eines jungen Menschen, noch die leichter zu bewältigende Herausforderung.
Doch König Balduin war dem Tod längst näher als dem Leben. Jüngst hatte er seinen Neffen Balduin V., den Sohn seiner Schwester Sibylle, zu seinem Nachfolger ernennen müssen, und weil dieser den Windeln gerade erst entwachsen war, führte nun Raimund III. von Tripolis die Regentschaft. Dieser aber, das wusste Robin, hätte sich selbst dann nicht an sie gewandt, wenn er tatsächlich einen solch absurden Wunsch verspürt hätte. Und so war Robin mit dem Rücktritt des hinfälligen Balduin IV. aus ihrer Pflicht als Erster Ritter des Jerusalemer Königshofes in ein fast normales Leben als fast normale junge Frau entlassen worden. Als junge Frau mit einem gigantischen, inzwischen fünfjährigen Problem und einem Ehemann, der ihr auch nicht helfen konnte.
»Ja«, antwortete sie schließlich widerwillig. »Ja. Das weiß ich alles. Aber ...«
Erneut ließ Salim sie nicht ausreden. »Ich werde sie nicht schlagen«, versprach er beinahe sanft und küsste Robins Stirn. »Ich verspreche es dir. Es hat die letzten zehn Male nichts gebracht, und es würde auch dieses Mal nichts bringen. Ich werde ...« Er zögerte.
»Du wirst was?« Robin zog misstrauisch die Brauen zusammen.
Salim zuckte die Schultern. »Mit ihr ... reden. Von Mann zu Mann, sozusagen.« Er grinste gequält.
Robin maß ihn skeptisch. Sie war geneigt, ihm zu glauben, dass er Leila nicht wieder gewaltsam züchtigen wollte, aber das mit dem Reden glaubte sie ihm nicht. Sein Zögern war ihr ebenso wenig entgangen wie sein plötzlicher Stimmungswechsel, der ihr sehr verdächtig erschien. Als wäre ihm viel daran gelegen, dass sie sich vertrauensvoll und halbwegs beruhigt ins Haus zurückzog.
Robin suchte seinen Blick, und Salim hielt ihrem stand. Er war ein hervorragender Lügner. Sie wusste, dass er ihr nichts verraten wollte und würde - was auch immer er vor ihr verheimlichen mochte. Darum gab sie sich geschlagen. »Einverstanden«, stimmte sie beschwichtigt zu. »Ich warte zu Hause.«
Auch sie war eine gute Lügnerin.
Salim drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Mach dir keine Sorgen, Christenweib. Ich habe mich schon weitaus größeren Gefahren gestellt.«
Und damit eilte er davon, nicht mehr stampfend, sondern leise wie eine Katze. Robin wandte sich ab und kehrte tatsächlich ins Haus zurück. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann spitzte sie vorsichtig am Türrahmen vorbei, wartete ab, bis er um die nächste Ecke verschwunden war, und folgte ihm so leise und unauffällig, wie sie es von ihm und den anderen Schattenkriegern des Alten vom Berge gelernt hatte.
Zu dieser späten Stunde regte sich nicht mehr viel im muslimischen Viertel der Stadt. Doch Salim eilte zielsicher durch die Straßen, bis er einen düsteren kleinen Bezirk erreichte, in dem das Leben erst jetzt richtig erwachte. Robin begleitete ihn ungesehen in einem Abstand von rund fünfzig Schritt und bekam nicht nur zunehmende Schwierigkeiten, ihn im Auge zu behalten, sondern lief auch Gefahr, dabei entdeckt zu werden. Aus zahlreichen Teestuben und Gasthäusern, in denen der Alkohol, den der Koran so streng verbot, in Sturzbächen die Kehlen durstiger Männer hinabfloss, fiel helles Licht auf die ungepflasterten, engen Wege. Einige Soldaten des Jerusalemer Königs torkelten Fackeln schwenkend an ihr vorüber. Einer von ihnen hatte sich selbst eingenässt, was aber niemanden zu stören schien. Ihn selbst am allerwenigsten.
Salim überquerte einen kleinen Platz, auf dem auch weit nach Mitternacht noch reger Handel getrieben wurde. Eine Hure lockte einen Freier auf einen blickdicht verhangenen Wagen; drei Burschen, denen noch kein Haar aus den Achselhöhlen spross, schlugen zur Belustigung einiger anderer Betrunkener wild aufeinander ein. Eine Schar alter Männer lungerte um eine Kiste herum, die ihnen als Tisch für ein Geldspiel diente, und zwei Juden standen mit einem kleinen Karren am Rande, um die Gewinner anschließend um ihre Gewinne zu bringen und die Verlierer um ihr letztes Hemd.
Robin lebte nun seit annähernd sechs Jahren in der Heiligen Stadt, doch in diesem Teil war sie noch nie gewesen.
Sie hatte davon gehört, aber keine Vorstellung vom Ausmaß der widerwärtigen, überaus vielseitigen Hemmungslosigkeit gehabt, die hier vorherrschte. Nun mit eigenen Augen zu sehen, wovon man sonst bloß hinter vorgehaltener Hand sprach, erschreckte sie sehr.
Was sie allerdings am allermeisten entsetzte, war der Umstand, dass dieses verkommene Gebiet so nah an dem lag, in dem sie lebte - und damit auch die Möglichkeit bestand, dass ihre kleine Tochter sich irgendwo hier herumtrieb. Dass sie irgendetwas stehlen und ohne jegliches richterliches Verfahren an Ort und Stelle enthauptet werden könnte. Dass man ihr die Zunge aus dem Rachen riss, weil sie sie nicht beherrschte. Oder dass einer dieser lüsternen alten Säcke, die hier in jedem Winkel lauerten, Leila in ein stinkendes Hinterzimmer lockte und ihr etwas unaussprechlich Schreckliches antat ...
Robin zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, und konzentrierte sich darauf, Salims Fährte nicht zu verlieren. Offenbar war er davon überzeugt, dass Leila hier irgendwo zu finden war. Oder er wusste sogar ganz genau, wo sie sich befand, jedenfalls machte er nicht den Eindruck, als ob er nach ihr suchte. Vielmehr bahnte er sich seinen Weg zielstrebig durch die Menge auf dem Platz, passierte eine schmale, unbeleuchtete Gasse und hämmerte an deren Ende an die Tür eines Hauses. Es erschien Robin eher wie ein heruntergekommener Verschlag, in dem sie halbwegs guten Gewissens bestenfalls ein lahmes Maultier untergestellt hätte. Und zwar das eines Menschen, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte.
»Tarek! Beweg deinen schrumpeligen Hintern aus dem schimmligen Stroh, sonst mache ich dir Beine!«, fluchte Salim, als niemand sofort auf sein Klopfen reagierte. »Ich bezahle dich nicht dafür, dass du deinen Rausch ausschläfst, wenn ich nach dir verlange!«
Robin duckte sich hinter einen morschen Karren, der nur noch ein einziges Rad hatte, und beobachtete ihren Mann mit zunehmender Verwunderung. Der Name Tarek war ihr fremd. Niemand dieses Namens stand in ihren Diensten. Zumindest nicht, soweit sie wusste. Außerdem hatte niemand, den Salim und sie beschäftigten, es nötig, in einer heruntergekommenen Hütte am Rande eines derart zwielichtigen Viertels zu hausen.
Ein weiterer Augenblick verging, in dem Salim abermals ungehalten gegen die hölzerne Tür hämmerte. Dann vernahm sie schlurfende Schritte, und schließlich öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Salim versetzte ihr einen Tritt, so dass sie zur Gänze aufschwang. Die Gestalt eines Mannes, den Robin in der Dunkelheit zunächst nicht deutlich erkennen konnte, stolperte mit einem leisen Fluch zurück, entzündete dann irgendwo im Inneren des Hauses eine Laterne und kehrte damit zum Eingang zurück.
»Oh, du Sohn eines verkrüppelten Esels, gezeugt in einem stinkenden Hühnerstall«, knurrte der Fremde, den Salim mit Tarek angesprochen hatte. Im Schein der kleinen Laterne in seiner Hand machte Robin ihn als Muselmanen von rund dreißig Jahren aus. Die Brauen waren über seiner Hakennase zusammengewachsen. Er war hager und trug ärmliche Kleidung. Was hatte Salim mit einem solchen Menschen zu schaffen? Und wenn er tatsächlich in seinen Diensten stand: Warum bezahlte er ihn nicht anständig, damit er sich wenigstens vernünftige Kleidung kaufen konnte?
»Hüte deine Zunge, Kerl!« Salim maß sein Gegenüber vom Kopf bis zu den Zehen, schien noch etwas hinzufügen zu wollen, winkte dann aber entnervt ab. »Hol das Pferd, und zieh dich um. Es ist so weit.«
»Schon wieder? Mir scheint, dein Töchterlein pflegt irgendwo in der Stadt eine kleine Affäre«, spöttelte Tarek und heimste sich damit prompt eine schallende Ohrfeige von Salim ein. Er schlug nur mit dem Handrücken zu und legte auch nicht sonderlich viel Kraft in den Hieb. Dennoch taumelte der fremde Muselman einen halben Schritt zurück. Er war ein Schwächling, registrierte Robin. Nicht besonders groß, krank von zu ausgelassenem Leben und außerdem recht dumm, dass er sich einen solchen Ton dem Sohn des Alten vom Berge gegenüber erlaubte. Wenn er denn wusste, mit wem er sprach.
»Sie ist fünf Jahre alt, du elender Hurensohn!«
Tarek hob die Linke, um sein Gesicht zu schützen, und nutzte sie dazu, sich die rot glühende Wange zu reiben, als er begriff, dass er zumindest für den nächsten Augenblick keinen weiteren Hieb zu befürchten hätte, sofern er Salim nicht erneut verhöhnte. »Schon gut, schon gut ... Verzeih ... Es tut mir leid. Es ist nur ... Ich habe es bereits zweimal getan. Gestern und auch in der Nacht davor ... So war es nicht abgesprochen. Ich kann nicht jede Nacht hinaus reiten und darauf hoffen, dass ich sie noch erwische, ehe sie freiwillig heimkehrt.«
Gestern und in der Nacht davor? Robin stockte der Atem. Wollte er damit sagen, dass Leila auch in den beiden vergangenen Nächten fort gewesen war, ohne dass sie, ihre eigene Mutter, es bemerkt hatte? Das konnte nicht sein! Konnte ihr Versagen wirklich solche Ausmaße angenommen haben? Robin erwartete einen Widerspruch von Salim, aber der Sarazene ging nicht auf die Behauptung ein.
»Nicht?«, erwiderte er stattdessen verächtlich. »Welcherlei Pflichten binden dich denn an deine ärmliche Hütte? Für wen musst du da sein? Für die Huren, den Alkohol, das Glücksspiel oder das Spiel mit dir selbst?«
Tarek blieb eine Antwort schuldig und fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Vielleicht wusste er doch in vollem Umfang um Salims Identität. Aber er gehorchte trotzdem nicht sofort. »Du wirst mir schon ein wenig entgegenkommen müssen«, beharrte er unbehaglich, aber entschieden.
»Elender Beutelschneider!«, schimpfte Salim. Aber aus seiner Stimme klang eine Ungeduld, die auch Tarek nicht entgehen konnte. Das brachte Salim einen Verhandlungsnachteil ein. Er wusste es selbst und schlug einen zusätzlichen Betrag vor fünf Dirham vor.
Tarek schüttelte den Kopf. »Zu wenig.«
Salim gab sich sichtlich Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. »Was willst du noch, du Hund?«
»Das Pferd«, erklärte der Muselman.
»Es ist ein ausgebildetes Schlachtross! Ein Tier, das sogar meinem Vater gerecht würde!«
»Es ist ein Wallach.«
»Aber ein ...«, begann Salim.
Tarek brachte ihn mit einer beschwichtigenden Geste zum Schweigen. »In Ordnung. Behalte den Gaul. Erhöhe um sieben Dirham, und wir sind uns einig.«
»Gut«, stimmte Salim widerwillig zu. »Und nun zieh dich endlich um.«
Tarek wandte sich ab, um - so vermutete Robin - Salims Bitte nachzukommen, hielt dann aber noch einmal inne: »Wenn ich morgen noch einmal losmuss, bekomme ich das Pferd.«
Salim beobachtete ihn durch die offene Tür. Wahrscheinlich wollte er das Haus nicht betreten. Wenn es dort roch, wie Robin es sich vorstellte, dann stank es gewiss erbärmlich. Viele der Menschen in den ärmeren Häusern lebten mit Ziegen, Hühnern und einer Unzahl von Ratten und Mäusen unter einem Dach. Salim jedenfalls drehte in regelmäßigen Abständen den Kopf zur Seite - vermutlich, um einen Hauch frischer Luft zu erhaschen. Im Inneren des Hauses raschelte, polterte und klimperte es.
»Andersherum, du Schwachkopf!«, schalt Salim Ta- rek nach einer Weile. »Du trägst den Waffenrock falsch herum ... Und schnür die Stiefel anständig zu ... Gut so. Der Helm ... Warum ist er rostig? Du solltest darauf achtgeben, bis du ihn brauchst! Hast du ihn etwa in einem Trog aufbewahrt?!«
Robin begriff immer weniger von dem, was sie sah und hörte. Salim wollte seine Tochter suchen, keinen Verbrecher zum Ritter ausbilden, um ihn in die Schlacht gegen die Kleinnager in seinem Haus zu schicken! Was zum Teufel hatte der Sarazene nur vor?
»Klapp das Visier herunter, ehe du das Haus verlässt«, bestimmte Salim nach einem letzten prüfenden Blick. »Ich werde nun nach Hause zurückgehen und abwarten. Hol das Pferd, und beeil dich, damit du sie nicht wieder verpasst. Solltest du auch nur einen Lidschlag mehr Zeit vergeuden als zwingend nötig, frag mich später lieber nicht nach den sieben Dirham. Und nie wieder nach einem weiteren Auftrag.«
Sieben Dirham!, wiederholte Robin in Gedanken. Da-
von konnte eine Familie annähernd zwei Monate leben ...
Salim machte auf dem Absatz kehrt, um den Weg zu-
rückzugehen, den er gekommen war, und Robin duckte
sich etwas tiefer hinter den morschen Karren, um nicht entdeckt zu werden. Als Salim außer Sichtweite war, richtete sie sich vorsichtig wieder auf und beobachtete die kleine, hagere Gestalt Tareks, der nun aus dem ärmlichen Eckhaus ins Freie trag.
Der Muselman trug einen Helm, dessen Visier nicht heruntergeklappt war, ein langes, rostiges Schwert und einen schmutzigen weißen Waffenrock, auf dem ein blutrotes Tatzenkreuz prangte.
Das Gewand eines Tempelritters!
Ihr Gewand?
Robin bewahrte es seit ihrer Rückkehr nach Leilas Geburt in einer Truhe unter ihrem Bett auf, die im Laufe der Jahre gelegentlich von Saila von Staub befreit, aber nicht ein einziges Mal geöffnet worden war. Hin und wieder hatte sie durchaus das Bedürfnis verspürt, den Waffenrock noch einmal hervorzuholen und überzustreifen; ein letztes Mal am Duft der reich verzweigten Wege zu schnuppern, die sie in ihr jetziges Leben geführt hatten - am Staub der Komturei, in die Bruder Abbé sie einst aufgenommen hatte, am Heu des Dachbodens, auf dem Salim und sie sich zum ersten Mal geliebt hatten, am Salz der Meere, die sie bereist (und um große Mengen halb verdauter Speisen bereichert) hatte, am Sand der Wüsten, in denen sie beinahe verdurstet wäre ... All der Schweiß und das Blut längst vergangener Strapazen hafteten an ihrem Waffenrock, und ebenso verlangte es sie manchmal danach, den schweren Helm noch einmal über den Kopf zu stülpen und sich so stark zu fühlen wie in den zahlreichen Kämpfen, die sie überstanden hatte, und vor allem die Klinge des Schwertes noch einmal zu berühren, welches das einzige Erbe des Vaters war, den sie nie gekannt hatte. Aber nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem hatte sie nichts von alle dem jemals wieder getan. Ihr Herz mochte sich zeitweilig nach den Abenteuern ihrer Jugend sehnen. Doch mindestens genauso groß wie ihr Durst nach Freiheit und ihre Lust, immerfort mehr von der Welt zu entdecken, war der Schmerz, den sie empfand, wenn sie an den Preis für die Maskerade zurückdachte, der sie sich damals hatte unterwerfen müssen: an die stete Angst, enttarnt und getötet zu werden, die teils wortwörtlich schmerzhafte Unterdrückung ihrer Weiblichkeit und all das Elend, das sie durchgestanden und mit angesehen hatte. Als wäre sie kein junges Mädchen gewesen, sondern ein gestandener Krieger, den weder abgehackte Gliedmaßen noch die Schreie der Sterbenden im Geringsten erschütterten.
Robin hatte mit alledem abschließen wollen. Sie hatte ihre eigene Identität viel zu lange verleugnen müssen, als dass sie wirklich noch einmal Robin von Tronthoff, der Tempelritter, sein wollte. Auch nicht für die Dauer weniger Minuten, in denen ihr nicht einmal jemand zusah. Die Templerin war eine Legende, deren Reliquien in einer verschlossenen Truhe unter Robins Bett ruhten. Das Mädchen aus dem friesischen Fischerdorf hingegen war nun eine erwachsene Frau. Eine Mutter, die derzeit vor der Wahl stand, gleich an ihrem ersten Kind zu verzweifeln oder es als das größte Abenteuer ihres Lebens zu betrachten. Sich ihm zu stellen, um es zu einem guten Ende zu führen wie die zahlreichen anderen Herausforderungen, die sie in jungen Jahren gemeistert hatte. Zwar rückte die vollkommene Verzweiflung in diesen Tagen stetig näher, aber Robin war trotzdem noch lange nicht bereit aufzugeben. Offenbar ging es dem Wüstenprinzen ebenso. Was aber der Fremde in dem Gewand, das sie für das ihrige hielt, damit zu schaffen hatte und was Salim plante, verstand sie noch immer nicht.
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Wolfgang Hohlbein, Rebecca Hohlbein
Wolfgang Hohlbein wurde 1953 in Weimar geboren. Seit er 1982 gemeinsam mit seiner Frau Heike den Roman »Märchenmond« veröffentlichte, arbeitet er hauptberuflich als Schriftsteller. Mit seinen Romanen aus den verschiedensten Genres - Thriller, Horror, Science-Fiction und historischer Roman - hat er mittlerweile eine große Fangemeinde erobert und ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren überhaupt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf. Hohlbein, RebeccaRebecca Hohlbein, 1977 geboren, hat bereits früh ihre Liebe zu märchenhaften Stoffen entdeckt. Ob künstlerisch - bis heute malt und modelliert sie Trolle und Elfen - oder schriftstellerisch: Sie führt das Erbe ihrer berühmten Familie weiter und hat bereits mehrere Jugendbücher geschrieben und sich einen Namen als Autorin bei gemeinsamen Projekten mit ihrem Vater, Bestsellerautor Wolfgang Hohlbein, gemacht. Mit Himmelwärts legt sie ihr erstes großes Werk vor. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Neuss.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Wolfgang Hohlbein , Rebecca Hohlbein
- 2012, Erstmals im TB, 496 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345353364X
- ISBN-13: 9783453533646
- Erscheinungsdatum: 09.11.2012
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