Die Wasserfälle von Slunj
Roman
Österreich um die Jahrhundertwende. Die Zeit fließt langsam dahin: Man macht Karriere, man findet eine Geliebte, man geht an seiner Blindheit zugrunde...
Doderers letzter vollendeter Roman, eine kunstvolle, klare Komposition. Die Atmosphäre Wiens...
Doderers letzter vollendeter Roman, eine kunstvolle, klare Komposition. Die Atmosphäre Wiens...
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Produktinformationen zu „Die Wasserfälle von Slunj “
Österreich um die Jahrhundertwende. Die Zeit fließt langsam dahin: Man macht Karriere, man findet eine Geliebte, man geht an seiner Blindheit zugrunde...
Doderers letzter vollendeter Roman, eine kunstvolle, klare Komposition. Die Atmosphäre Wiens und der Donaumonarchie in dichtester Fülle.
Klappentext zu „Die Wasserfälle von Slunj “
Ein wildes ReichÖsterreich um die Jahrhundertwende. Die Zeit fließt langsam dahin: Man macht Karriere, man findet eine Geliebte, man geht an seiner Blindheit zugrunde...
Doderers letzter vollendeter Roman, eine kunstvolle, klare Komposition. Die Atmosphäre Wiens und der Donaumonarchie in dichtester Fülle.
Lese-Probe zu „Die Wasserfälle von Slunj “
Die Wasserfälle von Slunj von Heimito von DodererDer Punkt, wo Robert Clayton - damals siebenundzwanzig - seine spätere Frau zum ersten Mal gesehen hatte, lag (und liegt heute noch) erhöht über der Landschaft. Die Straße wendet sich beim Erreichen des Hügeikimms nach rechts. Clayton hielt sein Pferd an und blickte in die Aussicht - wie man eben an solchen über die Umgebung erhobenen Punkten unwillkürlich tut- und schon auch kam sie von links, wo der Hügelrücken breiter wurde, im hopsenden Galopp auf ihrem leichten Fuchs über einen kleinen Wiesenplan. heran.
Es ist jene Gegend eine der lieblichsten im südwestlichen England. Man sieht von dem Hügelrücken, darauf Robert Clayton einst gehalten hatte, nur das absinkende Land bis zum dreimal gebogenen, fast stehend-spiegelnden Flußlauf im Tale, und drüben wieder einen langen gegliederten sanften Anstieg mit Wald auf der Höhe: diesem Umstande wird es verdankt, daß die großen Werke für landwirtschaftliche Maschinen, die Robert's Vater garnicht weit von hier erbaut hatte, aus dem Bilde gehalten werden. Wäre der Wald drüben nicht, man sähe die Spitzen der Schlote. So bleibt alles im Grün und im Blinken des Wassers befangen.
Ein dreiviertel Jahr später schon schickten sie sich zur Hochzeit und Hochzeitsreise an.
... mehr
Diese sollte ins Exotische führen und doch nicht zu weit weg: also keineswegs etwa nach Kanada, obwohl die Braut dort Verwandte hatte. Man verfiel auf den Süden der österreichisch-ungarischen Monarchie, auf Kroatien. Bis Ostende, Nürnberg, Passau und Linz war's nicht exotisch. In Wien - hier bestand 1877 noch keine Niederlassung der Firma Clayton & Powers - traten sie rasch an das Fenster in ihrem Hotel im VIII. Bezirk, denn es ertönte auf der Straße unten ein seltsamer und lieblicher Gesang, den zwei junge Weiber vollführten, die mit kleinen Körben am Arm gemächlich die Gasse entlang gingen. Es waren kroatische Frauen aus dem Burgenlande, die getrockneten Lavendel zu verkaufen hatten: der Gesang kündigte das an. Dieses wurde immerhin von dem jungen Paare schon als exotisch empfunden, als irgendwie ,italienisch` (so sagten sie). Ihr Aufenthalt in Wien dauerte nicht lang und die übermäßige Hitze ließ ihn nicht ganz vergnüglich sein.
Sie sahen das obere Belvedere hingestreckt und bis zu den kleinen Ecktürmen ausgeflügelt in der Sonne, aber der Blick griff nicht daran im übergrellen Licht. Auch waren sie vielleicht von ihrer eigenen Leiblichkeit zu sehr eingenommen auf dieser Hochzeitsreise und noch weit entfernt von jenem Erfüllungs- Rückstoß, der jene Eingenommenheit dann ganz unverständlich macht, wenn auch nur für ein Kurzes. Auf der Terrasse vor dem Palast aber wurden sie von der Aussicht - 'immer noch annähernd jene, die Canaletto einst gemalt hat - durch ein winziges Zeit-Teilchen doch lebhaft berührt. Das Paar fuhr auch im Fiaker durch die Haupt-Allee im Prater. Sie ließen halten und wollten im Grünen gehen, die Allee verlassen, zwischen die uralten Bäume treten. Aber hier machten es die Stechmücken unmöglich, geruhig zu wandeln. Sie sahen einen großen Tümpel oder Weiher mit flachen sandigen Ufern ausgebreitet, in welchem einige bloßfüßige Buben herumfischten - unbegreiflich blieb dabei, wie sie die Mückenplage ertrugen - und von Zeit zu Zeit ihre Beute in große Einsiedgläser brachten, welche halb mit Wasser gefüllt am Ufer standen.
Clayton bückte sich und sah diese Gläser an. Es befanden sich Lurche darin, Molche, zum Teil halb durchsichtig, einer mit feuerrotem Bauch. Harriet, die neben ihm stand, bückte sich nicht, um die Tiere zu sehen. Clayton unterlag plötzlich einem hereinbrechenden Gefühl von Trübsäligkeit. Er fiel aus diesen letzten Tagen wie durch ein Loch im sonst dichtgeflochtenen Geweb' der Zeit während der Monate vor der Hochzeit, er fiel hierher auf den sumpfig-sandigen Uferrand; und die halbvertrockneten, von der Hitze gelblichen Binsen standen in Reihen aufwärts in den lackblauen Himmel.
Sie gingen zum Wagen zurück, der ganz langsam im Schritt weitergefahren war, und stiegen ein.
Am nächsten Tage waren sie schon auf der weiteren Reise in's Exotische; diese begann mit dicker Hitze im Halbcoupé erster Classe so lange der Zug noch in der Halle des Südbahnhofes stand. Das Gepäck war schon oben in den Netzen untergebracht worden. In der Wärme dunsteten Leder und Polsterung; feiner Rauchgeruch kam durch's Fenster. Es schien Clayton, daß Harriet viel weniger die Hitze fühle als er selbst. Allerdings hatte er sich auf dem Perron mehr bewegt gehabt als sie, war dem Gepäckträger entgegen gegangen und hatte ihm dann auch beim Verstauen der Koffer geholfen. Harriet Clayton lehnte in der Ecke. Clayton war langbeinig, um die Körpermitte äußerst schmal, oben erheblich breiter. Harriet blickte aus ihrer Ecke auf ihn, der noch stand. Ihr Gesicht sah keineswegs erhitzt aus, die Nase glänzte nicht im geringsten. Über dieser waren die starken Augenbrauen fast zusammengewachsen. Sie sah ihren Mann mit Vergnügen an. Er gefiel ihr. Seine sehnige Hagerkeit und außerordentliche Länge (der Sohn Donald sollte sie dereinst erben 1) waren nach ihrem Geschmacke. Sie sagte nichts und bewegte sich nicht. Ihr Strohhut hing an einem der hier angebrachten Haken. So war ihr dunkelbraunes Haar ganz sichtbar, von dem sie fast abnorm viel hatte. Über ihrem Mund stand ein feiner dunkler Flaum. Als der Schnellzug sachte anfuhr und die Halle verließ, konnten sie bald. etwas Zugwind erzeugen durch die offenstehende Coupétür und das dem ihren am Gange draußen gegenüberliegende Fenster. Bei rascherer Fahrt begann Harriet's Hut gleichmäßig zu pendeln. Es wurde fühlbar kühler und angenehmer. Clayton zog seine Pfeife und den halb aus Leder, halb aus Gummi bestehenden Tabaksbeutel hervor.
„Das riecht heimatlich", sagte Harriet, als er den Capstan in der Pfeife entzündete.
Damals fuhr ein Schnellzug von Wien bis zum eigentlichen Beginn der Strecke über den Semmering nicht viel weniger als zwei Stunden. Die Gegend war öde. Sie heißt ,Das Steinfeld'. Harriet las. Clayton hatte durch den Hotelportier eine zwei Tage alte Nummer der ,Times` erhalten können. Jener Hotelportier ist gewissermaßen richtungsweisend bezüglich der Reise-Route des jungen Paares gewesen. Er hieß Andreas Milohnic und war ein Dalmatiner, von der Insel Krk, der Sohn eines kroatischen Schiffskapitäns. Herr Andreas war beachtlich hübsch - Harriet sagte, sie habe sich als Schülerin die alten Römer so vorgestellt - und sprach perfekt englisch; dies hatte sein Vater, der Seemann, der es selbst gut beherrschte, ihn frühzeitig lernen lassen. Herr Milohnic junior aber konnte noch mehr, nämlich Französisch und Italienisch (freilich auch Deutsch wie sein Vater), obendrein Latein und Griechisch, denn er hatte in Agram das Gymnasium besucht und die Reifeprüfung ordnungsgemäß abgelegt: dann erst brachte er Lehrzeit und Schulen des Gastgewerbes hinter sich, aus reiner Vorliebe für diesen Berufszweig. Ein aussichtsreicher Hotelportier. Der Alte - übrigens Inhaber eines Patentes für große Fahrt und gleichwohl von seiner Jugend her einer der besten Kenner jener vor der dalmatinischen Küste liegenden Insel- und Klippenwelt, ihrer Kanäle und Durchfahrten - der Vater also nahm im höheren Alter und nach seiner Pensionierung einen seltsamen Weg. Erbsachen führten ihn nach Bregenz in Vorarlberg. Dort, am Wirtstische, gab er im Gespräch mit einem fremden Herrn von ungefähr zu erkennen, woher er komme und was er seiner Profession nach gewesen sei: eben dies aber schien den Fremden ganz gewaltig anzugehen und aufzuregen. Er machte sich bekannt - ein an der Reederei, der Schifffahrt und dem Werftbetrieb am Bodensee vielfach beteiligter Mann, dem sogar drei große Passagierdampfer gehörten - und beschwor den alten Milohnic, der ihm augenscheinlich gut gefiel, nach Bregenz zu übersiedeln. Es sei fast unmöglich, richtige Kapitäne für die Bodensee-Dampfer zu kriegen, solche aber wären für dies keineswegs immer harmlose Gewässer unbedingt erforderlich. Summa: der alte Milohnic schwamm jetzt auf dem Bodensee, und es ging ihm hervorragend gut dabei.
Milohnic junior aber, tüchtiger Sohn eines tüchtigen Vaters hatte in Wien für Mr. und Mrs. Clayton eine Reise-Route aus geheckt, wie sie wohl nur ein sehr eingehend des Landes Kundiger erstellen konnte. Es befanden sich innerhalb jener Route auch Ziele, von denen sogar viele Österreicher nie im Leben was gehört hatten.
Als der Zug nach einem Halt von etwa zehn Minuten wieder in Bewegung war, merkten Clayton und Harriet bald, daß es nun bergan ging. Die Gegend war nicht mehr flach. Jenseits einer breiten Talsohle zeigten sich waldige Berge. Sie hörten die Lokomotive jetzt in zahllosen eilig-keuchenden Ausstößen den Dampf hervorpuffen.. Der Zug fuhr flott. Rechter Hand, durch die offene Coupétür und das Gangfenster, war nur ein steiler Abhang zu sehen, buschig und waldig. Clayton beugte sich links ein klein wenig in den Wind, blickte über die Talsohle zu den Bergen, dann voraus, und sah, daß man in sanften Kurven an jenem Hange entlangfuhr. Nun erblickte er den vorderen Teil des Zuges. Die große schwere Maschine arbeitete heftig, die Luft schmeckte frisch, das war trotz des Rauches zu spüren, und der Lärm erzeugte jetzt kräftigen Widerhall. Im Fahrtwind sich zurückwendend entdeckte Clayton, daß am Schlusse des Zuges eine zweite große Lokomotive lief, die also schob, nicht zog. Ihr Rauchfang entließ eine donnernde Dampfsäule, deren Weiß von dunklen Kohlenschwaden getrübt war.
Die Berge drüben wuchsen hoch an. Nun stand man wieder. Ein ländlicher Perron. Viele Personen verließen die Waggons; wie es Clayton schien, waren das Personen der höheren Stände, Herren und Damen, jene zum Teil mit nachlässig über die eine Achsel gehängten Rucksäcken, diese mit elegantem Gepäck; eben rollten unten auf einem Wägelchen mehrere gelbe Handkoffer und flache Necessaires vorbei. Einige der Herren und Damen schienen erwartet worden zu sein, es gab Begrüßungen, Händeschütteln, Gelächter; die Schirm-Mützen von Hoteldienern tauchten auf.
Harriet sah nicht hinaus. Clayton stand am Fenster. Was ihn hier berührte, war heimatlich, aber warum nur? Es gab in England keine Bahnstationen mitten im Gebirge, vielleicht in Schottland, aber dort war er nie gewesen. Der Perron lag leer. Der Zug setzte sich wieder sanft in Bewegung. Clayton sah voraus und bemerkte, daß die Strecke nach links drehte. Kaum hatte er den Viadukt, dem man sich jetzt näherte, erblickt und als solchen erkannt, so verschwand schon das Terrain neben den Geleisen wie verschluckt: man fuhr bereits auf den mächtigen gemauerten Bogen in enormer Höhe dahin und über eine lang gestreckte Ortschaft, deren Straße unten durchlief.
Vom Überfahren des Viaduktes an ließ sich Clayton nicht mehr auf seinen Platz neben Harriet nieder.
Die Strecke wandte sich und bald immer wieder. Es war, als stiege man über eine gewundene Treppe zum Dach eines Gebäudes empor. Das kurze zischende Vorbeifliegen der Wand in gemauerten Einschnitten gab den Blick wieder frei für ein neues Bild, das jetzt in's Treffen trat und sich in die Aussicht schob, die viele Male schwarz verschluckt und verschlossen wurde von den Tunnels. Clayton hatte die Empfindung, schon sehr hoch zu sein, aber es ging noch höher. Jetzt sah er drüben in weitem Bogen die Bahntrasse liegen, über welche man eben vorhin gefahren war. Die Abstürze neben der Strecke wurden steiler und tiefer und schließlich schwindelnd, als man durch eine Art offener Galerie fuhr. Ihre Pfeiler zischten vorbei. In der nächsten Kurve sah er, so rückwärts wie vorne, die Lokomotiven donnernde Dampfstrahlen emporwerfen.
Es gab Stationen. Bei ihnen stiegen ähnliche Leute aus wie auf dem letzten Bahnhof vor dem Viadukt; und am Perron ging es ganz ebenso zu. Noch mehr Hoteldiener.
Clayton war während der ganze Fahrt über den Semmering in ununterbrochener Bewegung; bald vom Gang einen steilen Abhang emporschauend, dann vom Coupéfenster in die Tiefe blickend. Wieder fuhr man über einen hohen Viadukt. Clayton sprang auf den Gang hinaus, er wollte das eingerissene Waldtal aufwärts sehen. Nun war's vorbei. Der Steilhang kam dicht an die Strecke. Er betrat wieder das Abteil, entschuldigte sich bei Harriet wegen des häufigen Aus- und Eingehens und schaute aus dem Fenster in eine hier aufgegangene vielfältige Ferne, darin die Sonne sich an einzelne Felszähne lehnte, die sanft aus den Wäldern leuchteten, Wälder fern und wie Moos. Harriet lächelte. Clayton empfand den Ausblick geradezu als ein Übermaß. Sie bemerkte freilich und dachte es deutlich, daß sein Interesse an dieser Bergbahn über das des Ingenieurs hinausging. Zudem, er war ja kein Eisenbahnbauer und kein Ingenieur in jenem gehobenen Sinne, der hier demonstriert wurde, sondern ein Spezialist für mechanische Technologie in der Maschinenfabrik seines Vaters, ein angehender Betriebsdirektor, der auf Verbesserungen sann. Immerhin Techniker; so mochte er auch hier manches verstehen, was sie garnicht sah. Diese Sachen dachte Harriet hinter ihren zusammengewachsenen Augenbrauen. Sie spürte eine leichte Verlegtheit des Gehörs, etwas wie Watte in den Ohren, erkannte aber nicht die Ursache davon: das rasche Durchmessen eines bedeutenden Höhenunterschiedes. Clayton trat vom Fenster. Er blickte Harriet an; aber sie sah jetzt nicht auf; anders hätte sie bemerkt, daß sein Antlitz sich sozusagen eingetrübt hatte. Eine Station kam. Aus dem Reisehandbuch wußte Clayton, daß man sich nun in einer See- höhe von nahe an Zoo Metern befand. Danach endete eigentlich alles in der langen ziehenden und sausenden Finsternis eines Tunnels. Die Lampe an der Decke, für welche der Schaffner noch vor dem Beginn der Gebirgsstrecke gesorgt hatte, bestrahlte mäßig diese Kammer mit den Polstersitzen, die mit ihren beiden Bewohnern durch die Dunkelheit eilte. Clayton hatte die Fenster geschlossen. Im Tunnel dachte Harriet noch einmal an sein Entzücken über die Bahn, sein Aussehen dabei, das ihr sehr gut gefallen hatte. Der Gedanke, sich jenem Entzücken anzuschließen, streifte sie jetzt so wenig wie früher. Der Tunnel war weg. Der Zug fuhr klappend und schlagend schnell bergab; man fühlte es deutlich. Auf dem Berge war die Fahrt stellenweise sehr langsam geworden. Die Landschaft draußen beruhigte sich in waldigen Höhen, die flacher wurden. Jetzt plötzlich war Harriet's Gehör wieder ganz frei. Sie sagte es ihrem Mann und er gab ihr die Erklärung für diese Erscheinung.
In Agram vermeinten sie manchmal, sie seien noch zu Wien; in einem großen Café etwa. Besonders die Gesichter der Kellner waren ganz so wie in Wien, aber auch die mancher Gäste. „Austrian faces", sagte Harriet. Robert fand das angenehm.
Die Fahrt über den Semmering erwähnte er hintennach nie mehr.
Ihr nächstes Reiseziel war ein Marktflecken in Krain namens Cerknica, ein Ort, den man damals auch Zirknitz benannte. Er liegt nahe einem See, der manchmal - samt allen Fischen und sonstigem Getier - durch unterirdische Emissäre verschwindet, in jahrelangen ganz unregelmäßigen Abständen, ähnlich wie der Neusiedler See im Burgenlande, dessen so geartete Besonderheit schon Plinius gekannt hat.
Hier hatte Herr Milohnic - in einer Art von Reise-Dictionär, den er für das Ehepaar angefertigt, und der auch die notwendigsten Wörter Englisch-Slovenisch und Englisch-Kroatisch enthielt - eine Randzeichnung angebracht: nämlich einen kleinen Krebs: daneben ein großes Ausrufungs-Zeichen. Mit solcher Hilfe hatte man abends im Wirtshause bald eine hochgetürmte, in Servietten eingeschlagene Schüssel am Tische, die sich als ein Berg jener rotgekochten Tiere entpuppte. Der salzige frische Geschmack tat das seine - es waren enorme Burschen - und der Pozeganer Riesling mundete dazu in unbeschreiblicher Weise.
Aber Clayton-der nun einmal Molchgläser gleich interessiert untersuchte und sich für eine Bergbahn weit über. das Technische hinaus zu erwärmen vermochte - verlangte dorthin geführt zu werden, wo er diese Krebse lebend in ihrer natürlichen Umgebung zu betrachten Gelegenheit haben könnte. (So weit langten Milohnic' Dictionär und die Zeichensprache!) „Ja, ja", meinte der Wirt, und „es sind nur ein par hundert Schritte bis dahin."
Sie wurden am nächsten Tage bald getan. Es war nicht der eigentliche See, sondern irgend ein kleineres Gewässer, vom frischen Zirknitzbach durchflossen. Das Ufer war schattig. Die Wasseroberfläche aber spiegelte im Licht. Clayton legte sich in's Gras auf den Bauch, nahe dem Abbruch desUfers und beugte sich ganz hinab. Der Teich war hier am Rande kaum armtief und völlig klar. Zu seinem Erstaunen sah er alsbald drei oder vier der großen Krebse in der Nähe vom Ufer-Abbruch und von dessen Höhlungen umherkriechen. Clayton sprang auf. „Ich seh' schon welche l" rief er Harriet zu, die in der Wiese stand. Er warf den Rock ab, krempelte die Hemdärmel bis an die Achseln auf, legte sich wieder auf den Bauch und kroch so weit vor, daß seine langen Beine ihn eben noch im Gleichgewichte hielten. Dann tauchte er den rechten Arm langsam ein: das angezielte Tier aber, mit einem kräftigen Schwanzschlage nach rückwärts schwimmend, schnellte in die Tiefe des Wassers davon. Clayton, den dieser Vorgang überraschte (er hatte noch nie einen Krebs in freiem Wasser gesehen) und zugleich außerordentlich ergötzte, näherte sich mit der Hand einemanderen der Tiere; es saß unweit einer Uferhöhlung mit dem Kopf und den mächtigen Scheeren gegen den Teich gekehrt. Clayton wollte auch dieses zu einem putzigen Sprunge veranlassen; jedoch wurde die Annäherung seiner Hand von dem besonders großen Exemplare offenbar garnicht bemerkt. Da wagte er's denn und griff zu, und ohne darin Erfahrung zu haben, ganz auf die rechte Art: er bekam den Krebs am vorderen Teil des Körpers zu fassen, den man das Kopfbruststück nennt. Clayton zog den Arm herauf. Der Schwanz des Tieres schlug kräftig gegen die Bauchseite, das gepanzerte Geschöpf bog sich ganz nach rückwärts durch, die weit geöffneten großen Scheren versuchten nach hinten zu greifen. Es war freilich vergebens. Clayton drehte sich auf die linke Seite und setzte den Krebs in's Gras, der sogleich in sichtlicher Wut hoch auf seinen Beinen zu marschieren begann, die Scheeren bedrohlich vor sich hinstreckend. Clayton lachte. „Ich hab' ihn gekriegt 1" rief er Harriet zu, die näher herangekommen war.
Sie lächelte und sah auf ihren Mann und dessen lebendige Beute nieder. In der Stille hörte man die Zirknitz kräftig rauschen, die unweit von hier über eine Stufe des Gesteins in den Teich einfloß. Clayton blieb liegen und setzte den Krebs, der sogleich die Richtung gegen das Wasser genommen hatte, wieder zurück. Nach einer Weile aber nahm er ihn neuerlich behutsam beim Kopfbruststück und brachte ihn so, mit dem Arm hinablangend, dicht an den Rand des Wassers, aus welchem eine kleine Steinplatte flach herausragte. Hierher gesetzt, zögerte das schalige und scheerige Ungetüm anscheinend ein wenig, stieg aber dann mit Bedacht in's Wasser und verschwand gegen die Tiefe zu: Clayton, so lang er ihn sehen konnte, folgte seinem Weg, das Gesicht dicht über den Wasserspiegel haltend.
„Hat mit mir Bekanntschaft gemacht", sagte Clayton und deutete dem entschwundenen Krebs nach in den Teich.
„Wird nicht eben erfreut gewesen sein", meinte Harriet.
Eine weitere naturkundliche Jagd auf Krebse fand nicht statt. Harriet wollte auch keine mehr essen; ihr sei der Appetit darauf vergangen, sagte sie, seit dem Anblick des braungrünen kriechenden Tiers im Grase; es habe wie eine große Spinne ausgesehen. Clayton stimmte ihr lebhaft und wie erfreut zu. „Ich will auch keine Krebse mehr essen", sagte er.
Sie aßen jetzt Fische, deren es im See viele gab und die man hier vortrefflich zu braten verstand.
Sie blieben länger als vorgehabt und verschlampten dabei ein wenig hinsichtlich ihrer Toilettegewohnheiten. Es gab kein Badezimmer im kleinen Gasthof. Das tägliche Schwimmen - nicht in jenem Wasser, wo Clayton den Krebs gefangen hatte, sondern im See -- wurde als sportliches Vergnügen betrieben, besonders von Harriet, die darin, wie auch im Tauchen, überaus tüchtig war, und nicht so sehr der Abkühlung wegen. Trotz des hochsommerlich blauen Himmels litt man hier nie unter der Hitze. In diesem kühlen Grunde schien alles vom Wasser und dem dichten Grün beherrscht. Mit Verwunderung gedachten sie des Aufenthaltes zu Wien, etwa so, als hätten sie in einem Dampfbad gelebt, und schon gar, als der zufällige Blick auf ein am Fenster befindliches Thermometer ihnen zeigte, daß die Temperatur hier um nichts niederer war als dort. Die Fülle des Laubes überall, die plätschernden Gerinne der Zirknitz, das Weg-Biegen eines Wiesenpfades aus der Sonne unter die mächtigen Kuppeln der Bäume, der Wasserstaub, darin ein einzeln durchs dichte Geäst dringender Sonnenstab lag, dies alles schlug blaue Schattenbuchten überall selbst in die Helligkeit des Mittags und überwog die herrschende Wärme.
Das Zimmer hatte Grün. Links im Fenster war ein Baumwipfel teilweise sichtbar. Nach acht Tagen war es eigentlich schon ihrer beider eigenes Zimmer. So sehr hatte es sich verändert. Sie empfanden das, sagten aber nichts davon. Die Vorstellung, wie Harriet in der Wiese gestanden war (dahinter stand sie auch an jenem Tümpel im Wiener Prater) blieb für Clayton schmerzhaft. Er wußte auch schon, daß er sie eigentlich deshalb geheiratet hatte, dies vorausahnend und vorwegnehmend. Dann und wann war der Himmel bedeckt, das Licht lag wie grauer Staub in den Ecken des Fensters. Das Zimmer war geräumig, von dem matten Lichte bis an die rückwärtige Wand durchlegt. Es gab einen großen Tisch. Harriet war stets bereit, Briefe zu schreiben. Sie besaß alles dazu, auch ein verläßlich schließendes Reise-Tintenfaß. Es hatte, wenn geschlossen, die Gestalt einer Jokey-Mütze, es stellte eine solche vor, war auch dementsprechend gestreift. Clayton war nicht imstande, Briefe zu schreiben, aber Harriet vermochte das sogar abends nach dem Essen noch zu tun. Es machte Clayton einmal geradezu den Eindruck, als habe sie hier eine geordnete Kanzlei eröffnet. Sie schrieb rasch. In einer Stunde vier bis fünf Briefe. Nach England, nach Canada und sonst noch wohin. Ihre Schrift war groß und aufgerichtet, die Feder machte viel Geräusch, wenn sie über das lila Briefpapier fuhr. Clayton`lag am monströs geschwungenen mächtigen Diwan. An Milohnic in Wien schrieben sie einmal eine Karte.
Nach zehn Tagen erst weiter. Dem slowenischen Wirt war leid um solche Gäste, die von ihm gehegt und gepflegt worden waren, so daß die Claytons, wenn auch auf altväterische Art, mehr Komfort genossen hatten als man heute in manchem großen Hotel antrifft. Die nicht allzu lange Reise führte in ein wahrhaft anderes Tal, das von einem tief in sein enges Bett gezwängten Flusse gebildet war. Aber als sie, nach einer Wagenfahrt von Cetin bis zur Korana, an dieser entlang ihren ersten Spaziergang machten, wurde bald offenbar, daß der zimmerwährende und zunehmende Donner, welcher hier den Luftraum erfüllte, unmöglich von dem eingeschnittenen Flußbette neben ihnen ausgehen konnte.
Wie aufgerissen war dieses linker Hand nach einer Biegung. Die Einmündung aber zeigte sich bald abgeschlossen durch eine senkrechte weiße Wand von enormer Höhe, die, eins mit ihrem Donner, jetzt in geringer Entfernung vor ihnen stand.
Einen Augenblick lang rang Clayton nach Atem, als wäre ihm dieser wirklich ausgeblieben. Man kann nicht annehmen, daß ihm die einfachste Erklärung damals oder später eingefallen ist für dieÜbermacht des Eindruckes, den er jetzt erlitt: daß nämlich große Wassermengen von ihm bis dahin nur als waagrechte gesehen worden waren - etwa auf Seereisen - nie aber als senkrechte Wand aufgerichtet (sie erschien wenigstens im ersten Augenblicke als senkrecht und als einheitlich).
Auch Harriet schwieg. Auch sie war doch dem Schrecken zugänglich.
Oben an der weiß-schäumenden Kante - der untere Teil der Fälle stand in Schleiern - zeigten sich unverständliche Einzelheiten : Dächlein, Brücken, Gitter oder dergleichen, von altem braunem Holze. Diese Dinge dort oben wirkten schrecklich; gerade sie waren eigentlich das Schrecklichste an dem Katarakt, und doch lag es so ganz jenseits der Sagbarkeit, warum eigentlich.
Sie gingen jetzt weiter. Der Donner stand links, dann hinter ihnen, der Fall ihren Blicken entzogen.
Es sind die Wasserfälle der Slunjcica - fast mitten im Orte Slunj gelegen - eine sehenswerte Merkwürdigkeit jener Gegend, am allermeisten freilich war es ihre Bekrönung. Sie ist heute in solcher Weise nicht mehr vorhanden und dürfte schon vor mehreren Jahrzehnten zum Teil verschwunden gewesen sein. 1877 jedoch breitete sich noch dies eigentümliche Gerümpel mitten im schäumenden Wasser über die ganze obere Kante des Absturzes, mit Verbindungs-Stegen, geringen Geländern, Hüttchen und nicht immer Vertrauen erweckenden Brücken dazwischen. Es waren Mühlen, was sich da über die Breite des Kataraktes zog; und zwar sehr viele. Jede gehörte einem anderen Bauern.
Clayton und Harriet überschritten das tief eingewühlte Bett der Korana als sich eine Brücke bot und traten in eine veränderte Gegend. Die Slunjcica kam von weit her durch eine Art steiniger Planei: und hier jetzt das Wasser - es war in mächtige Breite auseinandergeflossen, brodelnd und unruhig in seiner ganzen Ausdehnung. Unmittelbar daran und dahinter die ersten Häuser des Marktes Slunj. Die Linie der Mühlen, welche den Katarakt bekrönten, wurde von Harriet und Clayton jetzt von rückwärts gesehen, aus einer Entfernung von etwa hundert Schritten: und darüber hinweg fiel der Blick in den leeren Luftraum. Erst indirekt erkannten sie, was diese braunen Wasserhütten eigentlich zu bedeuten hatten. Von der Straße hier zweigte eine andere in spitzem Winkel ab, gegen den Fall zu, dicht an das Wasser heranführend. Dort standen Wagen, hochbepackt mit Säcken, welche abgeladen und von einzelnen Männern über die Brücklein hinaus längs des Falles getragen wurden. Einige der Männer gingen nicht sehr weit, zur dritten oder vierten Hütte im schäumenden Wasser. Andere sah man ganz draußen klein mit den Säcken über die Stege gehen.
Was an dem gesehenen Bilde auf Clayton und Harriet innerlich tief und für den Augenblick fast vernichtend einwirkte, ist schwer zu sagen. Ein Wasserfall ist kein seltenes Naturphänomen. Die Mühlen an seinem oberen Rand allerdings bildeten eine Curiosität, die sie doch gerade als solche nicht zu empfinden und also abzuwehren vermochten. Beim Heimwege wandten sie sich noch einmal nach den Fällen um und sahen oben wiederum klein deren Bekrönung.
Wie auch immer - das Ganze drängte sie zueinander und sie machten den Weg zum wartenden Wagen zurück Arm in Arm längs des Flusses; und waren glücklich, abends in der Wirts- Stube, und glücklich in ihrem Schlafzimmer.
Nach der Rückkehr aus dem Süden erfuhren sie bedeutsame Neuigkeiten. Diese wurden dem jungen Paare vom ganz alten Clayton - damals erst zweiundsechzig - mitgeteilt. Ihn gab es ja immerhin auch, Roberts Vater: sogar in recht maßgeblicher Weise.
Das auf die Neuigkeiten bezügliche Gespräch fand am Tage nach ihrer Ankunft in Brindley-Hall statt: tatsächlich in der Halle. Man war nach Tische vor das bereits erforderliche lebhafte Kaminfeuer gegangen. Vater Clayton teilte überraschend mit, er sei inzwischen in Wien gewesen, um einige Vorbesprechungen zu führen. Die Errichtung eines Werkes dort für landwirtschaftliche Maschinen sei für ihn nun eine beschlossene Sache. Über die enormen Absatzmöglichkeiten in den zum Teil wenig entwickelten Gebieten des Südostens bestehe kein Zweifel. Der Import aus England könne sich aus vielen Gründen - worunter die Fragen von Transport und Zoll nicht einmal die vordringlichsten seien - an Rentabilität niemals messen mit einer Erzeugung aller Geräte und der zu ihrem Antrieb erforderlichen Lokomobilen gleich an Ort und Stelle, nämlich in Österreich selbst. Zuletzt sagte der ganz alte Clayton, daß er schon Gründe gekauft habe und daß man unverzüglich mit der Adaptierung von bereits vorhandenen Anlagen und dem Hinzubau neuer beginnen werde. Das Technologische vor allem sei jetzt von erstrangiger Bedeutung: die zu erzeugenden Typen müßten dem zu deckenden Bedarf - auch einem solchen in den Alpenländern - genauestens angepaßt werden. Schließlich: „Du wirst Deutsch lernen, und womöglich noch Kroatisch oder andere derartige Sprachen dazu und deinen Sitz mit Harriet in Wien nehmen. Das Technologische duldet hier überhaupt keinen Aufschub. Ich habe alle Informationen mitgebracht, so daß wir hier im Werk sogleich die Dinge entwickeln können. In Wien muß sofort ein Bureau eröffnet werden, das die Sachen dort in die Hand nimmt. Leider ist es mir in der kurzen Zeit nicht gelungen, jemand geeigneten dafür zu finden, für eine Kanzlei, meine ich. Mit Inseraten und Stellenvermittlungen will ich mir nichts an fangen."
„Wir schreiben an Milohnic", sagte Harriet zu Bob.
Der Sohn erklärte dem. Vater, wer das sei.
„Gut", sagte der Alte.
Man kann nach diesem allem leicht denken, daß sich in der folgenden Zeit vieles änderte und daß, als ein und ein halbes Jahr vergangen waren, sich noch viel mehr bereits geändert hatte. Das Werk Clayton & Powers in Wien stand, das heißt eigentlich, es lief bereits, und aus vollen Kräften. Der alte Clayton hatte sich nicht geirrt. Im Bureau schaltete Herr Chwostik. Noch andere brauchbare Leute waren von dem tüchtigen Milohnic - den man für solche Dienste freilich honorierte herbeigebracht worden. Bob Clayton sprach bereits passabel Deutsch, und kroatische Stunden nahm er bei dem trefflichen Andreas. Harriet hatte inzwischen - übrigens genau neun Monate nach ihrem seinerzeitigen Eintreffen in Slunj - einen Sohn geboren, den man Donald nannte.
Als der Abschied von England näher gerückt war - ohne daß man bisher eigentlich so ganz anschaulich dieses Bevorstehenden gedacht hatte - erwies er sich als eine gewichtige Sache, die von irgendeinem Tage an das Herz zu belagern begann, und auch dasjenige Harriets. Ihr damaliger Zustand erlaubte ohneweiteres noch das Reiten:; und so waren Robert und sie - Harriet auf dem Fuchsen - mehrmals oben am breiten Hügelkamm, und ihr Pferd machte seine Sprünge über die gleiche Wiese wie damals, als sie Robert Clayton zum ersten Mal gesehen.
Das Wetter war nicht ganz klar, es war milde und milchig und man erblickte den Kirchtum jenseits des Flusses nur als einen dünnen Strich.
Donald Clayton kam am io. Mai des Jahres 1878 in Wien zur Welt, wurde jedoch, sobald er das schulpflichtige Alter erreicht hatte, nach England gebracht und dort erzogen.. Hierin lag eine gewisse Härte gegen Harriet, die zu üben dem ganz alten Clayton offenbar leicht fiel. Der Buh lebte, so lange er die Elementarschule besuchte, im Hause seines Großvaters. Später kam er in eine public school (Realschule). Die technische Hochschule absolvierte Donald jedoch zu Wien - von Kindheit an hatte er Deutsch, daneben noch andere Sprachen gelernt - und erwarb als Maschinenbauer im Frühsommer 1902, also mit 24 Jahren, den Grad eines Ingenieurs.
Von da ab war Donald im Wiener Werk tätig, welches er schon aus mancher Ferienpraxis gut kannte.
Von da ab gewannen auch Vater und Sohn Clayton, die sich immer ähnlicher sahen je älter sie wurden, den Charakter einer festen Prägung, wie die beiden Seiten einer Münze. Donald ergraute schon gegen sein dreißigstes Jahr an den Schläfen, während sein Vater noch hoch in den Fünfzig ein unverfärbtes und ungefärbtes Haar am Haupte trug. In England nannte man sie bereits ,Clayton bros.', was so viel bedeutet wie die Brüder Clayton. Der einzige sehr starke, ja scharfe Unterschied zwischen Vater und Sohn war kein in's Auge springender. Donald hatte von seiner Mutter den gerade abfallenden Hinterkopf geerbt (welchen man unter der zeitmodischen Frisur bei ihr kaum sah). Roberts Schädel war rückwärts stark ausgewölbt.
Copyright © 12. Auflage Mai 2004 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de
Diese sollte ins Exotische führen und doch nicht zu weit weg: also keineswegs etwa nach Kanada, obwohl die Braut dort Verwandte hatte. Man verfiel auf den Süden der österreichisch-ungarischen Monarchie, auf Kroatien. Bis Ostende, Nürnberg, Passau und Linz war's nicht exotisch. In Wien - hier bestand 1877 noch keine Niederlassung der Firma Clayton & Powers - traten sie rasch an das Fenster in ihrem Hotel im VIII. Bezirk, denn es ertönte auf der Straße unten ein seltsamer und lieblicher Gesang, den zwei junge Weiber vollführten, die mit kleinen Körben am Arm gemächlich die Gasse entlang gingen. Es waren kroatische Frauen aus dem Burgenlande, die getrockneten Lavendel zu verkaufen hatten: der Gesang kündigte das an. Dieses wurde immerhin von dem jungen Paare schon als exotisch empfunden, als irgendwie ,italienisch` (so sagten sie). Ihr Aufenthalt in Wien dauerte nicht lang und die übermäßige Hitze ließ ihn nicht ganz vergnüglich sein.
Sie sahen das obere Belvedere hingestreckt und bis zu den kleinen Ecktürmen ausgeflügelt in der Sonne, aber der Blick griff nicht daran im übergrellen Licht. Auch waren sie vielleicht von ihrer eigenen Leiblichkeit zu sehr eingenommen auf dieser Hochzeitsreise und noch weit entfernt von jenem Erfüllungs- Rückstoß, der jene Eingenommenheit dann ganz unverständlich macht, wenn auch nur für ein Kurzes. Auf der Terrasse vor dem Palast aber wurden sie von der Aussicht - 'immer noch annähernd jene, die Canaletto einst gemalt hat - durch ein winziges Zeit-Teilchen doch lebhaft berührt. Das Paar fuhr auch im Fiaker durch die Haupt-Allee im Prater. Sie ließen halten und wollten im Grünen gehen, die Allee verlassen, zwischen die uralten Bäume treten. Aber hier machten es die Stechmücken unmöglich, geruhig zu wandeln. Sie sahen einen großen Tümpel oder Weiher mit flachen sandigen Ufern ausgebreitet, in welchem einige bloßfüßige Buben herumfischten - unbegreiflich blieb dabei, wie sie die Mückenplage ertrugen - und von Zeit zu Zeit ihre Beute in große Einsiedgläser brachten, welche halb mit Wasser gefüllt am Ufer standen.
Clayton bückte sich und sah diese Gläser an. Es befanden sich Lurche darin, Molche, zum Teil halb durchsichtig, einer mit feuerrotem Bauch. Harriet, die neben ihm stand, bückte sich nicht, um die Tiere zu sehen. Clayton unterlag plötzlich einem hereinbrechenden Gefühl von Trübsäligkeit. Er fiel aus diesen letzten Tagen wie durch ein Loch im sonst dichtgeflochtenen Geweb' der Zeit während der Monate vor der Hochzeit, er fiel hierher auf den sumpfig-sandigen Uferrand; und die halbvertrockneten, von der Hitze gelblichen Binsen standen in Reihen aufwärts in den lackblauen Himmel.
Sie gingen zum Wagen zurück, der ganz langsam im Schritt weitergefahren war, und stiegen ein.
Am nächsten Tage waren sie schon auf der weiteren Reise in's Exotische; diese begann mit dicker Hitze im Halbcoupé erster Classe so lange der Zug noch in der Halle des Südbahnhofes stand. Das Gepäck war schon oben in den Netzen untergebracht worden. In der Wärme dunsteten Leder und Polsterung; feiner Rauchgeruch kam durch's Fenster. Es schien Clayton, daß Harriet viel weniger die Hitze fühle als er selbst. Allerdings hatte er sich auf dem Perron mehr bewegt gehabt als sie, war dem Gepäckträger entgegen gegangen und hatte ihm dann auch beim Verstauen der Koffer geholfen. Harriet Clayton lehnte in der Ecke. Clayton war langbeinig, um die Körpermitte äußerst schmal, oben erheblich breiter. Harriet blickte aus ihrer Ecke auf ihn, der noch stand. Ihr Gesicht sah keineswegs erhitzt aus, die Nase glänzte nicht im geringsten. Über dieser waren die starken Augenbrauen fast zusammengewachsen. Sie sah ihren Mann mit Vergnügen an. Er gefiel ihr. Seine sehnige Hagerkeit und außerordentliche Länge (der Sohn Donald sollte sie dereinst erben 1) waren nach ihrem Geschmacke. Sie sagte nichts und bewegte sich nicht. Ihr Strohhut hing an einem der hier angebrachten Haken. So war ihr dunkelbraunes Haar ganz sichtbar, von dem sie fast abnorm viel hatte. Über ihrem Mund stand ein feiner dunkler Flaum. Als der Schnellzug sachte anfuhr und die Halle verließ, konnten sie bald. etwas Zugwind erzeugen durch die offenstehende Coupétür und das dem ihren am Gange draußen gegenüberliegende Fenster. Bei rascherer Fahrt begann Harriet's Hut gleichmäßig zu pendeln. Es wurde fühlbar kühler und angenehmer. Clayton zog seine Pfeife und den halb aus Leder, halb aus Gummi bestehenden Tabaksbeutel hervor.
„Das riecht heimatlich", sagte Harriet, als er den Capstan in der Pfeife entzündete.
Damals fuhr ein Schnellzug von Wien bis zum eigentlichen Beginn der Strecke über den Semmering nicht viel weniger als zwei Stunden. Die Gegend war öde. Sie heißt ,Das Steinfeld'. Harriet las. Clayton hatte durch den Hotelportier eine zwei Tage alte Nummer der ,Times` erhalten können. Jener Hotelportier ist gewissermaßen richtungsweisend bezüglich der Reise-Route des jungen Paares gewesen. Er hieß Andreas Milohnic und war ein Dalmatiner, von der Insel Krk, der Sohn eines kroatischen Schiffskapitäns. Herr Andreas war beachtlich hübsch - Harriet sagte, sie habe sich als Schülerin die alten Römer so vorgestellt - und sprach perfekt englisch; dies hatte sein Vater, der Seemann, der es selbst gut beherrschte, ihn frühzeitig lernen lassen. Herr Milohnic junior aber konnte noch mehr, nämlich Französisch und Italienisch (freilich auch Deutsch wie sein Vater), obendrein Latein und Griechisch, denn er hatte in Agram das Gymnasium besucht und die Reifeprüfung ordnungsgemäß abgelegt: dann erst brachte er Lehrzeit und Schulen des Gastgewerbes hinter sich, aus reiner Vorliebe für diesen Berufszweig. Ein aussichtsreicher Hotelportier. Der Alte - übrigens Inhaber eines Patentes für große Fahrt und gleichwohl von seiner Jugend her einer der besten Kenner jener vor der dalmatinischen Küste liegenden Insel- und Klippenwelt, ihrer Kanäle und Durchfahrten - der Vater also nahm im höheren Alter und nach seiner Pensionierung einen seltsamen Weg. Erbsachen führten ihn nach Bregenz in Vorarlberg. Dort, am Wirtstische, gab er im Gespräch mit einem fremden Herrn von ungefähr zu erkennen, woher er komme und was er seiner Profession nach gewesen sei: eben dies aber schien den Fremden ganz gewaltig anzugehen und aufzuregen. Er machte sich bekannt - ein an der Reederei, der Schifffahrt und dem Werftbetrieb am Bodensee vielfach beteiligter Mann, dem sogar drei große Passagierdampfer gehörten - und beschwor den alten Milohnic, der ihm augenscheinlich gut gefiel, nach Bregenz zu übersiedeln. Es sei fast unmöglich, richtige Kapitäne für die Bodensee-Dampfer zu kriegen, solche aber wären für dies keineswegs immer harmlose Gewässer unbedingt erforderlich. Summa: der alte Milohnic schwamm jetzt auf dem Bodensee, und es ging ihm hervorragend gut dabei.
Milohnic junior aber, tüchtiger Sohn eines tüchtigen Vaters hatte in Wien für Mr. und Mrs. Clayton eine Reise-Route aus geheckt, wie sie wohl nur ein sehr eingehend des Landes Kundiger erstellen konnte. Es befanden sich innerhalb jener Route auch Ziele, von denen sogar viele Österreicher nie im Leben was gehört hatten.
Als der Zug nach einem Halt von etwa zehn Minuten wieder in Bewegung war, merkten Clayton und Harriet bald, daß es nun bergan ging. Die Gegend war nicht mehr flach. Jenseits einer breiten Talsohle zeigten sich waldige Berge. Sie hörten die Lokomotive jetzt in zahllosen eilig-keuchenden Ausstößen den Dampf hervorpuffen.. Der Zug fuhr flott. Rechter Hand, durch die offene Coupétür und das Gangfenster, war nur ein steiler Abhang zu sehen, buschig und waldig. Clayton beugte sich links ein klein wenig in den Wind, blickte über die Talsohle zu den Bergen, dann voraus, und sah, daß man in sanften Kurven an jenem Hange entlangfuhr. Nun erblickte er den vorderen Teil des Zuges. Die große schwere Maschine arbeitete heftig, die Luft schmeckte frisch, das war trotz des Rauches zu spüren, und der Lärm erzeugte jetzt kräftigen Widerhall. Im Fahrtwind sich zurückwendend entdeckte Clayton, daß am Schlusse des Zuges eine zweite große Lokomotive lief, die also schob, nicht zog. Ihr Rauchfang entließ eine donnernde Dampfsäule, deren Weiß von dunklen Kohlenschwaden getrübt war.
Die Berge drüben wuchsen hoch an. Nun stand man wieder. Ein ländlicher Perron. Viele Personen verließen die Waggons; wie es Clayton schien, waren das Personen der höheren Stände, Herren und Damen, jene zum Teil mit nachlässig über die eine Achsel gehängten Rucksäcken, diese mit elegantem Gepäck; eben rollten unten auf einem Wägelchen mehrere gelbe Handkoffer und flache Necessaires vorbei. Einige der Herren und Damen schienen erwartet worden zu sein, es gab Begrüßungen, Händeschütteln, Gelächter; die Schirm-Mützen von Hoteldienern tauchten auf.
Harriet sah nicht hinaus. Clayton stand am Fenster. Was ihn hier berührte, war heimatlich, aber warum nur? Es gab in England keine Bahnstationen mitten im Gebirge, vielleicht in Schottland, aber dort war er nie gewesen. Der Perron lag leer. Der Zug setzte sich wieder sanft in Bewegung. Clayton sah voraus und bemerkte, daß die Strecke nach links drehte. Kaum hatte er den Viadukt, dem man sich jetzt näherte, erblickt und als solchen erkannt, so verschwand schon das Terrain neben den Geleisen wie verschluckt: man fuhr bereits auf den mächtigen gemauerten Bogen in enormer Höhe dahin und über eine lang gestreckte Ortschaft, deren Straße unten durchlief.
Vom Überfahren des Viaduktes an ließ sich Clayton nicht mehr auf seinen Platz neben Harriet nieder.
Die Strecke wandte sich und bald immer wieder. Es war, als stiege man über eine gewundene Treppe zum Dach eines Gebäudes empor. Das kurze zischende Vorbeifliegen der Wand in gemauerten Einschnitten gab den Blick wieder frei für ein neues Bild, das jetzt in's Treffen trat und sich in die Aussicht schob, die viele Male schwarz verschluckt und verschlossen wurde von den Tunnels. Clayton hatte die Empfindung, schon sehr hoch zu sein, aber es ging noch höher. Jetzt sah er drüben in weitem Bogen die Bahntrasse liegen, über welche man eben vorhin gefahren war. Die Abstürze neben der Strecke wurden steiler und tiefer und schließlich schwindelnd, als man durch eine Art offener Galerie fuhr. Ihre Pfeiler zischten vorbei. In der nächsten Kurve sah er, so rückwärts wie vorne, die Lokomotiven donnernde Dampfstrahlen emporwerfen.
Es gab Stationen. Bei ihnen stiegen ähnliche Leute aus wie auf dem letzten Bahnhof vor dem Viadukt; und am Perron ging es ganz ebenso zu. Noch mehr Hoteldiener.
Clayton war während der ganze Fahrt über den Semmering in ununterbrochener Bewegung; bald vom Gang einen steilen Abhang emporschauend, dann vom Coupéfenster in die Tiefe blickend. Wieder fuhr man über einen hohen Viadukt. Clayton sprang auf den Gang hinaus, er wollte das eingerissene Waldtal aufwärts sehen. Nun war's vorbei. Der Steilhang kam dicht an die Strecke. Er betrat wieder das Abteil, entschuldigte sich bei Harriet wegen des häufigen Aus- und Eingehens und schaute aus dem Fenster in eine hier aufgegangene vielfältige Ferne, darin die Sonne sich an einzelne Felszähne lehnte, die sanft aus den Wäldern leuchteten, Wälder fern und wie Moos. Harriet lächelte. Clayton empfand den Ausblick geradezu als ein Übermaß. Sie bemerkte freilich und dachte es deutlich, daß sein Interesse an dieser Bergbahn über das des Ingenieurs hinausging. Zudem, er war ja kein Eisenbahnbauer und kein Ingenieur in jenem gehobenen Sinne, der hier demonstriert wurde, sondern ein Spezialist für mechanische Technologie in der Maschinenfabrik seines Vaters, ein angehender Betriebsdirektor, der auf Verbesserungen sann. Immerhin Techniker; so mochte er auch hier manches verstehen, was sie garnicht sah. Diese Sachen dachte Harriet hinter ihren zusammengewachsenen Augenbrauen. Sie spürte eine leichte Verlegtheit des Gehörs, etwas wie Watte in den Ohren, erkannte aber nicht die Ursache davon: das rasche Durchmessen eines bedeutenden Höhenunterschiedes. Clayton trat vom Fenster. Er blickte Harriet an; aber sie sah jetzt nicht auf; anders hätte sie bemerkt, daß sein Antlitz sich sozusagen eingetrübt hatte. Eine Station kam. Aus dem Reisehandbuch wußte Clayton, daß man sich nun in einer See- höhe von nahe an Zoo Metern befand. Danach endete eigentlich alles in der langen ziehenden und sausenden Finsternis eines Tunnels. Die Lampe an der Decke, für welche der Schaffner noch vor dem Beginn der Gebirgsstrecke gesorgt hatte, bestrahlte mäßig diese Kammer mit den Polstersitzen, die mit ihren beiden Bewohnern durch die Dunkelheit eilte. Clayton hatte die Fenster geschlossen. Im Tunnel dachte Harriet noch einmal an sein Entzücken über die Bahn, sein Aussehen dabei, das ihr sehr gut gefallen hatte. Der Gedanke, sich jenem Entzücken anzuschließen, streifte sie jetzt so wenig wie früher. Der Tunnel war weg. Der Zug fuhr klappend und schlagend schnell bergab; man fühlte es deutlich. Auf dem Berge war die Fahrt stellenweise sehr langsam geworden. Die Landschaft draußen beruhigte sich in waldigen Höhen, die flacher wurden. Jetzt plötzlich war Harriet's Gehör wieder ganz frei. Sie sagte es ihrem Mann und er gab ihr die Erklärung für diese Erscheinung.
In Agram vermeinten sie manchmal, sie seien noch zu Wien; in einem großen Café etwa. Besonders die Gesichter der Kellner waren ganz so wie in Wien, aber auch die mancher Gäste. „Austrian faces", sagte Harriet. Robert fand das angenehm.
Die Fahrt über den Semmering erwähnte er hintennach nie mehr.
Ihr nächstes Reiseziel war ein Marktflecken in Krain namens Cerknica, ein Ort, den man damals auch Zirknitz benannte. Er liegt nahe einem See, der manchmal - samt allen Fischen und sonstigem Getier - durch unterirdische Emissäre verschwindet, in jahrelangen ganz unregelmäßigen Abständen, ähnlich wie der Neusiedler See im Burgenlande, dessen so geartete Besonderheit schon Plinius gekannt hat.
Hier hatte Herr Milohnic - in einer Art von Reise-Dictionär, den er für das Ehepaar angefertigt, und der auch die notwendigsten Wörter Englisch-Slovenisch und Englisch-Kroatisch enthielt - eine Randzeichnung angebracht: nämlich einen kleinen Krebs: daneben ein großes Ausrufungs-Zeichen. Mit solcher Hilfe hatte man abends im Wirtshause bald eine hochgetürmte, in Servietten eingeschlagene Schüssel am Tische, die sich als ein Berg jener rotgekochten Tiere entpuppte. Der salzige frische Geschmack tat das seine - es waren enorme Burschen - und der Pozeganer Riesling mundete dazu in unbeschreiblicher Weise.
Aber Clayton-der nun einmal Molchgläser gleich interessiert untersuchte und sich für eine Bergbahn weit über. das Technische hinaus zu erwärmen vermochte - verlangte dorthin geführt zu werden, wo er diese Krebse lebend in ihrer natürlichen Umgebung zu betrachten Gelegenheit haben könnte. (So weit langten Milohnic' Dictionär und die Zeichensprache!) „Ja, ja", meinte der Wirt, und „es sind nur ein par hundert Schritte bis dahin."
Sie wurden am nächsten Tage bald getan. Es war nicht der eigentliche See, sondern irgend ein kleineres Gewässer, vom frischen Zirknitzbach durchflossen. Das Ufer war schattig. Die Wasseroberfläche aber spiegelte im Licht. Clayton legte sich in's Gras auf den Bauch, nahe dem Abbruch desUfers und beugte sich ganz hinab. Der Teich war hier am Rande kaum armtief und völlig klar. Zu seinem Erstaunen sah er alsbald drei oder vier der großen Krebse in der Nähe vom Ufer-Abbruch und von dessen Höhlungen umherkriechen. Clayton sprang auf. „Ich seh' schon welche l" rief er Harriet zu, die in der Wiese stand. Er warf den Rock ab, krempelte die Hemdärmel bis an die Achseln auf, legte sich wieder auf den Bauch und kroch so weit vor, daß seine langen Beine ihn eben noch im Gleichgewichte hielten. Dann tauchte er den rechten Arm langsam ein: das angezielte Tier aber, mit einem kräftigen Schwanzschlage nach rückwärts schwimmend, schnellte in die Tiefe des Wassers davon. Clayton, den dieser Vorgang überraschte (er hatte noch nie einen Krebs in freiem Wasser gesehen) und zugleich außerordentlich ergötzte, näherte sich mit der Hand einemanderen der Tiere; es saß unweit einer Uferhöhlung mit dem Kopf und den mächtigen Scheeren gegen den Teich gekehrt. Clayton wollte auch dieses zu einem putzigen Sprunge veranlassen; jedoch wurde die Annäherung seiner Hand von dem besonders großen Exemplare offenbar garnicht bemerkt. Da wagte er's denn und griff zu, und ohne darin Erfahrung zu haben, ganz auf die rechte Art: er bekam den Krebs am vorderen Teil des Körpers zu fassen, den man das Kopfbruststück nennt. Clayton zog den Arm herauf. Der Schwanz des Tieres schlug kräftig gegen die Bauchseite, das gepanzerte Geschöpf bog sich ganz nach rückwärts durch, die weit geöffneten großen Scheren versuchten nach hinten zu greifen. Es war freilich vergebens. Clayton drehte sich auf die linke Seite und setzte den Krebs in's Gras, der sogleich in sichtlicher Wut hoch auf seinen Beinen zu marschieren begann, die Scheeren bedrohlich vor sich hinstreckend. Clayton lachte. „Ich hab' ihn gekriegt 1" rief er Harriet zu, die näher herangekommen war.
Sie lächelte und sah auf ihren Mann und dessen lebendige Beute nieder. In der Stille hörte man die Zirknitz kräftig rauschen, die unweit von hier über eine Stufe des Gesteins in den Teich einfloß. Clayton blieb liegen und setzte den Krebs, der sogleich die Richtung gegen das Wasser genommen hatte, wieder zurück. Nach einer Weile aber nahm er ihn neuerlich behutsam beim Kopfbruststück und brachte ihn so, mit dem Arm hinablangend, dicht an den Rand des Wassers, aus welchem eine kleine Steinplatte flach herausragte. Hierher gesetzt, zögerte das schalige und scheerige Ungetüm anscheinend ein wenig, stieg aber dann mit Bedacht in's Wasser und verschwand gegen die Tiefe zu: Clayton, so lang er ihn sehen konnte, folgte seinem Weg, das Gesicht dicht über den Wasserspiegel haltend.
„Hat mit mir Bekanntschaft gemacht", sagte Clayton und deutete dem entschwundenen Krebs nach in den Teich.
„Wird nicht eben erfreut gewesen sein", meinte Harriet.
Eine weitere naturkundliche Jagd auf Krebse fand nicht statt. Harriet wollte auch keine mehr essen; ihr sei der Appetit darauf vergangen, sagte sie, seit dem Anblick des braungrünen kriechenden Tiers im Grase; es habe wie eine große Spinne ausgesehen. Clayton stimmte ihr lebhaft und wie erfreut zu. „Ich will auch keine Krebse mehr essen", sagte er.
Sie aßen jetzt Fische, deren es im See viele gab und die man hier vortrefflich zu braten verstand.
Sie blieben länger als vorgehabt und verschlampten dabei ein wenig hinsichtlich ihrer Toilettegewohnheiten. Es gab kein Badezimmer im kleinen Gasthof. Das tägliche Schwimmen - nicht in jenem Wasser, wo Clayton den Krebs gefangen hatte, sondern im See -- wurde als sportliches Vergnügen betrieben, besonders von Harriet, die darin, wie auch im Tauchen, überaus tüchtig war, und nicht so sehr der Abkühlung wegen. Trotz des hochsommerlich blauen Himmels litt man hier nie unter der Hitze. In diesem kühlen Grunde schien alles vom Wasser und dem dichten Grün beherrscht. Mit Verwunderung gedachten sie des Aufenthaltes zu Wien, etwa so, als hätten sie in einem Dampfbad gelebt, und schon gar, als der zufällige Blick auf ein am Fenster befindliches Thermometer ihnen zeigte, daß die Temperatur hier um nichts niederer war als dort. Die Fülle des Laubes überall, die plätschernden Gerinne der Zirknitz, das Weg-Biegen eines Wiesenpfades aus der Sonne unter die mächtigen Kuppeln der Bäume, der Wasserstaub, darin ein einzeln durchs dichte Geäst dringender Sonnenstab lag, dies alles schlug blaue Schattenbuchten überall selbst in die Helligkeit des Mittags und überwog die herrschende Wärme.
Das Zimmer hatte Grün. Links im Fenster war ein Baumwipfel teilweise sichtbar. Nach acht Tagen war es eigentlich schon ihrer beider eigenes Zimmer. So sehr hatte es sich verändert. Sie empfanden das, sagten aber nichts davon. Die Vorstellung, wie Harriet in der Wiese gestanden war (dahinter stand sie auch an jenem Tümpel im Wiener Prater) blieb für Clayton schmerzhaft. Er wußte auch schon, daß er sie eigentlich deshalb geheiratet hatte, dies vorausahnend und vorwegnehmend. Dann und wann war der Himmel bedeckt, das Licht lag wie grauer Staub in den Ecken des Fensters. Das Zimmer war geräumig, von dem matten Lichte bis an die rückwärtige Wand durchlegt. Es gab einen großen Tisch. Harriet war stets bereit, Briefe zu schreiben. Sie besaß alles dazu, auch ein verläßlich schließendes Reise-Tintenfaß. Es hatte, wenn geschlossen, die Gestalt einer Jokey-Mütze, es stellte eine solche vor, war auch dementsprechend gestreift. Clayton war nicht imstande, Briefe zu schreiben, aber Harriet vermochte das sogar abends nach dem Essen noch zu tun. Es machte Clayton einmal geradezu den Eindruck, als habe sie hier eine geordnete Kanzlei eröffnet. Sie schrieb rasch. In einer Stunde vier bis fünf Briefe. Nach England, nach Canada und sonst noch wohin. Ihre Schrift war groß und aufgerichtet, die Feder machte viel Geräusch, wenn sie über das lila Briefpapier fuhr. Clayton`lag am monströs geschwungenen mächtigen Diwan. An Milohnic in Wien schrieben sie einmal eine Karte.
Nach zehn Tagen erst weiter. Dem slowenischen Wirt war leid um solche Gäste, die von ihm gehegt und gepflegt worden waren, so daß die Claytons, wenn auch auf altväterische Art, mehr Komfort genossen hatten als man heute in manchem großen Hotel antrifft. Die nicht allzu lange Reise führte in ein wahrhaft anderes Tal, das von einem tief in sein enges Bett gezwängten Flusse gebildet war. Aber als sie, nach einer Wagenfahrt von Cetin bis zur Korana, an dieser entlang ihren ersten Spaziergang machten, wurde bald offenbar, daß der zimmerwährende und zunehmende Donner, welcher hier den Luftraum erfüllte, unmöglich von dem eingeschnittenen Flußbette neben ihnen ausgehen konnte.
Wie aufgerissen war dieses linker Hand nach einer Biegung. Die Einmündung aber zeigte sich bald abgeschlossen durch eine senkrechte weiße Wand von enormer Höhe, die, eins mit ihrem Donner, jetzt in geringer Entfernung vor ihnen stand.
Einen Augenblick lang rang Clayton nach Atem, als wäre ihm dieser wirklich ausgeblieben. Man kann nicht annehmen, daß ihm die einfachste Erklärung damals oder später eingefallen ist für dieÜbermacht des Eindruckes, den er jetzt erlitt: daß nämlich große Wassermengen von ihm bis dahin nur als waagrechte gesehen worden waren - etwa auf Seereisen - nie aber als senkrechte Wand aufgerichtet (sie erschien wenigstens im ersten Augenblicke als senkrecht und als einheitlich).
Auch Harriet schwieg. Auch sie war doch dem Schrecken zugänglich.
Oben an der weiß-schäumenden Kante - der untere Teil der Fälle stand in Schleiern - zeigten sich unverständliche Einzelheiten : Dächlein, Brücken, Gitter oder dergleichen, von altem braunem Holze. Diese Dinge dort oben wirkten schrecklich; gerade sie waren eigentlich das Schrecklichste an dem Katarakt, und doch lag es so ganz jenseits der Sagbarkeit, warum eigentlich.
Sie gingen jetzt weiter. Der Donner stand links, dann hinter ihnen, der Fall ihren Blicken entzogen.
Es sind die Wasserfälle der Slunjcica - fast mitten im Orte Slunj gelegen - eine sehenswerte Merkwürdigkeit jener Gegend, am allermeisten freilich war es ihre Bekrönung. Sie ist heute in solcher Weise nicht mehr vorhanden und dürfte schon vor mehreren Jahrzehnten zum Teil verschwunden gewesen sein. 1877 jedoch breitete sich noch dies eigentümliche Gerümpel mitten im schäumenden Wasser über die ganze obere Kante des Absturzes, mit Verbindungs-Stegen, geringen Geländern, Hüttchen und nicht immer Vertrauen erweckenden Brücken dazwischen. Es waren Mühlen, was sich da über die Breite des Kataraktes zog; und zwar sehr viele. Jede gehörte einem anderen Bauern.
Clayton und Harriet überschritten das tief eingewühlte Bett der Korana als sich eine Brücke bot und traten in eine veränderte Gegend. Die Slunjcica kam von weit her durch eine Art steiniger Planei: und hier jetzt das Wasser - es war in mächtige Breite auseinandergeflossen, brodelnd und unruhig in seiner ganzen Ausdehnung. Unmittelbar daran und dahinter die ersten Häuser des Marktes Slunj. Die Linie der Mühlen, welche den Katarakt bekrönten, wurde von Harriet und Clayton jetzt von rückwärts gesehen, aus einer Entfernung von etwa hundert Schritten: und darüber hinweg fiel der Blick in den leeren Luftraum. Erst indirekt erkannten sie, was diese braunen Wasserhütten eigentlich zu bedeuten hatten. Von der Straße hier zweigte eine andere in spitzem Winkel ab, gegen den Fall zu, dicht an das Wasser heranführend. Dort standen Wagen, hochbepackt mit Säcken, welche abgeladen und von einzelnen Männern über die Brücklein hinaus längs des Falles getragen wurden. Einige der Männer gingen nicht sehr weit, zur dritten oder vierten Hütte im schäumenden Wasser. Andere sah man ganz draußen klein mit den Säcken über die Stege gehen.
Was an dem gesehenen Bilde auf Clayton und Harriet innerlich tief und für den Augenblick fast vernichtend einwirkte, ist schwer zu sagen. Ein Wasserfall ist kein seltenes Naturphänomen. Die Mühlen an seinem oberen Rand allerdings bildeten eine Curiosität, die sie doch gerade als solche nicht zu empfinden und also abzuwehren vermochten. Beim Heimwege wandten sie sich noch einmal nach den Fällen um und sahen oben wiederum klein deren Bekrönung.
Wie auch immer - das Ganze drängte sie zueinander und sie machten den Weg zum wartenden Wagen zurück Arm in Arm längs des Flusses; und waren glücklich, abends in der Wirts- Stube, und glücklich in ihrem Schlafzimmer.
Nach der Rückkehr aus dem Süden erfuhren sie bedeutsame Neuigkeiten. Diese wurden dem jungen Paare vom ganz alten Clayton - damals erst zweiundsechzig - mitgeteilt. Ihn gab es ja immerhin auch, Roberts Vater: sogar in recht maßgeblicher Weise.
Das auf die Neuigkeiten bezügliche Gespräch fand am Tage nach ihrer Ankunft in Brindley-Hall statt: tatsächlich in der Halle. Man war nach Tische vor das bereits erforderliche lebhafte Kaminfeuer gegangen. Vater Clayton teilte überraschend mit, er sei inzwischen in Wien gewesen, um einige Vorbesprechungen zu führen. Die Errichtung eines Werkes dort für landwirtschaftliche Maschinen sei für ihn nun eine beschlossene Sache. Über die enormen Absatzmöglichkeiten in den zum Teil wenig entwickelten Gebieten des Südostens bestehe kein Zweifel. Der Import aus England könne sich aus vielen Gründen - worunter die Fragen von Transport und Zoll nicht einmal die vordringlichsten seien - an Rentabilität niemals messen mit einer Erzeugung aller Geräte und der zu ihrem Antrieb erforderlichen Lokomobilen gleich an Ort und Stelle, nämlich in Österreich selbst. Zuletzt sagte der ganz alte Clayton, daß er schon Gründe gekauft habe und daß man unverzüglich mit der Adaptierung von bereits vorhandenen Anlagen und dem Hinzubau neuer beginnen werde. Das Technologische vor allem sei jetzt von erstrangiger Bedeutung: die zu erzeugenden Typen müßten dem zu deckenden Bedarf - auch einem solchen in den Alpenländern - genauestens angepaßt werden. Schließlich: „Du wirst Deutsch lernen, und womöglich noch Kroatisch oder andere derartige Sprachen dazu und deinen Sitz mit Harriet in Wien nehmen. Das Technologische duldet hier überhaupt keinen Aufschub. Ich habe alle Informationen mitgebracht, so daß wir hier im Werk sogleich die Dinge entwickeln können. In Wien muß sofort ein Bureau eröffnet werden, das die Sachen dort in die Hand nimmt. Leider ist es mir in der kurzen Zeit nicht gelungen, jemand geeigneten dafür zu finden, für eine Kanzlei, meine ich. Mit Inseraten und Stellenvermittlungen will ich mir nichts an fangen."
„Wir schreiben an Milohnic", sagte Harriet zu Bob.
Der Sohn erklärte dem. Vater, wer das sei.
„Gut", sagte der Alte.
Man kann nach diesem allem leicht denken, daß sich in der folgenden Zeit vieles änderte und daß, als ein und ein halbes Jahr vergangen waren, sich noch viel mehr bereits geändert hatte. Das Werk Clayton & Powers in Wien stand, das heißt eigentlich, es lief bereits, und aus vollen Kräften. Der alte Clayton hatte sich nicht geirrt. Im Bureau schaltete Herr Chwostik. Noch andere brauchbare Leute waren von dem tüchtigen Milohnic - den man für solche Dienste freilich honorierte herbeigebracht worden. Bob Clayton sprach bereits passabel Deutsch, und kroatische Stunden nahm er bei dem trefflichen Andreas. Harriet hatte inzwischen - übrigens genau neun Monate nach ihrem seinerzeitigen Eintreffen in Slunj - einen Sohn geboren, den man Donald nannte.
Als der Abschied von England näher gerückt war - ohne daß man bisher eigentlich so ganz anschaulich dieses Bevorstehenden gedacht hatte - erwies er sich als eine gewichtige Sache, die von irgendeinem Tage an das Herz zu belagern begann, und auch dasjenige Harriets. Ihr damaliger Zustand erlaubte ohneweiteres noch das Reiten:; und so waren Robert und sie - Harriet auf dem Fuchsen - mehrmals oben am breiten Hügelkamm, und ihr Pferd machte seine Sprünge über die gleiche Wiese wie damals, als sie Robert Clayton zum ersten Mal gesehen.
Das Wetter war nicht ganz klar, es war milde und milchig und man erblickte den Kirchtum jenseits des Flusses nur als einen dünnen Strich.
Donald Clayton kam am io. Mai des Jahres 1878 in Wien zur Welt, wurde jedoch, sobald er das schulpflichtige Alter erreicht hatte, nach England gebracht und dort erzogen.. Hierin lag eine gewisse Härte gegen Harriet, die zu üben dem ganz alten Clayton offenbar leicht fiel. Der Buh lebte, so lange er die Elementarschule besuchte, im Hause seines Großvaters. Später kam er in eine public school (Realschule). Die technische Hochschule absolvierte Donald jedoch zu Wien - von Kindheit an hatte er Deutsch, daneben noch andere Sprachen gelernt - und erwarb als Maschinenbauer im Frühsommer 1902, also mit 24 Jahren, den Grad eines Ingenieurs.
Von da ab war Donald im Wiener Werk tätig, welches er schon aus mancher Ferienpraxis gut kannte.
Von da ab gewannen auch Vater und Sohn Clayton, die sich immer ähnlicher sahen je älter sie wurden, den Charakter einer festen Prägung, wie die beiden Seiten einer Münze. Donald ergraute schon gegen sein dreißigstes Jahr an den Schläfen, während sein Vater noch hoch in den Fünfzig ein unverfärbtes und ungefärbtes Haar am Haupte trug. In England nannte man sie bereits ,Clayton bros.', was so viel bedeutet wie die Brüder Clayton. Der einzige sehr starke, ja scharfe Unterschied zwischen Vater und Sohn war kein in's Auge springender. Donald hatte von seiner Mutter den gerade abfallenden Hinterkopf geerbt (welchen man unter der zeitmodischen Frisur bei ihr kaum sah). Roberts Schädel war rückwärts stark ausgewölbt.
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Autoren-Porträt von Heimito von Doderer
Als Heimito von Doderer am 5. September 1896 in Weidlingau bei Wien als Sproß einer wohlhabenden Architekten- und Ingenieursfamilie geboren wird, ist noch alles in Ordnung. Der doppelköpfige Adler hat noch viel Platz, seine Schwingen auszubreiten und der alte Kaiser Franz ist Herr über 46 Millionen Untertanen. Als der Fähnrich Ritter von Doderer 1920 jedoch aus sibirischer Gefangenschaft zurückkommt, ist die k.u.k. Herrlichkeit dahin, die Familie hat einen großen Teil ihres Vermögens eingebüßt. Entgegen den Wünschen des Vaters beschließt der Vierundzwanzigjährige Schriftsteller zu werden, nimmt jedoch in Wien ein Geschichts- und Psychologiestudium auf, das er mit der Promotion abschließt. 1938 erscheint der erste Roman: 'Ein Mord den jeder begeht'. Die Anerkennung als Schriftsteller bleibt ihm versagt - bis 1951, dem Erscheinungsjahr der 'Strudlhofstiege'. Um sich dem Mammutwerk zu nähern, empfahl Helmut Qualtinger einst folgenden Weg: den »spannenden Krimi« 'Ein Mord den jeder begeht'(1938) zu Anfang, dann die 'Kurz- und Kürzestgeschichten', des weiteren die 'Dämonen' und schließlich die 'Strudlhofstiege'. In der Tat ist die Lebensgeschichte des Conrad Castiletz eine aufregende Erzählung, die in manchem auf das spätere Werk vorausweist: skurriles Personal, geschliffene Sprache, Zufälle und Unwahrscheinlichkeiten, die mit einer solchen Selbstverständlichkeit erzählt werden, daß selbst das Ungeheuerlichste plausibel erscheint. Auch wenn Doderer erst mit den nach 1951 erschienenen Büchern bekannt wurde, ist das Vorkriegswerk nicht weniger bedeutend. Unter anderem entstanden bis zum zweiten Weltkrieg die beiden Romane 'Ein Umweg' (veröffentlicht 1940) und 'Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal'. Der Roman 'Die Strudlhofstiege', das bedeutendste Werk Doderers, ist für den mittlerweile 55-jährigen der schriftstellerische (und somit finanzielle) Durchbruch, dem offizielle Ehrungen folgen. Die Jugendstiltreppe im IX. Bezirk ist
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geographischer Mittelpunkt einer Beschreibung der Wiener Gesellschaft zwischen 1910 und 1925. Der souverän gearbeitete Erzählteppich faßt die unterschiedlichsten Lebensstränge in pralle Bilder und köstliche Geschichten zusammen. Mit zum Teil denselben Figuren schrieb Doderer diese österreichische "chronique scandaleuse" in den fast 1400 Seiten umfassenden 'Dämonen' (1956) weiter. Dostojewskij frech herbeizitierend ist der in den späten zwanziger Jahren spielende Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Ideologie. In beide Romane sind all die Turbulenzen eingegangen, die Doderer in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat: seine seelischen, sexuellen und politischen. Zu ihnen zählt die spannungsreiche Beziehung zu Gusti Hasterlik, der Kampf gegen den cholerischen Vater, der »barbarische Irrtum«, wie er später sagte, in der NSDAP einen gesellschaftlichen und politischen Ort finden zu können, den er 1940 mit der Konversion zum Katholizismus wettzumachen versucht. All dem wohnt der Wunsch inne, »ein Mensch zu werden«, sich von den inneren und äußeren Fesseln zu befreien, seinem literarischen Generalthema. »Mein Leben: eine Schachtel, in die ich verpackt war, aus der ich mich herausgenommen habe.« So schrieb auch: »Mein eigentliches Werk besteht, allen Ernstes, nicht aus Prosa oder Vers: sondern in der Erkenntnis meiner Dummheit.« Die Heirat 1952 mit Maria Thoma war Ausdruck des nächsten Schritts: sich selbst Form und Ordnung zu geben. Bei ihr im niederbayerischen Landshut lebte er jedoch nur in Abständen, um zu arbeiten, ansonsten blieb er in Wien, der Stadt, die ihm literarischer Rahmen geworden war. Grotesker Familienroman und Totalitarismuskritik in einem ist sein komischstes Werk: 'Die Merowinger' von 1962. Krönender Abschluß des Lebenswerks sollte der vierteilige 'Roman No. 7' sein. Zu Lebzeiten erschienen ist nur der erste Teil: die Vater-Sohn-Geschichte 'Die Wasserfälle von Slunj' (1963), die dem Literarischen Quartett im Doderer-Gedächtnisjahr 1996 eine Emp
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Bibliographische Angaben
- Autor: Heimito von Doderer
- 1991, 18. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,1 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423114118
- ISBN-13: 9783423114110
Kommentar zu "Die Wasserfälle von Slunj"