Die Unsterblichen / Evermore Bd.1
Roman
Ever ist 16, als sie als Einzige einen schweren Autounfall überlebt. Seitdem sie dem Tod so nah war, kann sie die Gedanken der Menschen um sie herum hören. Doch dann begegnet sie dem gut aussehenden Damen und hört nichts. Ever taucht ein in eine magische Welt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Unsterblichen / Evermore Bd.1 “
Ever ist 16, als sie als Einzige einen schweren Autounfall überlebt. Seitdem sie dem Tod so nah war, kann sie die Gedanken der Menschen um sie herum hören. Doch dann begegnet sie dem gut aussehenden Damen und hört nichts. Ever taucht ein in eine magische Welt.
Klappentext zu „Die Unsterblichen / Evermore Bd.1 “
Wahre Liebe ist unsterblichEver ist sechzehn Jahre alt, als sie ihre Familie bei einem Autounfall verliert - sie überlebt als Einzige. Seither hat sie sich von der Außenwelt zurückgezogen. Alles ändert sich jedoch, als sie Damen zum ersten Mal in die Augen blickt. Er hat etwas, was Ever zutiefst berührt und gleichzeitig irritiert. Seitdem sie dem Tod so nahe war, besitzt sie die Fähigkeit, die Gedanken der Menschen hören zu können. Nicht so bei Damen. Wer ist er? Und was will er ausgerechnet von ihr?
Lese-Probe zu „Die Unsterblichen / Evermore Bd.1 “
Evermore - Die Unsterblichen von Alyson NoëlEINS
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Wer ist das?«
Havens warme, feuchte Handflächen pressen sich
fest auf meine Wangen, während der Rand ihres angelaufenen Silberrings eine Schmutzschliere auf meiner Haut hinterlässt. Und obwohl mir die Augen zugehalten werden und sie geschlossen sind, weiß ich, dass ihr schwarz gefärbtes Haar in der Mitte gescheitelt ist und dass sie ihr schwarzes Vinylkorsett über einem Rollkragenpulli trägt (und sich so an die Bekleidungsvorschriften unserer Schule hält). Dass ihr brandneuer, bodenlanger schwarzer Satinrock schon ein Loch hat, ganz unten am Saum, wo sie mit der Spitze ihrer Springerstiefel darin hängen geblieben ist. Und dass ihre Augen scheinbar golden sind, doch das kommt nur daher, weil sie gelbe Kontaktlinsen trägt.
Außerdem weiß ich, dass ihr Dad gar nicht auf »Geschäftsreise« ist, wie er behauptet hat, dass der Personal Trainer ihrer Mom sehr viel mehr »Personal« als »Trainer« ist und dass ihr kleiner Bruder ihre Evanescence-CD kaputt gemacht hat, sich aber nicht traut, es ihr zu sagen.
Aber all das weiß ich nicht, weil ich ihr nachspioniere oder sie heimlich beobachte, auch nicht, weil sie es mir erzählt hat. Ich weiß es, weil ich hellsehen kann.
»Na los! Es klingelt gleich!«, drängt sie; ihre Stimme ist heiser und kratzig, als würde sie eine ganze Packung am Tag rauchen, dabei hat sie es nur ein einziges Mal probiert.
Ich spiele auf Zeit, überlege, mit wem sie am allerwenigsten verwechselt werden möchte. »Hilary Duff?«
»Iiih! Noch mal!« Sie drückt fester und hat keine Ahnung, dass ich nichts zu sehen brauche, um Bescheid zu wissen. »Mrs. Marylin Manson?«
Sie lacht und lässt mich los, dann leckt sie an ihrem Daumen und zielt auf die Schmutzschliere, die ihr Silberring auf meiner Wange hinterlassen hat, doch ich hebe die Hand und bin schneller. Nicht, weil ich mich beim Gedanken an ihre Spucke ekle (ich meine, ich weiß, dass sie gesund ist), sondern weil ich nicht will, dass sie mich noch einmal anfasst. Berührungen sind zu verräterisch, zu anstrengend, also versuche ich, sie um jeden Preis zu vermeiden.
Sie packt die Kapuze meines Sweatshirts und schlägt sie zurück, dann betrachtet sie blinzelnd meine Ohrknöpfe und fragt: »Was hörst du denn da?«
Ich greife in die iPod-Tasche, die ich in alle meine Kapuzenpullover eingenäht habe, um die allgegenwärtigen weißen Kabel vor den Augen der Lehrer zu verbergen. Dann reiche ich ihr den iPod und sehe zu, wie ihr fast die Augen aus dem Kopf quellen, als sie hervorstößt: »Was ist das denn? Ich meine, geht's überhaupt noch lauter? Und wer ist das?«
Sie lässt den Player zwischen uns baumeln, so dass wir beide hören können, wie Johnny Rotten etwas von Anarchie in England brüllt. Und die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob Johnny dafür oder dagegen ist. Ich weiß nur, dass er beinahe laut genug ist, um meine übermäßig geschärften Sinne abzustumpfen.
»Sex Pistols«, antworte ich, schalte den iPod aus und stecke ihn wieder in seine Geheimtasche.
»Wundert mich ja, dass du mich überhaupt hören konntest.« Sie lächelt im selben Moment, als die Klingel ertönt.
Doch ich zucke lediglich mit den Schultern. Ich muss nicht hinhören, um zu hören. Allerdings werde ich das nicht laut aussprechen. Ich sage bloß zu ihr, dass wir uns beim Lunch sehen, und mache mich quer über das Schulgelände auf den Weg zum Unterricht. Innerlich krümme ich mich, während ich merke, wie diese beiden Typen sich von hinten an sie heranschleichen und auf ihren Rocksaum treten, so dass sie beinahe hinfällt. Doch als sie sich umdreht, das Zeichen des Bösen macht (okay, eigentlich ist es nicht das Zeichen des Bösen, bloß irgendetwas, das sie erfunden hat) und sie mit ihren gelben Augen anfunkelt, machen sie sofort einen Rückzieher und lassen sie in Ruhe. Und ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich die Klassentür aufdrücke; ich weiß, dass es nicht lange dauern wird, bis die Energie, die von Havens Berührung geblieben ist, vergeht.
Ich gehe zu meinem Platz ganz hinten im Klassenraum und steige dabei über den Rucksack hinweg, den Stacia Miller mir mit voller Absicht in den Weg gestellt hat, während ich ihre tägliche »Versaa-ger«-Serenade nicht beachte, die sie leise vor sich hinträllert. Dann lasse ich mich auf meinen Stuhl rutschen, hole Buch, Ringbuch und Stift aus meiner Tasche, stecke mir den Knopf ins Ohr und ziehe mir die Kapuze wieder über den Kopf. Ich lasse meinen Rucksack auf den freien Platz neben mir plumpsen und warte darauf, dass Mr. Robins auftaucht.
Mr. Robins kommt immer zu spät. Hauptsächlich deshalb, weil er zwischen den Unterrichtsstunden gern einen Schluck aus seinem kleinen silbernen Flachmann nimmt. Doch das tut er nur, weil seine Frau ihn ständig anschreit, seine Tochter ihn für einen Volltrottel hält und er sein Leben ziemlich zum Kotzen findet. All das habe ich an meinem ersten Schultag herausgefunden, als ich ihm meinen Zugangsschein von der Schulbehörde gegeben habe. Wenn ich jetzt etwas abgeben muss, lege ich es deshalb immer einfach auf seinen Schreibtisch, ganz an den Rand.
Ich schließe die Augen und warte; dabei merke ich, wie meine Finger sich unter mein Sweatshirt schieben und von dem grölenden Johnny Rotten auf etwas Leiseres, Sanfteres umschalten. Der Krach ist jetzt, da ich im Klassenzimmer sitze, nicht mehr nötig. Wahrscheinlich hält die geringe Schüleranzahl pro Lehrer die übersinnliche Energie ein wenig in Grenzen.
Ich war nicht immer ein Freak. Früher war ich mal ein ganz normaler Teenager. Eins von den Mädchen, die zu Schulfeten gehen, für irgendwelche Stars schwärmen und sich so viel auf ihre langen blonden Haare einbilden, dass es mir nicht im Traum eingefallen wäre, sie zu einem straffen Pferdeschwanz zurückzubinden und mich unter einem großen Kapuzensweatshirt zu verstecken. Ich hatte eine Mom, einen Dad, eine kleine Schwester namens Riley und einen lieben blonden Labrador namens Buttercup. Ich habe in einem schönen Haus in Eugene gewohnt, in Oregon. Ich war beliebt, glücklich und konnte es kaum erwarten, dass das elfte Schuljahr anfing, denn ich war gerade zum Cheerleader der Universitätsmannschaft gemacht worden. Mein Leben war vollkommen, und der Himmel war die einzige Grenze. Und obgleich Letzteres das totale Klischee ist, ist es ironischerweise auch wahr.
Doch was mich betrifft, ist das alles Hörensagen. Denn seit dem Unfall ist Sterben das Einzige, woran ich mich deutlich erinnern kann.
Ich hatte etwas, was man eine Nahtoderfahrung nennt. Nur liegt man da zufällig falsch. Denn glaubt mir, das Ganze hatte nichts »Nahes« an sich. Irgendwie ist es, als hätten meine kleine Schwester Riley und ich eben noch hinten im Geländewagen meines Vaters gesessen, und Buttercup hätte den Kopf in Rileys Schoß liegen gehabt, während ihr Schwanz gegen mein Bein klopfte. Und dann waren sämtliche Airbags aufgeblasen, das Auto war Schrott, und ich sah das Ganze von außen. Ich starrte das Wrack an - die Glasscherben, die verbogenen Türen, die vordere Stoßstange, die in tödlicher Umarmung eine Kiefer umklammerte -, fragte mich, was schiefgegangen war, und betete, dass die anderen auch aus dem Wagen herausgekommen waren. Dann hörte ich ein vertrautes Bellen, drehte mich um und sah sie alle einen Pfad entlanggehen, Buttercup schwanzwedelnd vorneweg.
Ich folgte ihnen. Versuchte zuerst, zu rennen und sie einzuholen, dann jedoch wurde ich langsamer und beschloss, ein wenig zu trödeln. Wollte durch diese riesige duftende Wiese voller blühender Bäume und Blumen wandern, die vor mir bebten, schloss die Augen vor dem blendenden Nebel, der spiegelte und leuchtete und alles schimmern ließ.
Ich nahm mir fest vor, dass ich mich nur einen Moment lang aufhalten würde. Dass ich bald zurückgehen und sie suchen würde. Doch als ich endlich aufschaute, geschah das gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie lächelten und winkten und eine Brücke überquerten, nur Sekunden, bevor sie alle verschwanden.
Ich geriet in Panik. Rannte hierhin und dorthin, aber es sah alles gleich aus - warmer, weißer, glänzender, schimmernder, wunderschöner, blöder ewiger Nebel. Und ich fiel zu Boden, meine Haut prickelte vor Kälte, mein ganzer Körper zuckte, und ich weinte und schrie, fluchte, bettelte und versprach alles Mögliche, von dem ich genau wusste, dass ich es niemals würde halten können.
Und dann hörte ich jemanden sagen: »Ever? Ist das dein Name? Mach die Augen auf, und sieh mich an.«
Ich stolperte zurück an die Oberfläche. Zurück dorthin, wo alles Schmerz und Elend war, und nasses Brennen auf meiner Stirn. Und ich schaute den jungen Mann an, der sich über mich beugte, blickte in seine dunklen Augen und flüsterte: »Ich bin Ever«, ehe ich von Neuem das Bewusstsein verlor. Und dann hörte ich jemanden sagen: »Ever? Ist das dein Name? Mach die Augen auf, und sieh mich an.«
Ich stolperte zurück an die Oberfläche. Zurück dorthin, wo alles Schmerz und Elend war, und nasses Brennen auf meiner Stirn. Und ich schaute den jungen Mann an, der sich über mich beugte, blickte in seine dunklen Augen und flüsterte: »Ich bin Ever«, ehe ich von Neuem das Bewusstsein verlor.
ZWEI
Sekunden, bevor Mr. Robins hereinkommt, nehme ich meine Kapuze ab, schalte meinen iPod aus und tue so, als
würde ich in meinem Buch lesen. Ich mache mir gar nicht die Mühe, aufzublicken, als er sagt: »Leute, das ist Damen Auguste. Er ist gerade aus New Mexico hierhergezogen. Okay, Damen, du kannst dich da hinten hinsetzen, auf den freien Platz neben Ever. Ihr werdet euch ein Buch teilen müssen, bis du selbst eins hast.«
Damen sieht toll aus. Das weiß ich, ohne hochzuschauen. Ich konzentriere mich auf mein Buch, während er auf mich zukommt, denn ich weiß sowieso schon viel zu viel über die anderen in meiner Klasse. Soweit es mich betrifft, ist ein zusätzlicher Moment der Unwissenheit wirklich die reine Seligkeit.
Doch den innersten Gedanken von Stacia Miller zufolge, die nur zwei Reihen vor mir sitzt - ist Damen Auguste ja so was von scharf.
Ihre beste Freundin Honor ist ganz ihrer Meinung. Honors Freund Craig auch, aber das ist eine ganz andere Geschichte.
»Hey.« Damen gleitet auf den Platz neben mir; mein Rucksack macht ein dumpfes Geräusch, als er ihn zu Boden fallen lässt.
Ich nicke und weigere mich, weiter aufzublicken als bis zu seinen glatten schwarzen Motorradstiefeln. Stiefel von der Sorte, die mehr Männer Vogue als Hell's Angels ist. Von der Sorte, die zwischen den Reihen bunter Flipflops ungemein fehl am Platze wirkt, die gegenwärtig den mit grünem Spannteppich ausgelegten Boden zieren.
Mr. Robins fordert uns alle auf, Seite 13 3 aufzuschlagen, was Damen dazu veranlasst, sich zu mir herüberzubeugen und zu fragen: »Was dagegen, wenn ich mit reingucke?«
Ich zögere, weil ich diese Nähe fürchte, doch ich schiebe mein Buch ganz hinüber, bis es am Rand meines Stuhlpultes liegt. Und während er seinen Stuhl näher heranrückt und die kleine Lücke zwischen uns schließt, rutsche ich auf meinem Platz ganz nach außen und verstecke mich unter meiner Kapuze.
Er lacht leise, aber da ich ihn noch gar nicht angesehen habe, habe ich keine Ahnung, was das bedeutet. Alles, was ich weiß, ist, dass das Lachen locker und belustigt klingt, aber so, als läge noch etwas anderes darin.
Ich sinke noch tiefer in meinen Stuhl, die Wange in die Hand gestützt, den Blick auf die Uhr gerichtet. Fest entschlossen, all die vernichtenden Blicke und die kritischen Bemerkungen zu ignorieren, die auf mich abgeschossen werden. Sachen wie: Dieser arme, knallgeile, rattenscharfe Neue muss neben der Irren sitzen! Das kommt von Stacia, Honor, Craig und so ziemlich allen anderen im Klassenraum.
Außer von Mr. Robins, der das Ende der Stunde fast ebenso sehr herbeisehnt wie ich.
Beim Lunch reden alle über Damen.
Hast du den Neuen gesehen, diesen Damen? Der ist ja so was von scharf... so sexy ... Ich hab gehört, er kommt aus Mexiko ... Nein, ich glaube, aus Spanien ... Egal, jedenfalls Ausländer ... Den frage ich ganz bestimmt, ob er mit mir zum Winter-Schulfest geht ... Du kennst ihn doch noch gar nicht ... Keine Angst, den lerne ich schon noch kennen ...
»O Gott, hast du den Neuen gesehen, diesen Damen?« Haven sitzt neben mir und schielt durch ihren Pony, den sie gerade wachsen lässt, und dessen stachelige Spitzen bis dicht über ihre dunkelroten Lippen reichen.
»Oh, bitte, du nicht auch noch.« Ich schüttele den Kopf und beiße in meinen Apfel.
»Das würdest du ganz bestimmt nicht sagen, wenn du ihn mal gesehen hättest«, gibt sie zurück, holt ihr Vanilletörtchen aus der rosa Pappschachtel und leckt die Glasur ab. Das macht sie immer beim Lunch, obwohl sie sich so kleidet wie jemand, der lieber Blut trinken als süße kleine Kuchen essen würde.
»Redet ihr über Damen?«, flüstert Miles, lässt sich auf die Bank gleiten und stützt die Ellenbogen auf den Tisch. Seine braunen Augen zucken zwischen uns hin und her, sein Baby-face verzieht sich zu einem Grinsen. »Umwerfend! Habt ihr die Stiefel gesehen? Total Vogue. Ich glaube, ich biete ihm an, meine nächste Flamme zu werden.«
Haven mustert ihn mit zusammengekniffenen gelben Augen. »Zu spät, den habe ich mir schon reserviert.«
»Sorry, ich wusste nicht, dass du auf Nicht-Gothic-Typen stehst.« Er feixt und verdreht die Augen, während er sein Sandwich auswickelt.
Haven lacht. »Wenn sie so aussehen schon. Ich schwör's, der ist so wahnsinnig toll, den musst du einfach sehen.« Sie schüttelt den Kopf und ist sauer, weil ich mich nicht in den ganzen Spaß einklinken kann. »Er ist irgendwie - entflammbar!«
»Du hast ihn noch nicht gesehen?« Miles umklammert sein Sandwich und starrt mich fassungslos an.
Ich schaue auf die Tischplatte hinunter und überlege, ob ich einfach lügen soll. Sie machen so einen Aufstand um das Ganze, dass ich glaube, das wäre der einzige Ausweg für mich. Nur kann ich sie nicht anlügen. Sie nicht. Haven und Miles sind meine besten Freunde. Meine einzigen Freunde. Und ich habe das Gefühl, dass ich ohnehin schon genug Geheimnisse hüte. »Ich hab in Englisch neben ihm gesessen«, sage ich schließlich. »Wir mussten uns ein Buch teilen. Aber ich habe ihn mir nicht wirklich richtig anschauen können.«
»Mussten?« Haven schiebt ihren Pony zur Seite, um freie Sicht auf die Verrückte zu haben, die dergleichen zu sagen wagt. »Oh, das muss ja schrecklich für dich gewesen sein, das war bestimmt echt das Letzte.« Sie rollt die Augen und seufzt. »Ich schwör's, du hast keine Ahnung, was für ein Glück du hast. Und du weißt das noch nicht mal zu schätzen.«
»Was für ein Buch?«, erkundigt sich Miles, als würde der Titel etwas Bedeutsames verraten.
»Wuthering Heights.« Ich lege das Kerngehäuse des Apfels in die Mitte meiner Serviette und falte die Ränder darum herum.
»Und deine Kapuze? Auf oder nicht auf?«, will Haven wissen.
Ich überlege, mir fällt wieder ein, wie ich sie hochgezogen habe, während er auf mich zukam. »Äh, auf«, antworte ich. »Ja, definitiv auf.«
»Na, vielen Dank«, knurrt sie und bricht ihr Vanilletörtchen in der Mitte durch. »Das Letzte, was ich brauche, ist Konkurrenz von der blonden Göttin.«
Ich winde mich innerlich und starre auf den Tisch. Es ist mir peinlich, wenn die Leute so etwas sagen. Offenbar bin ich mal total darauf abgefahren, aber jetzt nicht mehr. »Und was ist mit Miles? Ist der für dich denn keine Konkurrenz?«, gebe ich zu bedenken, um die Aufmerksamkeit von mir weg und auf jemanden zu lenken, der wirklich etwas damit anfangen kann.
»Jawoll.« Miles fährt sich mit der Hand durch das kurze braune Haar, dreht sich und beehrt uns mit seinem allerbesten Profil. »Schließ das bloß nicht aus.«
»Total irrelevant«, wehrt Haven ab und klopft sich weiße Krümel vom Schoß. »Damen und Miles spielen nicht in derselben Liga. Was bedeutet, dass sein ach so umwerfend gutes Aussehen, das für jedes Model reichen würde, nicht zählt.«
»Woher weißt du denn, in wessen Mannschaft er spielt?«, verlangt Miles zu wissen, während er mit zusammengekniffenen Augen die Verschlusskappe von seinem Vitaminwasser schraubt. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Schwulen-Radar«, erwidert sie und tippt sich an die Stirn. »Und, glaubt mir, der Typ taucht da nicht drauf auf.«
Damen hat nicht nur in der ersten Stunde Englisch und in der sechsten Kunst mit mir zusammen (nicht dass er da neben mir gesessen hätte, und nicht dass ich nach ihm Ausschau gehalten hätte, aber die Gedanken, die überall im Raum herumwirbelten, sogar von unserer Lehrerin Ms. Machado, verrieten mir alles, was ich wissen musste), jetzt hat er allem Anschein nach auch noch genau neben mir geparkt. Und obwohl ich es geschafft habe, bisher nicht mehr als seine Stiefel zu Gesicht zu bekommen, weiß ich, dass meine Schonfrist soeben zu Ende gegangen ist.
»O mein Gott, da ist er! Genau neben uns!«, quietscht Miles in jenem hohen Singsang-Flüsterton, den er sich für die aufregendsten Momente des Lebens aufhebt. »Und sieh dir die Karre an - ein blitzblanker schwarzer BMW mit extradunkel getönten Scheiben, hübsch, sehr hübsch. Okay, die Nummer läuft folgendermaßen, ich mach meine Tür auf und stupse damit ganz aus Versehen seine an, dann habe ich einen Grund, mit ihm zu reden.« Er dreht sich um und wartet auf meine Zustimmung.
»Zerkratz ja mein Auto nicht. Oder seins. Oder irgendein anderes«, wehre ich kopfschüttelnd ab und hole meine Schlüssel hervor.
»Schön.« Er schmollt. »Mach nur meine Träume zunichte, von mir aus. Aber tu dir selbst einen Gefallen, und sieh ihn dir doch mal an! Und dann schau mir in die Augen, und sag mir, dass du bei diesem Anblick nicht ausrasten und in Ohnmacht fallen möchtest.« Ich verdrehe die Augen und quetsche mich zwischen meinem Wagen und dem grottenschlecht geparkten VW-Käfer hindurch, der so schief dasteht, dass es aussieht, als wolle er meinen Miata besteigen. Und gerade in dem Moment, in dem ich die Tür aufschließen will, reißt Miles mir die Kapuze vom Kopf, schnappt sich meine Sonnenbrille und saust zur Beifahrerseite, wo er mich mit nicht gerade subtilem Kopfrucken und Daumenzeigen drängt, Damen anzusehen, der hinter ihm steht.
Also tue ich es. Ich meine, ich kann es ja nicht bis in alle Ewigkeit vermeiden. Ich atme also tief durch und schaue hin.
Und was ich sehe, lässt mich wie vom Donner gerührt erstarren, unfähig, zu sprechen, zu blinzeln oder mich zu bewegen.
Und obwohl Miles anfängt zu winken und mich wütend anfunkelt und mir im Großen und Ganzen jedes nur denkbare Zeichen gibt, die Mission abzubrechen und zum Hauptquartier zurückzukehren - ich kann nicht. Ich meine, ich würde ja gern, weil ich weiß, dass ich mich genau wie die Verrückte benehme, für die alle Welt mich hält, aber es ist vollkommen unmöglich. Und zwar nicht nur, weil Damen unbestreitbar schön ist, mit seinem glänzenden dunklen Haar, das ihm fast bis zu den Schultern reicht und sich um seine hohen, fein gemeißelten Wangenknochen schmiegt. Doch als er mich ansieht, als er seine dunkle Sonnenbrille anhebt und sein Blick dem meinen begegnet, sehe ich, dass seine mandelförmigen Augen tief, dunkel und seltsam vertraut sind, umrahmt von so üppigen Wimpern, dass sie fast künstlich aussehen. Und seine Lippen! Seine Lippen sind voll und einladend, mit vollendetem Schwung. Und der Körper, auf dem das alles ruht, ist lang, schlank, straff und ganz in Schwarz gekleidet.
»Äh, Ever? Hallooo? Du kannst jetzt aufwachen. Bitte.« Miles dreht sich zu Damen um und lacht nervös. »Tut mir leid, das mit meiner Freundin hier, normalerweise hat sie ihre Kapuze auf.«
Es ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, dass ich damit aufhören muss. Ich muss damit aufhören, sofort. Aber Damens Augen blicken unverwandt in meine, und ihre Farbe wird leuchtender, während sein Mund sich allmählich zu einem Lächeln verzieht.
Doch nicht sein umwerfendes Aussehen schlägt mich so in Bann. Damit hat das gar nichts zu tun, sondern, dass die unmittelbare Umgebung seines Körpers, von seinem prachtvollen Kopf bis ganz zu seinen Motorradstiefeln, aus nichts als leerem Raum besteht.
Keine Farben. Keine Aura. Keine pulsierende Lightshow.
Übersetzung: Marie-Luise Bezzenberger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Wer ist das?«
Havens warme, feuchte Handflächen pressen sich
fest auf meine Wangen, während der Rand ihres angelaufenen Silberrings eine Schmutzschliere auf meiner Haut hinterlässt. Und obwohl mir die Augen zugehalten werden und sie geschlossen sind, weiß ich, dass ihr schwarz gefärbtes Haar in der Mitte gescheitelt ist und dass sie ihr schwarzes Vinylkorsett über einem Rollkragenpulli trägt (und sich so an die Bekleidungsvorschriften unserer Schule hält). Dass ihr brandneuer, bodenlanger schwarzer Satinrock schon ein Loch hat, ganz unten am Saum, wo sie mit der Spitze ihrer Springerstiefel darin hängen geblieben ist. Und dass ihre Augen scheinbar golden sind, doch das kommt nur daher, weil sie gelbe Kontaktlinsen trägt.
Außerdem weiß ich, dass ihr Dad gar nicht auf »Geschäftsreise« ist, wie er behauptet hat, dass der Personal Trainer ihrer Mom sehr viel mehr »Personal« als »Trainer« ist und dass ihr kleiner Bruder ihre Evanescence-CD kaputt gemacht hat, sich aber nicht traut, es ihr zu sagen.
Aber all das weiß ich nicht, weil ich ihr nachspioniere oder sie heimlich beobachte, auch nicht, weil sie es mir erzählt hat. Ich weiß es, weil ich hellsehen kann.
»Na los! Es klingelt gleich!«, drängt sie; ihre Stimme ist heiser und kratzig, als würde sie eine ganze Packung am Tag rauchen, dabei hat sie es nur ein einziges Mal probiert.
Ich spiele auf Zeit, überlege, mit wem sie am allerwenigsten verwechselt werden möchte. »Hilary Duff?«
»Iiih! Noch mal!« Sie drückt fester und hat keine Ahnung, dass ich nichts zu sehen brauche, um Bescheid zu wissen. »Mrs. Marylin Manson?«
Sie lacht und lässt mich los, dann leckt sie an ihrem Daumen und zielt auf die Schmutzschliere, die ihr Silberring auf meiner Wange hinterlassen hat, doch ich hebe die Hand und bin schneller. Nicht, weil ich mich beim Gedanken an ihre Spucke ekle (ich meine, ich weiß, dass sie gesund ist), sondern weil ich nicht will, dass sie mich noch einmal anfasst. Berührungen sind zu verräterisch, zu anstrengend, also versuche ich, sie um jeden Preis zu vermeiden.
Sie packt die Kapuze meines Sweatshirts und schlägt sie zurück, dann betrachtet sie blinzelnd meine Ohrknöpfe und fragt: »Was hörst du denn da?«
Ich greife in die iPod-Tasche, die ich in alle meine Kapuzenpullover eingenäht habe, um die allgegenwärtigen weißen Kabel vor den Augen der Lehrer zu verbergen. Dann reiche ich ihr den iPod und sehe zu, wie ihr fast die Augen aus dem Kopf quellen, als sie hervorstößt: »Was ist das denn? Ich meine, geht's überhaupt noch lauter? Und wer ist das?«
Sie lässt den Player zwischen uns baumeln, so dass wir beide hören können, wie Johnny Rotten etwas von Anarchie in England brüllt. Und die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob Johnny dafür oder dagegen ist. Ich weiß nur, dass er beinahe laut genug ist, um meine übermäßig geschärften Sinne abzustumpfen.
»Sex Pistols«, antworte ich, schalte den iPod aus und stecke ihn wieder in seine Geheimtasche.
»Wundert mich ja, dass du mich überhaupt hören konntest.« Sie lächelt im selben Moment, als die Klingel ertönt.
Doch ich zucke lediglich mit den Schultern. Ich muss nicht hinhören, um zu hören. Allerdings werde ich das nicht laut aussprechen. Ich sage bloß zu ihr, dass wir uns beim Lunch sehen, und mache mich quer über das Schulgelände auf den Weg zum Unterricht. Innerlich krümme ich mich, während ich merke, wie diese beiden Typen sich von hinten an sie heranschleichen und auf ihren Rocksaum treten, so dass sie beinahe hinfällt. Doch als sie sich umdreht, das Zeichen des Bösen macht (okay, eigentlich ist es nicht das Zeichen des Bösen, bloß irgendetwas, das sie erfunden hat) und sie mit ihren gelben Augen anfunkelt, machen sie sofort einen Rückzieher und lassen sie in Ruhe. Und ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich die Klassentür aufdrücke; ich weiß, dass es nicht lange dauern wird, bis die Energie, die von Havens Berührung geblieben ist, vergeht.
Ich gehe zu meinem Platz ganz hinten im Klassenraum und steige dabei über den Rucksack hinweg, den Stacia Miller mir mit voller Absicht in den Weg gestellt hat, während ich ihre tägliche »Versaa-ger«-Serenade nicht beachte, die sie leise vor sich hinträllert. Dann lasse ich mich auf meinen Stuhl rutschen, hole Buch, Ringbuch und Stift aus meiner Tasche, stecke mir den Knopf ins Ohr und ziehe mir die Kapuze wieder über den Kopf. Ich lasse meinen Rucksack auf den freien Platz neben mir plumpsen und warte darauf, dass Mr. Robins auftaucht.
Mr. Robins kommt immer zu spät. Hauptsächlich deshalb, weil er zwischen den Unterrichtsstunden gern einen Schluck aus seinem kleinen silbernen Flachmann nimmt. Doch das tut er nur, weil seine Frau ihn ständig anschreit, seine Tochter ihn für einen Volltrottel hält und er sein Leben ziemlich zum Kotzen findet. All das habe ich an meinem ersten Schultag herausgefunden, als ich ihm meinen Zugangsschein von der Schulbehörde gegeben habe. Wenn ich jetzt etwas abgeben muss, lege ich es deshalb immer einfach auf seinen Schreibtisch, ganz an den Rand.
Ich schließe die Augen und warte; dabei merke ich, wie meine Finger sich unter mein Sweatshirt schieben und von dem grölenden Johnny Rotten auf etwas Leiseres, Sanfteres umschalten. Der Krach ist jetzt, da ich im Klassenzimmer sitze, nicht mehr nötig. Wahrscheinlich hält die geringe Schüleranzahl pro Lehrer die übersinnliche Energie ein wenig in Grenzen.
Ich war nicht immer ein Freak. Früher war ich mal ein ganz normaler Teenager. Eins von den Mädchen, die zu Schulfeten gehen, für irgendwelche Stars schwärmen und sich so viel auf ihre langen blonden Haare einbilden, dass es mir nicht im Traum eingefallen wäre, sie zu einem straffen Pferdeschwanz zurückzubinden und mich unter einem großen Kapuzensweatshirt zu verstecken. Ich hatte eine Mom, einen Dad, eine kleine Schwester namens Riley und einen lieben blonden Labrador namens Buttercup. Ich habe in einem schönen Haus in Eugene gewohnt, in Oregon. Ich war beliebt, glücklich und konnte es kaum erwarten, dass das elfte Schuljahr anfing, denn ich war gerade zum Cheerleader der Universitätsmannschaft gemacht worden. Mein Leben war vollkommen, und der Himmel war die einzige Grenze. Und obgleich Letzteres das totale Klischee ist, ist es ironischerweise auch wahr.
Doch was mich betrifft, ist das alles Hörensagen. Denn seit dem Unfall ist Sterben das Einzige, woran ich mich deutlich erinnern kann.
Ich hatte etwas, was man eine Nahtoderfahrung nennt. Nur liegt man da zufällig falsch. Denn glaubt mir, das Ganze hatte nichts »Nahes« an sich. Irgendwie ist es, als hätten meine kleine Schwester Riley und ich eben noch hinten im Geländewagen meines Vaters gesessen, und Buttercup hätte den Kopf in Rileys Schoß liegen gehabt, während ihr Schwanz gegen mein Bein klopfte. Und dann waren sämtliche Airbags aufgeblasen, das Auto war Schrott, und ich sah das Ganze von außen. Ich starrte das Wrack an - die Glasscherben, die verbogenen Türen, die vordere Stoßstange, die in tödlicher Umarmung eine Kiefer umklammerte -, fragte mich, was schiefgegangen war, und betete, dass die anderen auch aus dem Wagen herausgekommen waren. Dann hörte ich ein vertrautes Bellen, drehte mich um und sah sie alle einen Pfad entlanggehen, Buttercup schwanzwedelnd vorneweg.
Ich folgte ihnen. Versuchte zuerst, zu rennen und sie einzuholen, dann jedoch wurde ich langsamer und beschloss, ein wenig zu trödeln. Wollte durch diese riesige duftende Wiese voller blühender Bäume und Blumen wandern, die vor mir bebten, schloss die Augen vor dem blendenden Nebel, der spiegelte und leuchtete und alles schimmern ließ.
Ich nahm mir fest vor, dass ich mich nur einen Moment lang aufhalten würde. Dass ich bald zurückgehen und sie suchen würde. Doch als ich endlich aufschaute, geschah das gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie lächelten und winkten und eine Brücke überquerten, nur Sekunden, bevor sie alle verschwanden.
Ich geriet in Panik. Rannte hierhin und dorthin, aber es sah alles gleich aus - warmer, weißer, glänzender, schimmernder, wunderschöner, blöder ewiger Nebel. Und ich fiel zu Boden, meine Haut prickelte vor Kälte, mein ganzer Körper zuckte, und ich weinte und schrie, fluchte, bettelte und versprach alles Mögliche, von dem ich genau wusste, dass ich es niemals würde halten können.
Und dann hörte ich jemanden sagen: »Ever? Ist das dein Name? Mach die Augen auf, und sieh mich an.«
Ich stolperte zurück an die Oberfläche. Zurück dorthin, wo alles Schmerz und Elend war, und nasses Brennen auf meiner Stirn. Und ich schaute den jungen Mann an, der sich über mich beugte, blickte in seine dunklen Augen und flüsterte: »Ich bin Ever«, ehe ich von Neuem das Bewusstsein verlor. Und dann hörte ich jemanden sagen: »Ever? Ist das dein Name? Mach die Augen auf, und sieh mich an.«
Ich stolperte zurück an die Oberfläche. Zurück dorthin, wo alles Schmerz und Elend war, und nasses Brennen auf meiner Stirn. Und ich schaute den jungen Mann an, der sich über mich beugte, blickte in seine dunklen Augen und flüsterte: »Ich bin Ever«, ehe ich von Neuem das Bewusstsein verlor.
ZWEI
Sekunden, bevor Mr. Robins hereinkommt, nehme ich meine Kapuze ab, schalte meinen iPod aus und tue so, als
würde ich in meinem Buch lesen. Ich mache mir gar nicht die Mühe, aufzublicken, als er sagt: »Leute, das ist Damen Auguste. Er ist gerade aus New Mexico hierhergezogen. Okay, Damen, du kannst dich da hinten hinsetzen, auf den freien Platz neben Ever. Ihr werdet euch ein Buch teilen müssen, bis du selbst eins hast.«
Damen sieht toll aus. Das weiß ich, ohne hochzuschauen. Ich konzentriere mich auf mein Buch, während er auf mich zukommt, denn ich weiß sowieso schon viel zu viel über die anderen in meiner Klasse. Soweit es mich betrifft, ist ein zusätzlicher Moment der Unwissenheit wirklich die reine Seligkeit.
Doch den innersten Gedanken von Stacia Miller zufolge, die nur zwei Reihen vor mir sitzt - ist Damen Auguste ja so was von scharf.
Ihre beste Freundin Honor ist ganz ihrer Meinung. Honors Freund Craig auch, aber das ist eine ganz andere Geschichte.
»Hey.« Damen gleitet auf den Platz neben mir; mein Rucksack macht ein dumpfes Geräusch, als er ihn zu Boden fallen lässt.
Ich nicke und weigere mich, weiter aufzublicken als bis zu seinen glatten schwarzen Motorradstiefeln. Stiefel von der Sorte, die mehr Männer Vogue als Hell's Angels ist. Von der Sorte, die zwischen den Reihen bunter Flipflops ungemein fehl am Platze wirkt, die gegenwärtig den mit grünem Spannteppich ausgelegten Boden zieren.
Mr. Robins fordert uns alle auf, Seite 13 3 aufzuschlagen, was Damen dazu veranlasst, sich zu mir herüberzubeugen und zu fragen: »Was dagegen, wenn ich mit reingucke?«
Ich zögere, weil ich diese Nähe fürchte, doch ich schiebe mein Buch ganz hinüber, bis es am Rand meines Stuhlpultes liegt. Und während er seinen Stuhl näher heranrückt und die kleine Lücke zwischen uns schließt, rutsche ich auf meinem Platz ganz nach außen und verstecke mich unter meiner Kapuze.
Er lacht leise, aber da ich ihn noch gar nicht angesehen habe, habe ich keine Ahnung, was das bedeutet. Alles, was ich weiß, ist, dass das Lachen locker und belustigt klingt, aber so, als läge noch etwas anderes darin.
Ich sinke noch tiefer in meinen Stuhl, die Wange in die Hand gestützt, den Blick auf die Uhr gerichtet. Fest entschlossen, all die vernichtenden Blicke und die kritischen Bemerkungen zu ignorieren, die auf mich abgeschossen werden. Sachen wie: Dieser arme, knallgeile, rattenscharfe Neue muss neben der Irren sitzen! Das kommt von Stacia, Honor, Craig und so ziemlich allen anderen im Klassenraum.
Außer von Mr. Robins, der das Ende der Stunde fast ebenso sehr herbeisehnt wie ich.
Beim Lunch reden alle über Damen.
Hast du den Neuen gesehen, diesen Damen? Der ist ja so was von scharf... so sexy ... Ich hab gehört, er kommt aus Mexiko ... Nein, ich glaube, aus Spanien ... Egal, jedenfalls Ausländer ... Den frage ich ganz bestimmt, ob er mit mir zum Winter-Schulfest geht ... Du kennst ihn doch noch gar nicht ... Keine Angst, den lerne ich schon noch kennen ...
»O Gott, hast du den Neuen gesehen, diesen Damen?« Haven sitzt neben mir und schielt durch ihren Pony, den sie gerade wachsen lässt, und dessen stachelige Spitzen bis dicht über ihre dunkelroten Lippen reichen.
»Oh, bitte, du nicht auch noch.« Ich schüttele den Kopf und beiße in meinen Apfel.
»Das würdest du ganz bestimmt nicht sagen, wenn du ihn mal gesehen hättest«, gibt sie zurück, holt ihr Vanilletörtchen aus der rosa Pappschachtel und leckt die Glasur ab. Das macht sie immer beim Lunch, obwohl sie sich so kleidet wie jemand, der lieber Blut trinken als süße kleine Kuchen essen würde.
»Redet ihr über Damen?«, flüstert Miles, lässt sich auf die Bank gleiten und stützt die Ellenbogen auf den Tisch. Seine braunen Augen zucken zwischen uns hin und her, sein Baby-face verzieht sich zu einem Grinsen. »Umwerfend! Habt ihr die Stiefel gesehen? Total Vogue. Ich glaube, ich biete ihm an, meine nächste Flamme zu werden.«
Haven mustert ihn mit zusammengekniffenen gelben Augen. »Zu spät, den habe ich mir schon reserviert.«
»Sorry, ich wusste nicht, dass du auf Nicht-Gothic-Typen stehst.« Er feixt und verdreht die Augen, während er sein Sandwich auswickelt.
Haven lacht. »Wenn sie so aussehen schon. Ich schwör's, der ist so wahnsinnig toll, den musst du einfach sehen.« Sie schüttelt den Kopf und ist sauer, weil ich mich nicht in den ganzen Spaß einklinken kann. »Er ist irgendwie - entflammbar!«
»Du hast ihn noch nicht gesehen?« Miles umklammert sein Sandwich und starrt mich fassungslos an.
Ich schaue auf die Tischplatte hinunter und überlege, ob ich einfach lügen soll. Sie machen so einen Aufstand um das Ganze, dass ich glaube, das wäre der einzige Ausweg für mich. Nur kann ich sie nicht anlügen. Sie nicht. Haven und Miles sind meine besten Freunde. Meine einzigen Freunde. Und ich habe das Gefühl, dass ich ohnehin schon genug Geheimnisse hüte. »Ich hab in Englisch neben ihm gesessen«, sage ich schließlich. »Wir mussten uns ein Buch teilen. Aber ich habe ihn mir nicht wirklich richtig anschauen können.«
»Mussten?« Haven schiebt ihren Pony zur Seite, um freie Sicht auf die Verrückte zu haben, die dergleichen zu sagen wagt. »Oh, das muss ja schrecklich für dich gewesen sein, das war bestimmt echt das Letzte.« Sie rollt die Augen und seufzt. »Ich schwör's, du hast keine Ahnung, was für ein Glück du hast. Und du weißt das noch nicht mal zu schätzen.«
»Was für ein Buch?«, erkundigt sich Miles, als würde der Titel etwas Bedeutsames verraten.
»Wuthering Heights.« Ich lege das Kerngehäuse des Apfels in die Mitte meiner Serviette und falte die Ränder darum herum.
»Und deine Kapuze? Auf oder nicht auf?«, will Haven wissen.
Ich überlege, mir fällt wieder ein, wie ich sie hochgezogen habe, während er auf mich zukam. »Äh, auf«, antworte ich. »Ja, definitiv auf.«
»Na, vielen Dank«, knurrt sie und bricht ihr Vanilletörtchen in der Mitte durch. »Das Letzte, was ich brauche, ist Konkurrenz von der blonden Göttin.«
Ich winde mich innerlich und starre auf den Tisch. Es ist mir peinlich, wenn die Leute so etwas sagen. Offenbar bin ich mal total darauf abgefahren, aber jetzt nicht mehr. »Und was ist mit Miles? Ist der für dich denn keine Konkurrenz?«, gebe ich zu bedenken, um die Aufmerksamkeit von mir weg und auf jemanden zu lenken, der wirklich etwas damit anfangen kann.
»Jawoll.« Miles fährt sich mit der Hand durch das kurze braune Haar, dreht sich und beehrt uns mit seinem allerbesten Profil. »Schließ das bloß nicht aus.«
»Total irrelevant«, wehrt Haven ab und klopft sich weiße Krümel vom Schoß. »Damen und Miles spielen nicht in derselben Liga. Was bedeutet, dass sein ach so umwerfend gutes Aussehen, das für jedes Model reichen würde, nicht zählt.«
»Woher weißt du denn, in wessen Mannschaft er spielt?«, verlangt Miles zu wissen, während er mit zusammengekniffenen Augen die Verschlusskappe von seinem Vitaminwasser schraubt. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Schwulen-Radar«, erwidert sie und tippt sich an die Stirn. »Und, glaubt mir, der Typ taucht da nicht drauf auf.«
Damen hat nicht nur in der ersten Stunde Englisch und in der sechsten Kunst mit mir zusammen (nicht dass er da neben mir gesessen hätte, und nicht dass ich nach ihm Ausschau gehalten hätte, aber die Gedanken, die überall im Raum herumwirbelten, sogar von unserer Lehrerin Ms. Machado, verrieten mir alles, was ich wissen musste), jetzt hat er allem Anschein nach auch noch genau neben mir geparkt. Und obwohl ich es geschafft habe, bisher nicht mehr als seine Stiefel zu Gesicht zu bekommen, weiß ich, dass meine Schonfrist soeben zu Ende gegangen ist.
»O mein Gott, da ist er! Genau neben uns!«, quietscht Miles in jenem hohen Singsang-Flüsterton, den er sich für die aufregendsten Momente des Lebens aufhebt. »Und sieh dir die Karre an - ein blitzblanker schwarzer BMW mit extradunkel getönten Scheiben, hübsch, sehr hübsch. Okay, die Nummer läuft folgendermaßen, ich mach meine Tür auf und stupse damit ganz aus Versehen seine an, dann habe ich einen Grund, mit ihm zu reden.« Er dreht sich um und wartet auf meine Zustimmung.
»Zerkratz ja mein Auto nicht. Oder seins. Oder irgendein anderes«, wehre ich kopfschüttelnd ab und hole meine Schlüssel hervor.
»Schön.« Er schmollt. »Mach nur meine Träume zunichte, von mir aus. Aber tu dir selbst einen Gefallen, und sieh ihn dir doch mal an! Und dann schau mir in die Augen, und sag mir, dass du bei diesem Anblick nicht ausrasten und in Ohnmacht fallen möchtest.« Ich verdrehe die Augen und quetsche mich zwischen meinem Wagen und dem grottenschlecht geparkten VW-Käfer hindurch, der so schief dasteht, dass es aussieht, als wolle er meinen Miata besteigen. Und gerade in dem Moment, in dem ich die Tür aufschließen will, reißt Miles mir die Kapuze vom Kopf, schnappt sich meine Sonnenbrille und saust zur Beifahrerseite, wo er mich mit nicht gerade subtilem Kopfrucken und Daumenzeigen drängt, Damen anzusehen, der hinter ihm steht.
Also tue ich es. Ich meine, ich kann es ja nicht bis in alle Ewigkeit vermeiden. Ich atme also tief durch und schaue hin.
Und was ich sehe, lässt mich wie vom Donner gerührt erstarren, unfähig, zu sprechen, zu blinzeln oder mich zu bewegen.
Und obwohl Miles anfängt zu winken und mich wütend anfunkelt und mir im Großen und Ganzen jedes nur denkbare Zeichen gibt, die Mission abzubrechen und zum Hauptquartier zurückzukehren - ich kann nicht. Ich meine, ich würde ja gern, weil ich weiß, dass ich mich genau wie die Verrückte benehme, für die alle Welt mich hält, aber es ist vollkommen unmöglich. Und zwar nicht nur, weil Damen unbestreitbar schön ist, mit seinem glänzenden dunklen Haar, das ihm fast bis zu den Schultern reicht und sich um seine hohen, fein gemeißelten Wangenknochen schmiegt. Doch als er mich ansieht, als er seine dunkle Sonnenbrille anhebt und sein Blick dem meinen begegnet, sehe ich, dass seine mandelförmigen Augen tief, dunkel und seltsam vertraut sind, umrahmt von so üppigen Wimpern, dass sie fast künstlich aussehen. Und seine Lippen! Seine Lippen sind voll und einladend, mit vollendetem Schwung. Und der Körper, auf dem das alles ruht, ist lang, schlank, straff und ganz in Schwarz gekleidet.
»Äh, Ever? Hallooo? Du kannst jetzt aufwachen. Bitte.« Miles dreht sich zu Damen um und lacht nervös. »Tut mir leid, das mit meiner Freundin hier, normalerweise hat sie ihre Kapuze auf.«
Es ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, dass ich damit aufhören muss. Ich muss damit aufhören, sofort. Aber Damens Augen blicken unverwandt in meine, und ihre Farbe wird leuchtender, während sein Mund sich allmählich zu einem Lächeln verzieht.
Doch nicht sein umwerfendes Aussehen schlägt mich so in Bann. Damit hat das gar nichts zu tun, sondern, dass die unmittelbare Umgebung seines Körpers, von seinem prachtvollen Kopf bis ganz zu seinen Motorradstiefeln, aus nichts als leerem Raum besteht.
Keine Farben. Keine Aura. Keine pulsierende Lightshow.
Übersetzung: Marie-Luise Bezzenberger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Alyson Noël
Noël, AlysonAlyson Noël ist eine preisgekrönte Autorin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. Mit ihren Serien »Evermore« und »Soul Seeker« stürmte sie auf Anhieb nicht nur die internationalen, sondern auch die deutschen Bestsellerlisten und eroberte unzählige Leserinnenherzen. Die Übersetzungsrechte für ihre Bücher wurden bisher in 35 Länder verkauft und auch die Filmrechte schnell vergeben. Alyson Noël lebt in Laguna Beach, Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alyson Noël
- 2011, 373 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Bezzenberger, Marie-Luise
- Übersetzer: Marie-Luise Bezzenberger
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442473799
- ISBN-13: 9783442473793
- Erscheinungsdatum: 19.09.2011
Rezension zu „Die Unsterblichen / Evermore Bd.1 “
"Hinreißende Lovestory, empfindsam, aber nicht kitschig." Petra über "Evermore - Die Unsterblichen""Fantasy vom Feinsten." Berliner Kurier
"Wenn Sie die ewige, unsterbliche Liebe erleben wollen, dann lesen Sie die geniale Romantic-Mystery-Reihe ‚Evermore'." denglers-buchkritik.de
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