Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Roman
'Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins' verschaffte Milan Kundera den internationalen Durchbruch. Der Prager Chirurg Tomas, der die Frauen begehrt und zugleich fürchtet und seine Scheidung wie eine Hochzeit feierte, will fortan der Liebe aus dem Weg...
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Produktinformationen zu „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins “
Klappentext zu „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins “
'Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins' verschaffte Milan Kundera den internationalen Durchbruch. Der Prager Chirurg Tomas, der die Frauen begehrt und zugleich fürchtet und seine Scheidung wie eine Hochzeit feierte, will fortan der Liebe aus dem Weg gehen. Erst für die Kellnerin Teresa bricht er mit seinen Grundsätzen. Aber Teresa verlässt ihn in Zürich, wo die beiden sich nach dem russischen Einmarsch in Prag niedergelassen haben und kehrt in ihr Heimatland zurück. Er folgt ihr, verliert seine Stellung, arbeitet als Fensterputzer und später als Lastwagenfahrer in einem Dorf fern von Prag. Das Glück endet in der Katastrophe.
Lese-Probe zu „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins “
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan KunderaErster Teil
Das Leichte und das Schwere
1.
Die Ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht: alles wird sich irgendwann so wiederholen, wie man es schon einmal erlebt hat, und auch diese Wiederholung wird sich unendlich wiederholen! Was besagt dieser widersinnige Mythos?
Der Mythos von der Ewigen Wiederkehr sagt uns in der Negation, dass das ein für allemal entschwindende und niemals wiederkehrende Leben einem Schatten gleicht, dass es ohne Gewicht ist und tot von vornherein; wie grauenvoll, schön oder herrlich es auch immer gewesen sein mag - dieses Grauen, diese Schönheit, diese Herrlichkeit bedeuten nichts. Wir brauchen sie ebenso wenig zur Kenntnis zu nehmen wie einen Krieg zwischen zwei afrikanischen Staaten im vierzehnten Jahrhundert, der am Zustand der Welt nichts verändert hat, auch wenn in diesem Krieg dreihunderttausend Schwarze unter unsagbaren Qualen umgekommen sind.
Wird es an diesem Krieg der beiden afrikanischen Staaten etwas ändern, wenn er sich in der Ewigen Wiederkehr unzählige Male wiederholt?
Gewiss: er wird zu einem Block, der emporragt und überdauert, und seine Dummheit wird nie wiedergutzumachen sein.
... mehr
Wenn sich die Französische Revolution ewig wiederholen müsste, wäre die französische Geschichtsschreibung nicht so stolz auf Robespierre. Da sie aber von einem Ereignis spricht, das nicht wiederkehren wird, haben sich die blutigen Jahre in Worte verwandelt, in Theorien und Diskussionen; sie sind leichter geworden als Federn und flößen niemandem mehr Angst ein. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Robespierre, der in der Geschichte nur ein einziges Mal aufgetreten ist, und einem Robespierre, der ewig wiederkehrt, um den Franzosen den Kopf abzuhacken.
Sagen wir also, dass der Gedanke der Ewigen Wiederkehr eine Perspektive bezeichnet, aus der die Dinge uns anders erscheinen, als wir sie kennen: sie erscheinen ohne den mildernden Umstand ihrer Vergänglichkeit. Dieser mildernde Umstand hindert uns nämlich daran, ein Urteil zu fällen. Wie kann man etwas verurteilen, das vergänglich ist? Im Abendrot leuchtet alles im verführerischen Licht der Nostalgie, sogar die Guillotine.
Vor kurzem habe ich mich bei einem unglaublichen Gefühl ertappt: ich blätterte in einem Buch über Hitler und war von manchen Fotografien ergriffen: sie erinnerten mich an die Zeit meiner Kindheit. Ich bin während des Krieges aufgewachsen; einige meiner Verwandten sind in Hitlers Konzentrationslagern umgekommen; was aber bedeutet ihr Tod angesichts dieser Fotografien von Hitler, die in mir die Erinnerung an eine vergangene Zeit meines Lebens wachgerufen haben, an eine Zeit, die nicht wiederkehren wird?
Diese Aussöhnung mit Hitler verrät die tiefliegende moralische Perversion einer Welt, die wesentlich auf dem Nichtvorhandensein der Wiederkehr begründet ist, weil in einer solchen Welt alles von vornherein verziehen ist und folglich auch alles auf zynische Weise erlaubt.
2.
Wenn sich jede Sekunde unseres Lebens unendliche Male wiederholt, sind wir an die Ewigkeit genagelt wie Jesus Christus ans Kreuz. Eine schreckliche Vorstellung. In der Welt der Ewigen Wiederkehr lastet auf jeder Geste die Schwere einer unerträglichen Verantwortung. Aus diesem Grund hat Nietzsche den Gedanken der Ewigen Wiederkehr »das schwerste Gewicht« genannt.
Wenn die Ewige Wiederkehr das schwerste Gewicht ist, kann unser Leben vor diesem Hintergrund in seiner ganzen herrlichen Leichtheit erscheinen.
Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?
Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, presst uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, dass der Mensch leichter wird als Luft, dass er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, dass er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte?
Parmenides hat sich diese Frage im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt. Er sah die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt: Licht-Dunkel; Feinheit-Grobheit; Wärme-Kälte; Sein-Nichtsein. Er betrachtete den einen Pol (Licht, Feinheit, Wärme, Sein) als positiv, den anderen als negativ. Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus, bringt jedoch eine Schwierigkeit mit sich: was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?
Parmenides antwortete: das Leichte ist positiv, das Schwere ist negativ.
Hatte er recht oder nicht? Das ist die Frage. Sicher ist nur eines: der Gegensatz von leicht und schwer ist der geheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze.
3.
Seit vielen Jahren schon denke ich an Tomas, aber erst im Licht dieser Überlegungen habe ich ihn zum ersten Mal klar vor mir gesehen. Ich sehe ihn, wie er in seiner Wohnung am Fenster steht, über den Hof auf die Mauer des gegenüberliegenden Wohnblocks schaut und nicht weiß, was er tun soll.
Er hatte Teresa vor etwa drei Wochen in einer böhmischen Kleinstadt kennengelernt. Sie hatten knapp eine Stunde miteinander verbracht. Sie hatte ihn zum Bahnhof begleitet und gewartet, bis er in den Zug gestiegen war. Zehn Tage später besuchte sie ihn in Prag. Noch am selben Tag liebten sie sich. In der Nacht bekam sie Fieber und blieb eine ganze Woche mit Grippe in seiner Wohnung.
Er empfand damals eine unerklärliche Liebe für dieses Mädchen, das er kaum kannte; sie kam ihm vor wie ein Kind, das jemand in ein pechbestrichenes Körbchen gelegt und auf dem Fluss ausgesetzt hatte, damit er es am Ufer seines Bettes barg.
Sie blieb eine Woche bei ihm, und als sie wieder gesund war, fuhr sie zurück in ihre Kleinstadt, zweihundert Kilometer von Prag entfernt. Und jetzt folgt der Augenblick, von dem ich gerade gesprochen habe, in dem ich den Schlüssel zu Tomas' Leben sehe: Er steht am Fenster, schaut über den Hof auf die Mauer des gegenüberliegenden Wohnblocks und überlegt:
Sollte er sie für immer nach Prag holen? Er fürchtete diese Verantwortung. Würde er sie jetzt einladen, sie würde kommen, um ihm ihr ganzes Leben anzubieten.
Oder sollte er einfach nichts mehr von sich hören lassen? Das würde bedeuten, dass Teresa Serviererin in einem gottvergessenen Provinznest bliebe und er sie nie wiedersehen würde.
Will er, dass sie zu ihm kommt, oder will er es nicht?
Er schaut über den Hof auf die Mauern gegenüber und sucht nach einer Antwort.
Immer wieder sah er sie vor sich, wie sie auf seinem Bett lag; sie erinnerte ihn an niemanden aus seinem bisherigen Leben. Sie war weder Geliebte noch Gemahlin. Sie war ein Kind, das er aus dem pechbestrichenen Körbchen gehoben und an das Ufer seines Bettes gelegt hatte. Sie war eingeschlafen. Er kniete sich neben sie. Ihr fiebriger Atem wurde schneller, und er hörte ein schwaches Stöhnen. Er presste sein Gesicht an ihres und flüsterte ihr besänftigende Worte in den Schlaf. Nach einer Weile fühlte er, wie ihr Atem sich beruhigte und sie ihr Gesicht unwillkürlich dem seinen entgegenhob. Er spürte an ihren Lippen den herben Geruch des Fiebers und atmete ihn ein, als wollte er die Intimität ihres Körpers ganz in sich aufnehmen. Er stellte sich vor, dass sie schon viele Jahre bei ihm war und nun im Sterben lag. Plötzlich hatte er das untrügliche Gefühl, er könnte ihren Tod nicht überleben. Er würde sich an ihre Seite legen und mit ihr sterben wollen. Er presste sein Gesicht neben ihrem Kopf ins Kissen und verharrte lange Zeit so.
Jetzt steht er am Fenster und besinnt sich auf jenen Augenblick. Was konnte es anderes sein als die Liebe, die sich ihm auf diese Weise offenbart hatte?
Aber war es Liebe? Das Gefühl, an ihrer Seite sterben zu wollen, war ganz offensichtlich unangemessen: er hatte sie damals gerade zum zweiten Mal in seinem Leben gesehen! War es nicht eher die Hysterie eines Menschen, der sich im Grunde seines Herzens seiner Liebesunfähigkeit bewusst war und anfing, sich die Liebe vorzuspielen? Sein Unterbewusstsein war dabei so feige, dass er sich für seine Komödie ausgerechnet diese armselige Serviererin aus einem Provinznest ausgesucht hatte, die im Grund keine Chance hatte, in sein Leben zu treten!
Er schaute über den Hof auf die schmutzigen Mauern und begriff, dass er nicht wusste, ob es Hysterie war oder Liebe.
Er machte sich den Vorwurf, dass er in einer Situation zauderte, in der ein richtiger Mann sofort gewusst hätte, was zu tun war, und dass er den schönsten Augenblick seines Lebens (er kniete an ihrem Bett und es schien ihm, er könnte ihren Tod nicht überleben) jeder Bedeutung beraubte.
Er haderte mit sich, bis er sich schließlich sagte, es sei eigentlich ganz normal, dass er nicht wisse, was er wolle.
Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.
Ist es besser, mit Teresa zu leben oder allein zu bleiben?
Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch ›Skizze‹ ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.
Einmal ist keinmal, sagt sich Tomas. Wenn man ohnehin nur einmal leben darf, so ist es, als lebe man überhaupt nicht.
4.
Eines Tages rief ihn eine Schwester in der Pause zwischen zwei Operationen ans Telefon. Er vernahm Teresas Stimme im Hörer. Sie rief vom Bahnhof aus an. Er freute sich. Leider hatte er für den Abend schon eine Verabredung und lud sie deshalb erst für den nächsten Tag zu sich ein. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, machte er sich Vorwürfe, dass er sie nicht gebeten hatte, gleich zu kommen. Er hätte noch Zeit genug gehabt, seine Verabredung abzusagen! Er stellte sich vor, was Teresa sechsunddreißig Stunden lang bis zu ihrem Treffen machen würde und hatte Lust, sich ins Auto zu setzen und sie in den Straßen von Prag zu suchen.
Sie kam am nächsten Abend, trug eine Umhängetasche über der Schulter, und er fand sie eleganter als das letzte Mal. In der Hand hielt sie ein dickes Buch. Anna Karenina von Tolstoi. Sie gab sich fröhlich, sprach sogar ein wenig laut und bemühte sich, ihm zu verstehen zu geben, dass sie rein zufällig vorbeigekommen sei; es habe sich gerade so ergeben: sie sei aus beruflichen Gründen in Prag, möglicherweise (ihre Angaben waren nicht sehr klar), um eine Stelle zu suchen.
Dann lagen sie nackt und erschöpft nebeneinander auf dem Bett. Es war schon dunkel. Er fragte sie, wo sie wohnte und bot ihr an, sie mit dem Wagen hinzufahren. Sie antwortete verlegen, sie müsse erst noch ein Hotel suchen und habe den Koffer in der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof abgegeben.
Noch am Abend vorher hatte er befürchtet, sie könnte ihm ihr ganzes Leben anbieten, wenn er sie zu sich nach Prag holte. Als sie ihm nun sagte, ihr Koffer sei in der Gepäckaufbewahrung, hatte er die Idee, dass ihr ganzes Leben in diesem Koffer steckte und sie es nur vorübergehend am Bahnhof abgegeben hätte, um es ihm dann anzubieten.
Er stieg mit ihr ins Auto, das er vor dem Haus geparkt hatte, fuhr zum Bahnhof, holte den Koffer ab (er war riesig und unendlich schwer) und brachte ihn und Teresa in seine Wohnung zurück.
Wie war es möglich, dass er sich so plötzlich entscheiden konnte, nachdem er fast vierzehn Tage lang gezögert hatte und unfähig war, ihr auch nur einen Kartengruß zu schicken?
Er war selbst überrascht. Er handelte gegen seine Prinzipien. Vor zehn Jahren war er von seiner ersten Frau geschieden worden und hatte die Scheidung in einer Feststimmung erlebt, in der andere Leute Hochzeiten feiern. Er hatte damals begriffen, dass er nicht dazu geboren war, an der Seite welcher Frau auch immer zu leben, und dass er nur als Junggeselle ganz er selber sein konnte. Also war er sorgfältig darauf bedacht, sein Leben so einzurichten, dass keine Frau je mit einem Koffer bei ihm einziehen würde. Aus diesem Grund stand in seiner Wohnung nur ein einziges Bett. Obwohl es breit genug war, behauptete Tomas allen Freundinnen gegenüber, dass er nicht imstande sei, mit jemandem im selben Bett einzuschlafen, und fuhr sie alle jedes Mal nachts nach Hause zurück. Auch als Teresa zum ersten Mal mit der Grippe bei ihm geblieben war, hatte er nicht mit ihr im selben Bett geschlafen. Die erste Nacht verbrachte er in einem großen Sessel, die folgenden Nächte im Krankenhaus, wo in seinem Konsultationszimmer ein Kanapee stand, das er während der Nachtwachen benutzte.
Diesmal jedoch schlief er neben ihr ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, stellte er fest, dass Teresa, die noch schlief, seine Hand hielt. Hatten sie die ganze Nacht Hand in Hand dagelegen? Das erschien ihm kaum glaublich.
Sie atmete tief im Schlaf, hielt seine Hand (ganz fest, er konnte sich nicht aus ihrer Umklammerung lösen), und der unendlich schwere Koffer stand neben dem Bett.
Er wagte nicht, seine Hand freizumachen, er wollte sie nicht wecken und drehte sich nur sachte auf die Seite, um sie besser beobachten zu können.
Und wieder kam ihm der Gedanke, Teresa sei ein Kind, das jemand in ein pechbestrichenes Körbchen gelegt und auf dem Wasser ausgesetzt hatte. Man darf doch ein Körbchen mit einem Kind nicht einfach auf dem reißenden Fluss treiben lassen! Hätte die Tochter des Pharao das Körbchen mit dem kleinen Moses nicht aus den Wellen geborgen, gäbe es weder das Alte Testament noch unsere Zivilisation! Wie viele alte Mythen fangen damit an, dass jemand ein ausgesetztes Kind rettet. Hätte sich Polybos nicht des jungen Ödipus angenommen, hätte Sophokles seine schönste Tragödie nie geschrieben!
Damals war es Tomas noch nicht klar, dass Metaphern gefährlich sind. Mit Metaphern spielt man nicht. Die Liebe kann aus einer einzigen Metapher geboren werden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Wenn sich die Französische Revolution ewig wiederholen müsste, wäre die französische Geschichtsschreibung nicht so stolz auf Robespierre. Da sie aber von einem Ereignis spricht, das nicht wiederkehren wird, haben sich die blutigen Jahre in Worte verwandelt, in Theorien und Diskussionen; sie sind leichter geworden als Federn und flößen niemandem mehr Angst ein. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Robespierre, der in der Geschichte nur ein einziges Mal aufgetreten ist, und einem Robespierre, der ewig wiederkehrt, um den Franzosen den Kopf abzuhacken.
Sagen wir also, dass der Gedanke der Ewigen Wiederkehr eine Perspektive bezeichnet, aus der die Dinge uns anders erscheinen, als wir sie kennen: sie erscheinen ohne den mildernden Umstand ihrer Vergänglichkeit. Dieser mildernde Umstand hindert uns nämlich daran, ein Urteil zu fällen. Wie kann man etwas verurteilen, das vergänglich ist? Im Abendrot leuchtet alles im verführerischen Licht der Nostalgie, sogar die Guillotine.
Vor kurzem habe ich mich bei einem unglaublichen Gefühl ertappt: ich blätterte in einem Buch über Hitler und war von manchen Fotografien ergriffen: sie erinnerten mich an die Zeit meiner Kindheit. Ich bin während des Krieges aufgewachsen; einige meiner Verwandten sind in Hitlers Konzentrationslagern umgekommen; was aber bedeutet ihr Tod angesichts dieser Fotografien von Hitler, die in mir die Erinnerung an eine vergangene Zeit meines Lebens wachgerufen haben, an eine Zeit, die nicht wiederkehren wird?
Diese Aussöhnung mit Hitler verrät die tiefliegende moralische Perversion einer Welt, die wesentlich auf dem Nichtvorhandensein der Wiederkehr begründet ist, weil in einer solchen Welt alles von vornherein verziehen ist und folglich auch alles auf zynische Weise erlaubt.
2.
Wenn sich jede Sekunde unseres Lebens unendliche Male wiederholt, sind wir an die Ewigkeit genagelt wie Jesus Christus ans Kreuz. Eine schreckliche Vorstellung. In der Welt der Ewigen Wiederkehr lastet auf jeder Geste die Schwere einer unerträglichen Verantwortung. Aus diesem Grund hat Nietzsche den Gedanken der Ewigen Wiederkehr »das schwerste Gewicht« genannt.
Wenn die Ewige Wiederkehr das schwerste Gewicht ist, kann unser Leben vor diesem Hintergrund in seiner ganzen herrlichen Leichtheit erscheinen.
Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?
Das schwerste Gewicht beugt uns nieder, erdrückt uns, presst uns zu Boden. In der Liebeslyrik aller Zeiten aber sehnt sich die Frau nach der Schwere des männlichen Körpers. Das schwerste Gewicht ist also gleichzeitig ein Bild intensivster Lebenserfüllung. Je schwerer das Gewicht, desto näher ist unser Leben der Erde, desto wirklicher und wahrer ist es.
Im Gegensatz dazu bewirkt die völlige Abwesenheit von Gewicht, dass der Mensch leichter wird als Luft, dass er emporschwebt und sich von der Erde, vom irdischen Sein entfernt, dass er nur noch zur Hälfte wirklich ist und seine Bewegungen ebenso frei wie bedeutungslos sind.
Was also soll man wählen? Das Schwere oder das Leichte?
Parmenides hat sich diese Frage im sechsten Jahrhundert vor Christus gestellt. Er sah die ganze Welt in Gegensatzpaare aufgeteilt: Licht-Dunkel; Feinheit-Grobheit; Wärme-Kälte; Sein-Nichtsein. Er betrachtete den einen Pol (Licht, Feinheit, Wärme, Sein) als positiv, den anderen als negativ. Eine solche Aufteilung sieht kinderleicht aus, bringt jedoch eine Schwierigkeit mit sich: was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?
Parmenides antwortete: das Leichte ist positiv, das Schwere ist negativ.
Hatte er recht oder nicht? Das ist die Frage. Sicher ist nur eines: der Gegensatz von leicht und schwer ist der geheimnisvollste und vieldeutigste aller Gegensätze.
3.
Seit vielen Jahren schon denke ich an Tomas, aber erst im Licht dieser Überlegungen habe ich ihn zum ersten Mal klar vor mir gesehen. Ich sehe ihn, wie er in seiner Wohnung am Fenster steht, über den Hof auf die Mauer des gegenüberliegenden Wohnblocks schaut und nicht weiß, was er tun soll.
Er hatte Teresa vor etwa drei Wochen in einer böhmischen Kleinstadt kennengelernt. Sie hatten knapp eine Stunde miteinander verbracht. Sie hatte ihn zum Bahnhof begleitet und gewartet, bis er in den Zug gestiegen war. Zehn Tage später besuchte sie ihn in Prag. Noch am selben Tag liebten sie sich. In der Nacht bekam sie Fieber und blieb eine ganze Woche mit Grippe in seiner Wohnung.
Er empfand damals eine unerklärliche Liebe für dieses Mädchen, das er kaum kannte; sie kam ihm vor wie ein Kind, das jemand in ein pechbestrichenes Körbchen gelegt und auf dem Fluss ausgesetzt hatte, damit er es am Ufer seines Bettes barg.
Sie blieb eine Woche bei ihm, und als sie wieder gesund war, fuhr sie zurück in ihre Kleinstadt, zweihundert Kilometer von Prag entfernt. Und jetzt folgt der Augenblick, von dem ich gerade gesprochen habe, in dem ich den Schlüssel zu Tomas' Leben sehe: Er steht am Fenster, schaut über den Hof auf die Mauer des gegenüberliegenden Wohnblocks und überlegt:
Sollte er sie für immer nach Prag holen? Er fürchtete diese Verantwortung. Würde er sie jetzt einladen, sie würde kommen, um ihm ihr ganzes Leben anzubieten.
Oder sollte er einfach nichts mehr von sich hören lassen? Das würde bedeuten, dass Teresa Serviererin in einem gottvergessenen Provinznest bliebe und er sie nie wiedersehen würde.
Will er, dass sie zu ihm kommt, oder will er es nicht?
Er schaut über den Hof auf die Mauern gegenüber und sucht nach einer Antwort.
Immer wieder sah er sie vor sich, wie sie auf seinem Bett lag; sie erinnerte ihn an niemanden aus seinem bisherigen Leben. Sie war weder Geliebte noch Gemahlin. Sie war ein Kind, das er aus dem pechbestrichenen Körbchen gehoben und an das Ufer seines Bettes gelegt hatte. Sie war eingeschlafen. Er kniete sich neben sie. Ihr fiebriger Atem wurde schneller, und er hörte ein schwaches Stöhnen. Er presste sein Gesicht an ihres und flüsterte ihr besänftigende Worte in den Schlaf. Nach einer Weile fühlte er, wie ihr Atem sich beruhigte und sie ihr Gesicht unwillkürlich dem seinen entgegenhob. Er spürte an ihren Lippen den herben Geruch des Fiebers und atmete ihn ein, als wollte er die Intimität ihres Körpers ganz in sich aufnehmen. Er stellte sich vor, dass sie schon viele Jahre bei ihm war und nun im Sterben lag. Plötzlich hatte er das untrügliche Gefühl, er könnte ihren Tod nicht überleben. Er würde sich an ihre Seite legen und mit ihr sterben wollen. Er presste sein Gesicht neben ihrem Kopf ins Kissen und verharrte lange Zeit so.
Jetzt steht er am Fenster und besinnt sich auf jenen Augenblick. Was konnte es anderes sein als die Liebe, die sich ihm auf diese Weise offenbart hatte?
Aber war es Liebe? Das Gefühl, an ihrer Seite sterben zu wollen, war ganz offensichtlich unangemessen: er hatte sie damals gerade zum zweiten Mal in seinem Leben gesehen! War es nicht eher die Hysterie eines Menschen, der sich im Grunde seines Herzens seiner Liebesunfähigkeit bewusst war und anfing, sich die Liebe vorzuspielen? Sein Unterbewusstsein war dabei so feige, dass er sich für seine Komödie ausgerechnet diese armselige Serviererin aus einem Provinznest ausgesucht hatte, die im Grund keine Chance hatte, in sein Leben zu treten!
Er schaute über den Hof auf die schmutzigen Mauern und begriff, dass er nicht wusste, ob es Hysterie war oder Liebe.
Er machte sich den Vorwurf, dass er in einer Situation zauderte, in der ein richtiger Mann sofort gewusst hätte, was zu tun war, und dass er den schönsten Augenblick seines Lebens (er kniete an ihrem Bett und es schien ihm, er könnte ihren Tod nicht überleben) jeder Bedeutung beraubte.
Er haderte mit sich, bis er sich schließlich sagte, es sei eigentlich ganz normal, dass er nicht wisse, was er wolle.
Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann.
Ist es besser, mit Teresa zu leben oder allein zu bleiben?
Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch ›Skizze‹ ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.
Einmal ist keinmal, sagt sich Tomas. Wenn man ohnehin nur einmal leben darf, so ist es, als lebe man überhaupt nicht.
4.
Eines Tages rief ihn eine Schwester in der Pause zwischen zwei Operationen ans Telefon. Er vernahm Teresas Stimme im Hörer. Sie rief vom Bahnhof aus an. Er freute sich. Leider hatte er für den Abend schon eine Verabredung und lud sie deshalb erst für den nächsten Tag zu sich ein. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, machte er sich Vorwürfe, dass er sie nicht gebeten hatte, gleich zu kommen. Er hätte noch Zeit genug gehabt, seine Verabredung abzusagen! Er stellte sich vor, was Teresa sechsunddreißig Stunden lang bis zu ihrem Treffen machen würde und hatte Lust, sich ins Auto zu setzen und sie in den Straßen von Prag zu suchen.
Sie kam am nächsten Abend, trug eine Umhängetasche über der Schulter, und er fand sie eleganter als das letzte Mal. In der Hand hielt sie ein dickes Buch. Anna Karenina von Tolstoi. Sie gab sich fröhlich, sprach sogar ein wenig laut und bemühte sich, ihm zu verstehen zu geben, dass sie rein zufällig vorbeigekommen sei; es habe sich gerade so ergeben: sie sei aus beruflichen Gründen in Prag, möglicherweise (ihre Angaben waren nicht sehr klar), um eine Stelle zu suchen.
Dann lagen sie nackt und erschöpft nebeneinander auf dem Bett. Es war schon dunkel. Er fragte sie, wo sie wohnte und bot ihr an, sie mit dem Wagen hinzufahren. Sie antwortete verlegen, sie müsse erst noch ein Hotel suchen und habe den Koffer in der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof abgegeben.
Noch am Abend vorher hatte er befürchtet, sie könnte ihm ihr ganzes Leben anbieten, wenn er sie zu sich nach Prag holte. Als sie ihm nun sagte, ihr Koffer sei in der Gepäckaufbewahrung, hatte er die Idee, dass ihr ganzes Leben in diesem Koffer steckte und sie es nur vorübergehend am Bahnhof abgegeben hätte, um es ihm dann anzubieten.
Er stieg mit ihr ins Auto, das er vor dem Haus geparkt hatte, fuhr zum Bahnhof, holte den Koffer ab (er war riesig und unendlich schwer) und brachte ihn und Teresa in seine Wohnung zurück.
Wie war es möglich, dass er sich so plötzlich entscheiden konnte, nachdem er fast vierzehn Tage lang gezögert hatte und unfähig war, ihr auch nur einen Kartengruß zu schicken?
Er war selbst überrascht. Er handelte gegen seine Prinzipien. Vor zehn Jahren war er von seiner ersten Frau geschieden worden und hatte die Scheidung in einer Feststimmung erlebt, in der andere Leute Hochzeiten feiern. Er hatte damals begriffen, dass er nicht dazu geboren war, an der Seite welcher Frau auch immer zu leben, und dass er nur als Junggeselle ganz er selber sein konnte. Also war er sorgfältig darauf bedacht, sein Leben so einzurichten, dass keine Frau je mit einem Koffer bei ihm einziehen würde. Aus diesem Grund stand in seiner Wohnung nur ein einziges Bett. Obwohl es breit genug war, behauptete Tomas allen Freundinnen gegenüber, dass er nicht imstande sei, mit jemandem im selben Bett einzuschlafen, und fuhr sie alle jedes Mal nachts nach Hause zurück. Auch als Teresa zum ersten Mal mit der Grippe bei ihm geblieben war, hatte er nicht mit ihr im selben Bett geschlafen. Die erste Nacht verbrachte er in einem großen Sessel, die folgenden Nächte im Krankenhaus, wo in seinem Konsultationszimmer ein Kanapee stand, das er während der Nachtwachen benutzte.
Diesmal jedoch schlief er neben ihr ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, stellte er fest, dass Teresa, die noch schlief, seine Hand hielt. Hatten sie die ganze Nacht Hand in Hand dagelegen? Das erschien ihm kaum glaublich.
Sie atmete tief im Schlaf, hielt seine Hand (ganz fest, er konnte sich nicht aus ihrer Umklammerung lösen), und der unendlich schwere Koffer stand neben dem Bett.
Er wagte nicht, seine Hand freizumachen, er wollte sie nicht wecken und drehte sich nur sachte auf die Seite, um sie besser beobachten zu können.
Und wieder kam ihm der Gedanke, Teresa sei ein Kind, das jemand in ein pechbestrichenes Körbchen gelegt und auf dem Wasser ausgesetzt hatte. Man darf doch ein Körbchen mit einem Kind nicht einfach auf dem reißenden Fluss treiben lassen! Hätte die Tochter des Pharao das Körbchen mit dem kleinen Moses nicht aus den Wellen geborgen, gäbe es weder das Alte Testament noch unsere Zivilisation! Wie viele alte Mythen fangen damit an, dass jemand ein ausgesetztes Kind rettet. Hätte sich Polybos nicht des jungen Ödipus angenommen, hätte Sophokles seine schönste Tragödie nie geschrieben!
Damals war es Tomas noch nicht klar, dass Metaphern gefährlich sind. Mit Metaphern spielt man nicht. Die Liebe kann aus einer einzigen Metapher geboren werden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 1987, 384 Seiten, Maße: 12,3 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanna Roth
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596259924
- ISBN-13: 9783596259922
- Erscheinungsdatum: 06.03.2001
Rezension zu „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins “
"Milan Kunderas Roman mutet wie ein kühnes intellektuelles Feuerwerk an, in welches sich immer wieder auch die Raketen des Sentiments und der Sinnlichkeit mischen." (Neue Zürcher Zeitung)
Kommentare zu "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"
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