Die unendliche Bibliothek
Erzählungen, Essays, Gedichte
Bei Jorge Luis Borges sind die Bücher die eigentlichen Helden der Literatur. Alberto Manguel, der diesen Sammelband zusammengestellt hat, führt uns durch Borges' fantastische Bibliothek. Manguel war einst Vorleser des erblindenden Autors und ergänzt den Band mit einem persönlichen Porträt.
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Produktinformationen zu „Die unendliche Bibliothek “
Bei Jorge Luis Borges sind die Bücher die eigentlichen Helden der Literatur. Alberto Manguel, der diesen Sammelband zusammengestellt hat, führt uns durch Borges' fantastische Bibliothek. Manguel war einst Vorleser des erblindenden Autors und ergänzt den Band mit einem persönlichen Porträt.
Klappentext zu „Die unendliche Bibliothek “
Jorge Luis Borges macht die Bücher zum eigentlichen Helden der Literatur und den Leser zu seinem Komplizen. Der Herausgeber Alberto Manguel, Autor der »Geschichte des Lesens«, ist wie kein zweiter geeignet, uns in Borges' Spiegelreiche und fantastische Bibliothek einzuführen: In seiner Jugend war Manguel Vorleser des erblindenden Autors. Seine umfassende Auswahl der wichtigsten Erzählungen, Essays und Gedichte von Borges ergänzt Manguel mit einem persönlichen Porträt des großen Argentiniers.Mit Daten zu Leben und Werk.
Lese-Probe zu „Die unendliche Bibliothek “
Die unendliche Bibliothek von Jorge Luis BorgesDie Straßen
Die Straßen von Buenos Aires
sind mir längst Fleisch und Blut.
Nicht die gierigen Straßen,
lästig durch Mengen und Mühsal,
sondern die müden Straßen des Viertels,
fast unsichtbar durch Gewohnheit,
weich durch Zwielicht und Sonnenuntergang,
und die weiter draußen,
fremd durch milde Bäume,
wo karge Hütten,
bedrängt von unsterblichen Fernen,
sich kaum zu verlieren wagen in der tiefen Schau
von Himmel und Ebene.
Dem Einsamen sind sie eine Verheißung,
denn Tausende einzigartiger Seelen bevölkern sie,
einzig vor Gott und in der Zeit
und zweifellos kostbar.
Nach Westen, Norden und Süden
haben sich - und auch sie sind die Heimat - die Straßen entfaltet;
mögen sie in den Versen, die ich skizziere,
Banner sein.
Südstadt
Aus einem deiner Patios betrachtet zu haben
die uralten Sterne,
von der Bank des
Schattens betrachtet zu haben
diese verstreuten Lichter,
die meine Unkenntnis nicht zu benennen gelernt hat,
noch, sie in Konstellationen zu ordnen,
empfunden zu haben den Wasserkreis
in der geheimen Zisterne,
den Duft von Jasmin und von Geißblatt,
die Stille des schlummernden Vogels,
den Bogen des Eingangs, die Feuchtigkeit
- diese Dinge sind, vielleicht, das Gedicht.
General Quiroga fährt im Wagen zum Sterben,
blank das Geröllbett, nicht genug Wasser für Durst,
und ein Mond, in der Kälte des Morgens verloren,
arm wie die Kirchenmaus die verhungerte Landschaft.
Ächzend und knurrend schwankte der Wagen die Steigung
hinauf;
ein gewaltiger Kasten, maßlos, bestattlich,
vier düstre Pferde mit einem Tupfer Tod in der Schwärze
zogen sechs Ängste und einen wachsamen Mut.
... mehr
Neben den Postillionen ritt ein Schwarzer. Im Wagen
sterben fahren - welch eine prachtvolle Sache!
General Quiroga wollte nur ins Schattenreich treten
eskortiert von sechs oder sieben Geköpften.
Diese Bande aus Córdoba, nur windige Prahler
(dachte Quiroga), die wollen mich überwinden?
Hier bin ich, gesichert und unverrückbar im Leben,
wie ein unverrückbarer Pflock in der Pampa.
Ich, der ich viele tausend Abende schon überlebte,
und vor dessen Name die Lanzen zittern,
sollte mein Leben auf diesen öden Geröllfeldern lassen?
Stirbt vielleicht der Pampawind, sterben Degen?
Doch als der Tag dann über Barranca Yaco erstrahlte,
stürzten sich gnadenlos die Eisen auf ihn;
und der Tod holte, wie alle, den Mann aus La Rioja;
einer der Dolchstöße grüßte ihn noch von Rosas.
Längst tot, längst zu Fuß, längst unsterblich, längst ein Gespenst
trat er in die ihm von Gott bezeichnete Hölle,
und dort gehorchten, gebrochen, verblutet, seinen Befehlen
die verdammten Seelen von Männern und Pferden.
Totenwache in der Südstadt
Für Letizia Álvarez de Toledo
Wegen jemandes Hinscheiden
- Rätsel, dessen leeren Namen ich kenne, dessen Wirklichkeit wir nicht fassen -
ist bis zum Morgengrauen ein Haus in der Südstadt offen,
ein unbekanntes Haus, das wiederzusehen mir nicht bestimmt ist,
das mich jedoch in dieser Nacht erwartet
mit wachem Licht in den hohen Stunden des Schlafs,
ausgezehrt von üblen Nächten, anders,
überscharf in seiner Wirklichkeit.
In seine todgerichtete Wache wandere ich
durch die Straßen, die elementar sind wie das Gedächtnis,
durch die überfließende Zeit der Nacht,
ohne hörbareres Leben
als die vagen Männer des Viertels bei der erloschenen Ladenschänke
und einen Pfiff, einsam inmitten der Welt.
Langsamen Gangs, besessen von Erwartung,
erreiche ich den Block, das Haus, die einfache Tür, die ich suche,
und mich empfangen Männer, verpflichtet zu tiefem Ernst,
die an den Jahren meiner Ahnen teilnahmen,
und wir wägen Schicksale in einem geziemenden Raum, der zum Patio blickt
- Patio, der der Macht und der Gänze der Nacht unterliegt -,
und wir sagen, da die Wirklichkeit größer ist, gleichgültige Dinge,
und wir sind verbraucht und argentinisch im Spiegel,
und der miteinander geteilte Mate mißt sinnlose Stunden.
Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell
Die entlegene Ursache
Im Jahre 1517 bewies der Padre Bartolomé de las Casas großes Erbarmen mit den Indios, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälten; er schlug dem Kaiser Karl V. vor, Neger einzuführen, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälen sollten.
Dieser wunderlichen Nuance eines Menschenfreundes verdanken wir eine Unmenge von Tatsachen: die Blues von Handy, den Erfolg, den in Paris der uruguayische Maler und Doktor Don Pedro Figari errang, die schöne wildwüchsige Prosa des gleichfalls uruguayischen Don Vicente Rossi, die mythologische Größe Abraham Lincolns, die fünfhunderttausend Toten im Sezessionskrieg, die dreitausenddreihundert Millionen, die an Militärpensionen ausgezahlt wurden, das Denkmal des Phantasiehelden Falucho, die Aufnahme des Verbs »lynchen« in die dreizehnte Ausgabe des Wörterbuches der Akademie, den stürmischen Film Halleluja, den von Soller vorgetragenen Bajonett- angriff an der Spitze seiner Pardos y Morenos im Cerrito, die Anmut eines gewissen Fräulein Soundso, den Neger, den Martin Fierro ermordete, die klägliche Rumba El Manisero, den verhafteten und eingelochten Napoleonismus des Toussaint Louverture, Kreuz und Schlange auf Haiti, das Blut der von der Machete des papaloi geschlachteten Ziegen, die Habanera, Mutter des Tango, den Candombe.
Außerdem: die schuldhafte und großartige Existenz des gräßlichen Erlösers Lazarus Morell.
Der Ort
Der Vater der Wasser, der Mississippi, der längste Fluß der Welt, war die würdige Bühne für diesen unvergleichlichen Schurken. (Álvarez de Pineda entdeckte ihn; sein erster Erforscher war der Capitán Hernando de Soto, ehemals Conquistador von Peru, der in die monatelange Haft des Inka Atahualpa Abwechslung brachte, indem er ihn das Schachspiel lehrte. Er starb, und sie gaben ihm als Grab seine Fluten.)
Der Mississippi ist ein breitbrüstiger Fluß; er ist ein grenzenloser und dunkler Bruder des Paraná, des Uruguay, des Amazonas und des Orinoko. Er ist ein Fluß mit mulattenfarbenen Wassern; mehr als vierhundert Millionen Tonnen Schlamm, die von ihm abgeladen werden, beleidigen jährlich den Golf von Mexiko. So viel ehrwürdiger und uralter Unrat hat mit der Zeit ein Delta geschaffen, wo auf den Schwemmresten eines ständig in Auflösung begriffenen Kontinents die gigantischen Sumpfzypressen wachsen und wo Labyrinthe von Lehm, toten Fischen und Schilfdickichten die Grenzen und den Frieden seines stinkenden Reichs immer weiter ausdehnen. An seinem Oberlauf, in der Höhe von Arkansas und Ohio, breiten sich ebenfalls flache Ländereien aus. Sie sind von einem gelbfarbenen Stamm schmächtiger Menschen bewohnt, die zum Fieber neigen und ihre gierigen Blicke auf Steine und Eisen heften, weil es bei ihnen nichts anderes gibt als Sand, Holz und trübes Wasser.
Die Menschen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (die Zeit, die uns interessiert) wurden die ausgedehnten Baumwollpflanzungen an seinen Ufern von Negern bebaut, die von Sonnenaufgang bis -untergang schufteten. Sie schliefen in Holzhütten auf der nackten Erde. Mit Ausnahme des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind waren die verwandtschaftlichen Beziehungen konventionell und wirr. Namen hatten sie zwar, aber auf Zunamen konnten sie verzichten. Sie konnten nicht lesen. Ihre weiche Falsettstimme sang ein Englisch mit schleppenden Vokalen. Sie arbeiteten in Reihen, gebückt unter der Peitsche des Aufsehers. Sie flüchteten, und vollbärtige Männer sprangen auf schöne Pferde und hetzten sie mit starken Bluthunden.
Einem Bodensatz animalischer Hoffnungen und afrikanischer Ängste hatten sie die Worte der Schrift hinzugefügt: Folglich war ihr Glaube der an Christus. Sie sangen tief aus der Kehle und zu Haufen geschart Go down, Moses. Der Mississippi wurde ihnen zum großartigen Abbild des schäbigen Jordan.
Die Eigentümer dieser werktätigen Erde und dieser Negerhaufen waren müßige und gierige Herren mit Mähne; sie wohnten in geräumigen Häusern, die auf den Fluß hinaussahen, immer mit einem pseudogriechischen Portikus aus hellem Fichtenholz. Ein guter Sklave kostete sie an die tausend Dollar und hielt nicht lange. Einige begingen die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben. Aus diesen unsicheren Kantonisten galt es, maximalen Profit herauszuholen. Deshalb hielt man sie auf den Feldern vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl; deshalb zog man aus den Gütern eine jährliche Ernte von Baumwolle oder Tabak oder Zuckerrohr. Die Erde, müde und mürbe von dieser ungeduldigen Bestellung, war nach wenigen Jahren erschöpft: Die verwilderte und verschlammte Wüste drang in die Pflanzungen ein. In den verlassenen Hütten, in den Vorstädten, im dichten Röhricht und in den elenden Schlammlöchern hausten die poor whites, das weiße Pack. Sie waren Fischer, umherziehende Jäger oder Viehdiebe. Von den Negern pflegten sie Brocken gestohlener Nahrung zu erbetteln und bewahrten in ihrer Erniedrigung einen letzten Stolz: den auf ihr Blut ohne Makel, ohne Beimischung. Lazarus Morell war einer von ihnen.
Der Mann
Die Daguerreotypien von Morell, wie sie die amerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen pflegen, sind nicht authentisch. Daß es von einem so denkwürdigen und berüchtigten Mann keine echten Abbilder gibt, kann kein Zufall sein. Die Annahme ist wahrscheinlich, daß sich Morell der geschwärzten Platte verweigerte; hauptsächlich, um keine überflüssigen Spuren zu hinterlassen, nebenbei, um sein Geheimnis zu nähren ... Dennoch wissen wir, daß er als junger Mann nicht gerade anmutig war und daß seine allzu eng zusammenstehenden Augen und die strichschmalen Lippen nicht für ihn einnahmen. Die Jahre verliehen ihm dann jene eigene Herrscherwürde, wie sie die ergrauten Halunken und die vom Glück begünstigten und straffreien Verbrecher an sich haben. Er war ein alteingesessener Kavalier aus dem Süden, trotz seiner elenden Kindheit und seines schändlichen Lebens. Er war nicht unbewandert in der Heiligen Schrift und predigte mit seltener Überzeugungskraft. »Ich habe Lazarus Morell auf der Kanzel erlebt«, vermerkt der Eigentümer eines Spielsalons in Baton Rouge, Louisiana, »ich habe seine erbaulichen Worte gehört, und ich habe Tränen in seine Augen treten sehen. Ich wußte, daß er vor Gott ein Ehebrecher, ein Negerdieb und ein Mörder war, und dennoch haben meine Augen geweint.«
Ein weiteres treffendes Zeugnis für diese heiligen Ergießungen liefert uns Morell selber: »Ich schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, stieß beim Apostel Paulus auf eine passende Stelle und predigte darüber eine Stunde und zwanzig Minuten. Crenshaw und die Kameraden ließen die Zeit auch nicht ungenutzt, denn sie stahlen sämtliche Pferde der Zuhörerschaft. Wir verkauften sie im Staat Arkansas, außer einem sehr feurigen Rotschimmel, den ich mir für meinen persönlichen Gebrauch vorbehielt. Crenshaw gefiel er auch, aber ich brachte ihn zu der Einsicht, daß er für ihn nicht tauge.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Neben den Postillionen ritt ein Schwarzer. Im Wagen
sterben fahren - welch eine prachtvolle Sache!
General Quiroga wollte nur ins Schattenreich treten
eskortiert von sechs oder sieben Geköpften.
Diese Bande aus Córdoba, nur windige Prahler
(dachte Quiroga), die wollen mich überwinden?
Hier bin ich, gesichert und unverrückbar im Leben,
wie ein unverrückbarer Pflock in der Pampa.
Ich, der ich viele tausend Abende schon überlebte,
und vor dessen Name die Lanzen zittern,
sollte mein Leben auf diesen öden Geröllfeldern lassen?
Stirbt vielleicht der Pampawind, sterben Degen?
Doch als der Tag dann über Barranca Yaco erstrahlte,
stürzten sich gnadenlos die Eisen auf ihn;
und der Tod holte, wie alle, den Mann aus La Rioja;
einer der Dolchstöße grüßte ihn noch von Rosas.
Längst tot, längst zu Fuß, längst unsterblich, längst ein Gespenst
trat er in die ihm von Gott bezeichnete Hölle,
und dort gehorchten, gebrochen, verblutet, seinen Befehlen
die verdammten Seelen von Männern und Pferden.
Totenwache in der Südstadt
Für Letizia Álvarez de Toledo
Wegen jemandes Hinscheiden
- Rätsel, dessen leeren Namen ich kenne, dessen Wirklichkeit wir nicht fassen -
ist bis zum Morgengrauen ein Haus in der Südstadt offen,
ein unbekanntes Haus, das wiederzusehen mir nicht bestimmt ist,
das mich jedoch in dieser Nacht erwartet
mit wachem Licht in den hohen Stunden des Schlafs,
ausgezehrt von üblen Nächten, anders,
überscharf in seiner Wirklichkeit.
In seine todgerichtete Wache wandere ich
durch die Straßen, die elementar sind wie das Gedächtnis,
durch die überfließende Zeit der Nacht,
ohne hörbareres Leben
als die vagen Männer des Viertels bei der erloschenen Ladenschänke
und einen Pfiff, einsam inmitten der Welt.
Langsamen Gangs, besessen von Erwartung,
erreiche ich den Block, das Haus, die einfache Tür, die ich suche,
und mich empfangen Männer, verpflichtet zu tiefem Ernst,
die an den Jahren meiner Ahnen teilnahmen,
und wir wägen Schicksale in einem geziemenden Raum, der zum Patio blickt
- Patio, der der Macht und der Gänze der Nacht unterliegt -,
und wir sagen, da die Wirklichkeit größer ist, gleichgültige Dinge,
und wir sind verbraucht und argentinisch im Spiegel,
und der miteinander geteilte Mate mißt sinnlose Stunden.
Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell
Die entlegene Ursache
Im Jahre 1517 bewies der Padre Bartolomé de las Casas großes Erbarmen mit den Indios, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälten; er schlug dem Kaiser Karl V. vor, Neger einzuführen, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälen sollten.
Dieser wunderlichen Nuance eines Menschenfreundes verdanken wir eine Unmenge von Tatsachen: die Blues von Handy, den Erfolg, den in Paris der uruguayische Maler und Doktor Don Pedro Figari errang, die schöne wildwüchsige Prosa des gleichfalls uruguayischen Don Vicente Rossi, die mythologische Größe Abraham Lincolns, die fünfhunderttausend Toten im Sezessionskrieg, die dreitausenddreihundert Millionen, die an Militärpensionen ausgezahlt wurden, das Denkmal des Phantasiehelden Falucho, die Aufnahme des Verbs »lynchen« in die dreizehnte Ausgabe des Wörterbuches der Akademie, den stürmischen Film Halleluja, den von Soller vorgetragenen Bajonett- angriff an der Spitze seiner Pardos y Morenos im Cerrito, die Anmut eines gewissen Fräulein Soundso, den Neger, den Martin Fierro ermordete, die klägliche Rumba El Manisero, den verhafteten und eingelochten Napoleonismus des Toussaint Louverture, Kreuz und Schlange auf Haiti, das Blut der von der Machete des papaloi geschlachteten Ziegen, die Habanera, Mutter des Tango, den Candombe.
Außerdem: die schuldhafte und großartige Existenz des gräßlichen Erlösers Lazarus Morell.
Der Ort
Der Vater der Wasser, der Mississippi, der längste Fluß der Welt, war die würdige Bühne für diesen unvergleichlichen Schurken. (Álvarez de Pineda entdeckte ihn; sein erster Erforscher war der Capitán Hernando de Soto, ehemals Conquistador von Peru, der in die monatelange Haft des Inka Atahualpa Abwechslung brachte, indem er ihn das Schachspiel lehrte. Er starb, und sie gaben ihm als Grab seine Fluten.)
Der Mississippi ist ein breitbrüstiger Fluß; er ist ein grenzenloser und dunkler Bruder des Paraná, des Uruguay, des Amazonas und des Orinoko. Er ist ein Fluß mit mulattenfarbenen Wassern; mehr als vierhundert Millionen Tonnen Schlamm, die von ihm abgeladen werden, beleidigen jährlich den Golf von Mexiko. So viel ehrwürdiger und uralter Unrat hat mit der Zeit ein Delta geschaffen, wo auf den Schwemmresten eines ständig in Auflösung begriffenen Kontinents die gigantischen Sumpfzypressen wachsen und wo Labyrinthe von Lehm, toten Fischen und Schilfdickichten die Grenzen und den Frieden seines stinkenden Reichs immer weiter ausdehnen. An seinem Oberlauf, in der Höhe von Arkansas und Ohio, breiten sich ebenfalls flache Ländereien aus. Sie sind von einem gelbfarbenen Stamm schmächtiger Menschen bewohnt, die zum Fieber neigen und ihre gierigen Blicke auf Steine und Eisen heften, weil es bei ihnen nichts anderes gibt als Sand, Holz und trübes Wasser.
Die Menschen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (die Zeit, die uns interessiert) wurden die ausgedehnten Baumwollpflanzungen an seinen Ufern von Negern bebaut, die von Sonnenaufgang bis -untergang schufteten. Sie schliefen in Holzhütten auf der nackten Erde. Mit Ausnahme des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind waren die verwandtschaftlichen Beziehungen konventionell und wirr. Namen hatten sie zwar, aber auf Zunamen konnten sie verzichten. Sie konnten nicht lesen. Ihre weiche Falsettstimme sang ein Englisch mit schleppenden Vokalen. Sie arbeiteten in Reihen, gebückt unter der Peitsche des Aufsehers. Sie flüchteten, und vollbärtige Männer sprangen auf schöne Pferde und hetzten sie mit starken Bluthunden.
Einem Bodensatz animalischer Hoffnungen und afrikanischer Ängste hatten sie die Worte der Schrift hinzugefügt: Folglich war ihr Glaube der an Christus. Sie sangen tief aus der Kehle und zu Haufen geschart Go down, Moses. Der Mississippi wurde ihnen zum großartigen Abbild des schäbigen Jordan.
Die Eigentümer dieser werktätigen Erde und dieser Negerhaufen waren müßige und gierige Herren mit Mähne; sie wohnten in geräumigen Häusern, die auf den Fluß hinaussahen, immer mit einem pseudogriechischen Portikus aus hellem Fichtenholz. Ein guter Sklave kostete sie an die tausend Dollar und hielt nicht lange. Einige begingen die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben. Aus diesen unsicheren Kantonisten galt es, maximalen Profit herauszuholen. Deshalb hielt man sie auf den Feldern vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl; deshalb zog man aus den Gütern eine jährliche Ernte von Baumwolle oder Tabak oder Zuckerrohr. Die Erde, müde und mürbe von dieser ungeduldigen Bestellung, war nach wenigen Jahren erschöpft: Die verwilderte und verschlammte Wüste drang in die Pflanzungen ein. In den verlassenen Hütten, in den Vorstädten, im dichten Röhricht und in den elenden Schlammlöchern hausten die poor whites, das weiße Pack. Sie waren Fischer, umherziehende Jäger oder Viehdiebe. Von den Negern pflegten sie Brocken gestohlener Nahrung zu erbetteln und bewahrten in ihrer Erniedrigung einen letzten Stolz: den auf ihr Blut ohne Makel, ohne Beimischung. Lazarus Morell war einer von ihnen.
Der Mann
Die Daguerreotypien von Morell, wie sie die amerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen pflegen, sind nicht authentisch. Daß es von einem so denkwürdigen und berüchtigten Mann keine echten Abbilder gibt, kann kein Zufall sein. Die Annahme ist wahrscheinlich, daß sich Morell der geschwärzten Platte verweigerte; hauptsächlich, um keine überflüssigen Spuren zu hinterlassen, nebenbei, um sein Geheimnis zu nähren ... Dennoch wissen wir, daß er als junger Mann nicht gerade anmutig war und daß seine allzu eng zusammenstehenden Augen und die strichschmalen Lippen nicht für ihn einnahmen. Die Jahre verliehen ihm dann jene eigene Herrscherwürde, wie sie die ergrauten Halunken und die vom Glück begünstigten und straffreien Verbrecher an sich haben. Er war ein alteingesessener Kavalier aus dem Süden, trotz seiner elenden Kindheit und seines schändlichen Lebens. Er war nicht unbewandert in der Heiligen Schrift und predigte mit seltener Überzeugungskraft. »Ich habe Lazarus Morell auf der Kanzel erlebt«, vermerkt der Eigentümer eines Spielsalons in Baton Rouge, Louisiana, »ich habe seine erbaulichen Worte gehört, und ich habe Tränen in seine Augen treten sehen. Ich wußte, daß er vor Gott ein Ehebrecher, ein Negerdieb und ein Mörder war, und dennoch haben meine Augen geweint.«
Ein weiteres treffendes Zeugnis für diese heiligen Ergießungen liefert uns Morell selber: »Ich schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, stieß beim Apostel Paulus auf eine passende Stelle und predigte darüber eine Stunde und zwanzig Minuten. Crenshaw und die Kameraden ließen die Zeit auch nicht ungenutzt, denn sie stahlen sämtliche Pferde der Zuhörerschaft. Wir verkauften sie im Staat Arkansas, außer einem sehr feurigen Rotschimmel, den ich mir für meinen persönlichen Gebrauch vorbehielt. Crenshaw gefiel er auch, aber ich brachte ihn zu der Einsicht, daß er für ihn nicht tauge.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Jorge Luis Borges
Jorge Luis Borges (* 1899 Buenos Aires, gestorben 1986 Genf) ist einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts; ohne sein wegweisendes und bahnbrechendes Werk wäre die moderne hispanische Literatur undenkbar. Die Vielfalt seiner Themen und die Perfektion seiner Formen in Erzählung, Essay und Lyrik machten ihn schon zu Lebzeiten zum Klassiker der Weltliteratur auch außerhalb der spanischsprachigen Welt. Mit Joyce und Proust teilt er die Auszeichnung, den Nobelpreis nicht bekommen zu haben. Manguel, AlbertoAlberto Manguel, 1948 in Buenos Aires geboren, wuchs in Israel und Argentinien auf und ist kanadischer Staatsbürger. In mehreren Sprachen zu Hause, wirkte er u. a. in Buenos Aires, Paris, Mailand, London und Toronto als Verlagslektor, Literaturdozent und Übersetzer. Sein in alle Weltsprachen übersetztes Buch 'Eine Geschichte des Lesens' wurde 1998 mit dem Prix Medicis ausgezeichnet. 2018 wurde Alberto Manguel der Gutenberg-Preis der Stadt Mainz verliehen. Zuletzt erschienen bei S. FISCHER die Titel 'Zwei Liebhaber des Schattens' (2013); 'eine Geschichte der Neugierde' (2016) und 'Die verborgene Bibliothek' (2018). Im Fischer Taschenbuch ebenfalls lieferbar: 'Tagebuch eines Lesers', 'Die Bibliothek bei Nacht', 'Im Siebten Kreis', 'Eine Geschichte des Lesens', 'Eine Stadt aus Worten'. Haefs, GisbertGisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u. a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane ('Hannibal', 'Alexander', 'Troja', 'Radscha', 'Die Rache des Kaisers', 'Das Labyrinth von Ragusa' u. a.) und Krimis ('Matzbach').
Bibliographische Angaben
- Autor: Jorge Luis Borges
- 2013, 3. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Alberto Manguel
- Übersetzer: Gisbert Haefs, Chris Hirte, Karl August Horst
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359690532X
- ISBN-13: 9783596905324
- Erscheinungsdatum: 13.05.2013
Rezension zu „Die unendliche Bibliothek “
Wer also einen repräsentativen Querschnitt des Schaffens dieses Autors haben möchte, der greife zu diesem Band, der alles enthält, was Borges ausmacht. Markus Kóth Stadt Wien Büchereien, Winter 2013/2014
Pressezitat
Wer also einen repräsentativen Querschnitt des Schaffens dieses Autors haben möchte, der greife zu diesem Band, der alles enthält, was Borges ausmacht. Markus Kóth Stadt Wien Büchereien, Winter 2013/2014
Kommentar zu "Die unendliche Bibliothek"
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