Die Tochter der Hexe
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Als junges Mädchen erfährt Marthe-Marie, dass sie die Tochter einer Frau ist, die als Hexe galt. Sie macht sich auf in die Stadt, in der ihre Mutter grausam sterben musste. Doch als in Freiburg aufs Neue die Scheiterhaufen lodern, bleibt Marthe-Marie nur die Flucht. Sie schließt sich einer Truppe von Gauklern an, die kreuz und quer durch den Südwesten des Deutschen Reiches ziehen. Bald merkt sie, dass ihr zwei Männer auf den Fersen sind. Der eine sucht ihre Liebe, der andere ihren Tod.
"Die Tochter der Hexe" ist ein großer Schicksalsroman, eine Liebesgeschichte und ein Porträt der Ausgestoßenen jener Zeit.
Die Tochterder Hexe von Astrid Fritz
LESEPROBE
Pünktlich zum Gregoriustag erwachte Konstanz aus dem Winterschlaf.Für die Schüler der Habsburger Grenzstadt war dieser Tag gleich zweifach Anlasszu Freude und Übermut: Nach vielen Wochen nasskalter, trüber Witterung wärmteheute zum ersten Mal eine kraftvolle Sonne ihre blassen Gesichter. Und wiejedes Jahr am zwölften März feierten die Knaben mit dem Tag des Schutzpatronsder Gelehrten, Schüler und Studenten auch das Ende des Wintersemesters. Fürdieses eine Mal waren Lehrer und Rektoren ihres Amtes enthoben, mussten sie imScholarengewand mit ihren Schützlingen zum Gregoriusingen durch die Gassen ziehenund sich von den Zuschauern manchen Spottvers gefallen lassen. Während vorwegder Knabenrektor mit kindlicher Würde Schulschlüssel und Rute trug, balgtensich seine Mitschüler, als Schulmeister, Pfarrer, Medicus oder Advokatkostümiert, um die Süßigkeiten und Nüsse, die die Erwachsenen ihnen zuwarfen. Wernicht am Straßenrand stand, lehnte sich aus den weit geöffneten Fenstern, ließmilde Frühlingsluft in die muffigen Stuben und freute sich an dem Treiben derJungen und dem wolkenlos blauen Himmel.
Einzig in einer Seitengasse nahe des Obermarkts stand einstattliches Haus abweisend wie ein Fels gegen die Brandung fröhlicher Ausgelassenheit.Die Fenster waren geschlossen und mit schwarzen Tüchern verhängt, dieMenschen, die sich dem prachtvollen, mit Stuck reich verzierten Eingangstornäherten, hielten den Blick gesenkt. Nur im Obergeschoss stand einFensterflügel offen, um der Seele der sterbenden Hausherrin den Weg vor denRichterstuhl Gottes zu weisen.
Marthe-Marie spürte den eisigen Hauch des Todes, als dieFrau, zu der sie zeitlebens Mutter gesagt hatte, den Kopf zur Seite neigte undzu atmen aufhörte. Längst hatte die Ansagerin, ein altes Weib, das sonst vonAlmosen lebte, ihren Gang von Haus zu Haus beendet, und noch immer saßMarthe-Marie am Sterbebett, die kalte Hand von Lene Schillerin zwischen denihren, voller Angst, das Band zwischen ihnen endgültig zu lösen. Sie wusste,der Boden würde zu schwanken beginnen, wenn sie aufstünde, wusste, dass dieWelt, die sich hinter der Türschwelle auftat, nie wieder hell und warm seinwürde.
«Komm zu uns in die Küche.» Franziska berührte sievorsichtig an der Schulter, dann löschte sie die Sterbekerze. «Die Leichenfrau istgekommen, ihre Arbeit zu verrichten, und unten warten die ersten Gäste, um sichvon Mutter zu verabschieden.»
Zu Marthe-Maries Erstaunen tat sich hinter der Tür kein Abgrundauf. Wie immer empfing sie das vertraute Knarren der Dielenbretter, als siehinunter in die Küche ging. Neben dem erloschenen Herdfeuer saßzusammengesunken ihr Vater. Ferdi, der Jüngste und ihr Lieblingsbruder, standam Fenster und starrte hinaus auf die letzten Schneereste im Hof. Aus der Stubedrang das Stimmengewirr der Trauergäste, dann und wann hörte sie die tiefeStimme ihres ältesten Bruders Matthias, der schon morgen zu seinem Fähnleinzurückmusste. Immer mehr Menschen kamen ins Haus zum Goldenen Pfeil, um von derToten Abschied zu nehmen, denn Lene Schillerin, die Gattin des ehemaligen Hauptmanns,war in Konstanz nicht nur eine geachtete, sondern eine beliebte Frau gewesen.
Marthe-Marie trat an die Wiege, in der Agnes friedlichschlief, als ginge sie das alles nichts an, und strich ihrer Tochter über das winzigeGesicht.
«Warum hat Mutter sich aufgegeben?» Wie aus weiter Ferne drangdie Stimme ihres Vaters zu ihr.
Sie blickte ihn an. Seit wann sah er so alt und gebrechlichaus? Das war nicht mehr der Mann, auf dessen Knien sie als Kind in die Schlachtgeritten war und der sie heimlich Reiten gelehrt hatte, obwohl sich das für einMädchen ihres Standes nicht schickte. Der ihr und ihren Geschwistern bei jedemHeimaturlaub herrliche Süßigkeiten und Spielsachen mitgebracht hatte, um dannmit ihnen ans Seeufer zu schlendern und von seinen Abenteuern zu erzählen. Wiesehr hatte sie diesen stattlichen Mann immer bewundert, dem, wie Lene einmalseufzend und stolz zugleich gestanden hatte, jeder Weiberrock nachgelaufen war.Jetzt schien Raimund Mangolt, der sich in den habsburgisch-kaiserlichenRegimentern über Fähnrich und Feldweybel bis zum Feldhauptmann hochgedient hatte,mit einem Schlag ein gebrochener Mann.
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und schwieg.
«Warum nur?», wiederholte er tonlos.
Fast schmerzhaft spürte Marthe-Marie in diesem Augenblick dieLiebe und Achtung, die sie für ihn empfand. Für diesen Mann, der nicht wirklichihr Vater war und sie doch nie anders umsorgt hatte als seine leiblichenKinder, der sich mit ihr gefreut hatte, als sie Veit, den Sohn seines bestenFreundes, geheiratet hatte und schon kurz darauf guter Hoffnung war. Der siegetröstet hatte, als es zu einer Fehlgeburt kam, und der mit ihr gelittenhatte, als Veit, kaum dass ihre Tochter Agnes auf der Welt war, qualvoll amhitzigen Fieber starb.
Vielleicht erwartete er gerade von ihr Trost. Doch sie fandkeine Worte, um diese Leere zu füllen. Ohnehin wusste jeder in der Familie,warum Lene gestorben war: Sie hatte das grausame Ende ihrer Base und zugleichbesten Freundin, dazu den Freitod ihres Halbbruders nie verwunden. Drei Jahrewar es nun her, dass Catharina Stadellmenin in Freiburg als Hexe den Flammenübergeben worden war und ihr heimlicher Geliebter sich während der Hinrichtungden Dolch ins Herz gestoßen hatte. (...)
© 2005 by Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Astrid Fritz
- 2005, 10. Aufl., 448 Seiten, Maße: 11,6 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499236524
- ISBN-13: 9783499236525
4.5 von 5 Sternen
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