Die Träumerin von Ostende
Erzählungen
Ein Mann reist nach Ostende. In der verschlafenen Stadt an der Nordsee möchte er eine abrupt beendete Liebesbeziehung vergessen. Er bezieht ein Zimmer bei der zurückgezogen lebenden Emma Van A. Wer ist diese Frau, die ihm ihre phantastische Lebensgeschichte...
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Produktinformationen zu „Die Träumerin von Ostende “
Klappentext zu „Die Träumerin von Ostende “
Ein Mann reist nach Ostende. In der verschlafenen Stadt an der Nordsee möchte er eine abrupt beendete Liebesbeziehung vergessen. Er bezieht ein Zimmer bei der zurückgezogen lebenden Emma Van A. Wer ist diese Frau, die ihm ihre phantastische Lebensgeschichte erzählt, in der sich leidenschaftliche Liebe mit subtiler Erotik verbindet? Was ist erfunden, was Wahrheit? In fünf geheimnisvollen Erzählungen, halb grausam, halb zärtlich, zieht Eric Emmanuel Schmitt alle Register seiner Fabulierkunst und zeigt, es sind unsere Träume, die den Zauber des Lebens ausmachen.
Lese-Probe zu „Die Träumerin von Ostende “
Die Träumerin von Ostende von Eric-Emmanuel SchmittIch glaube, ich habe nie jemanden gekannt, der so anders war, als er zunächst wirkte, wie Emma van A. Bei unserer ersten Begegnung vermittelte sie den Eindruck einer fragilen, unauffälligen Frau, so farblos, spröde und durchschnittlich, dass man sie auf der Stelle hätte vergessen können. Doch eines Tages kam ich mit ihrer Wirklichkeit in Berührung, und rätselhaft, herrisch, brillant, widersprüchlich und beharrlich wie sie war, ließ sie mich nicht mehr los, nahm mich für immer im Gespinst ihres verführerischen Charmes gefangen.
Manche Frauen sind wie eine Falle, in die man gerät. Manchmal möchte man sich nicht einmal mehr daraus befreien. Emma van A. hält mich in einer solchen Falle gefangen.
Alles begann im März, einem kühlen, zögerlichen Monat März, in Ostende.
Ich hatte immer von Ostende geträumt.
Wenn ich reise, üben Namen eine stärkere Anziehungskraft auf mich aus als Orte. Höher als Kirchtürme, erklingen sie schon von fern, sind über Tausende von Kilometern zu hören, lösen mit ihrem Klang Bilder aus.
Ostende ...
Konsonanten und Vokale zeichnen einen Plan, ziehen Mauern hoch, schaffen eine bestimmte Atmosphäre.
... mehr
Trägt der kleine Marktflecken den Namen eines Heiligen, siedelt ihn meine Phantasie um eine Kirche herum an, erinnert sein Name an einen Wald - wie Boisfort - oder an Felder - wie Champigny -, überzieht Grün die Gassen; verweist er auf ein Material - wie Pierrefonds -, kratze ich im Geist am Putz, um die Steine hervorzuheben; gemahnt er an ein Wunder - wie Dieulefit -, stelle ich mir einen Ort auf einem steilen, die Landschaft überragenden Fels vor. Nähere ich mich einer Stadt, habe ich zunächst ein Rendezvous mit einem Namen.
Ich hatte schon immer von Ostende geträumt.
Und das Träumen hätte mir vollauf genügt, wenn nicht das jähe Ende einer Beziehung mich hätte das Weite suchen lassen. Nichts wie weg! Fort aus diesem Paris voller Erinnerungen an eine verlorene Liebe. Rasch, ein Tapetenwechsel, andere Luft ...
Der Norden schien mir geeignet, dort waren wir nie zusammen gewesen. Und kaum entfaltete ich die Landkarte, zogen mich über dem Blau der Nordsee auch schon sieben Buchstaben unwiderstehlich an: Ostende. Nicht nur der Klang faszinierte mich, ich erinnerte mich zudem, dass eine Freundin eine gute Unterkunft vor Ort kannte. Ein paar Anrufe, und die Sache war geregelt, ein Ostende
Quartier reserviert, das Gepäck im Wagen verstaut, und ich machte mich auf den Weg nach Ostende, als erwartete mich dort mein Schicksal.
Da der Name mit einem O des Erstaunens begann, besänftigt durch das folgende S, assoziierte ich sogleich begeistert einen glatten, endlosen Sandstrand ... Und da die Etymologie des Namens eine »nach Westen hin ausgerichtete« Stadt nahelegte, schloss ich, dass ihre dem Meer zugewandten Häuser allabendlich von der untergehenden Sonne in rotes Licht getaucht wurden.
Als ich eintraf, war es bereits dunkel, und ich wusste nicht recht, was ich von der Sache halten sollte. Zwar stimmte die Wirklichkeit Ostendes in einigen Punkten mit meinem Traum von Ostende überein, widersprach ihr aber zugleich aufs heftigste: Obwohl sich dieser Ort am Ende der Welt, nämlich in Flandern, befand, zwischen einem Wellen- und einem Feldermeer, obwohl er einen weiten Strand zu bieten hatte und einen nostalgisch anmutenden Deich, machte er doch deutlich, wie stark die Belgier ihre Küste, unter dem Vorwand, sie der Allgemeinheit zugänglich machen zu wollen, verschandelt hatten. Gebäudekomplexe höher als Ozeandampfer, geschmacklose, nach Gesichtspunkten der Rentabilität konzipierte nullachtfünfzehn Unterkünfte, kurz, ein urbanes Chaos, das jene unternehmerische Gier verriet, die darauf abzielte, der Mittelklasse während der Urlaubszeit das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Glücklicherweise stammte das Haus, in dem ich eine Etage gemietet hatte, noch aus dem 19. Jahrhundert, es war eine Villa aus der Zeit Leopolds II., des »Baukönigs «. Damals nichts Besonderes, war sie heute etwas Außergewöhnliches. Inmitten neu hochgezogener Bauten, beredten Beispielen geometrischer Einfallslosigkeit - simple, in gleichförmige Würfel unterteilte Stockwerke, die wiederum in Appartements unterteilt waren, Appartements, versehen mit scheußlichen Rauchglasfenstern, allesamt symmetrisch und von einer Nüchternheit, dass einem schlecht werden konnte -, wirkte dieses Haus wie ein Solitär und zeugte von architektonischem Gestaltungswillen; es hatte sich mit Bedacht herausgeputzt, Größe und Form seiner Öffnungen variiert, wagte sich hier in einem Balkon vor, da in einer Terrasse, dort in einem Wintergarten, spielte mit hohen, mittelhohen und niedrigen Fenstern und machte sich, wie eine Frau, die sich ein Schönheitspflästerchen auf die Stirn klebt, einen Spaß daraus, sich unter seinem Schieferdach mit einem Ochsenauge zu schmücken.
Eine Rothaarige um die fünfzig mit einem breiten, blaurot geäderten Gesicht verstellte die geöffnete Tür.
»Was willst du?«
»Wohnt hier Madame Emma van A.?«
»Geeenau«, brummte sie mit einem kräftigen flämischen Akzent, der ihre Vierschrötigkeit noch unterstrich.
»Ich habe bei Ihnen den ersten Stock für vierzehn Tage gemietet. Meine Freundin aus Brüssel müsste Sie benachrichtigt haben.«
»Aber ja, natürlich! Du wirst schon erwartet! Ich sag meiner Tante gleich Bescheid. Aber kommen Sie doch bitte rein, na komm schon.«
Mit ihren rauen Händen entriss sie mir die Koffer, knallte sie in der Eingangshalle auf den Boden und schob mich mit barscher Liebenswürdigkeit Richtung Salon.
Vor dem Fenster zeichnete sich die Silhouette einer zierlichen Frau in einem Rollstuhl ab, dem Meer zugewandt, dessen dunkle Tinte der Himmel trank.
»Tante Emma, dein Mieter.«
Emma van A. wandte sich um und sah mich an.
Andere hätten ihre Gäste mit einem einnehmenden Lächeln willkommen geheißen, sie aber musterte mich nur streng. Emma van A. war von durchscheinender Blässe, ihre Haut eher gealtert als faltig, ihr schwarzweißmeliertes Haar wirkte weniger grau als vielmehr stark gesträhnt, ihr Gesicht war lang und schmal, ihr Hals zart. War es das Alter? War es eine Angewohnheit? Sie hielt ihren Kopf so zur Seite geneigt, dass er mit einem Ohr fast die linke Schulter berührte und ihr Kinn stark nach rechts oben zeigte. Schief und aufmerksam, wie sie dasaß, schien sie gleichermaßen zu lauschen wie zu beobachten.
Ich musste das Schweigen irgendwie brechen.
»Guten Tag, Madame, ich freue mich sehr, dass ich bei Ihnen unterkommen kann.«
»Sie sind Schriftsteller?«
Jetzt verstand ich, warum sie mich so prüfend angesehen hatte: Sie fragte sich, ob ich aussah wie einer, der Romane schrieb.
»Ja.«
Sie seufzte wie erleichtert. Offensichtlich hatte die Tatsache, dass ich Autor bin, sie dazu veranlasst, mir ihr Haus zu öffnen.
Ihre Nichte, die hinter mir stand, begriff, dass der Eindringling seine Aufnahmeprüfung bestanden hatte, und posaunte lautstark:
»Na, dann werd ich mal gehen und die Zimmer weiter herrichten, in fünf Minuten bin ich so weit.«
Während sie sich entfernte, sah ihr Emma van A. wie einem treuen, aber dummen Hund hinterher.«
»Bitte verzeihen Sie, Monsieur, meine Nichte weiß nicht, wie man sich siezt. Im Niederländischen gebraucht man nur das Du.«
»Schade, dass man sich um das Vergnügen bringt, vom Du zum Sie übergehen zu können.«
»Am schönsten wäre es doch, eine Sprache zu sprechen, die nur das Sie kennt, oder?«
Warum hatte sie das gesagt? Befürchtete sie etwa, ich könnte allzu vertraulich werden? Ich blieb etwas verlegen stehen. Sie bat mich, Platz zu nehmen.
»Seltsam. Ich verbringe mein Leben inmitten von Büchern, bin aber nie einem Schriftsteller begegnet.«
Ich sah mich kurz um und fand ihre Worte bestätigt: Tausende Bücher füllten die Regale des Salons, ja, reichten selbst bis ins Speisezimmer hinein. Damit ich mir ein besseres Bild davon machen konnte, glitt sie leise wie ein Schatten mit ihrem Rollstuhl zwischen den Möbeln hindurch und knipste matt leuchtende Lampen an.
Obgleich ich nichts mehr genieße als die Gegenwart bedruckten Papiers, überkam mich in dieser Bibliothek, ohne dass ich recht wusste weshalb, eine gewisse Befangenheit. Die Bände sahen vornehm aus, waren sorgsam in Leder oder Leinen gebunden, Verfasser und Titel in goldenen Lettern eingeprägt; unterschiedlich groß standen sie dicht beieinander, weder wahllos noch übertrieben symmetrisch angeordnet, einem Gleichmaß folgend, das von einem ausgewogenen Geschmack zeugte, und dennoch ... Sind wir so sehr an kartonierte Ausgaben gewöhnt, dass in Leder gebundene Bücher uns verunsichern? Machte es mir etwas aus, dass ich darunter keinen meiner bevorzugten Einbände sah? Es fiel mir schwer, meine Irritation in Worte zu fassen.
»Sie müssen verzeihen, aber ich habe keinen Ihrer Romane gelesen«, sagte sie, meine Befangenheit falsch deutend.
»Ich bitte Sie. Wer kennt schon alles? Zudem erwarte ich das gar nicht von den Leuten, mit denen ich verkehre. «
Beruhigt hörte sie auf, an dem Korallenarmband zu drehen, das ihr schmales Handgelenk umschloss, und lächelte die Wände an.
»Dabei verbringe ich meine gesamte Zeit mit Lesen. Ja, lese oft sogar ein und dasselbe Buch mehrmals. Große Werke erschließen sich einem ja eigentlich erst richtig beim dritten oder vierten Mal, nicht wahr?«
»Wodurch zeichnet sich für Sie ein großes Werk aus?«
»Ich überspringe jedes Mal eine andere Passage.«
Sie griff nach einem in granatrotes Leder gebundenen Band, den sie, sichtlich bewegt, einen Spaltbreit öffnete.
»Die Odyssee zum Beispiel. Welche Seite ich auch immer aufschlage, es ist ein Hochgenuss. Mögen Sie Homer, Monsieur?«
»Aber ... ja.«
Ihre Pupillen weiteten sich, und ich begriff, dass sie meine Antwort als leicht dahingesagt, wenn nicht als flapsig empfand. Und so bemühte ich mich, etwas genauer zu werden.
»Ich habe mich oft mit Odysseus identifiziert, er erweist sich eher als listenreich denn als intelligent, er kehrt ohne Eile nach Hause zurück und verehrt Penelope, ohne auch nur eine der hübschen Frauen zu verschmähen, die ihm während seiner Reise begegnen. Er ist eigentlich so wenig tugendhaft, dieser Odysseus, dass ich mich ihm nahe fühle. Für mich ist er modern.«
»Wie kann man nur glauben, Amoralität sei zeitgebunden, das ist geradezu naiv ... In jeder Generation bilden sich die jungen Leute ein, sie seien es, die das Laster erfunden hätten. Wie vermessen! Was für eine Art Literatur schreiben Sie eigentlich?«
»Meine. Sie lässt sich nicht einordnen.«
»Ausgezeichnet.« Ihrem schulmeisterlichen Ton entnahm ich, dass sie mich erneut einer Prüfung unterzog.
»Darf ich Ihnen eines meiner Bücher schenken?«
»Ah, Sie haben Ihre Bücher dabei?«
»Nein. Aber ich bin sicher, dass in den Buchhandlungen von Ostende ...«
»Ach ja, die Buchhandlungen ...«
Sie sprach dieses Wort aus, als hätte man sie soeben an etwas weit Zurückliegendes, bereits Vergessenes erinnert.
»Sie müssen wissen, Monsieur, diese Bibliothek, sie gehörte meinem Vater. Er hat Literatur unterrichtet. Seit meiner Kindheit lebe ich umgeben von diesen Publikationen ohne das Verlangen, seine Sammlung zu erweitern. Sie beinhaltet so viele kleine Schätze, die ich noch nicht gehoben habe. Sehen Sie nur, gleich hinter Ihnen, George Sand, Dickens ... einige Bände habe ich noch immer nicht gelesen. Desgleichen Victor Hugo.«
»Ist es nicht bezeichnend für das Genie Victor Hugos, dass sich bei ihm immer eine Seite findet, die man noch nicht gelesen hat?«
»Richtig. Deshalb lebe ich auch so und nicht anders, umgeben und behütet von Giganten! Und deshalb gibt es hier auch keine ... Neuerscheinungen.«
Nach kurzem Zögern war ihr das Wort ›Neuerscheinungen‹ so widerwillig über die gespitzten Lippen gekommen, als handele es sich um etwas Vulgäres, wenn nicht Obszönes. Während ich ihr zuhörte, wurde mir bewusst, dass es tatsächlich ein Terminus aus der Geschäftswelt war, geeignet für einen Modeartikel, nicht aber für ein literarisches Werk; und ich begriff, dass ich in ihren Augen lediglich ein Autor von ›Neuerscheinungen‹ war, ein Lieferant gewissermaßen.
»Waren die Romane von Daudet und Maupassant, als sie herauskamen, nicht auch ›Neuerscheinungen‹?«, fragte ich.
»Die Zeit hat ihnen ihren Platz zugewiesen«, entgegnete sie, als hätte ich mir soeben eine Frechheit erlaubt.
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass jetzt sie die Naive sei, da ich mich aber nicht befugt fühlte, meiner Gastgeberin zu widersprechen, beschränkte ich mich darauf, den Grund für mein Unbehagen festzustellen: Diese Bibliothek atmete nicht, sie war seit vierzig oder fünfzig Jahren zu einem Museum erstarrt und würde sich nicht weiterentwickeln, solange ihre Eigentümerin sich weigerte, ihr auch nur einen Tropfen frischen Blutes zu injizieren.
»Verzeihen Sie meine Indiskretion, Monsieur: Sind Sie alleinstehend?«
»Ich bin hierhergekommen, um mich von einer Trennung zu erholen.«
»Oh, das tut mir leid ... aufrichtig leid ... ich tue Ihnen weh, indem ich Sie wieder daran erinnere ... bitte verzeihen Sie.«
Ihre Wärme, ihr Erschrecken, ihre plötzliche Nervosität bezeugten ihre Aufrichtigkeit, sie machte sich tatsächlich Vorwürfe, dass sie meinen Kopf in einen Eimer voll unangenehmer Erinnerungen getaucht hatte. Sie stammelte verwirrt:
»Ostende ist perfekt bei Liebeskummer ...«
»Nicht wahr? Glauben Sie, dass ich mich hier davon erhole?«
Sie sah mich mit gerunzelten Brauen an.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Trägt der kleine Marktflecken den Namen eines Heiligen, siedelt ihn meine Phantasie um eine Kirche herum an, erinnert sein Name an einen Wald - wie Boisfort - oder an Felder - wie Champigny -, überzieht Grün die Gassen; verweist er auf ein Material - wie Pierrefonds -, kratze ich im Geist am Putz, um die Steine hervorzuheben; gemahnt er an ein Wunder - wie Dieulefit -, stelle ich mir einen Ort auf einem steilen, die Landschaft überragenden Fels vor. Nähere ich mich einer Stadt, habe ich zunächst ein Rendezvous mit einem Namen.
Ich hatte schon immer von Ostende geträumt.
Und das Träumen hätte mir vollauf genügt, wenn nicht das jähe Ende einer Beziehung mich hätte das Weite suchen lassen. Nichts wie weg! Fort aus diesem Paris voller Erinnerungen an eine verlorene Liebe. Rasch, ein Tapetenwechsel, andere Luft ...
Der Norden schien mir geeignet, dort waren wir nie zusammen gewesen. Und kaum entfaltete ich die Landkarte, zogen mich über dem Blau der Nordsee auch schon sieben Buchstaben unwiderstehlich an: Ostende. Nicht nur der Klang faszinierte mich, ich erinnerte mich zudem, dass eine Freundin eine gute Unterkunft vor Ort kannte. Ein paar Anrufe, und die Sache war geregelt, ein Ostende
Quartier reserviert, das Gepäck im Wagen verstaut, und ich machte mich auf den Weg nach Ostende, als erwartete mich dort mein Schicksal.
Da der Name mit einem O des Erstaunens begann, besänftigt durch das folgende S, assoziierte ich sogleich begeistert einen glatten, endlosen Sandstrand ... Und da die Etymologie des Namens eine »nach Westen hin ausgerichtete« Stadt nahelegte, schloss ich, dass ihre dem Meer zugewandten Häuser allabendlich von der untergehenden Sonne in rotes Licht getaucht wurden.
Als ich eintraf, war es bereits dunkel, und ich wusste nicht recht, was ich von der Sache halten sollte. Zwar stimmte die Wirklichkeit Ostendes in einigen Punkten mit meinem Traum von Ostende überein, widersprach ihr aber zugleich aufs heftigste: Obwohl sich dieser Ort am Ende der Welt, nämlich in Flandern, befand, zwischen einem Wellen- und einem Feldermeer, obwohl er einen weiten Strand zu bieten hatte und einen nostalgisch anmutenden Deich, machte er doch deutlich, wie stark die Belgier ihre Küste, unter dem Vorwand, sie der Allgemeinheit zugänglich machen zu wollen, verschandelt hatten. Gebäudekomplexe höher als Ozeandampfer, geschmacklose, nach Gesichtspunkten der Rentabilität konzipierte nullachtfünfzehn Unterkünfte, kurz, ein urbanes Chaos, das jene unternehmerische Gier verriet, die darauf abzielte, der Mittelklasse während der Urlaubszeit das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Glücklicherweise stammte das Haus, in dem ich eine Etage gemietet hatte, noch aus dem 19. Jahrhundert, es war eine Villa aus der Zeit Leopolds II., des »Baukönigs «. Damals nichts Besonderes, war sie heute etwas Außergewöhnliches. Inmitten neu hochgezogener Bauten, beredten Beispielen geometrischer Einfallslosigkeit - simple, in gleichförmige Würfel unterteilte Stockwerke, die wiederum in Appartements unterteilt waren, Appartements, versehen mit scheußlichen Rauchglasfenstern, allesamt symmetrisch und von einer Nüchternheit, dass einem schlecht werden konnte -, wirkte dieses Haus wie ein Solitär und zeugte von architektonischem Gestaltungswillen; es hatte sich mit Bedacht herausgeputzt, Größe und Form seiner Öffnungen variiert, wagte sich hier in einem Balkon vor, da in einer Terrasse, dort in einem Wintergarten, spielte mit hohen, mittelhohen und niedrigen Fenstern und machte sich, wie eine Frau, die sich ein Schönheitspflästerchen auf die Stirn klebt, einen Spaß daraus, sich unter seinem Schieferdach mit einem Ochsenauge zu schmücken.
Eine Rothaarige um die fünfzig mit einem breiten, blaurot geäderten Gesicht verstellte die geöffnete Tür.
»Was willst du?«
»Wohnt hier Madame Emma van A.?«
»Geeenau«, brummte sie mit einem kräftigen flämischen Akzent, der ihre Vierschrötigkeit noch unterstrich.
»Ich habe bei Ihnen den ersten Stock für vierzehn Tage gemietet. Meine Freundin aus Brüssel müsste Sie benachrichtigt haben.«
»Aber ja, natürlich! Du wirst schon erwartet! Ich sag meiner Tante gleich Bescheid. Aber kommen Sie doch bitte rein, na komm schon.«
Mit ihren rauen Händen entriss sie mir die Koffer, knallte sie in der Eingangshalle auf den Boden und schob mich mit barscher Liebenswürdigkeit Richtung Salon.
Vor dem Fenster zeichnete sich die Silhouette einer zierlichen Frau in einem Rollstuhl ab, dem Meer zugewandt, dessen dunkle Tinte der Himmel trank.
»Tante Emma, dein Mieter.«
Emma van A. wandte sich um und sah mich an.
Andere hätten ihre Gäste mit einem einnehmenden Lächeln willkommen geheißen, sie aber musterte mich nur streng. Emma van A. war von durchscheinender Blässe, ihre Haut eher gealtert als faltig, ihr schwarzweißmeliertes Haar wirkte weniger grau als vielmehr stark gesträhnt, ihr Gesicht war lang und schmal, ihr Hals zart. War es das Alter? War es eine Angewohnheit? Sie hielt ihren Kopf so zur Seite geneigt, dass er mit einem Ohr fast die linke Schulter berührte und ihr Kinn stark nach rechts oben zeigte. Schief und aufmerksam, wie sie dasaß, schien sie gleichermaßen zu lauschen wie zu beobachten.
Ich musste das Schweigen irgendwie brechen.
»Guten Tag, Madame, ich freue mich sehr, dass ich bei Ihnen unterkommen kann.«
»Sie sind Schriftsteller?«
Jetzt verstand ich, warum sie mich so prüfend angesehen hatte: Sie fragte sich, ob ich aussah wie einer, der Romane schrieb.
»Ja.«
Sie seufzte wie erleichtert. Offensichtlich hatte die Tatsache, dass ich Autor bin, sie dazu veranlasst, mir ihr Haus zu öffnen.
Ihre Nichte, die hinter mir stand, begriff, dass der Eindringling seine Aufnahmeprüfung bestanden hatte, und posaunte lautstark:
»Na, dann werd ich mal gehen und die Zimmer weiter herrichten, in fünf Minuten bin ich so weit.«
Während sie sich entfernte, sah ihr Emma van A. wie einem treuen, aber dummen Hund hinterher.«
»Bitte verzeihen Sie, Monsieur, meine Nichte weiß nicht, wie man sich siezt. Im Niederländischen gebraucht man nur das Du.«
»Schade, dass man sich um das Vergnügen bringt, vom Du zum Sie übergehen zu können.«
»Am schönsten wäre es doch, eine Sprache zu sprechen, die nur das Sie kennt, oder?«
Warum hatte sie das gesagt? Befürchtete sie etwa, ich könnte allzu vertraulich werden? Ich blieb etwas verlegen stehen. Sie bat mich, Platz zu nehmen.
»Seltsam. Ich verbringe mein Leben inmitten von Büchern, bin aber nie einem Schriftsteller begegnet.«
Ich sah mich kurz um und fand ihre Worte bestätigt: Tausende Bücher füllten die Regale des Salons, ja, reichten selbst bis ins Speisezimmer hinein. Damit ich mir ein besseres Bild davon machen konnte, glitt sie leise wie ein Schatten mit ihrem Rollstuhl zwischen den Möbeln hindurch und knipste matt leuchtende Lampen an.
Obgleich ich nichts mehr genieße als die Gegenwart bedruckten Papiers, überkam mich in dieser Bibliothek, ohne dass ich recht wusste weshalb, eine gewisse Befangenheit. Die Bände sahen vornehm aus, waren sorgsam in Leder oder Leinen gebunden, Verfasser und Titel in goldenen Lettern eingeprägt; unterschiedlich groß standen sie dicht beieinander, weder wahllos noch übertrieben symmetrisch angeordnet, einem Gleichmaß folgend, das von einem ausgewogenen Geschmack zeugte, und dennoch ... Sind wir so sehr an kartonierte Ausgaben gewöhnt, dass in Leder gebundene Bücher uns verunsichern? Machte es mir etwas aus, dass ich darunter keinen meiner bevorzugten Einbände sah? Es fiel mir schwer, meine Irritation in Worte zu fassen.
»Sie müssen verzeihen, aber ich habe keinen Ihrer Romane gelesen«, sagte sie, meine Befangenheit falsch deutend.
»Ich bitte Sie. Wer kennt schon alles? Zudem erwarte ich das gar nicht von den Leuten, mit denen ich verkehre. «
Beruhigt hörte sie auf, an dem Korallenarmband zu drehen, das ihr schmales Handgelenk umschloss, und lächelte die Wände an.
»Dabei verbringe ich meine gesamte Zeit mit Lesen. Ja, lese oft sogar ein und dasselbe Buch mehrmals. Große Werke erschließen sich einem ja eigentlich erst richtig beim dritten oder vierten Mal, nicht wahr?«
»Wodurch zeichnet sich für Sie ein großes Werk aus?«
»Ich überspringe jedes Mal eine andere Passage.«
Sie griff nach einem in granatrotes Leder gebundenen Band, den sie, sichtlich bewegt, einen Spaltbreit öffnete.
»Die Odyssee zum Beispiel. Welche Seite ich auch immer aufschlage, es ist ein Hochgenuss. Mögen Sie Homer, Monsieur?«
»Aber ... ja.«
Ihre Pupillen weiteten sich, und ich begriff, dass sie meine Antwort als leicht dahingesagt, wenn nicht als flapsig empfand. Und so bemühte ich mich, etwas genauer zu werden.
»Ich habe mich oft mit Odysseus identifiziert, er erweist sich eher als listenreich denn als intelligent, er kehrt ohne Eile nach Hause zurück und verehrt Penelope, ohne auch nur eine der hübschen Frauen zu verschmähen, die ihm während seiner Reise begegnen. Er ist eigentlich so wenig tugendhaft, dieser Odysseus, dass ich mich ihm nahe fühle. Für mich ist er modern.«
»Wie kann man nur glauben, Amoralität sei zeitgebunden, das ist geradezu naiv ... In jeder Generation bilden sich die jungen Leute ein, sie seien es, die das Laster erfunden hätten. Wie vermessen! Was für eine Art Literatur schreiben Sie eigentlich?«
»Meine. Sie lässt sich nicht einordnen.«
»Ausgezeichnet.« Ihrem schulmeisterlichen Ton entnahm ich, dass sie mich erneut einer Prüfung unterzog.
»Darf ich Ihnen eines meiner Bücher schenken?«
»Ah, Sie haben Ihre Bücher dabei?«
»Nein. Aber ich bin sicher, dass in den Buchhandlungen von Ostende ...«
»Ach ja, die Buchhandlungen ...«
Sie sprach dieses Wort aus, als hätte man sie soeben an etwas weit Zurückliegendes, bereits Vergessenes erinnert.
»Sie müssen wissen, Monsieur, diese Bibliothek, sie gehörte meinem Vater. Er hat Literatur unterrichtet. Seit meiner Kindheit lebe ich umgeben von diesen Publikationen ohne das Verlangen, seine Sammlung zu erweitern. Sie beinhaltet so viele kleine Schätze, die ich noch nicht gehoben habe. Sehen Sie nur, gleich hinter Ihnen, George Sand, Dickens ... einige Bände habe ich noch immer nicht gelesen. Desgleichen Victor Hugo.«
»Ist es nicht bezeichnend für das Genie Victor Hugos, dass sich bei ihm immer eine Seite findet, die man noch nicht gelesen hat?«
»Richtig. Deshalb lebe ich auch so und nicht anders, umgeben und behütet von Giganten! Und deshalb gibt es hier auch keine ... Neuerscheinungen.«
Nach kurzem Zögern war ihr das Wort ›Neuerscheinungen‹ so widerwillig über die gespitzten Lippen gekommen, als handele es sich um etwas Vulgäres, wenn nicht Obszönes. Während ich ihr zuhörte, wurde mir bewusst, dass es tatsächlich ein Terminus aus der Geschäftswelt war, geeignet für einen Modeartikel, nicht aber für ein literarisches Werk; und ich begriff, dass ich in ihren Augen lediglich ein Autor von ›Neuerscheinungen‹ war, ein Lieferant gewissermaßen.
»Waren die Romane von Daudet und Maupassant, als sie herauskamen, nicht auch ›Neuerscheinungen‹?«, fragte ich.
»Die Zeit hat ihnen ihren Platz zugewiesen«, entgegnete sie, als hätte ich mir soeben eine Frechheit erlaubt.
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass jetzt sie die Naive sei, da ich mich aber nicht befugt fühlte, meiner Gastgeberin zu widersprechen, beschränkte ich mich darauf, den Grund für mein Unbehagen festzustellen: Diese Bibliothek atmete nicht, sie war seit vierzig oder fünfzig Jahren zu einem Museum erstarrt und würde sich nicht weiterentwickeln, solange ihre Eigentümerin sich weigerte, ihr auch nur einen Tropfen frischen Blutes zu injizieren.
»Verzeihen Sie meine Indiskretion, Monsieur: Sind Sie alleinstehend?«
»Ich bin hierhergekommen, um mich von einer Trennung zu erholen.«
»Oh, das tut mir leid ... aufrichtig leid ... ich tue Ihnen weh, indem ich Sie wieder daran erinnere ... bitte verzeihen Sie.«
Ihre Wärme, ihr Erschrecken, ihre plötzliche Nervosität bezeugten ihre Aufrichtigkeit, sie machte sich tatsächlich Vorwürfe, dass sie meinen Kopf in einen Eimer voll unangenehmer Erinnerungen getaucht hatte. Sie stammelte verwirrt:
»Ostende ist perfekt bei Liebeskummer ...«
»Nicht wahr? Glauben Sie, dass ich mich hier davon erhole?«
Sie sah mich mit gerunzelten Brauen an.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Eric-Emmanuel Schmitt
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyon, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Mit seinen Erzählungen wie »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« wurde er international berühmt und gehört heute zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Schmitt lebt in Brüssel. Koebel, InésInés Koebel, geboren in Bamberg, arbeitete als Buchhändlerin und freie Feature Autorin. Sie übersetzt aus dem Französischen und Portugiesischen, hat den Band 'Brasilien erzählt' (S.Fischer 1994) ediert und ist Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, zuletzt erschien von ihr der Band 'Er selbst' . Neben dem 'Buch der Unruhe' hat sie die Gedichte von Álvaro de Campos, Alberto Caeiro und Ricardo Reis übertragen sowie Baron von Teive und Pessoas statisches Drama 'Der Seemann'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eric-Emmanuel Schmitt
- 2014, 1. Auflage, 288 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Inés Koebel
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191181
- ISBN-13: 9783596191185
- Erscheinungsdatum: 16.04.2014
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