Die tote Kuh kommt morgen rein
Ein Reporter muss aufs Land
Ein Lokalreporter erzähltHerrliche Geschichten für alle, die »Willkommen bei den Sch'tis« geliebt haben»Ein Jahr in der Provinz. Lokalredakteur in der Ödnis Borkendorf. Ich hätte mir was Besseres vorstellen können. Ein gebrochenes Bein zum Beispiel. Oder...
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Produktinformationen zu „Die tote Kuh kommt morgen rein “
Klappentext zu „Die tote Kuh kommt morgen rein “
Ein Lokalreporter erzähltHerrliche Geschichten für alle, die »Willkommen bei den Sch'tis« geliebt haben»Ein Jahr in der Provinz. Lokalredakteur in der Ödnis Borkendorf. Ich hätte mir was Besseres vorstellen können. Ein gebrochenes Bein zum Beispiel. Oder eine Steuernachzahlung. Aber man wird ja nicht gefragt.« Als seine Kollegin ein Kind bekommt, muss Ralf Heimann ihre Vertretung übernehmen. Vielleicht, weil er der Einzige ist, der ein Auto hat? Seine Freude hält sich in Grenzen. »Jetzt sind zwölf Monate lang Tauben-Ausstellungen, Schützenfest-Orgien und Landfrauen-Treffen mein trübes Schicksal.« Aber bald lernt er Land und Leute fast sogar lieben ...
Lese-Probe zu „Die tote Kuh kommt morgen rein “
Die tote Kuh kommt morgen rein von Ralf HeimannDORKOVS ANRUF
Es war ein kalter Montag im Januar, kurz nach neun. Ich stand vor dem Getränkeautomaten im Raucherraum und sah meinem Kaffee dabei zu, wie er in einem dicken Strahl in den Ausguss floss. Ich hatte vergessen, einen Becher in den Schacht zu stellen und fand so schnell auch keinen. Der Strahl versiegte mit einem Zischen. Auf dem Display stand: fertig. Und hinter mir sagte irgendwer, dass Karin Steffens ja jetzt schwanger sei.
Ich hatte meinen letzten Euro in diesem Automaten versenkt und war gerade so sehr mit meinem Ärger beschäftigt, dass ich nicht weiter hinhörte. In der Telefonkonferenz am Mittag erfuhr ich es zum zweiten Mal. Als schon fast alles gesagt war, schaltete sich überraschend die Lokalredaktion Borkendorf zu. Ein Kollege, den ich nicht kannte, sagte, er habe noch eine gute Nachricht. »Karin Steffens bekommt einen Sohn.« Er sang es fast. Dann folgte eine Pause.
Karin Steffens? Ja, wer war das noch gleich? Die mit dem Raucherhusten? Nee, zu alt. Ich glaubte, mich zu erinnern, dass es die mit der Fistelstimme war, die in der Konferenz egal auf welche Frage mit dem Satz antwortete. »Weiß ich grad leider nicht ganz genau, hör ich aber gleich mal nach.«
»Ja, äh, das ist toll. Da gratulieren wir natürlich alle ganz herzlich. Auch im Namen der Chefredaktion«, sagte Dorkov. Für das, was er sagte, klang es relativ gleichgültig. »Gibt's sonst noch was?«, fragte er. Als sich Schweigen einstellte, beendete er die Konferenz.
... mehr
Ich ahnte nicht, dass Karin Steffens' Kinderglück eine Bedeutung für mein Leben bekommen könnte. Auch am Nachmittag nicht, als Dorkov in einer E-Mail an alle schrieb, dass er jemanden suche, »der Frau Steffens in Borkendorf für einige Monate vertritt«. Natürlich auf freiwilliger Basis. Dorkov schrieb oft E-Mails an alle. Meistens antworteten auch alle, weil keiner riskieren wollte, in den Verdacht zu geraten, er lese die Mails vom Chef nicht. Diesmal kam keine Antwort.
Beim Essen sprachen wir über die E-Mail. Die Meinungen schwankten zwischen »Auf keinen Fall« und »Nie im Leben «. Nur Anja, die Politikchefin, vertrat die Auffassung, dass es auf dem Land auch ganz schön sein könne. Ein Haus im Grünen, Arbeit ohne Stress, Redaktionsschluss um 17 Uhr. Dagegen sei ja erst mal nichts zu sagen. Otti aus der Kultur setzte die Aufzählung fort: Schützenfestorgien, Scheckübergaben, Rammlerschauen, Hausfrauenreporter, Idioten. Und das hatte Anja natürlich vergessen. »So gesehen«, sagte sie und nahm die Mehrheitsmeinung an. Das Thema war damit durch.
Na ja, und abends klingelte zu Hause das Telefon.
Ich stand im Wohnzimmer, goss den Ficus und entschied mich, nicht da zu sein, aber es klingelte so hartnäckig, dass ich neugierig wurde. Als ich abnahm, hörte ich Gemurmel.
»Hallo?«, fragte ich. Das Gemurmel verstummte.
»Guten Abend Herr Heimann, Dorkov hier. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
Ich schreckte zusammen und ärgerte mich, dass ich es nicht hatte klingeln lassen.
»Nein, nein, überhaupt nicht«, sagte ich. »Was gibt's denn?«
»Keine Angst, Herr Heimann. Es geht nur um die E-Mail von heute Mittag. Hatten Sie die gelesen?«
»Ach, die mit der Vertretung. Ja, äh, die hatte ich gesehen. «
»Gut, ich will auch gar nicht lange um den heißen Brei rumreden. Herr Heimann, ich hatte heute Mittag gleich an Sie gedacht. Sie sind doch flexibel. Ich frag mal ganz direkt: Würden Sie's machen?«
Natürlich nicht, dachte ich und sagte: »Na ja, äh, da müsste ich überlegen.«
»Überlegen Sie«, sagte Dorkov. »Was spräche denn dagegen? «
»Dagegen? Ja, äh, nicht direkt dagegen. Aber es ist weit weg, und ich habe nie ...« Mir fiel nichts ein. Es kam mir vor, als hätten sich alle guten Argumente mit einem Lachen davongemacht. »Die Leute auf dem Land sind einfach komisch «, konnte ich ja auch nicht sagen.
»Herr Heimann, die Fahrtkosten zahlen wir. Und eingearbeitet sind Sie in drei Tagen.«
»Ja, aber ich weiß nicht, ob ich da wirklich der Richtige bin.«
»Herr Heimann, Sie sind perfekt für diese Aufgabe. Also machen Sie's?«
Ich war ratlos und sagte ja. Er bedankte sich so überschwänglich, dass ich selbst das Bedürfnis verspürte, entgegenzuhalten, so schlimm sei es jetzt auch nicht - tat es dann aber doch nicht. Als ich aufgelegt hatte, beruhigte ich mich mit einer Flasche Bier und versuchte mir klarzumachen, was soeben passiert war.
Mit ausgebreiteten Armen lag ich auf dem Sofa und starrte an die Decke. Es war unbequem, aber ich verharrte wie erschossen in dieser Position, weil ich mich nicht von der Frage lösen konnte, warum er ausgerechnet mich angerufen hatte. Hatte er wirklich sofort an mich gedacht? Und wenn ja, warum überhaupt? Warum hatten sie nicht Werner H ecker gefragt? Der saß eh nur nutzlos rum, seit er vor anderthalb Jahren in die Nachrichtenredaktion versetzt worden war. Die Außenredaktion, in der er gearbeitet hatte, war dicht gemacht worden. Kündigen konnten sie ihm nicht, weil er im Betriebsrat war. So kam er zu uns, wo er nun allerlei Dinge machte, von denen er nichts verstand.
Mir fiel ein, dass Werner Hecker vor ein paar Wochen sein Auto verkauft hatte. Ohne Auto hätten sie ihn in Borkendorf nicht gebrauchen können. Aber das konnte Dorkov nicht wissen. Oder doch?
Ich fand eine neue Sitzposition, in der ich meinen Rücken wieder spüren konnte. Meine Beine baumelten über der Lehne. Ich überlegte, wer in der Redaktion sonst noch ein Auto hatte, aber mir fiel nur Anja ein. Als Politikchefin war die aber nicht ersetzbar. Ich als Wirtschaftsredakteur schon, denn davon gab es drei. Quatsch, dachte ich. Als ob Dorkov Journalisten danach aussucht, ob sie auch ohne Bus mobil sind. Ich verwarf den Gedanken.
Aber was sprach sonst für mich? Mein Talent zur Fotografie war, wenn man es freundlich formulieren wollte, nicht ganz so ausgeprägt. Und auf dem Land ist das nicht gut, denn da ist jeder Redakteur sein eigener Fotograf. Ich konnte mich auch nicht erinnern, in den sechs Jahren als Nachrichtenredakteur irgendwann als großer Fan des Lokalteils auffällig geworden zu sein. Ich las ihn nicht mal in der Ausgabe, die jeden Morgen in meinem Briefkasten lag. Vor allem aber war ich noch nie im Leben in Borkendorf gewesen.
Am behaglichsten erschien mir die Möglichkeit, dass ich auf einer langen Liste mit Telefonnummern weit hinten gestanden hatte und Dorkov auch jedem Kandidaten vor mir erzählt hatte, er habe gleich an ihn gedacht. Das hätte auch erklärt, warum er so spät anrief. Andererseits: Wen sollte er fragen, wenn die Voraussetzung ein Auto war?
Meine Mutter beendete die Grübelei mit einem Anruf. In einem Anfall von Leichtsinn erzählte ich ihr von der Karrierefallgrube. Sie war hellauf begeistert und beglückwünschte mich.
»Wenn die nicht zufrieden mit dir wären, hätten die dich nicht gefragt«, sagte sie.
Ich versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen, scheiterte aber schon im Ansatz.
»Es gibt niemanden, der das machen will«, sagte ich.
»Jetzt red mal nicht alles gleich so schlecht. Die Landluft wird dir guttun«, sagte sie.
Über Nacht wurde ich krank. Ich lag vor dem Klo und kotzte. Ich glaube nicht, dass Borkendorf daran Schuld hatte, aber der Zeitpunkt war ungünstig.
Am nächsten Morgen schrieb Dorkov in einer E-Mail an alle, dass ich zugesagt hatte. Gleich darauf meldeten sich Kollegen, die vermuteten, ich sei gezwungen worden. Einer schrieb: »Das können die Arschlöcher nicht mit dir machen. « Er riet mir, mich an die Gewerkschaft zu wenden. Ein anderer schickte mir die Nummer von einem Schulfreund, der inzwischen Anwalt für Arbeitsrecht war. Als ich antwortete und erklärte, wie es wirklich gewesen war, hörte ich nichts mehr.
Bis zum Ende der Woche blieb ich krank. Am Samstag schrieb Dorkov, ich möge am Montag direkt nach Borkendorf fahren. Karin Steffens sei ab sofort zu Hause.
Am Sonntag trainierte ich mir Vorfreude an. Ich lag geschwächt auf meinem Sofa und träumte von Borkendorf. Mein Schreibtisch stand an einem großen Fenster mit Blick direkt in den Wald. Es war grün und idyllisch. Vögel zwitscherten. Ein Reh hüpfte vorbei. Ein wunderschöner Ort. Aber dann stapfte auf einmal der Förster ins Bild, klopfte mit seinem Gewehrlauf an die Scheibe und fragte, ob ich nicht mal eine Geschichte über ihn machen wolle. Ich wachte auf.
Als ich abends Zwiebeln in die Pfanne warf, stellte ich mir vor, wie ich mit einer Papiertüte voll frischem Gemüse über den Borkendorfer Wochenmarkt schlenderte und mir an einem Marktstand frische Weintrauben in den Mund schob. Ich fragte, wie viel die Trauben denn kosten sollten. Die alte Marktfrau antwortete: »Achtzig Zeilen mit Bild.«
Ich beschloss, nicht mehr an Borkendorf zu denken, bevor ich es gesehen hatte. Aber vielleicht war es auch einfach die Krankheit. Am Montagmorgen ging ich zum Arzt. Ganz gesund fühlte ich mich noch immer nicht.
Der bärtige Doktor leuchtete mir in die Augen, schaute mir ernst ins Gesicht und befand: »Ich schreibe Sie noch eine Woche krank. Gönnen Sie sich Ruhe und fahren Sie in die Natur.«
»Wenn das alles ist, schreiben Sie mich besser nicht krank«, sagte ich. Er war verwundert, aber nachdem ich es ihm erklärt hatte, folgte er meinem Rat.
Ich war jetzt Pendler. Borkendorf lag siebzig Kilometer entfernt, vierzig davon führten über die Autobahn. Gleich am ersten Tag fand ich heraus, dass es auch einen fünfundachtzig Kilometer langen Weg gab. Ich verpasste auf Anhieb die richtige Ausfahrt und kurvte über Landstraßen von der anderen Seite in die Stadt. Trotz des Umwegs kam ich viel zu früh an. Ich hatte eine Stunde eingeplant, um mir vor der Arbeit die Stadt anzusehen. Jetzt blieben noch vierzig Minuten. Und nach meinem ersten Eindruck hätten wahrscheinlich auch zwanzig gereicht.
Ich fand sofort einen Parkplatz und nahm das als gutes Omen, obwohl wahrscheinlich nie die Gefahr bestanden hatte, keinen zu finden. Ich sah viel Grün, Fachwerkidylle, ein paar Läden und mittendrin eine Kirche. Die Stadt war nicht hässlich, aber es war klirrend kalt. So kalt, dass ich mich gleich wieder ins Auto setzte. Würde ich eh alles noch früh genug sehen, dachte ich, drehte die Heizung auf, lehnte mich zurück und wartete.
Auf dem Weg zur Redaktion lief ich an einem geschlossenen Versicherungsbüro, einem geschlossenen Blumenladen und einer grünen Dönerbude vorbei. In der Dönerbude lehnte ein Mann mit Schnauz lustlos auf seiner Theke. Er grüßte, als würde er mich kennen. Aber er schien nicht damit zu rechnen, dass ich in den Laden kommen könnte. Am Ende der Straße öffnete sich der Marktplatz, am Rand lag die Kirche, gegenüber die Redaktion. Ein schluffiger Typ im Kapuzenpulli stand vor dem Schaufenster und blies Rauchwolken in die Luft. Als er sah, dass ich auf ihn zusteuerte, ließ er die Zigarette fallen und zerquetschte sie mit der Schuhsohle.
»Scheiß Wetter«, sagte er.
Ich nickte ihm entgegen.
»Ralf Heimann.«
»Carsten Börner. Freut mich. Dich hat's also getroffen.«
Ich schüttelte seine kalte Hand.
»Na ja, was heißt getroffen ...«
»Wirste gleich sehen«, sagte er, drückte die Tür auf und wies mir den Weg hinein. Drinnen klickten Tastaturen. Ein Telefon klingelte, aber niemand hob ab. In der Mitte stützte eine gelbe Säule den Raum. Drumherum reihten sich Tische aneinander. Es sah aus wie beim Scrabble. Am Rand stand ein Quader mit hohen Scheiben, in dem ein dicker Mann saß und rauchte. »Warte kurz«, sagte Carsten. Er lief rüber, klopfte an die Scheibe und winkte den dicken Mann heraus. Der erhob sich schwerfällig und winkte seinerseits. Ich sollte kommen.
»Das ist Friedbert Brohmschulte, der Chef«, sagte Carsten.
»Alles klar, wir kennen uns schon vom Telefon.«
Ich betrat einen Raum aus Qualm. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Akten.
»Setzen Sie sich«, sagte Brohmschulte, aber es war nirgendwo Platz. Er schichtete einen Berg Ordner um. Darunter kam ein Stuhl zum Vorschein. »Sie wollen also für uns arbeiten «, sagte er, starrte auf seinen Bildschirm und griff mit der rechten Hand eine Zigarette.
»Ja, äh, gern«, sagte ich. Die Frage verunsicherte mich. Er konnte sich ja denken, dass ich nicht wirklich scharf auf den Job war.
»Haben Sie denn schon mal für eine Zeitung geschrieben? «, fragte er.
»Sechs Jahre als Nachrichtenredakteur beim Westkurier.«
Er drehte sich überrascht um, aber die Verwunderung verklang, als er mich sah.
»Heimann, ich hab Sie gar nicht erkannt.«
»Kein Problem. Wir sehen uns ja jetzt öfter.«
»Haben Sie schon 'nen Schreibtisch?«
»Nee, ich komm gerade erst zur Tür rein.«
»Dann lassense sich von Börner mal alles erklären. Das meiste kennense ja eh. Und nehmense das hier mit. Da könnense gleich mal anrufen, wennse sich nützlich machen wollen.«
Er gab mir einen zerknitterten Zettel mit einem Namen und einer Nummer.
»Worum geht's da?«
»Sagense, dasse die Nummer von mir haben. Dann erklärt er Ihnen alles.«
Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu und tippte mit zwei Fingern. Seine Hände bewegten sich wie Körner pickende Hühner.
»Ich mach mich dann mal an die Arbeit«, sagte ich. Brohmschulte antwortete mit einem Grummeln. Ich schloss die Tür, schaute hilflos durch den Raum. Das Telefon klingelte immer noch, vielleicht auch schon wieder. Ich hatte meinen ersten Auftrag, aber noch keinen Schreibtisch.
»Hier ist übrigens dein Platz«, sagte Carsten und zeigte auf einen Computertisch. Der Tisch selbst war nur unwesentlich größer als die Tastatur darauf. Er stand direkt neben der Tür zu den Toiletten. Und damit war auch die Frage beantwortet, warum er noch frei war.
Ich setzte mich, nahm einen Stift und wählte die Nummer auf dem Zettel. Es tutete lange. Ich wollte gerade wieder auflegen, da schnauzte ein Mann seinen Namen in den Hörer.
»Dennsmann!«
»Tschuldigung, Heimann vom Borkendorfer Boten. Friedbert Brohmschulte hatte mich ...«
»Endlich.«
»Ich hab gerade erst ...«
»Hat er Ihnen alles erzählt? Dann können wir's schnell machen.«
»Nee, ich weiß noch gar nichts. Er hat mir gerade erst ...«
»Also, morgen Abend 19 Uhr in der Realschule. Das machen wir jetzt doch. Hatte ich ja gesagt. Das war alles 'n bisschen zu kurzfristig. Ließ sich auf die Schnelle nicht mehr ändern. Is aber in Ordnung so. Dann hamwer alles klar, nech?«
»Tschuldigung, können Sie vielleicht noch mal kurz sagen, worum's geht? Ich hatte gerade erst von ...«
»Realschule, 19 Uhr. Alles wie gehabt. Schreibense sich's auf. Nich, dat dat wieder schiefgeht.«
Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Viel schlauer war ich noch immer nicht.
»Sag mal Carsten, morgen 19 Uhr in der Realschule - was könnte da sein?«
»Prunksitzung«, sagte Carsten.
»Ahhh!«, sagte ich und versuchte, freudig überrascht zu klingen.
»Du sollst da hin?«
»Brohmschulte hat gesagt, ich soll da anrufen.«
»Dann sieh zu, dass du 'nen Fotografen kriegst. Sonst kannst du morgen die scheiß Bilder für die Sonderseite selbst machen.«
Irgendwer schlug einen Gong. Ich schaute auf die Uhr. Es war zehn. Brohmschulte strich in seiner Qualmwolke ein paar Zettel zusammen. Carsten trank noch schnell einen Schluck Kaffee. Dann trotteten sie alle zur Treppe. »Konferenz «, sagte Carsten. Ich schloss mich an, er schlurfte voran. Von hinten sah er mit seinem Kapuzenpulli und den zerwetzten Jeans aus wie ein Bummelstudent, von vorn eher wie der Vater eines Bummelstudenten.
Oben an der Treppe registrierten sie mich zum ersten Mal. Allerdings nur, weil ich die Tür zum Konferenzraum blockierte. Ich schüttelte ein paar Hände und setzte mich neben Brohmschulte an den ovalen Tisch. Er roch wie ein Nikotin-Duftbaum.
»Morgen«, grummelte er. Zeitungen raschelten, keiner sagte etwas.
Am Tisch saß bereits eine ältere Frau, knapp sechzig, schwarze kurze Haare, braunes Halstuch. Sie schaute in die Runde, als wolle sie mit ihrem Blick jemanden bestrafen, schien aber niemanden zu finden. Das musste wohl Dalia Bauer sein, Brohmschultes Stellvertreterin. In der Nachrichtenredaktion galt sie als eingebildet. Anja hatte mal gesagt, sie führe sich auf wie eine Pulitzer-Preisträgerin im preußischen Staatsdienst.
Ihr gegenüber kaute ein Typ in einem grauen Pullover an seinem Kuli. Er war vielleicht Mitte vierzig. Am Halsausschnitt schaute ein weißes Hemd heraus. Er sah aus, als hätte ihm seine Mutter die Sachen rausgelegt. Das war Frank Pohlmann, berüchtigt für seine bizarren Beiträge in den Telefonkonferenzen. Wenn er sich meldete, schalteten alle anderen auf lautlos, damit ihr Prusten ungehört blieb. In der Nachrichtenredaktion riefen sie oft sogar Kollegen herbei, wenn sich abzeichnete, dass Pohlmann etwas sagen würde. Dann lagen alle gemeinsam gackernd über der Telefonspinne, während Pohlmann Dinge kritisierte, die außer ihm, sagen wir, wenige interessierten. Zum Beispiel, dass der Zeilenabstand im Fernsehprogramm nicht stimmte. Käme ihm jedenfalls so vor. Vorgestellt hatte ich ihn mir anders. Unseriöser. Der graue Pulli gab ihm etwas Lehrerhaftes.
Der gescheitelte Typ daneben erinnerte an einen Finanzbeamten. Er hieß Karl Weiß. Ich hatte nie mit ihm gesprochen und konnte mich nicht erinnern, je was von ihm gelesen zu haben. Und dann saß noch Carsten da. Unrasiert. Er sah schläfrig aus. Alle anderen waren krank, im Urlaub oder unterwegs.
»Erst mal eine Personalie«, sagte Brohmschulte. »Ralf Heimann wird bis Ende des Jahres Karin vertreten. Heimann, vielleicht sagen Sie selbst ein paar Sätze über sich.«
»Na klar, wie gesagt, ich bin Ralf Heimann, seit sechs Jahren in der Nachrichtenredaktion. Die nächsten Monate hier. Ich freue mich und bin gespannt, was mich hier erwartet«, log ich. Dann fiel mir nichts mehr ein. Ich schaute in gelangweilte Gesichter.
Pohlmann drückte ein Lächeln raus. Carsten nickte. Karl Weiß sagte: »Willkommen!« Aber es klang eher wie ein mäßig interessiertes »Aha«.
Danach begann die Blattkritik. Auf dem Tisch lag der Lokalteil. Sie fanden, dass sie alles gut gemacht hatten. Zu einer Geschichte, die nur im Konkurrenzblatt, dem Borkendorfer Anzeiger, stand, sagte Pohlmann: »Kann man machen, muss man aber nicht.« Und er war der Meinung, dass sie sich vor der Ausgabe der Konkurrenz auf keinen Fall verstecken müssten.
»Was hamwer zu morgen?«, fragte Brohmschulte. Sein Blick streifte von Gesicht zu Gesicht und blieb an Karl Weiß hängen, der etwas ratlos schien, aber dann tatsächlich etwas sagte.
»Äh, ja, der Wirt vielleicht.«
»Welcher Wirt?«
»Der Hagenbrock von der Alten Ziege. Hamwer doch letzte Woche drüber gesprochen.«
»War ich nich da.«
»Der hat das Dach vom Wintergarten abgerissen, um das Rauchverbot zu umgehen.«
»Wie? Und die Leute sitzen da jetzt im Freien?«
»Nee, das ist ja der Clou. Übers Dach kommt ein Carport. Offiziell sitzen die Leute dann draußen, in Wirklichkeit aber drinnen!«
Brohmschulte hob kritisch die Augenbrauen. Er stellte seinen Kuli mit der Spitze auf den Tisch und glitt mit Daumen und Zeigefinger am Kunststoff hinab auf die Tischplatte.
»Hagenbrock ist doch der, der uns damals die Geschichte mit der Pissrinne erzählt hat, oder?«
»Ja, das stimmt. Die Geschichte war Mist. Aber die Serie danach war doch super.«
»Die wir machen mussten.« Brohmschulte schüttelte verständnislos den Kopf, sah mich an und erklärte: »Wir haben letztes Jahr über die letzte Pissrinne im Münsterland berichtet. Und am nächsten Tag riefen im Minutentakt Kneipenwirte an, die sauer waren, weil es in ihrer Kneipe auch noch eine gab.«
Auch Karl Weiß wandte sich mir zu: »Und dann haben wir eine Serie gemacht, die super ankam: die zwanzig schönsten Pissrinnen der Region«, sagte er - offensichtlich stolz.
Brohmschulte schien den Ärger über die Peinlichkeit noch immer nicht ganz verdaut zu haben. »Und dem sollen wir das jetzt glauben?«, fragte er.
Karl Weiß zog die Schultern hoch. »Am Telefon hat er gesagt: Diesmal stimmt's wirklich.«
»Aha, diesmal stimmt's wirklich, sagt er. Dann sagense ihm, wenn's nicht stimmt, dann schreiben wir übermorgen, dass seine Kneipe die einzige im Münsterland ist, in der es kein Bier mehr gibt.«
»Mach ich, aber ein Problem gäb's noch.«
»Was?«
»Das müsste wer anders machen. Ich schaff das heut nicht.«
Brohmschulte war genervt. Sein Blick schwenkte ungeduldig durch die Runde. »Pohlmann? Könnse da anrufen?«
Pohlmann richtete sich auf wie eingeschaltet. »Ich, äh, muss noch drei Geschichten, äh, also ich habe noch zwei, und eine, die ...«
»Das schaffen Sie. Gibt's sonst noch was?«
Es war wieder still. Ich hob in Brusthöhe den Zeigefinger. Brohmschulte erteilte mir das Wort.
»Sie hatten mir ja den Zettel gegeben. Soll ich da morgen Abend auch hingehen?«, fragte ich in der Hoffnung, er würde nein sagen.
Brohmschulte nickte. »Das hatte ich mir eigentlich so gedacht. Da könnse dann gleich mal Ihr Talent zeigen«, sagte er. Ich meinte, etwas Spott zu hören.
»Vielleicht 'ne dumme Frage, aber worum geht's denn überhaupt? Karneval, das hab ich verstanden. Aber was genau? «
»Lassense sich einfach überraschen«, sagte Brohmschulte.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ich ahnte nicht, dass Karin Steffens' Kinderglück eine Bedeutung für mein Leben bekommen könnte. Auch am Nachmittag nicht, als Dorkov in einer E-Mail an alle schrieb, dass er jemanden suche, »der Frau Steffens in Borkendorf für einige Monate vertritt«. Natürlich auf freiwilliger Basis. Dorkov schrieb oft E-Mails an alle. Meistens antworteten auch alle, weil keiner riskieren wollte, in den Verdacht zu geraten, er lese die Mails vom Chef nicht. Diesmal kam keine Antwort.
Beim Essen sprachen wir über die E-Mail. Die Meinungen schwankten zwischen »Auf keinen Fall« und »Nie im Leben «. Nur Anja, die Politikchefin, vertrat die Auffassung, dass es auf dem Land auch ganz schön sein könne. Ein Haus im Grünen, Arbeit ohne Stress, Redaktionsschluss um 17 Uhr. Dagegen sei ja erst mal nichts zu sagen. Otti aus der Kultur setzte die Aufzählung fort: Schützenfestorgien, Scheckübergaben, Rammlerschauen, Hausfrauenreporter, Idioten. Und das hatte Anja natürlich vergessen. »So gesehen«, sagte sie und nahm die Mehrheitsmeinung an. Das Thema war damit durch.
Na ja, und abends klingelte zu Hause das Telefon.
Ich stand im Wohnzimmer, goss den Ficus und entschied mich, nicht da zu sein, aber es klingelte so hartnäckig, dass ich neugierig wurde. Als ich abnahm, hörte ich Gemurmel.
»Hallo?«, fragte ich. Das Gemurmel verstummte.
»Guten Abend Herr Heimann, Dorkov hier. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
Ich schreckte zusammen und ärgerte mich, dass ich es nicht hatte klingeln lassen.
»Nein, nein, überhaupt nicht«, sagte ich. »Was gibt's denn?«
»Keine Angst, Herr Heimann. Es geht nur um die E-Mail von heute Mittag. Hatten Sie die gelesen?«
»Ach, die mit der Vertretung. Ja, äh, die hatte ich gesehen. «
»Gut, ich will auch gar nicht lange um den heißen Brei rumreden. Herr Heimann, ich hatte heute Mittag gleich an Sie gedacht. Sie sind doch flexibel. Ich frag mal ganz direkt: Würden Sie's machen?«
Natürlich nicht, dachte ich und sagte: »Na ja, äh, da müsste ich überlegen.«
»Überlegen Sie«, sagte Dorkov. »Was spräche denn dagegen? «
»Dagegen? Ja, äh, nicht direkt dagegen. Aber es ist weit weg, und ich habe nie ...« Mir fiel nichts ein. Es kam mir vor, als hätten sich alle guten Argumente mit einem Lachen davongemacht. »Die Leute auf dem Land sind einfach komisch «, konnte ich ja auch nicht sagen.
»Herr Heimann, die Fahrtkosten zahlen wir. Und eingearbeitet sind Sie in drei Tagen.«
»Ja, aber ich weiß nicht, ob ich da wirklich der Richtige bin.«
»Herr Heimann, Sie sind perfekt für diese Aufgabe. Also machen Sie's?«
Ich war ratlos und sagte ja. Er bedankte sich so überschwänglich, dass ich selbst das Bedürfnis verspürte, entgegenzuhalten, so schlimm sei es jetzt auch nicht - tat es dann aber doch nicht. Als ich aufgelegt hatte, beruhigte ich mich mit einer Flasche Bier und versuchte mir klarzumachen, was soeben passiert war.
Mit ausgebreiteten Armen lag ich auf dem Sofa und starrte an die Decke. Es war unbequem, aber ich verharrte wie erschossen in dieser Position, weil ich mich nicht von der Frage lösen konnte, warum er ausgerechnet mich angerufen hatte. Hatte er wirklich sofort an mich gedacht? Und wenn ja, warum überhaupt? Warum hatten sie nicht Werner H ecker gefragt? Der saß eh nur nutzlos rum, seit er vor anderthalb Jahren in die Nachrichtenredaktion versetzt worden war. Die Außenredaktion, in der er gearbeitet hatte, war dicht gemacht worden. Kündigen konnten sie ihm nicht, weil er im Betriebsrat war. So kam er zu uns, wo er nun allerlei Dinge machte, von denen er nichts verstand.
Mir fiel ein, dass Werner Hecker vor ein paar Wochen sein Auto verkauft hatte. Ohne Auto hätten sie ihn in Borkendorf nicht gebrauchen können. Aber das konnte Dorkov nicht wissen. Oder doch?
Ich fand eine neue Sitzposition, in der ich meinen Rücken wieder spüren konnte. Meine Beine baumelten über der Lehne. Ich überlegte, wer in der Redaktion sonst noch ein Auto hatte, aber mir fiel nur Anja ein. Als Politikchefin war die aber nicht ersetzbar. Ich als Wirtschaftsredakteur schon, denn davon gab es drei. Quatsch, dachte ich. Als ob Dorkov Journalisten danach aussucht, ob sie auch ohne Bus mobil sind. Ich verwarf den Gedanken.
Aber was sprach sonst für mich? Mein Talent zur Fotografie war, wenn man es freundlich formulieren wollte, nicht ganz so ausgeprägt. Und auf dem Land ist das nicht gut, denn da ist jeder Redakteur sein eigener Fotograf. Ich konnte mich auch nicht erinnern, in den sechs Jahren als Nachrichtenredakteur irgendwann als großer Fan des Lokalteils auffällig geworden zu sein. Ich las ihn nicht mal in der Ausgabe, die jeden Morgen in meinem Briefkasten lag. Vor allem aber war ich noch nie im Leben in Borkendorf gewesen.
Am behaglichsten erschien mir die Möglichkeit, dass ich auf einer langen Liste mit Telefonnummern weit hinten gestanden hatte und Dorkov auch jedem Kandidaten vor mir erzählt hatte, er habe gleich an ihn gedacht. Das hätte auch erklärt, warum er so spät anrief. Andererseits: Wen sollte er fragen, wenn die Voraussetzung ein Auto war?
Meine Mutter beendete die Grübelei mit einem Anruf. In einem Anfall von Leichtsinn erzählte ich ihr von der Karrierefallgrube. Sie war hellauf begeistert und beglückwünschte mich.
»Wenn die nicht zufrieden mit dir wären, hätten die dich nicht gefragt«, sagte sie.
Ich versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen, scheiterte aber schon im Ansatz.
»Es gibt niemanden, der das machen will«, sagte ich.
»Jetzt red mal nicht alles gleich so schlecht. Die Landluft wird dir guttun«, sagte sie.
Über Nacht wurde ich krank. Ich lag vor dem Klo und kotzte. Ich glaube nicht, dass Borkendorf daran Schuld hatte, aber der Zeitpunkt war ungünstig.
Am nächsten Morgen schrieb Dorkov in einer E-Mail an alle, dass ich zugesagt hatte. Gleich darauf meldeten sich Kollegen, die vermuteten, ich sei gezwungen worden. Einer schrieb: »Das können die Arschlöcher nicht mit dir machen. « Er riet mir, mich an die Gewerkschaft zu wenden. Ein anderer schickte mir die Nummer von einem Schulfreund, der inzwischen Anwalt für Arbeitsrecht war. Als ich antwortete und erklärte, wie es wirklich gewesen war, hörte ich nichts mehr.
Bis zum Ende der Woche blieb ich krank. Am Samstag schrieb Dorkov, ich möge am Montag direkt nach Borkendorf fahren. Karin Steffens sei ab sofort zu Hause.
Am Sonntag trainierte ich mir Vorfreude an. Ich lag geschwächt auf meinem Sofa und träumte von Borkendorf. Mein Schreibtisch stand an einem großen Fenster mit Blick direkt in den Wald. Es war grün und idyllisch. Vögel zwitscherten. Ein Reh hüpfte vorbei. Ein wunderschöner Ort. Aber dann stapfte auf einmal der Förster ins Bild, klopfte mit seinem Gewehrlauf an die Scheibe und fragte, ob ich nicht mal eine Geschichte über ihn machen wolle. Ich wachte auf.
Als ich abends Zwiebeln in die Pfanne warf, stellte ich mir vor, wie ich mit einer Papiertüte voll frischem Gemüse über den Borkendorfer Wochenmarkt schlenderte und mir an einem Marktstand frische Weintrauben in den Mund schob. Ich fragte, wie viel die Trauben denn kosten sollten. Die alte Marktfrau antwortete: »Achtzig Zeilen mit Bild.«
Ich beschloss, nicht mehr an Borkendorf zu denken, bevor ich es gesehen hatte. Aber vielleicht war es auch einfach die Krankheit. Am Montagmorgen ging ich zum Arzt. Ganz gesund fühlte ich mich noch immer nicht.
Der bärtige Doktor leuchtete mir in die Augen, schaute mir ernst ins Gesicht und befand: »Ich schreibe Sie noch eine Woche krank. Gönnen Sie sich Ruhe und fahren Sie in die Natur.«
»Wenn das alles ist, schreiben Sie mich besser nicht krank«, sagte ich. Er war verwundert, aber nachdem ich es ihm erklärt hatte, folgte er meinem Rat.
Ich war jetzt Pendler. Borkendorf lag siebzig Kilometer entfernt, vierzig davon führten über die Autobahn. Gleich am ersten Tag fand ich heraus, dass es auch einen fünfundachtzig Kilometer langen Weg gab. Ich verpasste auf Anhieb die richtige Ausfahrt und kurvte über Landstraßen von der anderen Seite in die Stadt. Trotz des Umwegs kam ich viel zu früh an. Ich hatte eine Stunde eingeplant, um mir vor der Arbeit die Stadt anzusehen. Jetzt blieben noch vierzig Minuten. Und nach meinem ersten Eindruck hätten wahrscheinlich auch zwanzig gereicht.
Ich fand sofort einen Parkplatz und nahm das als gutes Omen, obwohl wahrscheinlich nie die Gefahr bestanden hatte, keinen zu finden. Ich sah viel Grün, Fachwerkidylle, ein paar Läden und mittendrin eine Kirche. Die Stadt war nicht hässlich, aber es war klirrend kalt. So kalt, dass ich mich gleich wieder ins Auto setzte. Würde ich eh alles noch früh genug sehen, dachte ich, drehte die Heizung auf, lehnte mich zurück und wartete.
Auf dem Weg zur Redaktion lief ich an einem geschlossenen Versicherungsbüro, einem geschlossenen Blumenladen und einer grünen Dönerbude vorbei. In der Dönerbude lehnte ein Mann mit Schnauz lustlos auf seiner Theke. Er grüßte, als würde er mich kennen. Aber er schien nicht damit zu rechnen, dass ich in den Laden kommen könnte. Am Ende der Straße öffnete sich der Marktplatz, am Rand lag die Kirche, gegenüber die Redaktion. Ein schluffiger Typ im Kapuzenpulli stand vor dem Schaufenster und blies Rauchwolken in die Luft. Als er sah, dass ich auf ihn zusteuerte, ließ er die Zigarette fallen und zerquetschte sie mit der Schuhsohle.
»Scheiß Wetter«, sagte er.
Ich nickte ihm entgegen.
»Ralf Heimann.«
»Carsten Börner. Freut mich. Dich hat's also getroffen.«
Ich schüttelte seine kalte Hand.
»Na ja, was heißt getroffen ...«
»Wirste gleich sehen«, sagte er, drückte die Tür auf und wies mir den Weg hinein. Drinnen klickten Tastaturen. Ein Telefon klingelte, aber niemand hob ab. In der Mitte stützte eine gelbe Säule den Raum. Drumherum reihten sich Tische aneinander. Es sah aus wie beim Scrabble. Am Rand stand ein Quader mit hohen Scheiben, in dem ein dicker Mann saß und rauchte. »Warte kurz«, sagte Carsten. Er lief rüber, klopfte an die Scheibe und winkte den dicken Mann heraus. Der erhob sich schwerfällig und winkte seinerseits. Ich sollte kommen.
»Das ist Friedbert Brohmschulte, der Chef«, sagte Carsten.
»Alles klar, wir kennen uns schon vom Telefon.«
Ich betrat einen Raum aus Qualm. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Akten.
»Setzen Sie sich«, sagte Brohmschulte, aber es war nirgendwo Platz. Er schichtete einen Berg Ordner um. Darunter kam ein Stuhl zum Vorschein. »Sie wollen also für uns arbeiten «, sagte er, starrte auf seinen Bildschirm und griff mit der rechten Hand eine Zigarette.
»Ja, äh, gern«, sagte ich. Die Frage verunsicherte mich. Er konnte sich ja denken, dass ich nicht wirklich scharf auf den Job war.
»Haben Sie denn schon mal für eine Zeitung geschrieben? «, fragte er.
»Sechs Jahre als Nachrichtenredakteur beim Westkurier.«
Er drehte sich überrascht um, aber die Verwunderung verklang, als er mich sah.
»Heimann, ich hab Sie gar nicht erkannt.«
»Kein Problem. Wir sehen uns ja jetzt öfter.«
»Haben Sie schon 'nen Schreibtisch?«
»Nee, ich komm gerade erst zur Tür rein.«
»Dann lassense sich von Börner mal alles erklären. Das meiste kennense ja eh. Und nehmense das hier mit. Da könnense gleich mal anrufen, wennse sich nützlich machen wollen.«
Er gab mir einen zerknitterten Zettel mit einem Namen und einer Nummer.
»Worum geht's da?«
»Sagense, dasse die Nummer von mir haben. Dann erklärt er Ihnen alles.«
Dann wandte er sich wieder dem Bildschirm zu und tippte mit zwei Fingern. Seine Hände bewegten sich wie Körner pickende Hühner.
»Ich mach mich dann mal an die Arbeit«, sagte ich. Brohmschulte antwortete mit einem Grummeln. Ich schloss die Tür, schaute hilflos durch den Raum. Das Telefon klingelte immer noch, vielleicht auch schon wieder. Ich hatte meinen ersten Auftrag, aber noch keinen Schreibtisch.
»Hier ist übrigens dein Platz«, sagte Carsten und zeigte auf einen Computertisch. Der Tisch selbst war nur unwesentlich größer als die Tastatur darauf. Er stand direkt neben der Tür zu den Toiletten. Und damit war auch die Frage beantwortet, warum er noch frei war.
Ich setzte mich, nahm einen Stift und wählte die Nummer auf dem Zettel. Es tutete lange. Ich wollte gerade wieder auflegen, da schnauzte ein Mann seinen Namen in den Hörer.
»Dennsmann!«
»Tschuldigung, Heimann vom Borkendorfer Boten. Friedbert Brohmschulte hatte mich ...«
»Endlich.«
»Ich hab gerade erst ...«
»Hat er Ihnen alles erzählt? Dann können wir's schnell machen.«
»Nee, ich weiß noch gar nichts. Er hat mir gerade erst ...«
»Also, morgen Abend 19 Uhr in der Realschule. Das machen wir jetzt doch. Hatte ich ja gesagt. Das war alles 'n bisschen zu kurzfristig. Ließ sich auf die Schnelle nicht mehr ändern. Is aber in Ordnung so. Dann hamwer alles klar, nech?«
»Tschuldigung, können Sie vielleicht noch mal kurz sagen, worum's geht? Ich hatte gerade erst von ...«
»Realschule, 19 Uhr. Alles wie gehabt. Schreibense sich's auf. Nich, dat dat wieder schiefgeht.«
Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Viel schlauer war ich noch immer nicht.
»Sag mal Carsten, morgen 19 Uhr in der Realschule - was könnte da sein?«
»Prunksitzung«, sagte Carsten.
»Ahhh!«, sagte ich und versuchte, freudig überrascht zu klingen.
»Du sollst da hin?«
»Brohmschulte hat gesagt, ich soll da anrufen.«
»Dann sieh zu, dass du 'nen Fotografen kriegst. Sonst kannst du morgen die scheiß Bilder für die Sonderseite selbst machen.«
Irgendwer schlug einen Gong. Ich schaute auf die Uhr. Es war zehn. Brohmschulte strich in seiner Qualmwolke ein paar Zettel zusammen. Carsten trank noch schnell einen Schluck Kaffee. Dann trotteten sie alle zur Treppe. »Konferenz «, sagte Carsten. Ich schloss mich an, er schlurfte voran. Von hinten sah er mit seinem Kapuzenpulli und den zerwetzten Jeans aus wie ein Bummelstudent, von vorn eher wie der Vater eines Bummelstudenten.
Oben an der Treppe registrierten sie mich zum ersten Mal. Allerdings nur, weil ich die Tür zum Konferenzraum blockierte. Ich schüttelte ein paar Hände und setzte mich neben Brohmschulte an den ovalen Tisch. Er roch wie ein Nikotin-Duftbaum.
»Morgen«, grummelte er. Zeitungen raschelten, keiner sagte etwas.
Am Tisch saß bereits eine ältere Frau, knapp sechzig, schwarze kurze Haare, braunes Halstuch. Sie schaute in die Runde, als wolle sie mit ihrem Blick jemanden bestrafen, schien aber niemanden zu finden. Das musste wohl Dalia Bauer sein, Brohmschultes Stellvertreterin. In der Nachrichtenredaktion galt sie als eingebildet. Anja hatte mal gesagt, sie führe sich auf wie eine Pulitzer-Preisträgerin im preußischen Staatsdienst.
Ihr gegenüber kaute ein Typ in einem grauen Pullover an seinem Kuli. Er war vielleicht Mitte vierzig. Am Halsausschnitt schaute ein weißes Hemd heraus. Er sah aus, als hätte ihm seine Mutter die Sachen rausgelegt. Das war Frank Pohlmann, berüchtigt für seine bizarren Beiträge in den Telefonkonferenzen. Wenn er sich meldete, schalteten alle anderen auf lautlos, damit ihr Prusten ungehört blieb. In der Nachrichtenredaktion riefen sie oft sogar Kollegen herbei, wenn sich abzeichnete, dass Pohlmann etwas sagen würde. Dann lagen alle gemeinsam gackernd über der Telefonspinne, während Pohlmann Dinge kritisierte, die außer ihm, sagen wir, wenige interessierten. Zum Beispiel, dass der Zeilenabstand im Fernsehprogramm nicht stimmte. Käme ihm jedenfalls so vor. Vorgestellt hatte ich ihn mir anders. Unseriöser. Der graue Pulli gab ihm etwas Lehrerhaftes.
Der gescheitelte Typ daneben erinnerte an einen Finanzbeamten. Er hieß Karl Weiß. Ich hatte nie mit ihm gesprochen und konnte mich nicht erinnern, je was von ihm gelesen zu haben. Und dann saß noch Carsten da. Unrasiert. Er sah schläfrig aus. Alle anderen waren krank, im Urlaub oder unterwegs.
»Erst mal eine Personalie«, sagte Brohmschulte. »Ralf Heimann wird bis Ende des Jahres Karin vertreten. Heimann, vielleicht sagen Sie selbst ein paar Sätze über sich.«
»Na klar, wie gesagt, ich bin Ralf Heimann, seit sechs Jahren in der Nachrichtenredaktion. Die nächsten Monate hier. Ich freue mich und bin gespannt, was mich hier erwartet«, log ich. Dann fiel mir nichts mehr ein. Ich schaute in gelangweilte Gesichter.
Pohlmann drückte ein Lächeln raus. Carsten nickte. Karl Weiß sagte: »Willkommen!« Aber es klang eher wie ein mäßig interessiertes »Aha«.
Danach begann die Blattkritik. Auf dem Tisch lag der Lokalteil. Sie fanden, dass sie alles gut gemacht hatten. Zu einer Geschichte, die nur im Konkurrenzblatt, dem Borkendorfer Anzeiger, stand, sagte Pohlmann: »Kann man machen, muss man aber nicht.« Und er war der Meinung, dass sie sich vor der Ausgabe der Konkurrenz auf keinen Fall verstecken müssten.
»Was hamwer zu morgen?«, fragte Brohmschulte. Sein Blick streifte von Gesicht zu Gesicht und blieb an Karl Weiß hängen, der etwas ratlos schien, aber dann tatsächlich etwas sagte.
»Äh, ja, der Wirt vielleicht.«
»Welcher Wirt?«
»Der Hagenbrock von der Alten Ziege. Hamwer doch letzte Woche drüber gesprochen.«
»War ich nich da.«
»Der hat das Dach vom Wintergarten abgerissen, um das Rauchverbot zu umgehen.«
»Wie? Und die Leute sitzen da jetzt im Freien?«
»Nee, das ist ja der Clou. Übers Dach kommt ein Carport. Offiziell sitzen die Leute dann draußen, in Wirklichkeit aber drinnen!«
Brohmschulte hob kritisch die Augenbrauen. Er stellte seinen Kuli mit der Spitze auf den Tisch und glitt mit Daumen und Zeigefinger am Kunststoff hinab auf die Tischplatte.
»Hagenbrock ist doch der, der uns damals die Geschichte mit der Pissrinne erzählt hat, oder?«
»Ja, das stimmt. Die Geschichte war Mist. Aber die Serie danach war doch super.«
»Die wir machen mussten.« Brohmschulte schüttelte verständnislos den Kopf, sah mich an und erklärte: »Wir haben letztes Jahr über die letzte Pissrinne im Münsterland berichtet. Und am nächsten Tag riefen im Minutentakt Kneipenwirte an, die sauer waren, weil es in ihrer Kneipe auch noch eine gab.«
Auch Karl Weiß wandte sich mir zu: »Und dann haben wir eine Serie gemacht, die super ankam: die zwanzig schönsten Pissrinnen der Region«, sagte er - offensichtlich stolz.
Brohmschulte schien den Ärger über die Peinlichkeit noch immer nicht ganz verdaut zu haben. »Und dem sollen wir das jetzt glauben?«, fragte er.
Karl Weiß zog die Schultern hoch. »Am Telefon hat er gesagt: Diesmal stimmt's wirklich.«
»Aha, diesmal stimmt's wirklich, sagt er. Dann sagense ihm, wenn's nicht stimmt, dann schreiben wir übermorgen, dass seine Kneipe die einzige im Münsterland ist, in der es kein Bier mehr gibt.«
»Mach ich, aber ein Problem gäb's noch.«
»Was?«
»Das müsste wer anders machen. Ich schaff das heut nicht.«
Brohmschulte war genervt. Sein Blick schwenkte ungeduldig durch die Runde. »Pohlmann? Könnse da anrufen?«
Pohlmann richtete sich auf wie eingeschaltet. »Ich, äh, muss noch drei Geschichten, äh, also ich habe noch zwei, und eine, die ...«
»Das schaffen Sie. Gibt's sonst noch was?«
Es war wieder still. Ich hob in Brusthöhe den Zeigefinger. Brohmschulte erteilte mir das Wort.
»Sie hatten mir ja den Zettel gegeben. Soll ich da morgen Abend auch hingehen?«, fragte ich in der Hoffnung, er würde nein sagen.
Brohmschulte nickte. »Das hatte ich mir eigentlich so gedacht. Da könnse dann gleich mal Ihr Talent zeigen«, sagte er. Ich meinte, etwas Spott zu hören.
»Vielleicht 'ne dumme Frage, aber worum geht's denn überhaupt? Karneval, das hab ich verstanden. Aber was genau? «
»Lassense sich einfach überraschen«, sagte Brohmschulte.
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Autoren-Porträt von Ralf Heimann
Heimann, RalfRalf Heimann ist seit neun Jahren als Lokalreporter unterwegs. In dieser Zeit hat er über hunderte Pressekonferenzen, Vereinsversammlungen, Schützenfeste und Karnevalssitzungen berichtet. Nur eben meistens nicht über das, was tatsächlich geschehen ist: Denn noch nie hat jemand darüber geschrieben, wie schwer es ist, mit betrunkenen Schützenkönigen über ihre Gefühle zu sprechen, oder über die Tricks, mit denen Politiker versuchen, aufs Foto zu kommen. Nun bringt Heimann mit viel Humor Licht in das Dunkel: So ist die Wirklichkeit hinter der lokalen Nachricht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ralf Heimann
- 2017, 3. Aufl., 329 Seiten, Maße: 12 x 18,9 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3651000567
- ISBN-13: 9783651000568
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Rezension zu „Die tote Kuh kommt morgen rein “
Es sind realitätsnahe Beobachtungen, die er liebevoll ins Groteske schraubt. Martin Jasper Braunschweiger Zeitung 20131109
Kommentar zu "Die tote Kuh kommt morgen rein"
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