Die weiße Mafia
Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen
Überflüssige Operationen, Medikamente, die mehr schaden als nützen - zum Profit der Ärzte und der Gesundheitsindustrie! Wissenschaftsjournalist Frank Wittig deckt auf, wo es krankt im System, und zeigt, wie wir als Patienten beim...
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Produktinformationen zu „Die weiße Mafia “
Überflüssige Operationen, Medikamente, die mehr schaden als nützen - zum Profit der Ärzte und der Gesundheitsindustrie! Wissenschaftsjournalist Frank Wittig deckt auf, wo es krankt im System, und zeigt, wie wir als Patienten beim Kontakt mit Medizinern das Risiko verringern, Opfer der weißen Mafia zu werden.
Klappentext zu „Die weiße Mafia “
In unserem Gesundheitssystem herrschen mafiöse Verhältnisse. Um den Profit der Ärzte und der Gesundheitsindustrie zu sichern, werden überflüssige Operationen durchgeführt und Medikamente verschrieben, die mehr schaden als nutzen. Gesunde werden zu Kranken erklärt, weil Laborwerte willkürlich festgelegten Normen nicht entsprechen oder Röntgenbilder völlig unbedenkliche Abweichungen vom Ideal zeigen. Die industrienahe "medizinische Selbstverwaltung" weigert sich, auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu reagieren, und verhindert so den Fortschritt -vor allem, wenn die Wissenschaft gut etablierte Geschäftsmodelle bedroht. Der mehrfach preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Frank Wittig recherchiert seit vielen Jahren im Medizinbetrieb und ist dort auf skandalöse Zustände und eine "weiße Mafia" aus Ärzteschaft und Industrie gestoßen, die sich gnadenlos an Gesunden und Kranken bereichert. Wittig deckt auf, wo es krankt im System, und gibt Hinweise, wie wir als Patienten beim Kontakt mit Medizinern das Risiko verringern, Opfer der weißen Mafia zu werden. Ein Buch, das anklagt, aufrüttelt und aufklärt. Denn Erkenntnis ist der erste Weg zur Besserung -des Systems und der eigenen Gesundheit.
In unserem Gesundheitssystem herrschen mafiöse Verhältnisse. Um den Profit der Ärzte und der Gesundheitsindustrie zu sichern, werden überflüssige Operationen durchgeführt und Medikamente verschrieben, die mehr schaden als nutzen. Gesunde werden zu Kranken erklärt, weil Laborwerte willkürlich festgelegten Normen nicht entsprechen oder Röntgenbilder völlig unbedenkliche Abweichungen vom Ideal zeigen. Die industrienahe "medizinische Selbstverwaltung" weigert sich, auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu reagieren, und verhindert so den Fortschritt -vor allem, wenn die Wissenschaft gut etablierte Geschäftsmodelle bedroht. Der mehrfach preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Frank Wittig recherchiert seit vielen Jahren im Medizinbetrieb und ist dort auf skandalöse Zustände und eine "weiße Mafia" aus Ärzteschaft und Industrie gestoßen, die sich gnadenlos an Gesunden und Kranken bereichert. Wittig deckt auf, wo es krankt im System, und gibt Hinweise, wie wir als Patienten beim Kontakt mit Medizinern das Risiko verringern, Opfer der weißen Mafia zu werden. Ein Buch, das anklagt, aufrüttelt und aufklärt. Denn Erkenntnis ist der erste Weg zur Besserung -des Systems und der eigenen Gesundheit.
Lese-Probe zu „Die weiße Mafia “
Die weiße Mafia von Frank Wittig»Die weiße Mafia.« Sie finden, das hört sich reißerisch an? Ich finde das auch. Mafia bedeutet immerhin: organisiertes Verbrechen. Es hat definitiv etwas Ungeheuerliches, der Medizin zu unterstellen, sie sei mafiös organisiert. Und zwar gerade dort, wo es um zentrale Weichenstellungen geht: bei wissenschaftlichen Studien, die die Wirksamkeit von Medikamenten beweisen sollen; bei der Einführung von Produkten oder bei der Formulierung von Leitlinien für die medizinischen Zünfte. Und das, wo kein anderer Teil unserer Gesellschaft so sehr die Flagge der Ethik vor sich herträgt wie die Medizin. Gibt es das tatsächlich: unsinnige, ja schädliche medizinische Interventionen - seien es chirurgische Eingriffe oder Produkte der pharmazeutischen Industrie -, die uns nur verordnet werden, weil Industrie und Mediziner Profit damit machen? Auch wenn Sie und ich das lieber nicht glauben möchten: Das gibt es. Und es sind keine Ausrutscher oder Ausnahmen. Es sind nicht einige wenige »schwarze Schafe im weißen Kittel«. Der Wahn. sinn hat Methode. Es geschieht auf breiter Front. Und bei näherer Betrachtung ist das gar nicht überraschend. Oder finden Sie es wirklich so erstaunlich, dass die gewaltige Summe von 280 Milliarden Euro, die wir jährlich in unser Gesundheitssystem pumpen, eine Menge krimineller Energie auf den Plan ruft?
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Zu den Paten dieser Mafia gehören aber auch zynische Funktionäre der medizinischen Selbstverwaltung und der Wissenschaft. Angesehene Leute, für die eine enge Verzahnung mit der ausschließlich profitorientierten Industrie unverzichtbarer Bestandteil ihres Karrieremodells ist. Doch dieser innere Zirkel der weißen Mafia könnte nicht die verhängnisvolle Macht über unser Gesundheitssystem erlangen, gäbe es da nicht die große Zahl von Profiteuren, Kollaborateuren und Mitläufern, die das mafiöse System stützen. »Die weiße Mafia« mag reißerisch klingen, doch angesichts der empörenden und unheilvollen Verhältnisse in unserem Gesundheitssystem ist dieser Titel angemessen.
Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich als Journalist zum Thema »medizinische Überversorgung«, vor allem für Beiträge in Wissenschafts- und Gesundheitsmagazinen und längere Dokumentationen auf Feature-Sendeplätzen in den TV-Sendeanstalten der ARD. Zu überflüssigen Operationen, überflüssigen Medikationen, überflüssigen Vorsorgemaßnahmen und den Profiten, die damit erwirtschaftet werden. Millionen von Menschen haben diese Beiträge gesehen. Dennoch haben sich die mafiösen Verhältnisse in unserem Gesundheitssystem weiter verschärft. Die Manipulation des medizinischen Systems und die Desinformation der Öffentlichkeit werden heute professioneller und skrupelloser betrieben denn je.
Dennoch bin ich überzeugt davon, dass wir eine Chance haben, das zu ändern. Überflüssige Medizin muss in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs thematisiert werden. Das Thema muss heraus aus dem »Immer mal wieder ein Aufreger«-Status: »Im Ernst? Grippeimpfung fast wirkungslos? « »Was haben die gesagt? Die Knieoperation ist Hightechschamanismus? Keine Wirkung abgesehen von ein bisschen Placebo?« »Ehrlich? Gebärmutteroperationen, die gar nicht nötig sind? Geldschneiderei? Empörend! « Und auf die Empörung folgen Ratlosigkeit und dann der Übergang zum Alltagsgeschäft. Das muss sich ändern. Wir brauchen eine Debatte über die Medizinwende. Weil uns die medizinische Überversorgung schadet und weil für diese Überversorgung enorme Mittel verschwendet werden. Mittel, die wir andernorts - zum Beispiel in der Pflege - dringendst benötigen.
Dafür habe ich dieses Buch geschrieben. Es schildert Missstände, von denen Sie zum Teil vielleicht schon gehört haben. Aber ich habe versucht, diese Missstände in größere Zusammenhänge einzuordnen. Nur so wird das System erkennbar, das diese Entgleisungen des medizinischen Betriebes verursacht. Dabei stütze ich mich auf wissenschaftliche Studien. Auf Dokumente, die einige Personen sicher nicht gerne in diesem Buch veröffentlicht sehen. Das Buch beinhaltet Aussagen von Experten, von Insidern, persönliche Schicksale von (Beinahe-)Opfern und weitere »Geschichten«, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin. All das, um das Wirken der weißen Mafia in unserem Gesundheitssystem möglichst vielschichtig darzustellen.
Am Ende des Buches stehen Tipps für Sie, wie Sie Ihr Risiko, Opfer der weißen Mafia zu werden, verringern können. Und einige Vorschläge für Änderungen in unserem Gesundheitssystem. Änderungen, die es der weißen Mafia in Zukunft schwerer machen könnten, uns auszubeuten und uns mit überflüssiger Medizin zu schaden. Und ganz am Ende werde ich Sie um Ihre Hilfe bitten, die Debatte über die Medizinwende in unserem Land anzuschieben.
1. Meister der Überversorgung
Der Klassiker: Orthopädie
Eine Operation, die in Deutschland jedes Jahr 70 000-mal durchgeführt wird: ein Nonsenseingriff? An sich vollkommen wirkungslos. Der Ertrag - etwas weniger Knieschmerzen - nur ein Placeboeffekt? Das hört sich krass an. Ist aber durch eine exzellente Studie belegt. Eine Studie, über die schon häufiger in den Medien berichtet wurde. Vielleicht haben auch Sie schon davon gehört. Die Studie von Bruce Moseley.1 In Fachkreisen kennt sie jeder. Obwohl sich die Orthopäden immer noch hartnäckig weigern, Konsequenzen für ihr medizinisches Handeln daraus zu ziehen. Schließlich macht die Zunft mit diesem Eingriff etwa 150 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Ein prima Geschäft. Das lässt man sich nicht gerne kaputt machen. Die Rede ist von der endoskopischen Knorpelglättung im Knie.
Die Knorpelglättung ist ein Eingriff, der mit einem plausiblen Konzept aufwartet: Knorpelflächen im Knie sind Gleitschichten, die für die Beweglichkeit des Kniegelenks eine wichtige Rolle spielen. Optimalerweise sind diese Gleitflächen so glatt wie ein frisch gepelltes Ei. Doch bei uns Zweibeinern werden diese nur wenige Quadratzentimeter großen Gleitlager arg strapaziert. Arthrose im Kniegelenk, also der Verschleiß des Knorpels, ist daher ein weitverbreitetes Problem. Es beginnt damit, dass die Oberfläche der Knorpelschichten rau wird. Und wenn Sie Knieschmerzen haben und Ihr Orthopäde Ihnen erzählt, dass die Knieschmerzen durch die beschädigte Knorpelschicht verursacht werden, dann glauben Sie ihm das. Das mechanische Konzept leuchtet sofort ein. Und warum sollte Ihr Orthopäde Ihnen etwas anderes erzählen als die medizinische Wahrheit?
Auf Tauchstation im Knie
Die Standardtherapie, wie sie auch in den medizinischen Leitlinien der zuständigen Fachgesellschaft vorgeschrieben ist (DGOOC, Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie), lautet: Glätten und Spülen. Und zwar mit Hightechmedizin. Das Glätten wird sehr elegant mit einem Endoskop vorgenommen: Das nur dreieinhalb Millimeter dünne Endoskop mit einer Fräse an der Spitze wird in das Gelenk geschoben. Die Fräse raspelt über die Oberfläche, entfernt Unebenheiten und glättet das Gleitlager. Mit einer Endoskopkamera - das Bild erscheint auf einem Monitor über dem OP-Tisch - überwacht der Orthopäde seinen Eingriff. Anschließend wird gespült, um freien Knorpel aus dem Gelenk zu entfernen. Am Ende zeugen nur noch zwei kleine Einschnitte am Knie von der Prozedur. Und viele Patienten haben weniger Schmerzen. Klasse, oder?
Ein Mann hat dieser beliebten Methode den Nimbus genommen: Dr. Bruce Moseley. In seiner Zunft ein angesehener Mann. Er war Orthopäde der amerikanischen Basketball-Nationalmannschaft. Wahrscheinlich die höchste Position, die man in seiner Fachdisziplin auf unserem Globus erklimmen kann. Er hat seine epochale Studie am Baylor College of Medicine in Houston durchgeführt. Veröffentlicht hat er sie im New England Journal of Medicine, einer der drei bedeutendsten medizinischen Fachzeitschriften der Welt. Er wollte in seiner Studie prüfen, wie viel vom offensichtlichen Erfolg der Therapie jeweils auf das Konto des Glättens oder Spülens geht. Vielleicht käme man ja auch nur mit einer der beiden Prozeduren aus. Spülen ohne vorheriges Fräsen zum Beispiel könnte durchaus Sinn machen, wenn die Schmerzen nur von freien Knorpelstückchen im Gelenk verursacht würden. Also sollte die Studie zwei »Arme« haben: Spülen und Glätten. Die Idee, die zwei Jahre später Orthopäden rund um den Globus in Angst und Schrecken versetzen sollte, kam von Moseleys Assistentin. Sie sagte: »Warum machen wir nicht auch gleich einen Placeboarm?« Ihr Chef fand die Idee gut.
Die Macht des Placebos
Der Placeboeffekt spielt bei fast allen medizinischen Eingriffen eine Rolle. Das suggestive Potenzial des in strahlendes Weiß gekleideten Fachmanns, das Gefühl »Jetzt kümmert sich jemand um mein Problem«, das überzeugende Konzept der medizinischen Behandlung: All das bewirkt, dass unser Gehirn ein positives Ergebnis erwartet. Und da das Gehirn so komplex mit dem ganzen Körper verschaltet ist, sind die erstaunlichsten Placebowirkungen möglich. Vor allem bei der Behandlung von Schmerzen ist die Macht des Placebos groß. Man hat im 2. Weltkrieg Schwerverletzte von ihren Schmerzen befreit, indem man ihnen - mangels echter Schmerzmittel - eine Kochsalzlösung injizierte. Mit dem Hinweis, es sei Morphium.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Wie um Himmels willen bewerkstelligt man bei einem endoskopischen Eingriff eine Placebokontrolle? Bei einer Medikamentenstudie ist das leicht. Man hat zwei Gruppen von Probanden. Eine der Gruppen bekommt ein wirkungsloses Medikament. Das ist das Placebo, eine Pille ohne Wirkstoff. Die Probanden wissen nicht, zu welcher Gruppe sie gehören. Die Studienteilnehmer können den Unterschied beim Pillenschlucken ja nicht schmecken. Aber bei einer Operation? Bruce Moseley sah darin kein Problem. Die Patienten erhielten eine lokale Narkose. Der Scheineingriff wurde - wie der echte Eingriff auch - hinter einem Vorhang durchgeführt. Die Knie bekamen in beiden Gruppen zwei originalgetreue Hautschnitte, die in der echten OP als echter Zugang für die Endoskope dienten. Um die Spülung zu simulieren, wurde hinter dem Vorhang ein wenig im Wassereimer geplätschert. Und die Mediziner ruckelten beim Scheineingriff auch ordentlich am Bein der Patienten. Die Placebogruppe erlebte also genau das Gleiche wie die Patienten, die tatsächlich operiert wurden. Um die Illusion perfekt zu machen, liefen auf dem Monitor über der Placebooperation Bilder, die bei einer echten Knorpelglättung von der Endoskopkamera aufgenommen worden waren.
Natürlich wussten die Patienten nicht, ob sie zu der Placebo- oder zu der echten OP-Gruppe gehörten. Die Studie ist verblindet, sagt der Fachmann. Nur mit placebokontrollierten und verblindeten Studien kann man die suggestive Kraft von medizinischen Behandlungen enttarnen und die echte medizinische Wirksamkeit einer Prozedur oder eines Medikaments zeigen. Prinzipiell mussten die Patienten selbstverständlich informiert sein und der Teilnahme an der Studie zugestimmt haben. Die Patienten wurden zwei Jahre lang nachuntersucht. Überprüft wurden drei Aspekte: die Beweglichkeit des Knies, der Schmerzmittelverbrauch und die Einschätzung der Schmerzpatienten zum Erfolg des Eingriffs. Das Ergebnis hatte keiner erwartet. Ein Hammer: Es gab keinen Unterschied zwischen Placebo und echter Operation! Eine bittere Pille für die Knorpelglätter.
Die Knorpelglättung im Kniegelenk ist Hightechschamanismus. Eine gewisse Schmerzlinderung erfolgt ganz offensichtlich allein durch das »Tamtam « um die minimalinvasive Operation. Die suggestive Kraft geht hier nicht - wie bei »Naturschamanen« - von gemurmelten Beschwörungen, magischen Gegenständen und rituellen Tänzen aus. Hightechschamanen beeindrucken mit medizinischen Apparaturen, ihrem weißen Kittel und der Aura des überlegenen Spezialistentums. Die Sinnlosigkeit der Knorpelglättung wurde 2008 von einer weiteren Studie bestätigt.2 Seitdem kann sich die Fachwelt nicht mehr mit dem »Eine Studie ist keine Studie«-Argument aus der Affäre ziehen.
Die Reaktion der Fachleute
Der erste Orthopäde, den ich mit dem Ergebnis der Studie konfrontierte, war der orthopädische Chirurg Dr. M. Er war mir von der Fachgesellschaft, der DGOOC, als Kniefachmann empfohlen worden und operierte damals an den Münchner Schön-Kliniken. Für meine Fernsehdokumentation Betrifft: Überflüssige Operationen für den Südwestrundfunk hatte er uns gerade liebevoll seine Kunst vorgeführt. In gestochen scharfen Bildern aus dem Kniegelenk seines Patienten hatten wir gesehen, wie der Fräskopf des Endoskops über den Knorpel geraspelt war. »Ich hab die Fräse selbst weiterentwickelt. Die Operation mache ich ein paar Hundert Mal pro Jahr«, hatte Dr. M. erklärt. Und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen.
Als Dr. M. zum Interview vor der Kamera steht, erinnert mich sein grüner Mundschutz an die Maske eines Bankräubers. Ich erlaube mir an dieser Stelle bewusst diesen Vergleich angesichts dessen, was der Orthopäde sagte, als ich ihn auf die Moseley-Studie ansprach. Dr. M. erklärte verdächtig umständlich: «Der Rückschluss aus der Moseley-Studie kann natürlich nicht dergestalt lauten, dass man also die Botschaft rüberbringt: Alle Arthroskopien am Kniegelenk bei älteren Patienten mit Schmerzen sind überflüssig und sinnlos. Das stimmt in dieser Ausprägung natürlich nicht.«
Was für eine Missachtung des Anspruchs der Patienten auf eine ehrliche und dem medizinischen Wissen entsprechende Aufklärung und Behandlung! Was für eine Kaltschnäuzigkeit, sich hier mit einem billigen Wortspiel aus der Verantwortung zu stehlen! Denn: Die Frage war nicht, ob »alle Arthroskopien am Kniegelenk bei älteren Patienten mit Schmerzen sinnlos sind«. Eine Arthroskopie ist zunächst eine Gelenkspiegelung. Also eine Untersuchung. Und natürlich ist es nicht »generell sinnlos und überflüssig «, bei Patienten mit Knieschmerzen das Knie zu untersuchen. Da drinnen kann ja weiß Gott was los sein. Moseleys Studie aber zeigte, dass die weltweit jährlich vielhunderttausendfach vorgenommene Knorpelglättung im Knie in der Regel sinnloser Hokuspokus ist. Darum geht es. Und darum, dass sich eine ganze Zunft von Medizinern schamlos mit dieser Nonsens- OP bereichert. Dr. M. weiß das ganz genau. Aber auf diesen Sachverhalt, auf diesen Skandal konnte der Kniespezialist natürlich nicht wirklich eingehen. Also startet er das Verwirrspiel mit der Arthroskopie, um die es gar nicht ging. Doch was hätte er dazu auch sonst sagen sollen? Vielleicht: »Okay, das Knorpelglätten ist in aller Regel Quatsch. Hier, nehmen Sie meinen Kittel, meinen Mundschutz, meine tolle Knorpelfräse. Ich sattele um auf Krankenpfleger.«
Ich frage den Orthopäden mit der grünen Maske vor dem Mund, ob die Studie denn nicht wenigstens in den Leitlinien seiner Fachgesellschaft erwähnt werden müsste. Jede Krankheit, die in das »Revier« der Fachgesellschaft gehört, wird in diesen Leitlinien besprochen. Es wird festgelegt, wie korrekt diagnostiziert und behandelt wird. Die neuesten wissenschaftlichen Studien sollten die Grundlage dieser Anleitungen sein. »Evidenz basiert« lautet das Stichwort. Ich habe die Leitlinie zur »Gonarthrose« vor dem Dreh durchgelesen. Die jüngste dort erwähnte Studie war zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt. Die Leitlinien würden ja regelmäßig überarbeitet, sagt Dr. M. Ich solle doch im nächsten Frühjahr mal wieder reinschauen. Dann würde ich die Moseley-Studie sicher darin finden. Natürlich habe ich im nächsten Frühjahr nachgesehen. Und in den folgenden vier Jahren immer mal wieder. Sie ahnen es: Die Moseley-Studie wurde weiterhin mit keinem Wort erwähnt.
Der zweite Orthopäde, mit dem ich über die Moseley-Studie spreche, etwa zwei Jahre später, ist Professor Robert E. Von der Moseley-Studie fehlt in den Leitlinien, wie gesagt, jede Spur. Robert E. ist - wie man so sagt - ein »hohes Tier« in seiner Fachgesellschaft, der DGOOC. Genaueres möchte ich auch hier nicht sagen, denn er ist eigentlich ein sympathischer Mann und hat mir für einen Fernsehbeitrag zu Problemen mit orthopädischen Implantaten interessante Details erklärt. Nach dem Dreh für das SWR- Wissenschaftsmagazin Odysso - meine journalistische »Heimatredaktion« - sitzen wir noch eine Viertelstunde zusammen und plaudern, während das Kamerateam die Lampen abbaut und das technische Equipment zusammenräumt. Ich frage Professor E., was er zur Moseley-Studie sagt.
Das soldatische Knie
Er erklärt mir, es gebe ja auch Kritik an der Studie. Die Schmerzpatienten seien Veteranen gewesen. Ehemalige Soldaten mit einem Durchschnittsalter von 52 Jahren. Ob diese Ergebnisse auf die Normalbevölkerung übertragen werden könnten, sei fraglich. Macht also das Marschieren das soldatische Knie prinzipiell zu einem medizinischen Unikum? Funktioniert das Gelenk eines Soldaten anders als das Knie eines Patienten, der nicht gedient hat? Professor E. lächelt ein wenig säuerlich und schüttelt dann andeutungsweise den Kopf. Ich habe das Gefühl, er weiß, wie lächerlich diese Argumentation ist.
Dann unternimmt er - halbherzig - einen weiteren Versuch, die Ehre seiner Kollegen zu retten: Wirkungslos sei die Knorpelglättung ja nicht. Die Patienten bekämen dadurch doch eine gewisse Schmerzlinderung. Wenn auch nur aufgrund des Placeboeffekts. Aber das müsse man dennoch als einen Erfolg der Behandlung akzeptieren. Ich signalisiere Professor E., dass mich diese Argumentation betroffen macht: »Aber ich kann doch nicht solch einen Eingriff an 70 000 Patienten machen, der außerdem unser Gesundheitssystem jährlich mit 150 Millionen Euro belastet, nur für ein bisschen Placeboeffekt. Wenn ich einem Patient eine wirkungslose Zuckerpille als Placebo gebe, weil ich merke, er will unbedingt ein Medikament für ein Zipperlein, und diese Pille kostet das Gesundheitswesen 1 Euro 50, dann mag das im Einzelfall okay sein. Ein - wenn auch minimalinvasiver - chirurgischer Eingriff ohne medizinische Wirkung ist nicht okay! Nach geltender Gesetzeslage ist das Körperverletzung. Und Diebstahl am Gemeinwesen. Und was ist mit dem Risiko, mit der medizinisch sinnlosen Operation eine Infektion in das Kniegelenk zu tragen? Ein schlimmes Risiko, das schon viele Patienten zum Krüppel - entschuldigen Sie den Ausdruck - gemacht hat.«
Raubritter im weißen Kittel
Meine sehr persönliche und durchaus emotional vorgetragene Anklage brachte die bis dahin noch fast makellose medizinische Fassade von Professor E. zum Einstürzen. Ich werde nie vergessen, was er dann tat. Es war etwas Unvorsichtiges. Vielleicht dachte er, ich sei nicht mehr im Dienst, weil die Kamera schon ausgeschaltet und abgebaut war. Er senkte seine Stimme, lehnte sich etwas in meine Richtung, sah mir eindringlich in die Augen und sagte: »Wissen Sie, Herr Wittig, was mich bei uns auch manchmal ankotzt, das ist das hier.« Und er blickte auf seine rechte Hand, die er so bewegte, als würde er Geld zählen.
Für mich war das eine Offenbarung. Eines der wichtigsten Erlebnisse in meinem Berufsleben. Ein Ranghoher aus den Reihen der Kritisierten sagt: Ja, Sie haben recht mit Ihrer Kritik. Das ist für einen Mediziner wirklich eine atypische Aussage. Sonst gilt in dieser Branche eine eiserne Regel: »Keinen Zweifel aufkommen lassen, dass wir das Richtige tun. Bei uns sind die Patienten gut aufgehoben. Uns können sie uneingeschränkt vertrauen.«
Und Professor E. - falls er diese Zeilen lesen sollte - wird sich wünschen, er hätte den Schein gewahrt, anstatt vor meinen Augen virtuelle Scheine zu zählen. Er wird sich wünschen, er hätte nicht davon abgelassen, die sinnlose Knorpelglättung zu verteidigen.
An uns Journalisten, die wir kritisch über Medizin berichten - zumindest mir geht es nach wie vor so -, nagt nämlich bei aller Sorgfalt in der Recherche immer auch ein heimlicher Zweifel: »Na, Frank«, höre ich die Stimme des heimlichen Zweifels sagen, »Verschwörungstheorie? Biste mal wieder einer dunklen Machenschaft auf der Spur?« Und dann wird die Stimme gemein. Sie kennt sich nämlich aus in unserem Geschäft: »Na klar! Womit sonst willst du deine Zuschauer/Leser ködern? Only bad news are good news. Ein anständiger Aufreger: Was anderes kommt gar nicht in die Tüte! Aber triffst du damit auch wirklich die Verhältnisse?« Ich werde Professor E. immer dankbar sein. Zumindest an dieser Stelle hat er meinen letzten heimlichen Zweifel vertrieben. Er hat die Zugbrücke runtergelassen, ich durfte in die Burg schauen, und was musste ich sehen? Raubritter!
Leitlinie verschwunden
Das wäre eine gute Stelle, um aus dem Thema auszusteigen. Aber ich muss die Geschichte noch ein Stück weiter erzählen. Im Dezember 2011 wollte ich wieder in die Leitlinien der DGOOC schauen. Vielleicht haben sie den Moseley jetzt, zehn Jahre nach Veröffentlichung der Studie, ja doch zumindest erwähnt. Sie, liebe Leserinnen und Leser, können das übrigens auch überprüfen. Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften sind im Internet zu finden. Die Gurus der Urologen, Gynäkologen, Onkologen - was immer Sie gerade brauchen - erklären in diesen Leitlinien, wie eine sachgerechte Diagnose und Therapie der Krankheiten auf ihrem Gebiet aussieht. Wir werden die Macht und die Funktion der Fachgesellschaften und der von ihnen formulierten Leitlinien später kritisch vertiefen. Hier genügt zunächst eine einfache Feststellung: Die gesamte Leitlinie zur »Gonarthrose « (der Fachbegriff für Knieverschleiß), in der auch zum Knorpelglätten geraten wird, war plötzlich verschwunden.
Ich gehe auf die Website der DGOOC, finde da immer noch Prof. Robert E. in verantwortungsvoller Position, seine E-Mail-Adresse und einen weiteren für das Thema »Knie« ausgewiesenen Orthopäden, den ich nicht näher charakterisieren möchte. Ich könnte theoretisch alle meine Gesprächspartner und Informanten beim Namen nennen. Aber die Karrieren der Herren könnten dadurch Schaden nehmen. Und das ist nicht mein Ziel. Im Zweifelsfall gehören sie ja sogar noch zu den Guten in ihrer Zunft, denn sie haben mir ehrliche Einblicke in die Verhältnisse in ihrem »Revier« gegeben. An beide Orthopäden stelle ich per Mail die Anfrage, wo denn die Leitlinie zur Behandlung der Gonarthrose geblieben sei.
Professor Robert E., der zwei Jahre zuvor noch mit Abscheu virtuelle Geldscheine gezählt hatte, mailt mir nach wenigen Tagen, das sei nicht sein Fachgebiet. Dazu könne er nichts sagen. Von Orthopäde X höre ich wochenlang nichts. Doch dann, als ich schon beschlossen hatte, die nächsten Tage mal »nachzuhaken«, ruft er mich an. Es war schon Abend. Ich war zu Fuß auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause, als mein Smartphone klingelte. Und dann führte ich eines der erstaunlichsten Telefonate meines Lebens.
Ein bizarres Telefonat mit einem Orthopäden
»Frank Wittig.«
»Hallo, hier ist Orthopäde X von der Klinik Y. Erinnern Sie sich: Sie haben mir eine E-Mail geschickt und nach der Leitlinie zur Gonarthrose gefragt.«
»Ja, ich erinnere mich. Schön, dass Sie zurückrufen.«
»Wissen Sie eigentlich, dass Sie da in ein Wespennest stechen?«
»Ja? Das höre ich gerne! Hat es vielleicht mit der Moseley-Studie zu tun?«
Er zögert. »Ja, die deutschen Orthopäden haben die größten Schwierigkeiten damit, die Ergebnisse dieser Studie anzunehmen.«
»Den Eindruck habe ich auch.«
Dann beschließe ich zu testen, ob Orthopäde X mir wirklich etwas sagen will. Zugleich will ich ihm signalisieren, dass ich mich in der Materie schon etwas auskenne: »Das fängt schon beim wording im Umgang mit der Moseley- Studie an. Ich habe das Gefühl, die Orthopäden haben sich geeinigt, in diesem Zusammenhang von der Arthroskopie zu sprechen - also nicht vom Knorpelglätten, sondern nur von der Besichtigung des Kniegelenks per Endoskopie. Um dann zu sagen, dass die Moseley-Studie den Sinn der Arthroskopie nicht widerlegt hätte. Das ist doch ein Ablenkungsmanöver.«
Kurzes Schweigen auf der anderen Seite. Dann kommt der Satz: »Das kann ich Ihnen bestätigen.«
Dieser Satz gehört zu der Kategorie der Zweifelkiller.
»Aber Herr X. Man kann doch nicht 70 000 Patienten pro Jahr mit einer Operation behandeln, die sich in einer exzellenten Studie als sinnlos erwiesen hat. Immer weiter operieren. Das ist doch ...« Ich suche nach einem Wort, das nicht zu hart klingt. Schließlich möchte ich das Gespräch nicht gefährden, will Orthopäde X nicht verschrecken. »... das ist doch unanständig. «
Und dann sagt er den Satz: »Aber Herr Wittig, das machen doch alle!«
Ich bin für einen Moment sprachlos. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. Denn ich berichte ja seit Jahren über überflüssige Medizin. Trotzdem. Auf so eine flächendeckende Bankrotterklärung der medizinischen Moral war ich nicht gefasst. »Herr X. Ich finde das interessant. Würden Sie das eventuell vor der Kamera wiederholen? In unserem Wissenschaftsmagazin im SWR-Fernsehen?«
»Ich bin doch nicht verrückt!«
© des Titels »Die weiße Mafia« (978-3-86883-271-6) 2013 by Riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München
Zu den Paten dieser Mafia gehören aber auch zynische Funktionäre der medizinischen Selbstverwaltung und der Wissenschaft. Angesehene Leute, für die eine enge Verzahnung mit der ausschließlich profitorientierten Industrie unverzichtbarer Bestandteil ihres Karrieremodells ist. Doch dieser innere Zirkel der weißen Mafia könnte nicht die verhängnisvolle Macht über unser Gesundheitssystem erlangen, gäbe es da nicht die große Zahl von Profiteuren, Kollaborateuren und Mitläufern, die das mafiöse System stützen. »Die weiße Mafia« mag reißerisch klingen, doch angesichts der empörenden und unheilvollen Verhältnisse in unserem Gesundheitssystem ist dieser Titel angemessen.
Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich als Journalist zum Thema »medizinische Überversorgung«, vor allem für Beiträge in Wissenschafts- und Gesundheitsmagazinen und längere Dokumentationen auf Feature-Sendeplätzen in den TV-Sendeanstalten der ARD. Zu überflüssigen Operationen, überflüssigen Medikationen, überflüssigen Vorsorgemaßnahmen und den Profiten, die damit erwirtschaftet werden. Millionen von Menschen haben diese Beiträge gesehen. Dennoch haben sich die mafiösen Verhältnisse in unserem Gesundheitssystem weiter verschärft. Die Manipulation des medizinischen Systems und die Desinformation der Öffentlichkeit werden heute professioneller und skrupelloser betrieben denn je.
Dennoch bin ich überzeugt davon, dass wir eine Chance haben, das zu ändern. Überflüssige Medizin muss in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs thematisiert werden. Das Thema muss heraus aus dem »Immer mal wieder ein Aufreger«-Status: »Im Ernst? Grippeimpfung fast wirkungslos? « »Was haben die gesagt? Die Knieoperation ist Hightechschamanismus? Keine Wirkung abgesehen von ein bisschen Placebo?« »Ehrlich? Gebärmutteroperationen, die gar nicht nötig sind? Geldschneiderei? Empörend! « Und auf die Empörung folgen Ratlosigkeit und dann der Übergang zum Alltagsgeschäft. Das muss sich ändern. Wir brauchen eine Debatte über die Medizinwende. Weil uns die medizinische Überversorgung schadet und weil für diese Überversorgung enorme Mittel verschwendet werden. Mittel, die wir andernorts - zum Beispiel in der Pflege - dringendst benötigen.
Dafür habe ich dieses Buch geschrieben. Es schildert Missstände, von denen Sie zum Teil vielleicht schon gehört haben. Aber ich habe versucht, diese Missstände in größere Zusammenhänge einzuordnen. Nur so wird das System erkennbar, das diese Entgleisungen des medizinischen Betriebes verursacht. Dabei stütze ich mich auf wissenschaftliche Studien. Auf Dokumente, die einige Personen sicher nicht gerne in diesem Buch veröffentlicht sehen. Das Buch beinhaltet Aussagen von Experten, von Insidern, persönliche Schicksale von (Beinahe-)Opfern und weitere »Geschichten«, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin. All das, um das Wirken der weißen Mafia in unserem Gesundheitssystem möglichst vielschichtig darzustellen.
Am Ende des Buches stehen Tipps für Sie, wie Sie Ihr Risiko, Opfer der weißen Mafia zu werden, verringern können. Und einige Vorschläge für Änderungen in unserem Gesundheitssystem. Änderungen, die es der weißen Mafia in Zukunft schwerer machen könnten, uns auszubeuten und uns mit überflüssiger Medizin zu schaden. Und ganz am Ende werde ich Sie um Ihre Hilfe bitten, die Debatte über die Medizinwende in unserem Land anzuschieben.
1. Meister der Überversorgung
Der Klassiker: Orthopädie
Eine Operation, die in Deutschland jedes Jahr 70 000-mal durchgeführt wird: ein Nonsenseingriff? An sich vollkommen wirkungslos. Der Ertrag - etwas weniger Knieschmerzen - nur ein Placeboeffekt? Das hört sich krass an. Ist aber durch eine exzellente Studie belegt. Eine Studie, über die schon häufiger in den Medien berichtet wurde. Vielleicht haben auch Sie schon davon gehört. Die Studie von Bruce Moseley.1 In Fachkreisen kennt sie jeder. Obwohl sich die Orthopäden immer noch hartnäckig weigern, Konsequenzen für ihr medizinisches Handeln daraus zu ziehen. Schließlich macht die Zunft mit diesem Eingriff etwa 150 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Ein prima Geschäft. Das lässt man sich nicht gerne kaputt machen. Die Rede ist von der endoskopischen Knorpelglättung im Knie.
Die Knorpelglättung ist ein Eingriff, der mit einem plausiblen Konzept aufwartet: Knorpelflächen im Knie sind Gleitschichten, die für die Beweglichkeit des Kniegelenks eine wichtige Rolle spielen. Optimalerweise sind diese Gleitflächen so glatt wie ein frisch gepelltes Ei. Doch bei uns Zweibeinern werden diese nur wenige Quadratzentimeter großen Gleitlager arg strapaziert. Arthrose im Kniegelenk, also der Verschleiß des Knorpels, ist daher ein weitverbreitetes Problem. Es beginnt damit, dass die Oberfläche der Knorpelschichten rau wird. Und wenn Sie Knieschmerzen haben und Ihr Orthopäde Ihnen erzählt, dass die Knieschmerzen durch die beschädigte Knorpelschicht verursacht werden, dann glauben Sie ihm das. Das mechanische Konzept leuchtet sofort ein. Und warum sollte Ihr Orthopäde Ihnen etwas anderes erzählen als die medizinische Wahrheit?
Auf Tauchstation im Knie
Die Standardtherapie, wie sie auch in den medizinischen Leitlinien der zuständigen Fachgesellschaft vorgeschrieben ist (DGOOC, Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie), lautet: Glätten und Spülen. Und zwar mit Hightechmedizin. Das Glätten wird sehr elegant mit einem Endoskop vorgenommen: Das nur dreieinhalb Millimeter dünne Endoskop mit einer Fräse an der Spitze wird in das Gelenk geschoben. Die Fräse raspelt über die Oberfläche, entfernt Unebenheiten und glättet das Gleitlager. Mit einer Endoskopkamera - das Bild erscheint auf einem Monitor über dem OP-Tisch - überwacht der Orthopäde seinen Eingriff. Anschließend wird gespült, um freien Knorpel aus dem Gelenk zu entfernen. Am Ende zeugen nur noch zwei kleine Einschnitte am Knie von der Prozedur. Und viele Patienten haben weniger Schmerzen. Klasse, oder?
Ein Mann hat dieser beliebten Methode den Nimbus genommen: Dr. Bruce Moseley. In seiner Zunft ein angesehener Mann. Er war Orthopäde der amerikanischen Basketball-Nationalmannschaft. Wahrscheinlich die höchste Position, die man in seiner Fachdisziplin auf unserem Globus erklimmen kann. Er hat seine epochale Studie am Baylor College of Medicine in Houston durchgeführt. Veröffentlicht hat er sie im New England Journal of Medicine, einer der drei bedeutendsten medizinischen Fachzeitschriften der Welt. Er wollte in seiner Studie prüfen, wie viel vom offensichtlichen Erfolg der Therapie jeweils auf das Konto des Glättens oder Spülens geht. Vielleicht käme man ja auch nur mit einer der beiden Prozeduren aus. Spülen ohne vorheriges Fräsen zum Beispiel könnte durchaus Sinn machen, wenn die Schmerzen nur von freien Knorpelstückchen im Gelenk verursacht würden. Also sollte die Studie zwei »Arme« haben: Spülen und Glätten. Die Idee, die zwei Jahre später Orthopäden rund um den Globus in Angst und Schrecken versetzen sollte, kam von Moseleys Assistentin. Sie sagte: »Warum machen wir nicht auch gleich einen Placeboarm?« Ihr Chef fand die Idee gut.
Die Macht des Placebos
Der Placeboeffekt spielt bei fast allen medizinischen Eingriffen eine Rolle. Das suggestive Potenzial des in strahlendes Weiß gekleideten Fachmanns, das Gefühl »Jetzt kümmert sich jemand um mein Problem«, das überzeugende Konzept der medizinischen Behandlung: All das bewirkt, dass unser Gehirn ein positives Ergebnis erwartet. Und da das Gehirn so komplex mit dem ganzen Körper verschaltet ist, sind die erstaunlichsten Placebowirkungen möglich. Vor allem bei der Behandlung von Schmerzen ist die Macht des Placebos groß. Man hat im 2. Weltkrieg Schwerverletzte von ihren Schmerzen befreit, indem man ihnen - mangels echter Schmerzmittel - eine Kochsalzlösung injizierte. Mit dem Hinweis, es sei Morphium.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: Wie um Himmels willen bewerkstelligt man bei einem endoskopischen Eingriff eine Placebokontrolle? Bei einer Medikamentenstudie ist das leicht. Man hat zwei Gruppen von Probanden. Eine der Gruppen bekommt ein wirkungsloses Medikament. Das ist das Placebo, eine Pille ohne Wirkstoff. Die Probanden wissen nicht, zu welcher Gruppe sie gehören. Die Studienteilnehmer können den Unterschied beim Pillenschlucken ja nicht schmecken. Aber bei einer Operation? Bruce Moseley sah darin kein Problem. Die Patienten erhielten eine lokale Narkose. Der Scheineingriff wurde - wie der echte Eingriff auch - hinter einem Vorhang durchgeführt. Die Knie bekamen in beiden Gruppen zwei originalgetreue Hautschnitte, die in der echten OP als echter Zugang für die Endoskope dienten. Um die Spülung zu simulieren, wurde hinter dem Vorhang ein wenig im Wassereimer geplätschert. Und die Mediziner ruckelten beim Scheineingriff auch ordentlich am Bein der Patienten. Die Placebogruppe erlebte also genau das Gleiche wie die Patienten, die tatsächlich operiert wurden. Um die Illusion perfekt zu machen, liefen auf dem Monitor über der Placebooperation Bilder, die bei einer echten Knorpelglättung von der Endoskopkamera aufgenommen worden waren.
Natürlich wussten die Patienten nicht, ob sie zu der Placebo- oder zu der echten OP-Gruppe gehörten. Die Studie ist verblindet, sagt der Fachmann. Nur mit placebokontrollierten und verblindeten Studien kann man die suggestive Kraft von medizinischen Behandlungen enttarnen und die echte medizinische Wirksamkeit einer Prozedur oder eines Medikaments zeigen. Prinzipiell mussten die Patienten selbstverständlich informiert sein und der Teilnahme an der Studie zugestimmt haben. Die Patienten wurden zwei Jahre lang nachuntersucht. Überprüft wurden drei Aspekte: die Beweglichkeit des Knies, der Schmerzmittelverbrauch und die Einschätzung der Schmerzpatienten zum Erfolg des Eingriffs. Das Ergebnis hatte keiner erwartet. Ein Hammer: Es gab keinen Unterschied zwischen Placebo und echter Operation! Eine bittere Pille für die Knorpelglätter.
Die Knorpelglättung im Kniegelenk ist Hightechschamanismus. Eine gewisse Schmerzlinderung erfolgt ganz offensichtlich allein durch das »Tamtam « um die minimalinvasive Operation. Die suggestive Kraft geht hier nicht - wie bei »Naturschamanen« - von gemurmelten Beschwörungen, magischen Gegenständen und rituellen Tänzen aus. Hightechschamanen beeindrucken mit medizinischen Apparaturen, ihrem weißen Kittel und der Aura des überlegenen Spezialistentums. Die Sinnlosigkeit der Knorpelglättung wurde 2008 von einer weiteren Studie bestätigt.2 Seitdem kann sich die Fachwelt nicht mehr mit dem »Eine Studie ist keine Studie«-Argument aus der Affäre ziehen.
Die Reaktion der Fachleute
Der erste Orthopäde, den ich mit dem Ergebnis der Studie konfrontierte, war der orthopädische Chirurg Dr. M. Er war mir von der Fachgesellschaft, der DGOOC, als Kniefachmann empfohlen worden und operierte damals an den Münchner Schön-Kliniken. Für meine Fernsehdokumentation Betrifft: Überflüssige Operationen für den Südwestrundfunk hatte er uns gerade liebevoll seine Kunst vorgeführt. In gestochen scharfen Bildern aus dem Kniegelenk seines Patienten hatten wir gesehen, wie der Fräskopf des Endoskops über den Knorpel geraspelt war. »Ich hab die Fräse selbst weiterentwickelt. Die Operation mache ich ein paar Hundert Mal pro Jahr«, hatte Dr. M. erklärt. Und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen.
Als Dr. M. zum Interview vor der Kamera steht, erinnert mich sein grüner Mundschutz an die Maske eines Bankräubers. Ich erlaube mir an dieser Stelle bewusst diesen Vergleich angesichts dessen, was der Orthopäde sagte, als ich ihn auf die Moseley-Studie ansprach. Dr. M. erklärte verdächtig umständlich: «Der Rückschluss aus der Moseley-Studie kann natürlich nicht dergestalt lauten, dass man also die Botschaft rüberbringt: Alle Arthroskopien am Kniegelenk bei älteren Patienten mit Schmerzen sind überflüssig und sinnlos. Das stimmt in dieser Ausprägung natürlich nicht.«
Was für eine Missachtung des Anspruchs der Patienten auf eine ehrliche und dem medizinischen Wissen entsprechende Aufklärung und Behandlung! Was für eine Kaltschnäuzigkeit, sich hier mit einem billigen Wortspiel aus der Verantwortung zu stehlen! Denn: Die Frage war nicht, ob »alle Arthroskopien am Kniegelenk bei älteren Patienten mit Schmerzen sinnlos sind«. Eine Arthroskopie ist zunächst eine Gelenkspiegelung. Also eine Untersuchung. Und natürlich ist es nicht »generell sinnlos und überflüssig «, bei Patienten mit Knieschmerzen das Knie zu untersuchen. Da drinnen kann ja weiß Gott was los sein. Moseleys Studie aber zeigte, dass die weltweit jährlich vielhunderttausendfach vorgenommene Knorpelglättung im Knie in der Regel sinnloser Hokuspokus ist. Darum geht es. Und darum, dass sich eine ganze Zunft von Medizinern schamlos mit dieser Nonsens- OP bereichert. Dr. M. weiß das ganz genau. Aber auf diesen Sachverhalt, auf diesen Skandal konnte der Kniespezialist natürlich nicht wirklich eingehen. Also startet er das Verwirrspiel mit der Arthroskopie, um die es gar nicht ging. Doch was hätte er dazu auch sonst sagen sollen? Vielleicht: »Okay, das Knorpelglätten ist in aller Regel Quatsch. Hier, nehmen Sie meinen Kittel, meinen Mundschutz, meine tolle Knorpelfräse. Ich sattele um auf Krankenpfleger.«
Ich frage den Orthopäden mit der grünen Maske vor dem Mund, ob die Studie denn nicht wenigstens in den Leitlinien seiner Fachgesellschaft erwähnt werden müsste. Jede Krankheit, die in das »Revier« der Fachgesellschaft gehört, wird in diesen Leitlinien besprochen. Es wird festgelegt, wie korrekt diagnostiziert und behandelt wird. Die neuesten wissenschaftlichen Studien sollten die Grundlage dieser Anleitungen sein. »Evidenz basiert« lautet das Stichwort. Ich habe die Leitlinie zur »Gonarthrose« vor dem Dreh durchgelesen. Die jüngste dort erwähnte Studie war zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt. Die Leitlinien würden ja regelmäßig überarbeitet, sagt Dr. M. Ich solle doch im nächsten Frühjahr mal wieder reinschauen. Dann würde ich die Moseley-Studie sicher darin finden. Natürlich habe ich im nächsten Frühjahr nachgesehen. Und in den folgenden vier Jahren immer mal wieder. Sie ahnen es: Die Moseley-Studie wurde weiterhin mit keinem Wort erwähnt.
Der zweite Orthopäde, mit dem ich über die Moseley-Studie spreche, etwa zwei Jahre später, ist Professor Robert E. Von der Moseley-Studie fehlt in den Leitlinien, wie gesagt, jede Spur. Robert E. ist - wie man so sagt - ein »hohes Tier« in seiner Fachgesellschaft, der DGOOC. Genaueres möchte ich auch hier nicht sagen, denn er ist eigentlich ein sympathischer Mann und hat mir für einen Fernsehbeitrag zu Problemen mit orthopädischen Implantaten interessante Details erklärt. Nach dem Dreh für das SWR- Wissenschaftsmagazin Odysso - meine journalistische »Heimatredaktion« - sitzen wir noch eine Viertelstunde zusammen und plaudern, während das Kamerateam die Lampen abbaut und das technische Equipment zusammenräumt. Ich frage Professor E., was er zur Moseley-Studie sagt.
Das soldatische Knie
Er erklärt mir, es gebe ja auch Kritik an der Studie. Die Schmerzpatienten seien Veteranen gewesen. Ehemalige Soldaten mit einem Durchschnittsalter von 52 Jahren. Ob diese Ergebnisse auf die Normalbevölkerung übertragen werden könnten, sei fraglich. Macht also das Marschieren das soldatische Knie prinzipiell zu einem medizinischen Unikum? Funktioniert das Gelenk eines Soldaten anders als das Knie eines Patienten, der nicht gedient hat? Professor E. lächelt ein wenig säuerlich und schüttelt dann andeutungsweise den Kopf. Ich habe das Gefühl, er weiß, wie lächerlich diese Argumentation ist.
Dann unternimmt er - halbherzig - einen weiteren Versuch, die Ehre seiner Kollegen zu retten: Wirkungslos sei die Knorpelglättung ja nicht. Die Patienten bekämen dadurch doch eine gewisse Schmerzlinderung. Wenn auch nur aufgrund des Placeboeffekts. Aber das müsse man dennoch als einen Erfolg der Behandlung akzeptieren. Ich signalisiere Professor E., dass mich diese Argumentation betroffen macht: »Aber ich kann doch nicht solch einen Eingriff an 70 000 Patienten machen, der außerdem unser Gesundheitssystem jährlich mit 150 Millionen Euro belastet, nur für ein bisschen Placeboeffekt. Wenn ich einem Patient eine wirkungslose Zuckerpille als Placebo gebe, weil ich merke, er will unbedingt ein Medikament für ein Zipperlein, und diese Pille kostet das Gesundheitswesen 1 Euro 50, dann mag das im Einzelfall okay sein. Ein - wenn auch minimalinvasiver - chirurgischer Eingriff ohne medizinische Wirkung ist nicht okay! Nach geltender Gesetzeslage ist das Körperverletzung. Und Diebstahl am Gemeinwesen. Und was ist mit dem Risiko, mit der medizinisch sinnlosen Operation eine Infektion in das Kniegelenk zu tragen? Ein schlimmes Risiko, das schon viele Patienten zum Krüppel - entschuldigen Sie den Ausdruck - gemacht hat.«
Raubritter im weißen Kittel
Meine sehr persönliche und durchaus emotional vorgetragene Anklage brachte die bis dahin noch fast makellose medizinische Fassade von Professor E. zum Einstürzen. Ich werde nie vergessen, was er dann tat. Es war etwas Unvorsichtiges. Vielleicht dachte er, ich sei nicht mehr im Dienst, weil die Kamera schon ausgeschaltet und abgebaut war. Er senkte seine Stimme, lehnte sich etwas in meine Richtung, sah mir eindringlich in die Augen und sagte: »Wissen Sie, Herr Wittig, was mich bei uns auch manchmal ankotzt, das ist das hier.« Und er blickte auf seine rechte Hand, die er so bewegte, als würde er Geld zählen.
Für mich war das eine Offenbarung. Eines der wichtigsten Erlebnisse in meinem Berufsleben. Ein Ranghoher aus den Reihen der Kritisierten sagt: Ja, Sie haben recht mit Ihrer Kritik. Das ist für einen Mediziner wirklich eine atypische Aussage. Sonst gilt in dieser Branche eine eiserne Regel: »Keinen Zweifel aufkommen lassen, dass wir das Richtige tun. Bei uns sind die Patienten gut aufgehoben. Uns können sie uneingeschränkt vertrauen.«
Und Professor E. - falls er diese Zeilen lesen sollte - wird sich wünschen, er hätte den Schein gewahrt, anstatt vor meinen Augen virtuelle Scheine zu zählen. Er wird sich wünschen, er hätte nicht davon abgelassen, die sinnlose Knorpelglättung zu verteidigen.
An uns Journalisten, die wir kritisch über Medizin berichten - zumindest mir geht es nach wie vor so -, nagt nämlich bei aller Sorgfalt in der Recherche immer auch ein heimlicher Zweifel: »Na, Frank«, höre ich die Stimme des heimlichen Zweifels sagen, »Verschwörungstheorie? Biste mal wieder einer dunklen Machenschaft auf der Spur?« Und dann wird die Stimme gemein. Sie kennt sich nämlich aus in unserem Geschäft: »Na klar! Womit sonst willst du deine Zuschauer/Leser ködern? Only bad news are good news. Ein anständiger Aufreger: Was anderes kommt gar nicht in die Tüte! Aber triffst du damit auch wirklich die Verhältnisse?« Ich werde Professor E. immer dankbar sein. Zumindest an dieser Stelle hat er meinen letzten heimlichen Zweifel vertrieben. Er hat die Zugbrücke runtergelassen, ich durfte in die Burg schauen, und was musste ich sehen? Raubritter!
Leitlinie verschwunden
Das wäre eine gute Stelle, um aus dem Thema auszusteigen. Aber ich muss die Geschichte noch ein Stück weiter erzählen. Im Dezember 2011 wollte ich wieder in die Leitlinien der DGOOC schauen. Vielleicht haben sie den Moseley jetzt, zehn Jahre nach Veröffentlichung der Studie, ja doch zumindest erwähnt. Sie, liebe Leserinnen und Leser, können das übrigens auch überprüfen. Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften sind im Internet zu finden. Die Gurus der Urologen, Gynäkologen, Onkologen - was immer Sie gerade brauchen - erklären in diesen Leitlinien, wie eine sachgerechte Diagnose und Therapie der Krankheiten auf ihrem Gebiet aussieht. Wir werden die Macht und die Funktion der Fachgesellschaften und der von ihnen formulierten Leitlinien später kritisch vertiefen. Hier genügt zunächst eine einfache Feststellung: Die gesamte Leitlinie zur »Gonarthrose « (der Fachbegriff für Knieverschleiß), in der auch zum Knorpelglätten geraten wird, war plötzlich verschwunden.
Ich gehe auf die Website der DGOOC, finde da immer noch Prof. Robert E. in verantwortungsvoller Position, seine E-Mail-Adresse und einen weiteren für das Thema »Knie« ausgewiesenen Orthopäden, den ich nicht näher charakterisieren möchte. Ich könnte theoretisch alle meine Gesprächspartner und Informanten beim Namen nennen. Aber die Karrieren der Herren könnten dadurch Schaden nehmen. Und das ist nicht mein Ziel. Im Zweifelsfall gehören sie ja sogar noch zu den Guten in ihrer Zunft, denn sie haben mir ehrliche Einblicke in die Verhältnisse in ihrem »Revier« gegeben. An beide Orthopäden stelle ich per Mail die Anfrage, wo denn die Leitlinie zur Behandlung der Gonarthrose geblieben sei.
Professor Robert E., der zwei Jahre zuvor noch mit Abscheu virtuelle Geldscheine gezählt hatte, mailt mir nach wenigen Tagen, das sei nicht sein Fachgebiet. Dazu könne er nichts sagen. Von Orthopäde X höre ich wochenlang nichts. Doch dann, als ich schon beschlossen hatte, die nächsten Tage mal »nachzuhaken«, ruft er mich an. Es war schon Abend. Ich war zu Fuß auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause, als mein Smartphone klingelte. Und dann führte ich eines der erstaunlichsten Telefonate meines Lebens.
Ein bizarres Telefonat mit einem Orthopäden
»Frank Wittig.«
»Hallo, hier ist Orthopäde X von der Klinik Y. Erinnern Sie sich: Sie haben mir eine E-Mail geschickt und nach der Leitlinie zur Gonarthrose gefragt.«
»Ja, ich erinnere mich. Schön, dass Sie zurückrufen.«
»Wissen Sie eigentlich, dass Sie da in ein Wespennest stechen?«
»Ja? Das höre ich gerne! Hat es vielleicht mit der Moseley-Studie zu tun?«
Er zögert. »Ja, die deutschen Orthopäden haben die größten Schwierigkeiten damit, die Ergebnisse dieser Studie anzunehmen.«
»Den Eindruck habe ich auch.«
Dann beschließe ich zu testen, ob Orthopäde X mir wirklich etwas sagen will. Zugleich will ich ihm signalisieren, dass ich mich in der Materie schon etwas auskenne: »Das fängt schon beim wording im Umgang mit der Moseley- Studie an. Ich habe das Gefühl, die Orthopäden haben sich geeinigt, in diesem Zusammenhang von der Arthroskopie zu sprechen - also nicht vom Knorpelglätten, sondern nur von der Besichtigung des Kniegelenks per Endoskopie. Um dann zu sagen, dass die Moseley-Studie den Sinn der Arthroskopie nicht widerlegt hätte. Das ist doch ein Ablenkungsmanöver.«
Kurzes Schweigen auf der anderen Seite. Dann kommt der Satz: »Das kann ich Ihnen bestätigen.«
Dieser Satz gehört zu der Kategorie der Zweifelkiller.
»Aber Herr X. Man kann doch nicht 70 000 Patienten pro Jahr mit einer Operation behandeln, die sich in einer exzellenten Studie als sinnlos erwiesen hat. Immer weiter operieren. Das ist doch ...« Ich suche nach einem Wort, das nicht zu hart klingt. Schließlich möchte ich das Gespräch nicht gefährden, will Orthopäde X nicht verschrecken. »... das ist doch unanständig. «
Und dann sagt er den Satz: »Aber Herr Wittig, das machen doch alle!«
Ich bin für einen Moment sprachlos. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. Denn ich berichte ja seit Jahren über überflüssige Medizin. Trotzdem. Auf so eine flächendeckende Bankrotterklärung der medizinischen Moral war ich nicht gefasst. »Herr X. Ich finde das interessant. Würden Sie das eventuell vor der Kamera wiederholen? In unserem Wissenschaftsmagazin im SWR-Fernsehen?«
»Ich bin doch nicht verrückt!«
© des Titels »Die weiße Mafia« (978-3-86883-271-6) 2013 by Riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München
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Autoren-Porträt von Frank Wittig
Dr. Frank Wittig studierte Literaturwissenschaft und Psychologie und arbeitete als Wissenschaftsjournalist für verschiedene Magazine und Zeitungen. Seit 1996 ist er Redakteur und Autor beim Südwestrundfunk in der Abteilung Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Medizin. Seine Dokumentationen Betrifft: Die Vitaminfalle und Betrifft: Überflüssige Operationen wurden mit Preisen ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Frank Wittig
- 2013, unveränderter Nachdruck der 3. Auflage, 224 Seiten, Maße: 15,3 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: riva Verlag
- ISBN-10: 3868832718
- ISBN-13: 9783868832716
- Erscheinungsdatum: 08.02.2013
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