Die Wahrheit über Berlin
Ironisch und politisch unkorrekt: nichts als die Wahrheit über Berlin!
Der Sound der Hauptstadt - das junge Berliner Multitalent Peter Baharov hat ihn eingefangen in Szenen und Stories. Er erzählt ehrlich und originell von Ur-Berlinern, Neu-Berlinern und...
Der Sound der Hauptstadt - das junge Berliner Multitalent Peter Baharov hat ihn eingefangen in Szenen und Stories. Er erzählt ehrlich und originell von Ur-Berlinern, Neu-Berlinern und...
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Produktinformationen zu „Die Wahrheit über Berlin “
Klappentext zu „Die Wahrheit über Berlin “
Ironisch und politisch unkorrekt: nichts als die Wahrheit über Berlin!Der Sound der Hauptstadt - das junge Berliner Multitalent Peter Baharov hat ihn eingefangen in Szenen und Stories. Er erzählt ehrlich und originell von Ur-Berlinern, Neu-Berlinern und wie man sich zusammen auseinanderlebt in einer Hauptstadt voller Parallelbezirke und Szenegesellschaften. Die Wahrheit über die Hauptstadt steht nicht bei Wikipedia, sondern in diesem Buch.
Eine schräge Citytour voll noch schrägerer Geschichten, die nur das Berliner Leben schreiben kann!
Lese-Probe zu „Die Wahrheit über Berlin “
Die Wahrheit über Berlin von Peter BaharovDer lange Marsch nach Berlin
»Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin.«
Franz von Suppé (österr. Operettenkomponist)
Recht hat er, der Franz. Mit allem. Sogar sein Name und sein Beruf beschreiben diese Stadt vortrefflich. Berlin ist nämlich wie ein riesiger Eintopf mit Suppe: Alles, was einen an der Waffel hat, zieht hierher und springt hinein. Die Basisbrühe besteht aus Spreewasser und Buletten (die Urberliner). Hinzu kommen spanische Chorizo, türkische Sucuk, arabischer Couscous und eine unendliche Vielzahl anderer exotischer Zutaten. Diese sind dann die Figuren in einem multikulturellen Gericht. Die Suppe wird allmählich zu einem sehr intensiven Eintopf, der gleichzeitig nach allen Ingredienzien schmeckt und nach keinem. Die Chorizo zum Beispiel ist in ihrer Urform noch erhalten, hat aber einen Großteil ihres Geschmacks an die Umgebung abgegeben, so dass die Bulette nach einer Weile selbst nach Chorizo schmeckt. Ob sie will oder nicht.
Das ist vergleichbar mit dem Integrieren: Der Zugezogene muss sich seinem neuen Umfeld anpassen und verändert es dabei bereits durch seine reine Existenz. Der Ureinwohner hat jetzt die Möglichkeit, durch ewiges Nörgeln über die Veränderung alle verrückt zu machen oder sich selbst der neuen Situation anzupassen. »Dann bin ick jetze ebnd ne Cross-Over-Bulette«, würde er im besten Fall sagen.
... mehr
Manchmal kann es aber beim Berliner Eintopf zur Klumpenbildung kommen, die nicht immer leicht zu verdauen ist. Manche Zutaten bilden Grüppchen und vereinen sich zu einem Riesenklumpen. Die äußersten Stücke haben noch Kontakt zur Suppe, während die inneren nur unter sich bleiben, womit sie außerstande sind, die zahlreichen Geschmäcker in sich aufzunehmen. Je größer der Klumpen, desto mehr Angriffsfläche bietet er für Anfeindungen seitens der Buletten und anderer Klumpen. Das kann auf Dauer fade schmecken.
Wem jetzt der Magen knurrt, ist hier genau richtig. Berlin ist nämlich ausgesprochen lecker!
Das weiß ich bestimmt, da ich eine Menge im Laufe meines jungen Lebens probieren durfte.
Seit über zehn Jahren lebe ich nun in Berlin. Heute bin ich Berliner. Aber das war nicht immer so.
Geboren wurde ich 1978 in Bulgariens Hauptstadt Sofia. Meiner Familie ging es damals sehr gut, da mein Vater das Glück hatte, mit Rockmusik seinen Unterhalt verdienen zu können. Sogar die Kindergärtnerinnen schleimten sich bei mir ein, um an ein Autogramm von meinem Vater zu kommen. Ich dachte, sie machen mich an, und war stolz wie Oskar.
Ich war Bulgare, so wie alle anderen auch, und noch dazu einer mit Promi-Eltern, quasi ein Balkan-Jimmy- Blue. Das war die einzige Phase meines Lebens, in der ich mich nicht anpassen, integrieren musste.
Da ich als Kind von den politischen Verhältnissen im Ostblock keinen Schimmer hatte, wusste ich nicht, wie mir geschah, als meine Eltern beschlossen, Bulgarien zu verlassen.
Mit viel Fingerspitzengefühl hatten sie die offizielle Erlaubnis bekommen, mich auf die Schweiz-Tour meines Vaters mitnehmen zu dürfen. Eines Morgens wurde mir in meinem Schweizer Hotelzimmer eröffnet, dass wir den Zug nach München nehmen würden. Die angespannten Gesichter meiner Eltern verrieten mir, dass dies keine gewöhnliche Zugreise werden würde. Das war im Herbst 1983. Ich war gerade mal fünf Jahre alt. Der Startschuss zu meinem bis heute andauernden Integrationsmarathon.
Tickets zurück nach Bulgarien gab es also nicht. Das Land, in dem meine Großeltern lebten und das für mich bis dato die einzig mir bekannte Welt gewesen war, lag jetzt in weiter Ferne. Damals konnte man die politische Entwicklung nicht vorhersagen; deshalb bestand die Möglichkeit, dass wir unsere Verwandten nie wiedersehen würden. Dass wir geflüchtet waren, begriff ich, als meine Eltern Asyl in Deutschland beantragt hatten. Der Sprung vom Promi zum Asylanten war für uns alle schwierig. So ein Asylantenheim war auch nicht ohne.
In dem dreistöckigen Fünfziger-Jahre-Bau war das Erdgeschoss den »dunkelhäutigen« Immigranten vorbehalten (Herkunft egal), der erste Stock für die Asiaten reserviert (genaue Herkunft auch egal), und in der zweiten Etage durfte der Ostblock hausen. Die Stadt München hielt das damals für eine kluge Aufteilung. Gelegentliche Schlägereien und Messerstechereien sprachen zwar dagegen, aber was soll's. Wer in Deutschland leben wollte, musste sich halt benehmen. »So ein Heim ist doch für den Afrikaner ein Schlaraffenland« (dabei bitte an einen Bayern denken, der versucht Hochdeutsch zu sprechen). »Selber schuld, wenn der von der Blutwurst mit Zwiebeln nix essen will, wegen seinem Mohammed - oder wie der noch mal heißt!« Wir Kinder aßen ebenfalls keine Blutwurst und bildeten so unbewusst unsere erste transnationale Allianz mit den Afrikanern.
Als bei den Asiaten die Pocken ausbrachen, durfte ich nicht mehr in den ersten Stock und musste auf dem Weg nach unten immer ganz schnell laufen, um nicht - wie ich glaubte - »aus Versehen einen Erreger zu verschlucken«. Da hält man besser die Luft an, dachte ich mir, was zur Folge hatte, dass ich unten immer mit hochrotem Kopf ankam. Gott sei Dank hat mich der Herbergsvater dann nie gesehen: Die Einordnung eines »Indianers« in dieses Drei-Arten-System hätte ihm bestimmt Kopfzerbrechen bereitet.
Für mich war die Zeit im Asylantenheim einerseits verstörend, andererseits auch großartig, denn ich durfte tagsüber in einen wunderschönen Kindergarten gehen. Die Gegend drum herum war erstaunlicherweise gutbürgerlich, und die Schule mit angeschlossenem Kindergarten war brandneu und hervorragend ausgestattet. Es gab nette Kindergärtnerinnen, ausgeglichene Kinder, neue Spielsachen und buntes Eis am Nachmittag. Wäre es damals schon Mode gewesen: Wir hätten mittags Biogemüse gegessen und wären nachmittags ins Kinderyoga gegangen.
Das war der Westen! Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass wir an einen besseren Ort geflüchtet waren. Nach genehmigtem Asylantrag zogen wir jedoch leider in ein sozial schwaches Viertel im Südosten Münchens, wo der Westen doch nicht mehr ganz so cool zu sein schien, was auch meinen neuen Kindergarten betraf: Es gab deprimierte Erzieherinnen, übellaunige Kinder, alte Spielsachen und - viele bunte Asylantenkinder wie mich. Der Spielplatz bestand aus einem rostigen Klettergerüst, einigen Betonquadern (ohne Witz!) und einer speckigen Rutsche. Wenn ich damals Haare am Po gehabt hätte, wäre ich nach dem Rutschvorgang perfekt gewachst gewesen. Hatte ich aber nicht und mied daher das eklige Ding.
Die Bewohner unseres Viertels stammten hauptsächlich aus dem Arbeitermilieu, waren arbeitslos und größtenteils deutsch. Des Öfteren kam es vor, dass so ein Prolo- Besoffski mich anschrie, wenn ich unter seinem Fenster spielte. »Geh doch zurück in deine Heimat, du Kanacke! «, kam's dann aus seinem unrasierten Gesicht gekrochen. Seine fetten Arme hatte er dabei breit auf ein Kissen gebettet, während er den ganzen Tag die Einöde vor seiner Nase beobachtete.
Es gab auch Profi-Assis, die sich einen Parabolspiegel an die Fassade vor ihrem Fenster montiert hatten. Dann konnten sie vom fleischfarbenen Sofa aus gleichzeitig nach den Ausländerkindern Ausschau halten und den Musikantenstadl im Fernsehen anschauen. Für diese Hirnleistung gab's von mir Respektpunkte, da ich schon damals Kreativität in allen Formen zu schätzen wusste.
Im Kindergarten hatten die Dümmsten unter uns die Macht übernommen und sich ein tolles Spiel ausgedacht: Man nehme den kleinen Finger, stecke ihn sich in den ... und dann in die ... Na ja, die Details erspare ich uns. Jedenfalls habe ich damals erkannt, dass ich anders war und anders leben wollte. Nachdem ich mir die Nase mit Seife ausgewaschen hatte, beschloss ich zu fliehen. Es sollte während des Mittagsschlafs passieren.
Ich beobachtete den Abstand zwischen den Kontrollgängen der Kindergärtnerinnen und schlich mich zwischen zweien aus dem Gefängnis, hinaus ins Freie. Draußen angekommen sah ich, dass mein Plan so seine Tücken hatte: Was jetzt, wohin sollte ich gehen? Mein Kinderhirn schlug mir vor: nach Hause! Ist am klügsten, fügte es hinzu. Den Anschiss, den ich von meiner bereits auf mich wartenden Mutter bekam, kann man sich ja vorstellen. Der Kindergarten hatte meine Flucht entdeckt und sofort Meldung gemacht. Brav, dachte ich, alles Denunzianten. So wirklich böse war mir meine Mutter zu meinem Erstaunen aber nicht wirklich. Ihr Blick verriet mir, dass sie mich verstand und sich selbst in dieser Umgebung nicht wohl fühlte.
Die Grundschule war ähnlich deprimierend. Es gab weiterhin Hosenpinkler, Verhaltensgestörte, Schläger und Lernschnecken. Salvatore hatte in der dritten Klasse gerade mal das halbe Alphabet kapiert, und das nervte tierisch, weil das Lerntempo dem schwächsten Glied angepasst wurde. Heute würde ich sagen, man muss ihn fördern und integrieren, damit er eine Chance hat, glücklich zu werden. Damals gab's von mir für jeden fehlenden Buchstaben in der Pause eins aufs Maul. Übel, ich weiß, aber ich platzte damals vor Ungeduld und Unterforderung.
Als sich dann 1988 meine Eltern trennten, war ich fast am Limit. Dieser Westen hatte ja echt was gebracht! Wenigstens hatte ich einigermaßen gute Noten und wurde aus dem Schul-Irrenhaus mit einer Gymnasiumsempfehlung entlassen. Mir wurde gesagt, die Kinder im Gymnasium wären mir etwas ähnlicher. »Ich will's hoffen«, seufzte ich. Doch was jetzt auf mich zukam, war absolut nicht zu erwarten gewesen: Meine Mutter heiratete ihren Freund, und wir zogen nach Singapur, einem Land, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte.
Dort ging ich in die »Deutsche Schule Singapur«, eine Privatschule, die hauptsächlich von Kindern aus wohlhabenden Familien besucht wurde. Die Lehrer waren nett, geduldig und äußerst kompetent. Ein geistiges Schlaraffenland sozusagen. Die Möhren, bei denen ich bis dato Unterricht gehabt hatte, konnte man dagegen in der Pfeife rauchen. Man nahm sich Zeit für mich, verbesserte in Nachhilfekursen mein Englisch und brachte mich an meine Leistungsgrenzen, was ich dank Salvatore bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt hatte.
Die Schule lag mitten im Dschungel, sogar Affen kamen uns regelmäßig besuchen, um uns die Fußbälle zu klauen. Doch wir kannten ihre Achillesferse: Bananen und Cola. In Kombination bringt das die Verdauung eines Affen völlig durcheinander.
Eines Tages kauften wir Unmengen dieser teuflischen Zutaten und platzierten sie mitten auf den Sportplatz. Schon bald war die Urwaldtruppe um den Köder versammelt und machte sich über die Leckereien her. Der Gegenwert unseres Pausengeldes verschwand augenblicklich in sämtlichen Affenmägen und begann dort seine Wirkung zu entfalten. Sie torkelten wie Betrunkene herum, bis sich einer von ihnen am Fußballtor festhielt und mit Hochdruck auf den Boden kotzte. Nach und nach taten es ihm auch die anderen nach, tänzelten herum und verteilten ihren Mageninhalt auf den Sportplatz und die Affenkumpel.
Ein herrliches Ballett, wie es sich ein verrückter Performancekünstler nicht besser hätte ausdenken können!
Tatsächlich habe ich viele schöne Erinnerungen an diese Zeit, da ich Asien in diesem Land mit all seinen Vorzügen kennenlernen durfte: das wundervolle Essen, die unglaublich schöne Natur und den intensiven Kulturmix der internationalen Bevölkerung. Innerhalb dieser Gesellschaft hatten wir allerdings einen speziellen Status. Wir waren die reichen Weißen, die ein Leben in Sportklubs und Privatschulen führten, unerreichbar für die allermeisten Menschen dort. Das war vermutlich auch der Grund, warum ich mich trotz der Vorzüge mehr denn je als Außenseiter gefühlt habe. Nach drei Jahren hatte ich mich tatsächlich eingelebt und begonnen, mich endlich wohl zu fühlen. Deshalb fiel mir auch der Abschied von meinen Freunden und dieser schönen Insel dann doch schwer, als mein Stiefvater ankündigte, dass wir wieder nach Deutschland zurückkehren würden.
Zurück in der Hauptstadt Bayerns endete auch schon mein Dasein als Sportklub-Schnösel. War 'ne tolle Zeit, den Eistee nach dem Tennis mit meinem guten Namen bezahlen zu können. Ich hatte mir extra eine fesche Unterschrift zugelegt, damit die Kellner mich cool fänden. Doch nun waren wir wieder ganz normale Leute, und mein Gekritzel interessierte niemanden.
Mein Stiefvater hatte ein Reihenhaus in einem ländlichen Vorort von München gekauft, in dem sich wohlhabende Städter ein spießiges Speckgürtel-Utopia geschaffen hatten.
Schnell musste ich dort feststellen, dass der Hase anders lief als in der singapurianischen Püppchen-Schule. Wenn ich wissbegierig dem Unterricht folgte und mich eifrig meldete, was in der Privatschule völlig normal gewesen war, wurde ich von meinen Sitznachbarn freundlich gebeten, dies zu unterlassen. Man würde das nicht machen, wenn man nicht als Streber gelten wollte. Immerhin warnten sie mich rechtzeitig, bevor ich womöglich noch sozialen Selbstmord begangen hätte. Die meisten Lehrer hatten hier dieselbe Einstellung wie meine Grundschul-Möhren, aber wenigstens gab es auch einige Engagierte, die sich bemühten, gestörten Teenagern etwas beizubringen. Für meine Mitschüler war ich der große (damals mit 13 Jahren schon fast ein Meter neunzig) Bulgare, der immer nur von Singapur erzählte. Gelegentlich bekam ich für meine Ich-habe-die-Welt-gesehen-Vorträge eins auf den Hinterkopf, was mich dann wieder auf den Boden der Realität zurückholte. Nach und nach wurde ich dann endlich von meinen Mitschülern akzeptiert, je mehr ich mich ihrem Verhalten anpasste. Und schon damals wurde mir klar:
Auf eine Integration folgt immer die nächste!
Die Zeit nach dem Abitur kam viel schneller, als ich es mir mit sechzehn vorgestellt hatte, und ich wurde ständig gefragt, was ich denn werden wollte. Ich hatte keine Ahnung. Worin war ich wirklich gut?
Diese Frage ließ sich am besten mit einem Filmzitat aus »Der Name der Rose« beantworten. Eine der Filmfiguren ist der geistig verwirrte Mönch Salvatore, der ein unverständliches Kauderwelsch spricht. Azon (Christian Slater) fragt seinen Meister (Sean Connery), welche Sprache der Mönch denn spreche. Dieser antwortet ihm: »Alle, Azon. Und keine.«
Passender hätte ich meine Talente nicht beschreiben können! Ein bisschen Salvatore scheint auch in mir zu sein.
Einer meiner Träume war, eine Karriere als professioneller Schlagzeuger zu starten.
Trotzdem entschied ich mich nach dem Abitur für ein Medizinstudium, und nach einer dreimonatigen Reise durch »Down Under«, wartete ein Brief von der Zentralen Vergabestelle der Studienplätze auf mich. Als ich meinen Zulassungsbescheid für Medizin in den Händen hielt, las ich sechs Buchstaben, die mein Leben für immer verändern sollten:
BERLIN!
Meine erste Wahlheimat. Denn bis dahin hatte mich noch nie jemand gefragt, wo ich leben wollte. Jetzt war damit Schluss! Ich hatte mir fest vorgenommen, Berlin zu meiner Heimat zu machen. Ich wollte dieses abstrakte Wort Wirklichkeit werden lassen, nach so vielen Jahren ständigen Wechsels. Kurz - ich hatte es satt, mich immer und immer wieder zu integrieren! Einmal also noch und dann nie wieder.
Denkste. Seit diesem Schritt sind mittlerweile zwölf Jahre vergangen, und ich muss mich immer noch anpassen. Denn Berlin ist chaotisch, energisch, faul, unentschlossen, zickig und herzlich zugleich - und absolut nicht zu greifen. Es macht den Anschein, als könne man nur eine subjektive Karikatur dieser Stadt zeichnen. Gibt es ein »wahres« Bild von Berlin oder Tausende Kollagen, die jeder individuell aus seinen Erlebnissen in der Hauptstadt zusammensetzt? Wer noch nicht genügend eigene hat, kann sich jetzt ausführlich inspirieren lassen.
Es folgt: Die Wahrheit über Berlin!
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Manchmal kann es aber beim Berliner Eintopf zur Klumpenbildung kommen, die nicht immer leicht zu verdauen ist. Manche Zutaten bilden Grüppchen und vereinen sich zu einem Riesenklumpen. Die äußersten Stücke haben noch Kontakt zur Suppe, während die inneren nur unter sich bleiben, womit sie außerstande sind, die zahlreichen Geschmäcker in sich aufzunehmen. Je größer der Klumpen, desto mehr Angriffsfläche bietet er für Anfeindungen seitens der Buletten und anderer Klumpen. Das kann auf Dauer fade schmecken.
Wem jetzt der Magen knurrt, ist hier genau richtig. Berlin ist nämlich ausgesprochen lecker!
Das weiß ich bestimmt, da ich eine Menge im Laufe meines jungen Lebens probieren durfte.
Seit über zehn Jahren lebe ich nun in Berlin. Heute bin ich Berliner. Aber das war nicht immer so.
Geboren wurde ich 1978 in Bulgariens Hauptstadt Sofia. Meiner Familie ging es damals sehr gut, da mein Vater das Glück hatte, mit Rockmusik seinen Unterhalt verdienen zu können. Sogar die Kindergärtnerinnen schleimten sich bei mir ein, um an ein Autogramm von meinem Vater zu kommen. Ich dachte, sie machen mich an, und war stolz wie Oskar.
Ich war Bulgare, so wie alle anderen auch, und noch dazu einer mit Promi-Eltern, quasi ein Balkan-Jimmy- Blue. Das war die einzige Phase meines Lebens, in der ich mich nicht anpassen, integrieren musste.
Da ich als Kind von den politischen Verhältnissen im Ostblock keinen Schimmer hatte, wusste ich nicht, wie mir geschah, als meine Eltern beschlossen, Bulgarien zu verlassen.
Mit viel Fingerspitzengefühl hatten sie die offizielle Erlaubnis bekommen, mich auf die Schweiz-Tour meines Vaters mitnehmen zu dürfen. Eines Morgens wurde mir in meinem Schweizer Hotelzimmer eröffnet, dass wir den Zug nach München nehmen würden. Die angespannten Gesichter meiner Eltern verrieten mir, dass dies keine gewöhnliche Zugreise werden würde. Das war im Herbst 1983. Ich war gerade mal fünf Jahre alt. Der Startschuss zu meinem bis heute andauernden Integrationsmarathon.
Tickets zurück nach Bulgarien gab es also nicht. Das Land, in dem meine Großeltern lebten und das für mich bis dato die einzig mir bekannte Welt gewesen war, lag jetzt in weiter Ferne. Damals konnte man die politische Entwicklung nicht vorhersagen; deshalb bestand die Möglichkeit, dass wir unsere Verwandten nie wiedersehen würden. Dass wir geflüchtet waren, begriff ich, als meine Eltern Asyl in Deutschland beantragt hatten. Der Sprung vom Promi zum Asylanten war für uns alle schwierig. So ein Asylantenheim war auch nicht ohne.
In dem dreistöckigen Fünfziger-Jahre-Bau war das Erdgeschoss den »dunkelhäutigen« Immigranten vorbehalten (Herkunft egal), der erste Stock für die Asiaten reserviert (genaue Herkunft auch egal), und in der zweiten Etage durfte der Ostblock hausen. Die Stadt München hielt das damals für eine kluge Aufteilung. Gelegentliche Schlägereien und Messerstechereien sprachen zwar dagegen, aber was soll's. Wer in Deutschland leben wollte, musste sich halt benehmen. »So ein Heim ist doch für den Afrikaner ein Schlaraffenland« (dabei bitte an einen Bayern denken, der versucht Hochdeutsch zu sprechen). »Selber schuld, wenn der von der Blutwurst mit Zwiebeln nix essen will, wegen seinem Mohammed - oder wie der noch mal heißt!« Wir Kinder aßen ebenfalls keine Blutwurst und bildeten so unbewusst unsere erste transnationale Allianz mit den Afrikanern.
Als bei den Asiaten die Pocken ausbrachen, durfte ich nicht mehr in den ersten Stock und musste auf dem Weg nach unten immer ganz schnell laufen, um nicht - wie ich glaubte - »aus Versehen einen Erreger zu verschlucken«. Da hält man besser die Luft an, dachte ich mir, was zur Folge hatte, dass ich unten immer mit hochrotem Kopf ankam. Gott sei Dank hat mich der Herbergsvater dann nie gesehen: Die Einordnung eines »Indianers« in dieses Drei-Arten-System hätte ihm bestimmt Kopfzerbrechen bereitet.
Für mich war die Zeit im Asylantenheim einerseits verstörend, andererseits auch großartig, denn ich durfte tagsüber in einen wunderschönen Kindergarten gehen. Die Gegend drum herum war erstaunlicherweise gutbürgerlich, und die Schule mit angeschlossenem Kindergarten war brandneu und hervorragend ausgestattet. Es gab nette Kindergärtnerinnen, ausgeglichene Kinder, neue Spielsachen und buntes Eis am Nachmittag. Wäre es damals schon Mode gewesen: Wir hätten mittags Biogemüse gegessen und wären nachmittags ins Kinderyoga gegangen.
Das war der Westen! Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass wir an einen besseren Ort geflüchtet waren. Nach genehmigtem Asylantrag zogen wir jedoch leider in ein sozial schwaches Viertel im Südosten Münchens, wo der Westen doch nicht mehr ganz so cool zu sein schien, was auch meinen neuen Kindergarten betraf: Es gab deprimierte Erzieherinnen, übellaunige Kinder, alte Spielsachen und - viele bunte Asylantenkinder wie mich. Der Spielplatz bestand aus einem rostigen Klettergerüst, einigen Betonquadern (ohne Witz!) und einer speckigen Rutsche. Wenn ich damals Haare am Po gehabt hätte, wäre ich nach dem Rutschvorgang perfekt gewachst gewesen. Hatte ich aber nicht und mied daher das eklige Ding.
Die Bewohner unseres Viertels stammten hauptsächlich aus dem Arbeitermilieu, waren arbeitslos und größtenteils deutsch. Des Öfteren kam es vor, dass so ein Prolo- Besoffski mich anschrie, wenn ich unter seinem Fenster spielte. »Geh doch zurück in deine Heimat, du Kanacke! «, kam's dann aus seinem unrasierten Gesicht gekrochen. Seine fetten Arme hatte er dabei breit auf ein Kissen gebettet, während er den ganzen Tag die Einöde vor seiner Nase beobachtete.
Es gab auch Profi-Assis, die sich einen Parabolspiegel an die Fassade vor ihrem Fenster montiert hatten. Dann konnten sie vom fleischfarbenen Sofa aus gleichzeitig nach den Ausländerkindern Ausschau halten und den Musikantenstadl im Fernsehen anschauen. Für diese Hirnleistung gab's von mir Respektpunkte, da ich schon damals Kreativität in allen Formen zu schätzen wusste.
Im Kindergarten hatten die Dümmsten unter uns die Macht übernommen und sich ein tolles Spiel ausgedacht: Man nehme den kleinen Finger, stecke ihn sich in den ... und dann in die ... Na ja, die Details erspare ich uns. Jedenfalls habe ich damals erkannt, dass ich anders war und anders leben wollte. Nachdem ich mir die Nase mit Seife ausgewaschen hatte, beschloss ich zu fliehen. Es sollte während des Mittagsschlafs passieren.
Ich beobachtete den Abstand zwischen den Kontrollgängen der Kindergärtnerinnen und schlich mich zwischen zweien aus dem Gefängnis, hinaus ins Freie. Draußen angekommen sah ich, dass mein Plan so seine Tücken hatte: Was jetzt, wohin sollte ich gehen? Mein Kinderhirn schlug mir vor: nach Hause! Ist am klügsten, fügte es hinzu. Den Anschiss, den ich von meiner bereits auf mich wartenden Mutter bekam, kann man sich ja vorstellen. Der Kindergarten hatte meine Flucht entdeckt und sofort Meldung gemacht. Brav, dachte ich, alles Denunzianten. So wirklich böse war mir meine Mutter zu meinem Erstaunen aber nicht wirklich. Ihr Blick verriet mir, dass sie mich verstand und sich selbst in dieser Umgebung nicht wohl fühlte.
Die Grundschule war ähnlich deprimierend. Es gab weiterhin Hosenpinkler, Verhaltensgestörte, Schläger und Lernschnecken. Salvatore hatte in der dritten Klasse gerade mal das halbe Alphabet kapiert, und das nervte tierisch, weil das Lerntempo dem schwächsten Glied angepasst wurde. Heute würde ich sagen, man muss ihn fördern und integrieren, damit er eine Chance hat, glücklich zu werden. Damals gab's von mir für jeden fehlenden Buchstaben in der Pause eins aufs Maul. Übel, ich weiß, aber ich platzte damals vor Ungeduld und Unterforderung.
Als sich dann 1988 meine Eltern trennten, war ich fast am Limit. Dieser Westen hatte ja echt was gebracht! Wenigstens hatte ich einigermaßen gute Noten und wurde aus dem Schul-Irrenhaus mit einer Gymnasiumsempfehlung entlassen. Mir wurde gesagt, die Kinder im Gymnasium wären mir etwas ähnlicher. »Ich will's hoffen«, seufzte ich. Doch was jetzt auf mich zukam, war absolut nicht zu erwarten gewesen: Meine Mutter heiratete ihren Freund, und wir zogen nach Singapur, einem Land, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte.
Dort ging ich in die »Deutsche Schule Singapur«, eine Privatschule, die hauptsächlich von Kindern aus wohlhabenden Familien besucht wurde. Die Lehrer waren nett, geduldig und äußerst kompetent. Ein geistiges Schlaraffenland sozusagen. Die Möhren, bei denen ich bis dato Unterricht gehabt hatte, konnte man dagegen in der Pfeife rauchen. Man nahm sich Zeit für mich, verbesserte in Nachhilfekursen mein Englisch und brachte mich an meine Leistungsgrenzen, was ich dank Salvatore bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlebt hatte.
Die Schule lag mitten im Dschungel, sogar Affen kamen uns regelmäßig besuchen, um uns die Fußbälle zu klauen. Doch wir kannten ihre Achillesferse: Bananen und Cola. In Kombination bringt das die Verdauung eines Affen völlig durcheinander.
Eines Tages kauften wir Unmengen dieser teuflischen Zutaten und platzierten sie mitten auf den Sportplatz. Schon bald war die Urwaldtruppe um den Köder versammelt und machte sich über die Leckereien her. Der Gegenwert unseres Pausengeldes verschwand augenblicklich in sämtlichen Affenmägen und begann dort seine Wirkung zu entfalten. Sie torkelten wie Betrunkene herum, bis sich einer von ihnen am Fußballtor festhielt und mit Hochdruck auf den Boden kotzte. Nach und nach taten es ihm auch die anderen nach, tänzelten herum und verteilten ihren Mageninhalt auf den Sportplatz und die Affenkumpel.
Ein herrliches Ballett, wie es sich ein verrückter Performancekünstler nicht besser hätte ausdenken können!
Tatsächlich habe ich viele schöne Erinnerungen an diese Zeit, da ich Asien in diesem Land mit all seinen Vorzügen kennenlernen durfte: das wundervolle Essen, die unglaublich schöne Natur und den intensiven Kulturmix der internationalen Bevölkerung. Innerhalb dieser Gesellschaft hatten wir allerdings einen speziellen Status. Wir waren die reichen Weißen, die ein Leben in Sportklubs und Privatschulen führten, unerreichbar für die allermeisten Menschen dort. Das war vermutlich auch der Grund, warum ich mich trotz der Vorzüge mehr denn je als Außenseiter gefühlt habe. Nach drei Jahren hatte ich mich tatsächlich eingelebt und begonnen, mich endlich wohl zu fühlen. Deshalb fiel mir auch der Abschied von meinen Freunden und dieser schönen Insel dann doch schwer, als mein Stiefvater ankündigte, dass wir wieder nach Deutschland zurückkehren würden.
Zurück in der Hauptstadt Bayerns endete auch schon mein Dasein als Sportklub-Schnösel. War 'ne tolle Zeit, den Eistee nach dem Tennis mit meinem guten Namen bezahlen zu können. Ich hatte mir extra eine fesche Unterschrift zugelegt, damit die Kellner mich cool fänden. Doch nun waren wir wieder ganz normale Leute, und mein Gekritzel interessierte niemanden.
Mein Stiefvater hatte ein Reihenhaus in einem ländlichen Vorort von München gekauft, in dem sich wohlhabende Städter ein spießiges Speckgürtel-Utopia geschaffen hatten.
Schnell musste ich dort feststellen, dass der Hase anders lief als in der singapurianischen Püppchen-Schule. Wenn ich wissbegierig dem Unterricht folgte und mich eifrig meldete, was in der Privatschule völlig normal gewesen war, wurde ich von meinen Sitznachbarn freundlich gebeten, dies zu unterlassen. Man würde das nicht machen, wenn man nicht als Streber gelten wollte. Immerhin warnten sie mich rechtzeitig, bevor ich womöglich noch sozialen Selbstmord begangen hätte. Die meisten Lehrer hatten hier dieselbe Einstellung wie meine Grundschul-Möhren, aber wenigstens gab es auch einige Engagierte, die sich bemühten, gestörten Teenagern etwas beizubringen. Für meine Mitschüler war ich der große (damals mit 13 Jahren schon fast ein Meter neunzig) Bulgare, der immer nur von Singapur erzählte. Gelegentlich bekam ich für meine Ich-habe-die-Welt-gesehen-Vorträge eins auf den Hinterkopf, was mich dann wieder auf den Boden der Realität zurückholte. Nach und nach wurde ich dann endlich von meinen Mitschülern akzeptiert, je mehr ich mich ihrem Verhalten anpasste. Und schon damals wurde mir klar:
Auf eine Integration folgt immer die nächste!
Die Zeit nach dem Abitur kam viel schneller, als ich es mir mit sechzehn vorgestellt hatte, und ich wurde ständig gefragt, was ich denn werden wollte. Ich hatte keine Ahnung. Worin war ich wirklich gut?
Diese Frage ließ sich am besten mit einem Filmzitat aus »Der Name der Rose« beantworten. Eine der Filmfiguren ist der geistig verwirrte Mönch Salvatore, der ein unverständliches Kauderwelsch spricht. Azon (Christian Slater) fragt seinen Meister (Sean Connery), welche Sprache der Mönch denn spreche. Dieser antwortet ihm: »Alle, Azon. Und keine.«
Passender hätte ich meine Talente nicht beschreiben können! Ein bisschen Salvatore scheint auch in mir zu sein.
Einer meiner Träume war, eine Karriere als professioneller Schlagzeuger zu starten.
Trotzdem entschied ich mich nach dem Abitur für ein Medizinstudium, und nach einer dreimonatigen Reise durch »Down Under«, wartete ein Brief von der Zentralen Vergabestelle der Studienplätze auf mich. Als ich meinen Zulassungsbescheid für Medizin in den Händen hielt, las ich sechs Buchstaben, die mein Leben für immer verändern sollten:
BERLIN!
Meine erste Wahlheimat. Denn bis dahin hatte mich noch nie jemand gefragt, wo ich leben wollte. Jetzt war damit Schluss! Ich hatte mir fest vorgenommen, Berlin zu meiner Heimat zu machen. Ich wollte dieses abstrakte Wort Wirklichkeit werden lassen, nach so vielen Jahren ständigen Wechsels. Kurz - ich hatte es satt, mich immer und immer wieder zu integrieren! Einmal also noch und dann nie wieder.
Denkste. Seit diesem Schritt sind mittlerweile zwölf Jahre vergangen, und ich muss mich immer noch anpassen. Denn Berlin ist chaotisch, energisch, faul, unentschlossen, zickig und herzlich zugleich - und absolut nicht zu greifen. Es macht den Anschein, als könne man nur eine subjektive Karikatur dieser Stadt zeichnen. Gibt es ein »wahres« Bild von Berlin oder Tausende Kollagen, die jeder individuell aus seinen Erlebnissen in der Hauptstadt zusammensetzt? Wer noch nicht genügend eigene hat, kann sich jetzt ausführlich inspirieren lassen.
Es folgt: Die Wahrheit über Berlin!
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Peter Baharov
Peter Baharov ist Wahl-Berliner. Nach Sofia, Singapur, Sydney und Schwabing ist er jetzt in Schöneberg gelandet und beobachtet die Eingeborenen und Zugezogenen und ihre mehr oder weniger erfolgreichen Anpassungsversuche in ihrem Kiez.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Baharov
- 2013, 2. Aufl., 256 Seiten, Maße: 12,3 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195942
- ISBN-13: 9783596195947
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „Die Wahrheit über Berlin “
Da geht es nicht immer glamourös zu und auch nicht immer politisch korrekt - aber meistens sehr lustig. Bild.de 20130617
Pressezitat
Da geht es nicht immer glamourös zu und auch nicht immer politisch korrekt - aber meistens sehr lustig. Bild.de 20130617
Kommentar zu "Die Wahrheit über Berlin"
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