Die Wohlgesinnten
Roman. Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2008 und dem Bad Sex Award 2009
»Dieses Buch ist Stoff für die nächsten fünfzig Jahre. Wir hätten eine etwas bessere Welt, wenn jeder es lesen würde.« Claus Peymann, in Lesen! ZDF
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Taschenbuch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Wohlgesinnten “
Klappentext zu „Die Wohlgesinnten “
»Dieses Buch ist Stoff für die nächsten fünfzig Jahre. Wir hätten eine etwas bessere Welt, wenn jeder es lesen würde.« Claus Peymann, in Lesen! ZDFDer fiktive Lebensbericht eines hohen SS-Offiziers, ein Epos, das ein detailliertes Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet.
Jorge Semprun bezeichnete den Roman als »das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte «
Jonathan Littell ist ein erschreckend detailgenauer Roman über die nazistischen Verbrechen aus der Perspektive eines Täters gelungen, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die sichere Existenz eines Fabrikdirektors in Frankreich gerettet hat.
»Der beeindruckendste Antikriegsroman der vergangenen Jahrzehnte.« Focus
Ausgezechnet mit den begehrten Literaturpreisen Prix Goncourt und Grand Prix de l'Académie française.
Im Februar 2008 erschien im Berlin Verlag der Roman, den Jorge Semprun als "das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte " bezeichnet: Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell. Über Monate hielt er die deutsche Literaturkritik in Atem. Mit den fiktiven Lebenserinnerungen des SS-Obersturmführers Maximilian Aue, Jahrgang 1913, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, zeichnet Jonathan Littell ein erschreckend detailgenaues Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten aus Sicht eines Täters. "Das ist ein Roman, und das ist ein Autor, vor denen man sich verneigen muss", schrieb Andreas Isenschmid in der NZZ am Sonntag. Die Wohlgesinnten erscheint im Oktober 2009 im Berliner Taschenbuch Verlag.
Lese-Probe zu „Die Wohlgesinnten “
Die Wohlgesinnten sind die fiktiven Erinnerungen des SSOffiziers Maximilian Aue, Jahrgang 1913, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, promovierter Jurist, frühes NSDAP-Mitglied. Es sind die verstörenden Erinnerungen an die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs und an das Grauen der Verfolgung und Vernichtung der Juden von 1941 bis 1945, an die Einsatzkommandos und Massenhinrichtungen in der Ukraine und im Kaukasus, an Babi Jar, den Kessel von Stalingrad, an Auschwitz und Krakau, das besetzte Paris und das kriegszerstörte Berlin. Es sind die beklemmenden Erinnerungen an all seine Begegnungen mit den Nazi-Größen: an Himmler, in dessen Persönlichen Stab Aue 1943 aufgenommen wird, an Abendessen mit Eichmann, an Höß oder Speer. Es ist ein erschreckend detailgenauer Roman über die nazistischen Verbrechen, erzählt aus der Perspektive eines Täters, der sich nach Kriegsende in eine sichere Existenz nach Frankreich gerettet hat.
Jonathan LittellDie WohlgesinntenRoman
Aus dem Französischen
von Hainer Kober
Berliner Taschenbuch VerlagFür die Toten TOCCATA
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Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen. Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir. Ein bisschen lang ist sie wohl, schließlich ist viel geschehen, doch wenn ihr es nicht allzu eilig habt, werdet ihr vielleicht die Zeit erübrigen. Immerhin betrifft die Geschichte euch: Und ihr werdet schon sehen, wie sehr sie euch betrifft. Glaubt nicht, ich wollte euch von irgendetwas überzeugen, wovon es auch sei; was ihr denkt, ist schließlich eure Sache. Wenn ich mich nach all diesen Jahren entschlossen habe, sie niederzuschreiben, dann nur, um mir selber Klarheit zu verschaffen, nicht euch. Lange kriecht man als Raupe über diese Erde und wartet auf den prächtigen durchscheinenden Schmetterling, den man in sich trägt. Und dann vergeht die Zeit, die Verpuppung findet nicht statt, wir bleiben Larven. Das ist eine betrübliche Feststellung, aber was soll man machen? Natürlich bleibt immer noch der Selbstmord. Doch ehrlich gesagt, lockt er mich wenig. Sicher, ich habe lange daran gedacht, und sollte ich doch darauf zurückgreifen, wüsste ich auch wie: Ich würde mir eine Handgranate gegen das Herz drücken und mit einem wilden Ausbruch der Freude aus dieser Welt scheiden. Eine kleine runde Granate, die ich behutsam entsichern würde, bevor ich den Bügel freigäbe, und bei dem kurzen metallischen Klicken des Zünders lächelte ich, dem letzten Geräusch, das ich hören würde – abgesehen vom Hämmern meines Herzens in den Ohren. Und dann endlich das Glück, oder jedenfalls der Friede, und die Wände des Büros mit Fetzen dekoriert. Die Putzfrauen würden saubermachen, dafür werden sie schließlich bezahlt, selber schuld. Doch wie gesagt, der Selbstmord reizt mich nicht. Ich weiß übrigens nicht, warum, ein altes moralphilosophisches Relikt vielleicht, das mich predigen lässt, wir seien schließlich nicht auf dieser Welt, um uns zu amüsieren? Aber wozu dann? Keine Ahnung, um zu überdauern vermutlich, die Zeit totzuschlagen, bevor sie dich erschlägt. So gesehen, ist das Schreiben ein Zeitvertreib wie jeder andere auch. Nicht, dass ich viel Zeit zu verlieren hätte, ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ich habe, wie man so sagt, Beruf und Familie, mithin Verpflichtungen, all das kostet Zeit, lässt kaum welche, um seine Erinnerungen zu schreiben. Und Erinnerungen, die habe ich in Hülle und Fülle. Ich bin geradezu eine Erinnerungsfabrik. Am Ende werde ich ein ganzes Leben damit verbracht haben, Erinnerungen zu fabrizieren, obwohl man mich heute eher dafür bezahlt, Spitze zu fabrizieren. Im Grunde hätte ich genauso gut darauf verzichten können, diese Geschichte aufzuschreiben. Schließlich bin ich nicht dazu verpflichtet. Seit dem Krieg habe ich mich unauffällig verhalten. Gott sei Dank habe ich im Unterschied zu vielen meiner ehemaligen Kameraden nie das Bedürfnis gehabt, meine Memoiren zu schreiben, weder um mich zu rechtfertigen, weil es nichts zu rechtfertigen gibt, noch aus finanziellen Gründen, weil ich auch so mein gutes Auskommen habe. Einmal war ich auf einer Geschäftsreise in Deutschland und hatte eine Besprechung mit dem Direktor eines großen Unternehmens für Unterwäsche, dem ich Spitzen verkaufen wollte. Ich war ihm von alten Freunden emp- fohlen worden. Ohne viel Worte wussten wir, was wir voneinander zu halten hatten. Nach unserer Besprechung, die übrigens äußerst positiv verlaufen war, erhob er sich, nahm ein Buch aus dem Regal und schenkte es mir. Es waren die posthum erschienenen Memoiren von Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen, mit dem Titel Im Angesicht des Galgens. »Ich habe von seiner Witwe einen Brief bekommen «, berichtete mein Gegenüber. »Sie hat das Manuskript, das er nach seinem Prozess verfasst hatte, auf eigene Kosten veröffentlicht, um den Unterhalt für ihre Kinder bestreiten zu können. Können Sie sich vorstellen, so weit zu kommen? Die Witwe des Generalgouverneurs! Ich habe bei ihr zwanzig Exemplare bestellt, zum Verschenken. Außerdem habe ich alle meine Abteilungsleiter angehalten, eines zu kaufen. Ich habe ein rührendes Dankschreiben von ihr bekommen. Kannten Sie ihn?« Ich versicherte ihm, dass ich ihn nicht kannte, das Buch aber mit Interesse lesen würde. In Wirklichkeit schon, ich bin ihm kurz begegnet, erzähle es euch später vielleicht noch, falls ich den Mut oder die Geduld dazu aufbringe. Aber damals davon zu sprechen hätte keinen Sinn gehabt. Das Buch war übrigens sehr schlecht – verworren und wehleidig, es trieft vor einer seltsam frömmelnden Scheinheiligkeit. Diese Aufzeichnungen mögen vielleicht ebenfalls verworren und schlecht sein, doch ich werde mich darum bemühen, klar zu bleiben. Ich kann euch versichern, dass sie zumindest frei von jeglicher Reue sein werden. Ich bereue nichts: Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht. Meine Familienangelegenheiten, von denen ich vielleicht auch noch erzähle, betreffen nur mich allein. Was das Übrige angeht, habe ich zum Ende hin sicherlich den Bogen überspannt, aber da war ich schon nicht mehr ganz ich selbst, ich taumelte, und um mich herum geriet die ganze Welt ins Wanken, ich war nicht der Einzige, der den Verstand verlor, das müsst ihr mir zugutehalten. Und außerdem schreibe ich nicht, um meine Witwe und meine Kinder zu versorgen, denn ich bin sehr wohl in der Lage, für ihre Bedürfnisse aufzukommen. Nein, wenn ich mich endlich zum Schreiben entschlossen habe, dann sicherlich, um mir die Zeit zu vertreiben, womöglich auch, um ein oder zwei dunkle Punkte zu klären – für euch vielleicht und für mich selbst. Zudem glaube ich, dass es mir guttun wird. Denn meine Stimmung ist eher trübe. Was bestimmt an der Verstopfung liegt. Ein leidiges und schmerzhaftes Problem und für mich neu; früher verhielt es sich genau umgekehrt. Lange Zeit musste ich dreibis viermal am Tag auf die Toilette, wenn es heute einmal pro Woche wäre, könnte ich von Glück reden, so bin ich auf Einläufe angewiesen, eine denkbar unerquickliche, aber wirksame Prozedur. Ihr müsst schon verzeihen, dass ich euch mit so anstößigen Einzelheiten komme: Ich habe doch wirklich das Recht, ein bisschen zu klagen. Und wenn ihr das nicht aushaltet, tätet ihr gut daran, die Lektüre schleunigst abzubrechen. Ich bin nicht Hans Frank, ich hasse Getue. Im Rahmen meiner Möglichkeiten möchte ich so genau wie möglich sein. Trotz meiner Schwächen, und davon hatte ich einige, gehöre ich zu denen, die meinen, nur wenige Dinge im menschlichen Leben seien wirklich unentbehrlich: Luft, Essen, Trinken, Verdauung und die Suche nach Wahrheit. Der Rest ist Beiwerk.
Vor einiger Zeit hat meine Frau eine schwarze Katze mit nach Hause gebracht, vermutlich wollte sie mir eine Freude machen. Natürlich hatte sie mich nicht gefragt. Sie ahnte wohl, dass ich es kategorisch abgelehnt hätte, da hat sie mich lieber vor vollendete Tatsachen gestellt. Als das Tier einmal da war, ließ sich nichts mehr daran ändern, die Enkelkinder hätten geweint und so weiter. Trotzdem war diese Katze äußerst unangenehm. Wenn ich sie streicheln wollte, um meinen guten Willen unter Beweis zu stellen, verzog sie sich aufs Fensterbrett und starrte mich mit ihren gelben Augen an. Machte ich Anstalten, sie auf den Arm zu nehmen, kratzte sie mich. Nachts aber rollte sie sich auf meiner Brust zusammen, eine beklemmende Last, und im Schlaf träumte ich, ich würde unter einem Steinhaufen erstickt. Mit meinen Erinnerungen erging es mir ganz ähnlich. Als ich zum ersten Mal daran dachte, sie schriftlich niederzulegen, nahm ich Urlaub. Was vermutlich ein Fehler war. Dabei hatte alles gut angefangen: Ich hatte eine beträchtliche Anzahl von Büchern zu dem Thema gekauft und gelesen, um mein Gedächtnis aufzufrischen, Organigramme gezeichnet, detaillierte Zeittafeln angelegt und so fort. Doch mit diesem Urlaub hatte ich plötzlich Zeit und begann nachzudenken. Außerdem war gerade Herbst; während ein schmutzig grauer Regen die Bäume entlaubte, stieg langsam die Angst in mir auf. Ich stellte fest, dass mir das Denken nicht guttat.
Dabei hätte ich darauf gefasst sein können. Meine Kollegen halten mich für einen ruhigen, bedächtigen, überlegten Menschen. Ruhig, das schon, aber sehr oft am Tag beginnt es in meinem Kopf zu fauchen und zu grollen, dumpf wie im Ofen eines Krematoriums. Ich rede, diskutiere, treffe Entscheidungen wie alle Welt, doch an der Theke, vor meinem Kognak, male ich mir aus, wie ein Mann mit einem Jagdgewehr hereinkommt und das Feuer eröffnet. Im Kino oder Theater stelle ich mir vor, wie eine entsicherte Handgranate unter den Sitzreihen entlangrollt. An einem Feiertag sehe ich auf dem öffentlichen Platz ein Auto voller Sprengstoff explodieren, den festlichen Nachmittag zum Massaker entarten, das Blut zwischen den Pflastersteinen rinnen, Fleischklumpen an den Hauswänden kleben oder durch die Fenster fliegen und in der Sonntagssuppe landen, höre die Schreie, das Stöhnen der Menschen, denen die Bombe die Gliedmaßen abgerissen hat, wie ein neugieriger Bub Insekten die Beine ausrupft, das stumpfsinnige Vorsichhinbrüten der Überlebenden, eine eigenartige Stille, die sich wie Watte auf das Trommelfell legt, den Beginn der langen Furcht. Ruhig? Ja, ich bewahre die Ruhe, egal, was passiert, ich lasse mir nichts anmerken, ich bleibe ruhig, unbewegt, wie die stummen Fassaden ausgebombter Städte, wie die kleinen Alten auf den Parkbänken mit ihren Spazierstöcken und Medaillen, wie die Gesichter Ertrunkener dicht unter der Wasseroberfläche, die man nie wieder findet. Selbst wenn ich es wollte, wäre ich völlig außerstande, diese schreckliche Ruhe zu durchbrechen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die bei jeder Kleinigkeit einen Aufstand machen, ich bewahre Haltung. Aber auch mich bedrückt das. Am schlimmsten sind nicht unbedingt die Vorstellungen, die ich gerade beschrieben habe. Mit derartigen Fantasien lebe ich schon lange, wahrscheinlich seit meiner Kindheit, auf jeden Fall lange bevor auch ich mich inmitten der Schlächterei wiederfand. So gesehen, war der Krieg für mich nur eine Bestätigung, und ich habe mich an diese kleinen Szenarien gewöhnt, ich begreife sie als einen passenden Kommentar zur Nichtigkeit der Dinge. Nein, als beschwerlich und belastend hat sich der Umstand erwiesen, dass ich nichts anderes mehr zu tun hatte als nachzudenken. Überlegt einmal: Woran denkt ihr im Laufe eines Tages? Im Grunde an sehr wenig. Es wäre doch ein Leichtes für euch, eure alltäglichen Gedanken vernünftig zu klassifizieren: praktische oder mechanische Gedanken, Planung der Zeit- und Handlungsabläufe (Beispiel: Kaffeewasser vor dem Zähneputzen aufsetzen, aber erst danach Brot toasten, weil es früher fertig ist), berufliche Probleme, Geldsorgen, häusliche Schwierigkeiten, sexuelle Fantasien. Ich erspare euch die Einzelheiten. Beim Abendessen betrachtet ihr das alternde Gesicht eurer Frau, die euch viel reizloser erscheint als eure Geliebte, ansonsten aber in jeder Hinsicht die Richtige ist; was soll’s, so ist das Leben, also redet ihr über die letzte Regierungskrise. In Wahrheit ist euch die letzte Regierungskrise herzlich egal, aber über was solltet ihr sonst reden? Klammert diese Ge- danken aus, und ihr werdet mir zustimmen, dass nicht viel bleibt. Natürlich gibt es auch andere Augenblicke. Zwischen zwei Waschmittelwerbungen unerwartet ein Tango aus der Vorkriegszeit, sagen wir, Violetta, und schon sind auch das nächtliche Plätschern des Flusses, die Lampions der Buden und der leichte Schweißgeruch auf der Haut einer heiteren Frau wieder da; am Eingang eines Parks ruft das lächelnde Gesicht eines Kindes dasjenige eures kleinen Sohnes wach, kurz bevor er laufen lernte; auf der Straße bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und bringt die großen Blätter und den weißlichen Stamm einer Platane zum Leuchten: Und plötzlich denkt ihr an eure Kindheit, an den Schulhof, auf dem ihr Krieg spieltet, mit Schreckensgeschrei und Glücksgeheul. Da habt ihr einen menschlichen Gedanken. Aber das kommt sehr selten vor. Doch wenn man die Arbeit, die banalen Verrichtungen, die alltägliche Hektik unterbricht, um sich ernsthaft einem Gedanken zu widmen, sieht alles ganz anders aus. Dann kommen die Dinge bald in schweren schwarzen Wellen hoch. Nachts zergehen die Träume, entfalten und vervielfältigen sich und lassen eine feine feuchtbittere Schicht im Kopf zurück, die nach dem Aufwachen lange braucht, bis sie sich auflöst. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es nicht um Schuldgefühle oder Gewissensbisse. Die gibt es natürlich auch, das will ich nicht leugnen, aber mir scheint, die Dinge liegen viel komplizierter. Selbst ein Mensch, der nicht im Krieg war, der nicht töten musste, wird erlebt haben, wovon ich rede. Die Rückkehr der kleinen Bosheiten, Feigheiten, Falschheiten und Schäbigkeiten, die wir uns alle irgendwann haben zuschulden kommen lassen. Kein Wunder also, dass die Menschen die Arbeit erfunden haben, den Alkohol, das müßige Geschwätz. Kein Wunder, dass das Fernsehen solche Erfolge feiert. Kurzum, ich beendete meinen leidigen Urlaub schon bald, es war besser so. Für meine Schreiberei blieb mir trotzdem genügend Zeit, morgens beim Frühstück und abends, wenn die Sekretärinnen gegangen waren.
Eine kurze Pause, um mich zu übergeben, und ich fahre fort. Das ist eine weitere meiner vielen kleinen Beschwerden: Hin und wieder kommt mir das Essen hoch, manchmal sofort, manchmal später, ohne Grund, einfach so. Ich habe das schon lange, seit dem Krieg, begonnen hat es im Herbst 41, genauer gesagt, in der Ukraine, in Kiew, glaube ich, vielleicht auch in Shitomir. Davon später mehr. Jedenfalls habe ich mich seither daran gewöhnt: Ich putze mir die Zähne, trinke ein Schnäpschen und mache weiter, wo ich gerade aufgehört habe. Zurück zu meinen Erinnerungen. Ich habe mir mehrere Schulhefte gekauft, großformatig, aber mit kleinen Karos, die bewahre ich im Büro in einer abgeschlossenen Schreibtischschublade auf. Früher kritzelte ich meine Notizen auf kleine Karteikärtchen, auch mit kleinen Karos; jetzt habe ich beschlossen, das Ganze zusammenhängend aufzuschreiben. Wozu, weiß ich nicht so recht. Gewiss nicht zur Erbauung meiner Nachkommenschaft. Wenn ich in diesem Moment plötzlich stürbe, sagen wir, an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, und wenn meine Sekretärinnen dann diese Schublade aufschlössen, würden sie sicherlich einen Schock bekommen, die Bedauernswerten, und meine Frau ebenfalls: Die Karten würden schon genügen. Man wird alles rasch verbrennen müssen, um einen Skandal zu vermeiden. Mir ist das egal, ich bin dann tot. Schließlich schreibe ich nicht für euch, auch wenn ich mich an euch wende.
Mein Arbeitszimmer ist ein angenehmer Ort zum Schreiben, groß, nüchtern, ruhig. Weiße Wände, fast schmucklos, ein Glasschrank mit Warenmustern und im Hintergrund eine große Glaswand, durch die man von oben auf den Maschinensaal blickt. Trotz Doppelverglasung erfüllt das unablässige Klicken der Leavers-Maschinen das Büro. Wenn ich nach- denken möchte, stehe ich vom Schreibtisch auf und trete an das Fenster, betrachte die exakt aufgereihten Webstühle zu meinen Füßen, die sicheren und genauen Bewegungen der Weber; ich lasse mich einlullen. Gelegentlich gehe ich hinunter und schlendere zwischen den Maschinen umher. Der Saal ist dunkel, die schmutzigen Fensterscheiben sind blau gestrichen, weil die Spitzen empfindlich sind, sie vertragen kein Licht, und der bläuliche Dämmerschein beruhigt mein Gemüt. Ich gebe mich gern ein wenig dem monotonen und skandierten Geklapper hin, das den Saal beherrscht, diesem metallischen Klopfen mit seinem Zweierrhythmus, der mich in seinen Bann zieht. Die Webmaschinen beeindrucken mich immer wieder aufs Neue. Sie sind aus Gusseisen, grün gestrichen, jede von ihnen wiegt zehn Tonnen. Einige sind sehr alt. Sie werden schon lange nicht mehr hergestellt. Die Ersatzteile lasse ich extra anfertigen. Nach dem Krieg haben wir zwar von Dampf auf Strom umgestellt, aber die Maschinen selbst nicht angetastet. Ich halte Abstand, um mich nicht schmutzig zu machen. Die vielen beweglichen Teile müssen ständig geschmiert werden, allerdings würde Öl die Spitzen ruinieren, daher verwenden wir Grafit, zerstoßenen Bleigrafit, mit dem der Weber die beweglichen Maschinenelemente stäubt, mit Hilfe eines strumpfartigen Beutels, als schwenke er ein Weihrauchgefäß. Die Spitze kommt schwarz heraus, und der Grafit bedeckt die Wände, den Boden, die Maschinen und die Menschen, die sie überwachen. Auch wenn ich selten selbst mit Hand anlege, kenne ich diese großen Maschinen recht gut. Die ersten englischen Tüllmaschinen, ein ängstlich gehütetes Geheimnis, schmuggelten Arbeiter kurz nach den napoleonischen Kriegen in Frankreich ein, um die Zollgebühren zu umgehen. Es war ein Seidenweber aus Lyon, Jacquard, der sie so veränderte, dass sich Spitzen auf ihnen herstellen ließen, indem er Lochkarten zur Festlegung der Webmuster einführte. Rollen an der Unterseite liefern die Kettfäden. Im Inneren der Maschine befinden sich fünftausend Bobinen, die Seele, auf einem Schlitten. Ein Catch- Bar (einige englische Ausdrücke behalten wir sogar im Französischen bei) greift diesen Schlitten, balanciert ihn aus und führt ihn mit einem lauten, hypnotisch wirkenden Schnalzen vor und zurück, vor und zurück. Die Fäden, seitlich geführt, werden nach einer komplizierten Choreografie, die auf fünf- bis sechshundert Jacquard-Karten niedergelegt ist, von Combs, kupfernen Schützenlagern in Bleifassungen, verflochten. Ein Schwanenhals hebt das Schützenlager wieder an. Schließlich kommt die Spitze spinnwebartig hervor, betörend unter ihrer Grafitschicht, und rollt sich langsam auf einem Rohr auf, das oben an der Leavers-Maschine angebracht ist.
Bei der Arbeit in der Fabrik gilt strenge Geschlechtertrennung: Die Männer entwerfen die Motive, stanzen die Lochkarten, ziehen die Kettfäden auf, überwachen die Webmaschinen und den restlichen Maschinenpark; ihre Frauen und Töchter füllen noch heute die Bobinen, entfernen den Grafit, bessern die Spitzen aus, trennen und legen sie. Die Traditionen werden hochgehalten. Die Weber bilden hier eine Art proletarischer Aristokratie. Die Ausbildungszeit ist lang, die Arbeit schwierig; im vorigen Jahrhundert fuhren die Weber von Calais mit Kutsche und Zylinder zur Fabrik und duzten den Besitzer. Die Zeiten haben sich geändert. Der Krieg hat diesen Wirtschaftszweig zugrunde gerichtet, obwohl einige Webmaschinen für die Deutschen liefen. Alles musste wieder aus dem Nichts aufgebaut werden. Heute existieren in Nordfrankreich, wo vor dem Krieg viertausend Webmaschinen in Betrieb waren, nur noch etwa dreihundert. Und trotzdem haben sich die Weber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung früher als manche Bürger ein Auto geleistet. Allerdings duzen meine Arbeiter mich nicht. Ich glaube nicht, dass sie mich mögen. Was nicht schlimm ist, ich verlange es nicht von ihnen. Schließlich mag ich sie auch nicht. Man arbeitet zusammen, das ist alles. Wenn ein Mitarbeiter gewissenhaft und fleißig ist, wenn die Spitzen, die seinen Webstuhl verlassen, keinen Grund zur Beanstandung geben, gewähre ich ihm zum Jahresende eine Prämie. Wer zu spät oder betrunken zur Arbeit erscheint, bekommt Abzüge. Auf dieser Basis verstehen wir uns ausgezeichnet.
Ihr fragt euch vielleicht, wie ich in der Spitzen-Industrie gelandet bin. Eigentlich lag mir nichts ferner als die Wirtschaft. Ich habe Jura und Volkswirtschaft studiert und meinen Dr. jur. gemacht, den ich in Deutschland im Namen führen darf. Allerdings haben mich die Verhältnisse nach 1945 ein bisschen daran gehindert, auf meinen akademischen Grad zu pochen. Wenn ihr’s wirklich wissen wollt, lag mir auch nichts ferner als Jura: Als junger Mann hätte ich am liebsten Literatur und Philosophie studiert. Das wurde mir verwehrt – ein weiteres trauriges Kapitel meines Familienromans, vielleicht komme ich darauf noch zurück. Doch muss ich zugeben, dass Jura mir im Spitzen-Gewerbe bessere Dienste leistet als die Literatur. So ungefähr ist es gewesen. Als endlich alles zu Ende war, ist es mir gelungen, nach Frankreich zu kommen und mich als Franzose auszugeben; was nicht allzu schwer war, wenn man die chaotischen Verhältnisse damals bedenkt. Ich kam mit den Deportierten zurück, man stellte mir nicht viele Fragen. Gewiss, ich sprach ein tadelloses Französisch. Meine Mutter war Französin, und ich habe zehn Jahre meiner Kindheit in Frankreich verbracht, die gymnasiale Unterstufe, die Oberstufe, die Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles besucht und sogar zwei Jahre an der ELDS* studiert. Und da ich im Süden aufgewachsen bin,
* Der Autor hat darauf verzichtet, die zahlreichen Ausdrücke und
Abkürzungen, die außerhalb eines Kreises von Spezialisten unbekannt
sind, zu erklären; daher sind am Ende des Bandes ein Glossar und
eine Liste der militärischen Ränge angefügt. (Anm. d. Verl.)
konnte ich mir sogar einen leichten südfranzösischen Akzent zulegen, jedenfalls achtete niemand auf mich, es herrschte ein heilloses Durcheinander, ich wurde an der Gare d’Orsay mit einer Suppe empfangen, und ein paar Beschimpfungen gab es auch, ich muss erwähnen, dass ich nicht versucht hatte, mich als Deportierter auszugeben, sondern als Zwangsarbeiter beim STO, und das schmeckte den Gaullisten nicht, also beschimpften sie mich ein bisschen, wie auch die anderen armen Teufel, dann haben sie uns wieder laufen lassen, wir kamen nicht ins Hotel Lutétia, aber in die Freiheit. Ich bin nicht in Paris geblieben, da kannte ich zu viele Leute, zu viele, die ich besser nicht gekannt hätte, ich bin in die Provinz gegangen, habe mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten, mal hier, mal dort. Dann hat sich die Aufregung gelegt. Rasch haben sie aufgehört, die Leute zu erschießen, bald sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, sie ins Gefängnis zu stecken. Da habe ich Nachforschungen angestellt und schließlich einen Mann gefunden, den ich kannte. Er hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen und eine Verwaltungsstelle nach der anderen unbeschadet überstanden; als vorausschauender Mann hatte er sich wohlweislich gehütet, die Dienste, die er uns erwiesen hatte, an die große Glocke zu hängen. Anfangs wollte er mich nicht empfangen, doch als er endlich begriff, wer ich war, sah er ein, dass er gar keine andere Wahl hatte. Ich kann nicht behaupten, dass es eine angenehme Unterhaltung war: Ein Gefühl der Befangenheit, des Zwanges war deutlich zu spüren. Aber er verstand sehr wohl, dass wir ein gemeinsames Interesse hatten: ich, eine Stellung zu bekommen, und er, die seine zu behalten. Er hatte einen Vetter in Nordfrankreich, einen ehemaligen Vertreter, der versuchte, ein kleines Unternehmen aufzuziehen, und zwar mit drei Leavers-Maschinen, die er von einer Witwe, die Konkurs gemacht hatte, gekauft hatte. Dieser Mann stellte mich als Reisenden ein, als Vertreter für seine Spitzen. Die Arbeit ging mir entsetzlich auf die Nerven; schließlich gelang es mir, ihn zu überzeugen, dass ich ihm auf organisatorischer Ebene weit nützlicher sein könnte. Immerhin hatte ich beträchtliche Erfahrung auf diesem Gebiet, auch wenn ich mich auf sie so wenig berufen konnte wie auf meinen Doktortitel. Die Firma wuchs, besonders seit den fünfziger Jahren, als ich wieder Kontakte in der Bundesrepublik aufnahm und es mir gelang, uns Zugang zum deutschen Markt zu verschaffen. Damals hätte ich leicht nach Deutschland zurückkehren können: Viele meiner alten Kameraden lebten dort in Ruhe und Frieden; einige hatten kleine Strafen verbüßt, andere waren nicht einmal belangt worden. Mit meinem Werdegang hätte ich meinen Namen wieder annehmen, meinen Titel wieder führen, eine Pension nach dem 131er Gesetz und eine Kriegsversehrtenrente beantragen können, niemand hätte etwas bemerkt. Arbeit hätte ich rasch gefunden. Aber, so sagte ich mir, was hätte ich davon gehabt? Die Rechtswissenschaft ließ mich im Grunde ebenso kalt wie das Geschäftsleben, und dann hatte ich am Ende doch noch Gefallen an den Spitzen gefunden, diesen entzückenden und geschmackvollen Schöpfungen des Menschen. Als wir genügend Webmaschinen zusammengekauft hatten, beschloss mein Chef, eine zweite Fabrik zu eröffnen und mir die Leitung anzuvertrauen. Seither bekleide ich diesen Posten und warte auf den Ruhestand. In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet, zwar mit einem gewissen Widerwillen, aber hier in dieser nördlichen Region ließ sich das kaum vermeiden, es war nötig, um meine gesellschaftliche Stellung zu festigen. Ich habe eine Frau aus gutem Haus gewählt, sie ist ganz hübsch, repräsentabel, und ihr gleich ein Kind gemacht, um sie zu beschäftigen. Leider bekam sie Zwillinge, das muss in der Familie liegen, will sagen, in meiner Familie, ein Balg wäre für meinen Geschmack mehr als genug gewesen. Mein Chef hat mir Geld vorgestreckt, ich habe mir ein stattliches Haus gekauft, nicht allzu weit vom Meer entfernt. So habe ich mich in bürgerlichen Verhältnissen wiedergefunden. Und das war auch besser so. Nach allem, was geschehen war, hatte ich in erster Linie das Bedürfnis nach Ruhe und Regelmäßigkeit. Das Leben hatte den Träumen meiner Jugend die Flügel gestutzt, und meine Ängste hatten sich auf dem Weg vom einen Ende des deutschen Europas zum anderen allmählich verflüchtigt. Ich bin aus dem Krieg wie ausgeleert zurückgekehrt, nur Bitterkeit und Scham waren geblieben, wie Sand, der zwischen den Zähnen knirscht. Daher kam mir ein Leben, das allen gesellschaftlichen Konventionen Rechnung trug, gerade recht: eine bequeme Gangart, auch wenn ich sie oft mit Ironie und manchmal sogar mit Hass betrachte. Ich hoffe, auf diese Weise eines Tages in Jeromino Nadals Zustand der Gnade zu gelangen und keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren, es sei denn dazu, keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren. Aber ich werde literarisch; einer meiner Fehler. Um heiliggesprochen zu werden, habe ich mich noch nicht von meinen Bedürfnissen befreit. Von Zeit zu Zeit beehre ich meine Frau, gewissenhaft, mit wenig Lust, aber auch ohne übermäßigen Ekel, um den häuslichen Frieden aufrechtzuerhalten. Und ab und an, auf Geschäftsreisen, gebe ich mir Mühe, an alte Gewohnheiten anzuknüpfen; aber sozusagen nur noch aus hygienischen Gründen. All das hat für mich viel von seinem Reiz verloren. Der Körper eines schönen Jünglings, eine Skulptur von Michelangelo, das macht keinen Unterschied: Der Atem stockt mir nicht mehr. Es ist wie nach einer langen Krankheit, wenn einem nichts mehr schmeckt, wenn es egal ist, ob man Rind oder Huhn isst. Man muss Nahrung zu sich nehmen, das ist alles. Ehrlich gesagt, gibt es nicht viel, woran ich Interesse finde. Möglicherweise an der Literatur, aber auch da weiß ich nicht so recht, ob es nicht reine Gewohnheit ist. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Erinnerungen auf: um mein Blut in Wal- lung zu bringen, um zu sehen, ob ich noch etwas empfinde, ob ich noch ein bisschen leiden kann. Seltsame Übung.
Dabei müsste ich das Leid doch eigentlich kennen. Keinem Europäer meiner Generation ist es erspart geblieben, ich darf jedoch ohne falsche Bescheidenheit von mir behaupten, dass ich mehr davon zu Gesicht bekommen habe als die meisten. Und außerdem vergessen die Menschen schnell, wie ich Tag für Tag feststellen kann. Sogar die, die dabei gewesen sind, erzählen fast nie anders davon als in abgegriffenen Gedanken und Wendungen. Man nehme nur die erbärmliche Prosa der deutschen Autoren, die den Krieg im Osten behandeln – die triefende Sentimentalität, die tote, grauenhafte Sprache. Die Prosa eines Herrn Paul Carell zum Beispiel, eines Autors, der es in den letzten Jahren zu einigem Erfolg gebracht hat. Zufällig habe ich diesen Herrn Carell in Ungarn kennengelernt, als er noch Paul Karl Schmidt hieß und unter der Schirmherrschaft seines Ministers von Ribbentrop schrieb, was er wirklich dachte, in einer kräftigen Prosa mit schönster Wirkung: Die Judenfrage ist keine Frage der Humanität, keine der Religion, sie ist einzig und allein eine der politischen Hygiene. Nun ist dem ehrenwerten Herrn Carell-Schmidt das bemerkenswerte Kunststück gelungen, zwei sterbenslangweilige Bände über den Krieg gegen die Sowjetunion zu veröffentlichen, ohne ein einziges Mal das Wort Jude zu erwähnen. Ich weiß es, denn ich habe sie gelesen: Es war mühsam, aber ich habe Ausdauer. Unsere französischen Autoren, die Mabires und Landemers, sind keinen Deut besser. So wenig wie die Kommunisten, nur dass deren Standpunkt entgegengesetzt ist. Wo sind sie hin, die gesungen haben: Brüder, ergreift die Gewehre, auf zur entscheidenden Schlacht? Sie schweigen oder sind tot. Man schwatzt, redet alles schön und verhaspelt sich im faden Brei aus Wörtern wie Ruhm, Ehre, Heldentum, das ist geisttötend, niemand hat etwas zu sagen. Vielleicht bin ich ungerecht, aber ich wage zu hoffen, dass ihr mich versteht. Das Fernsehen überschüttet uns mit Zahlen, mit eindrucksvollen Zahlen, die nicht mit den Nullen geizen. Aber wer von euch hält einmal inne, um sich diese Zahlen wirklich zu vergegenwärtigen? Wer von euch hat jemals versucht, alle Menschen, die er kennt oder in seinem Leben gekannt hat, zusammenzuzählen und diese lächerliche Zahl mit denen zu vergleichen, von denen er im Fernsehen hört, den berühmten sechs Millionen oder zwanzig Millionen? Rechnen wir ein bisschen. Die Mathematik ist nützlich, eröffnet Perspektiven, lüftet den Kopf. Sie ist ein manchmal äußerst lehrreiches Unterfangen. Übt euch also ein bisschen in Geduld und schenkt mir eure Aufmerksamkeit. Ich werde nur die beiden Schauplätze berücksichtigen, auf denen ich eine Rolle gespielt habe, mag sie auch noch so unbedeutend gewesen sein: den Krieg gegen die Sowjetunion und das Vernichtungsprogramm, das in unseren Dokumenten offiziell als Endlösung der Judenfrage bezeichnet wurde, um diesen hübschen Euphemismus zu zitieren. An der Westfront sind die Verluste auf jeden Fall relativ gering geblieben. Meine Ausgangszahlen sind ein wenig willkürlich: Ich habe keine Wahl, die Quellen sind widersprüchlich. Bei den sowjetischen Gesamtverlusten halte ich mich an die übliche, 1956 von Chruschtschow genannte Zahl von zwanzig Millionen, wohl wissend, dass der namhafte englische Autor Reitlinger nur auf zwölf Millionen kommt und Erickson, ein schottischer Historiker, der genauso, wenn nicht noch renommierter ist, zu einer Zahl von mindestens sechsundzwanzig Millionen gelangt: Damit liegt die offizielle sowjetische Zahl, fast auf die Million genau, in der Mitte. Was die deutschen Verluste angeht – nur die in der UdSSR selbstverständlich –, können wir von der noch offizielleren und mit deutscher Gründlichkeit ermittelten Zahl von 6 172 373 Soldaten ausgehen, die zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. März 1945 im Osten als solche registriert wurden; sie wird in einem nach dem Krieg aufgefundenen internen Bericht des OKH (Oberkommandos des Heeres) genannt, umfasst allerdings neben den Gefallenen (mehr als eine Million) auch die Verwundeten (fast vier Millionen) und Vermissten (das heißt Gefallenen, Kriegsgefangenen und in der Gefangenschaft Gestorbenen, rund 1 288 000). Sagen wir, um es kurz zu machen, zwei Millionen Tote, die Verwundeten interessieren uns hier nicht, darunter die gut fünfzigtausend zusätzlichen Toten, die in dem Zeitraum zwischen dem 1. April und dem 8. Mai 1945 umgekommen sind, vor allem in Berlin, zuzüglich jener Million, auf die man die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Zuge der Invasion Ostdeutschlands und der anschließenden Vertreibungen schätzt, womit wir insgesamt auf eine Zahl von ungefähr drei Millionen kommen. Bei den Juden haben wir die Wahl: Die übliche Zahl ist sechs Millionen, obwohl nur wenige Menschen wissen, woher sie stammt. (Höttl hat in Nürnberg ausgesagt, Eichmann habe sie ihm genannt; doch Wisliceny behauptet, Eichmann habe gegenüber seinen Kameraden von fünf Millionen gesprochen; und Eichmann selbst hat, als die Juden ihm die Frage endlich persönlich stellen konnten, erklärt, zwischen fünf und sechs Millionen, aber auf jeden Fall fünf.) Dr. Koherr, der für den Reichsführer SS Heinrich Himmler die Statistik zusammenstellte, kam bis zum 31. Dezember 1942 auf etwas unter zwei Millionen, räumte aber ein, als ich 1943 Gelegenheit hatte, das Thema mit ihm zu erörtern, dass seine Ausgangszahlen wenig zuverlässig seien. Professor Hilberg schließlich, ein sehr angesehener Spezialist auf diesem Gebiet und kaum der Parteilichkeit, jedenfalls nicht der prodeutschen, verdächtig, kommt nach einer sehr strengen Beweisführung von neunzehn Seiten auf die Zahl von 5 100 000, was sich im Großen und Ganzen mit der Auffassung des verstorbenen Obersturmbannführers Eichmann deckt. Halten wir uns also an die Zahl von Professor Hilberg, womit sich insgesamt folgendes Bild ergibt:
Vor einiger Zeit hat meine Frau eine schwarze Katze mit nach Hause gebracht, vermutlich wollte sie mir eine Freude machen. Natürlich hatte sie mich nicht gefragt. Sie ahnte wohl, dass ich es kategorisch abgelehnt hätte, da hat sie mich lieber vor vollendete Tatsachen gestellt. Als das Tier einmal da war, ließ sich nichts mehr daran ändern, die Enkelkinder hätten geweint und so weiter. Trotzdem war diese Katze äußerst unangenehm. Wenn ich sie streicheln wollte, um meinen guten Willen unter Beweis zu stellen, verzog sie sich aufs Fensterbrett und starrte mich mit ihren gelben Augen an. Machte ich Anstalten, sie auf den Arm zu nehmen, kratzte sie mich. Nachts aber rollte sie sich auf meiner Brust zusammen, eine beklemmende Last, und im Schlaf träumte ich, ich würde unter einem Steinhaufen erstickt. Mit meinen Erinnerungen erging es mir ganz ähnlich. Als ich zum ersten Mal daran dachte, sie schriftlich niederzulegen, nahm ich Urlaub. Was vermutlich ein Fehler war. Dabei hatte alles gut angefangen: Ich hatte eine beträchtliche Anzahl von Büchern zu dem Thema gekauft und gelesen, um mein Gedächtnis aufzufrischen, Organigramme gezeichnet, detaillierte Zeittafeln angelegt und so fort. Doch mit diesem Urlaub hatte ich plötzlich Zeit und begann nachzudenken. Außerdem war gerade Herbst; während ein schmutzig grauer Regen die Bäume entlaubte, stieg langsam die Angst in mir auf. Ich stellte fest, dass mir das Denken nicht guttat.
Dabei hätte ich darauf gefasst sein können. Meine Kollegen halten mich für einen ruhigen, bedächtigen, überlegten Menschen. Ruhig, das schon, aber sehr oft am Tag beginnt es in meinem Kopf zu fauchen und zu grollen, dumpf wie im Ofen eines Krematoriums. Ich rede, diskutiere, treffe Entscheidungen wie alle Welt, doch an der Theke, vor meinem Kognak, male ich mir aus, wie ein Mann mit einem Jagdgewehr hereinkommt und das Feuer eröffnet. Im Kino oder Theater stelle ich mir vor, wie eine entsicherte Handgranate unter den Sitzreihen entlangrollt. An einem Feiertag sehe ich auf dem öffentlichen Platz ein Auto voller Sprengstoff explodieren, den festlichen Nachmittag zum Massaker entarten, das Blut zwischen den Pflastersteinen rinnen, Fleischklumpen an den Hauswänden kleben oder durch die Fenster fliegen und in der Sonntagssuppe landen, höre die Schreie, das Stöhnen der Menschen, denen die Bombe die Gliedmaßen abgerissen hat, wie ein neugieriger Bub Insekten die Beine ausrupft, das stumpfsinnige Vorsichhinbrüten der Überlebenden, eine eigenartige Stille, die sich wie Watte auf das Trommelfell legt, den Beginn der langen Furcht. Ruhig? Ja, ich bewahre die Ruhe, egal, was passiert, ich lasse mir nichts anmerken, ich bleibe ruhig, unbewegt, wie die stummen Fassaden ausgebombter Städte, wie die kleinen Alten auf den Parkbänken mit ihren Spazierstöcken und Medaillen, wie die Gesichter Ertrunkener dicht unter der Wasseroberfläche, die man nie wieder findet. Selbst wenn ich es wollte, wäre ich völlig außerstande, diese schreckliche Ruhe zu durchbrechen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die bei jeder Kleinigkeit einen Aufstand machen, ich bewahre Haltung. Aber auch mich bedrückt das. Am schlimmsten sind nicht unbedingt die Vorstellungen, die ich gerade beschrieben habe. Mit derartigen Fantasien lebe ich schon lange, wahrscheinlich seit meiner Kindheit, auf jeden Fall lange bevor auch ich mich inmitten der Schlächterei wiederfand. So gesehen, war der Krieg für mich nur eine Bestätigung, und ich habe mich an diese kleinen Szenarien gewöhnt, ich begreife sie als einen passenden Kommentar zur Nichtigkeit der Dinge. Nein, als beschwerlich und belastend hat sich der Umstand erwiesen, dass ich nichts anderes mehr zu tun hatte als nachzudenken. Überlegt einmal: Woran denkt ihr im Laufe eines Tages? Im Grunde an sehr wenig. Es wäre doch ein Leichtes für euch, eure alltäglichen Gedanken vernünftig zu klassifizieren: praktische oder mechanische Gedanken, Planung der Zeit- und Handlungsabläufe (Beispiel: Kaffeewasser vor dem Zähneputzen aufsetzen, aber erst danach Brot toasten, weil es früher fertig ist), berufliche Probleme, Geldsorgen, häusliche Schwierigkeiten, sexuelle Fantasien. Ich erspare euch die Einzelheiten. Beim Abendessen betrachtet ihr das alternde Gesicht eurer Frau, die euch viel reizloser erscheint als eure Geliebte, ansonsten aber in jeder Hinsicht die Richtige ist; was soll’s, so ist das Leben, also redet ihr über die letzte Regierungskrise. In Wahrheit ist euch die letzte Regierungskrise herzlich egal, aber über was solltet ihr sonst reden? Klammert diese Ge- danken aus, und ihr werdet mir zustimmen, dass nicht viel bleibt. Natürlich gibt es auch andere Augenblicke. Zwischen zwei Waschmittelwerbungen unerwartet ein Tango aus der Vorkriegszeit, sagen wir, Violetta, und schon sind auch das nächtliche Plätschern des Flusses, die Lampions der Buden und der leichte Schweißgeruch auf der Haut einer heiteren Frau wieder da; am Eingang eines Parks ruft das lächelnde Gesicht eines Kindes dasjenige eures kleinen Sohnes wach, kurz bevor er laufen lernte; auf der Straße bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und bringt die großen Blätter und den weißlichen Stamm einer Platane zum Leuchten: Und plötzlich denkt ihr an eure Kindheit, an den Schulhof, auf dem ihr Krieg spieltet, mit Schreckensgeschrei und Glücksgeheul. Da habt ihr einen menschlichen Gedanken. Aber das kommt sehr selten vor. Doch wenn man die Arbeit, die banalen Verrichtungen, die alltägliche Hektik unterbricht, um sich ernsthaft einem Gedanken zu widmen, sieht alles ganz anders aus. Dann kommen die Dinge bald in schweren schwarzen Wellen hoch. Nachts zergehen die Träume, entfalten und vervielfältigen sich und lassen eine feine feuchtbittere Schicht im Kopf zurück, die nach dem Aufwachen lange braucht, bis sie sich auflöst. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es nicht um Schuldgefühle oder Gewissensbisse. Die gibt es natürlich auch, das will ich nicht leugnen, aber mir scheint, die Dinge liegen viel komplizierter. Selbst ein Mensch, der nicht im Krieg war, der nicht töten musste, wird erlebt haben, wovon ich rede. Die Rückkehr der kleinen Bosheiten, Feigheiten, Falschheiten und Schäbigkeiten, die wir uns alle irgendwann haben zuschulden kommen lassen. Kein Wunder also, dass die Menschen die Arbeit erfunden haben, den Alkohol, das müßige Geschwätz. Kein Wunder, dass das Fernsehen solche Erfolge feiert. Kurzum, ich beendete meinen leidigen Urlaub schon bald, es war besser so. Für meine Schreiberei blieb mir trotzdem genügend Zeit, morgens beim Frühstück und abends, wenn die Sekretärinnen gegangen waren.
Eine kurze Pause, um mich zu übergeben, und ich fahre fort. Das ist eine weitere meiner vielen kleinen Beschwerden: Hin und wieder kommt mir das Essen hoch, manchmal sofort, manchmal später, ohne Grund, einfach so. Ich habe das schon lange, seit dem Krieg, begonnen hat es im Herbst 41, genauer gesagt, in der Ukraine, in Kiew, glaube ich, vielleicht auch in Shitomir. Davon später mehr. Jedenfalls habe ich mich seither daran gewöhnt: Ich putze mir die Zähne, trinke ein Schnäpschen und mache weiter, wo ich gerade aufgehört habe. Zurück zu meinen Erinnerungen. Ich habe mir mehrere Schulhefte gekauft, großformatig, aber mit kleinen Karos, die bewahre ich im Büro in einer abgeschlossenen Schreibtischschublade auf. Früher kritzelte ich meine Notizen auf kleine Karteikärtchen, auch mit kleinen Karos; jetzt habe ich beschlossen, das Ganze zusammenhängend aufzuschreiben. Wozu, weiß ich nicht so recht. Gewiss nicht zur Erbauung meiner Nachkommenschaft. Wenn ich in diesem Moment plötzlich stürbe, sagen wir, an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, und wenn meine Sekretärinnen dann diese Schublade aufschlössen, würden sie sicherlich einen Schock bekommen, die Bedauernswerten, und meine Frau ebenfalls: Die Karten würden schon genügen. Man wird alles rasch verbrennen müssen, um einen Skandal zu vermeiden. Mir ist das egal, ich bin dann tot. Schließlich schreibe ich nicht für euch, auch wenn ich mich an euch wende.
Mein Arbeitszimmer ist ein angenehmer Ort zum Schreiben, groß, nüchtern, ruhig. Weiße Wände, fast schmucklos, ein Glasschrank mit Warenmustern und im Hintergrund eine große Glaswand, durch die man von oben auf den Maschinensaal blickt. Trotz Doppelverglasung erfüllt das unablässige Klicken der Leavers-Maschinen das Büro. Wenn ich nach- denken möchte, stehe ich vom Schreibtisch auf und trete an das Fenster, betrachte die exakt aufgereihten Webstühle zu meinen Füßen, die sicheren und genauen Bewegungen der Weber; ich lasse mich einlullen. Gelegentlich gehe ich hinunter und schlendere zwischen den Maschinen umher. Der Saal ist dunkel, die schmutzigen Fensterscheiben sind blau gestrichen, weil die Spitzen empfindlich sind, sie vertragen kein Licht, und der bläuliche Dämmerschein beruhigt mein Gemüt. Ich gebe mich gern ein wenig dem monotonen und skandierten Geklapper hin, das den Saal beherrscht, diesem metallischen Klopfen mit seinem Zweierrhythmus, der mich in seinen Bann zieht. Die Webmaschinen beeindrucken mich immer wieder aufs Neue. Sie sind aus Gusseisen, grün gestrichen, jede von ihnen wiegt zehn Tonnen. Einige sind sehr alt. Sie werden schon lange nicht mehr hergestellt. Die Ersatzteile lasse ich extra anfertigen. Nach dem Krieg haben wir zwar von Dampf auf Strom umgestellt, aber die Maschinen selbst nicht angetastet. Ich halte Abstand, um mich nicht schmutzig zu machen. Die vielen beweglichen Teile müssen ständig geschmiert werden, allerdings würde Öl die Spitzen ruinieren, daher verwenden wir Grafit, zerstoßenen Bleigrafit, mit dem der Weber die beweglichen Maschinenelemente stäubt, mit Hilfe eines strumpfartigen Beutels, als schwenke er ein Weihrauchgefäß. Die Spitze kommt schwarz heraus, und der Grafit bedeckt die Wände, den Boden, die Maschinen und die Menschen, die sie überwachen. Auch wenn ich selten selbst mit Hand anlege, kenne ich diese großen Maschinen recht gut. Die ersten englischen Tüllmaschinen, ein ängstlich gehütetes Geheimnis, schmuggelten Arbeiter kurz nach den napoleonischen Kriegen in Frankreich ein, um die Zollgebühren zu umgehen. Es war ein Seidenweber aus Lyon, Jacquard, der sie so veränderte, dass sich Spitzen auf ihnen herstellen ließen, indem er Lochkarten zur Festlegung der Webmuster einführte. Rollen an der Unterseite liefern die Kettfäden. Im Inneren der Maschine befinden sich fünftausend Bobinen, die Seele, auf einem Schlitten. Ein Catch- Bar (einige englische Ausdrücke behalten wir sogar im Französischen bei) greift diesen Schlitten, balanciert ihn aus und führt ihn mit einem lauten, hypnotisch wirkenden Schnalzen vor und zurück, vor und zurück. Die Fäden, seitlich geführt, werden nach einer komplizierten Choreografie, die auf fünf- bis sechshundert Jacquard-Karten niedergelegt ist, von Combs, kupfernen Schützenlagern in Bleifassungen, verflochten. Ein Schwanenhals hebt das Schützenlager wieder an. Schließlich kommt die Spitze spinnwebartig hervor, betörend unter ihrer Grafitschicht, und rollt sich langsam auf einem Rohr auf, das oben an der Leavers-Maschine angebracht ist.
Bei der Arbeit in der Fabrik gilt strenge Geschlechtertrennung: Die Männer entwerfen die Motive, stanzen die Lochkarten, ziehen die Kettfäden auf, überwachen die Webmaschinen und den restlichen Maschinenpark; ihre Frauen und Töchter füllen noch heute die Bobinen, entfernen den Grafit, bessern die Spitzen aus, trennen und legen sie. Die Traditionen werden hochgehalten. Die Weber bilden hier eine Art proletarischer Aristokratie. Die Ausbildungszeit ist lang, die Arbeit schwierig; im vorigen Jahrhundert fuhren die Weber von Calais mit Kutsche und Zylinder zur Fabrik und duzten den Besitzer. Die Zeiten haben sich geändert. Der Krieg hat diesen Wirtschaftszweig zugrunde gerichtet, obwohl einige Webmaschinen für die Deutschen liefen. Alles musste wieder aus dem Nichts aufgebaut werden. Heute existieren in Nordfrankreich, wo vor dem Krieg viertausend Webmaschinen in Betrieb waren, nur noch etwa dreihundert. Und trotzdem haben sich die Weber mit dem wirtschaftlichen Aufschwung früher als manche Bürger ein Auto geleistet. Allerdings duzen meine Arbeiter mich nicht. Ich glaube nicht, dass sie mich mögen. Was nicht schlimm ist, ich verlange es nicht von ihnen. Schließlich mag ich sie auch nicht. Man arbeitet zusammen, das ist alles. Wenn ein Mitarbeiter gewissenhaft und fleißig ist, wenn die Spitzen, die seinen Webstuhl verlassen, keinen Grund zur Beanstandung geben, gewähre ich ihm zum Jahresende eine Prämie. Wer zu spät oder betrunken zur Arbeit erscheint, bekommt Abzüge. Auf dieser Basis verstehen wir uns ausgezeichnet.
Ihr fragt euch vielleicht, wie ich in der Spitzen-Industrie gelandet bin. Eigentlich lag mir nichts ferner als die Wirtschaft. Ich habe Jura und Volkswirtschaft studiert und meinen Dr. jur. gemacht, den ich in Deutschland im Namen führen darf. Allerdings haben mich die Verhältnisse nach 1945 ein bisschen daran gehindert, auf meinen akademischen Grad zu pochen. Wenn ihr’s wirklich wissen wollt, lag mir auch nichts ferner als Jura: Als junger Mann hätte ich am liebsten Literatur und Philosophie studiert. Das wurde mir verwehrt – ein weiteres trauriges Kapitel meines Familienromans, vielleicht komme ich darauf noch zurück. Doch muss ich zugeben, dass Jura mir im Spitzen-Gewerbe bessere Dienste leistet als die Literatur. So ungefähr ist es gewesen. Als endlich alles zu Ende war, ist es mir gelungen, nach Frankreich zu kommen und mich als Franzose auszugeben; was nicht allzu schwer war, wenn man die chaotischen Verhältnisse damals bedenkt. Ich kam mit den Deportierten zurück, man stellte mir nicht viele Fragen. Gewiss, ich sprach ein tadelloses Französisch. Meine Mutter war Französin, und ich habe zehn Jahre meiner Kindheit in Frankreich verbracht, die gymnasiale Unterstufe, die Oberstufe, die Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles besucht und sogar zwei Jahre an der ELDS* studiert. Und da ich im Süden aufgewachsen bin,
* Der Autor hat darauf verzichtet, die zahlreichen Ausdrücke und
Abkürzungen, die außerhalb eines Kreises von Spezialisten unbekannt
sind, zu erklären; daher sind am Ende des Bandes ein Glossar und
eine Liste der militärischen Ränge angefügt. (Anm. d. Verl.)
konnte ich mir sogar einen leichten südfranzösischen Akzent zulegen, jedenfalls achtete niemand auf mich, es herrschte ein heilloses Durcheinander, ich wurde an der Gare d’Orsay mit einer Suppe empfangen, und ein paar Beschimpfungen gab es auch, ich muss erwähnen, dass ich nicht versucht hatte, mich als Deportierter auszugeben, sondern als Zwangsarbeiter beim STO, und das schmeckte den Gaullisten nicht, also beschimpften sie mich ein bisschen, wie auch die anderen armen Teufel, dann haben sie uns wieder laufen lassen, wir kamen nicht ins Hotel Lutétia, aber in die Freiheit. Ich bin nicht in Paris geblieben, da kannte ich zu viele Leute, zu viele, die ich besser nicht gekannt hätte, ich bin in die Provinz gegangen, habe mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten, mal hier, mal dort. Dann hat sich die Aufregung gelegt. Rasch haben sie aufgehört, die Leute zu erschießen, bald sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, sie ins Gefängnis zu stecken. Da habe ich Nachforschungen angestellt und schließlich einen Mann gefunden, den ich kannte. Er hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen und eine Verwaltungsstelle nach der anderen unbeschadet überstanden; als vorausschauender Mann hatte er sich wohlweislich gehütet, die Dienste, die er uns erwiesen hatte, an die große Glocke zu hängen. Anfangs wollte er mich nicht empfangen, doch als er endlich begriff, wer ich war, sah er ein, dass er gar keine andere Wahl hatte. Ich kann nicht behaupten, dass es eine angenehme Unterhaltung war: Ein Gefühl der Befangenheit, des Zwanges war deutlich zu spüren. Aber er verstand sehr wohl, dass wir ein gemeinsames Interesse hatten: ich, eine Stellung zu bekommen, und er, die seine zu behalten. Er hatte einen Vetter in Nordfrankreich, einen ehemaligen Vertreter, der versuchte, ein kleines Unternehmen aufzuziehen, und zwar mit drei Leavers-Maschinen, die er von einer Witwe, die Konkurs gemacht hatte, gekauft hatte. Dieser Mann stellte mich als Reisenden ein, als Vertreter für seine Spitzen. Die Arbeit ging mir entsetzlich auf die Nerven; schließlich gelang es mir, ihn zu überzeugen, dass ich ihm auf organisatorischer Ebene weit nützlicher sein könnte. Immerhin hatte ich beträchtliche Erfahrung auf diesem Gebiet, auch wenn ich mich auf sie so wenig berufen konnte wie auf meinen Doktortitel. Die Firma wuchs, besonders seit den fünfziger Jahren, als ich wieder Kontakte in der Bundesrepublik aufnahm und es mir gelang, uns Zugang zum deutschen Markt zu verschaffen. Damals hätte ich leicht nach Deutschland zurückkehren können: Viele meiner alten Kameraden lebten dort in Ruhe und Frieden; einige hatten kleine Strafen verbüßt, andere waren nicht einmal belangt worden. Mit meinem Werdegang hätte ich meinen Namen wieder annehmen, meinen Titel wieder führen, eine Pension nach dem 131er Gesetz und eine Kriegsversehrtenrente beantragen können, niemand hätte etwas bemerkt. Arbeit hätte ich rasch gefunden. Aber, so sagte ich mir, was hätte ich davon gehabt? Die Rechtswissenschaft ließ mich im Grunde ebenso kalt wie das Geschäftsleben, und dann hatte ich am Ende doch noch Gefallen an den Spitzen gefunden, diesen entzückenden und geschmackvollen Schöpfungen des Menschen. Als wir genügend Webmaschinen zusammengekauft hatten, beschloss mein Chef, eine zweite Fabrik zu eröffnen und mir die Leitung anzuvertrauen. Seither bekleide ich diesen Posten und warte auf den Ruhestand. In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet, zwar mit einem gewissen Widerwillen, aber hier in dieser nördlichen Region ließ sich das kaum vermeiden, es war nötig, um meine gesellschaftliche Stellung zu festigen. Ich habe eine Frau aus gutem Haus gewählt, sie ist ganz hübsch, repräsentabel, und ihr gleich ein Kind gemacht, um sie zu beschäftigen. Leider bekam sie Zwillinge, das muss in der Familie liegen, will sagen, in meiner Familie, ein Balg wäre für meinen Geschmack mehr als genug gewesen. Mein Chef hat mir Geld vorgestreckt, ich habe mir ein stattliches Haus gekauft, nicht allzu weit vom Meer entfernt. So habe ich mich in bürgerlichen Verhältnissen wiedergefunden. Und das war auch besser so. Nach allem, was geschehen war, hatte ich in erster Linie das Bedürfnis nach Ruhe und Regelmäßigkeit. Das Leben hatte den Träumen meiner Jugend die Flügel gestutzt, und meine Ängste hatten sich auf dem Weg vom einen Ende des deutschen Europas zum anderen allmählich verflüchtigt. Ich bin aus dem Krieg wie ausgeleert zurückgekehrt, nur Bitterkeit und Scham waren geblieben, wie Sand, der zwischen den Zähnen knirscht. Daher kam mir ein Leben, das allen gesellschaftlichen Konventionen Rechnung trug, gerade recht: eine bequeme Gangart, auch wenn ich sie oft mit Ironie und manchmal sogar mit Hass betrachte. Ich hoffe, auf diese Weise eines Tages in Jeromino Nadals Zustand der Gnade zu gelangen und keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren, es sei denn dazu, keine Neigung zu irgend etwas zu verspüren. Aber ich werde literarisch; einer meiner Fehler. Um heiliggesprochen zu werden, habe ich mich noch nicht von meinen Bedürfnissen befreit. Von Zeit zu Zeit beehre ich meine Frau, gewissenhaft, mit wenig Lust, aber auch ohne übermäßigen Ekel, um den häuslichen Frieden aufrechtzuerhalten. Und ab und an, auf Geschäftsreisen, gebe ich mir Mühe, an alte Gewohnheiten anzuknüpfen; aber sozusagen nur noch aus hygienischen Gründen. All das hat für mich viel von seinem Reiz verloren. Der Körper eines schönen Jünglings, eine Skulptur von Michelangelo, das macht keinen Unterschied: Der Atem stockt mir nicht mehr. Es ist wie nach einer langen Krankheit, wenn einem nichts mehr schmeckt, wenn es egal ist, ob man Rind oder Huhn isst. Man muss Nahrung zu sich nehmen, das ist alles. Ehrlich gesagt, gibt es nicht viel, woran ich Interesse finde. Möglicherweise an der Literatur, aber auch da weiß ich nicht so recht, ob es nicht reine Gewohnheit ist. Vielleicht schreibe ich deshalb meine Erinnerungen auf: um mein Blut in Wal- lung zu bringen, um zu sehen, ob ich noch etwas empfinde, ob ich noch ein bisschen leiden kann. Seltsame Übung.
Dabei müsste ich das Leid doch eigentlich kennen. Keinem Europäer meiner Generation ist es erspart geblieben, ich darf jedoch ohne falsche Bescheidenheit von mir behaupten, dass ich mehr davon zu Gesicht bekommen habe als die meisten. Und außerdem vergessen die Menschen schnell, wie ich Tag für Tag feststellen kann. Sogar die, die dabei gewesen sind, erzählen fast nie anders davon als in abgegriffenen Gedanken und Wendungen. Man nehme nur die erbärmliche Prosa der deutschen Autoren, die den Krieg im Osten behandeln – die triefende Sentimentalität, die tote, grauenhafte Sprache. Die Prosa eines Herrn Paul Carell zum Beispiel, eines Autors, der es in den letzten Jahren zu einigem Erfolg gebracht hat. Zufällig habe ich diesen Herrn Carell in Ungarn kennengelernt, als er noch Paul Karl Schmidt hieß und unter der Schirmherrschaft seines Ministers von Ribbentrop schrieb, was er wirklich dachte, in einer kräftigen Prosa mit schönster Wirkung: Die Judenfrage ist keine Frage der Humanität, keine der Religion, sie ist einzig und allein eine der politischen Hygiene. Nun ist dem ehrenwerten Herrn Carell-Schmidt das bemerkenswerte Kunststück gelungen, zwei sterbenslangweilige Bände über den Krieg gegen die Sowjetunion zu veröffentlichen, ohne ein einziges Mal das Wort Jude zu erwähnen. Ich weiß es, denn ich habe sie gelesen: Es war mühsam, aber ich habe Ausdauer. Unsere französischen Autoren, die Mabires und Landemers, sind keinen Deut besser. So wenig wie die Kommunisten, nur dass deren Standpunkt entgegengesetzt ist. Wo sind sie hin, die gesungen haben: Brüder, ergreift die Gewehre, auf zur entscheidenden Schlacht? Sie schweigen oder sind tot. Man schwatzt, redet alles schön und verhaspelt sich im faden Brei aus Wörtern wie Ruhm, Ehre, Heldentum, das ist geisttötend, niemand hat etwas zu sagen. Vielleicht bin ich ungerecht, aber ich wage zu hoffen, dass ihr mich versteht. Das Fernsehen überschüttet uns mit Zahlen, mit eindrucksvollen Zahlen, die nicht mit den Nullen geizen. Aber wer von euch hält einmal inne, um sich diese Zahlen wirklich zu vergegenwärtigen? Wer von euch hat jemals versucht, alle Menschen, die er kennt oder in seinem Leben gekannt hat, zusammenzuzählen und diese lächerliche Zahl mit denen zu vergleichen, von denen er im Fernsehen hört, den berühmten sechs Millionen oder zwanzig Millionen? Rechnen wir ein bisschen. Die Mathematik ist nützlich, eröffnet Perspektiven, lüftet den Kopf. Sie ist ein manchmal äußerst lehrreiches Unterfangen. Übt euch also ein bisschen in Geduld und schenkt mir eure Aufmerksamkeit. Ich werde nur die beiden Schauplätze berücksichtigen, auf denen ich eine Rolle gespielt habe, mag sie auch noch so unbedeutend gewesen sein: den Krieg gegen die Sowjetunion und das Vernichtungsprogramm, das in unseren Dokumenten offiziell als Endlösung der Judenfrage bezeichnet wurde, um diesen hübschen Euphemismus zu zitieren. An der Westfront sind die Verluste auf jeden Fall relativ gering geblieben. Meine Ausgangszahlen sind ein wenig willkürlich: Ich habe keine Wahl, die Quellen sind widersprüchlich. Bei den sowjetischen Gesamtverlusten halte ich mich an die übliche, 1956 von Chruschtschow genannte Zahl von zwanzig Millionen, wohl wissend, dass der namhafte englische Autor Reitlinger nur auf zwölf Millionen kommt und Erickson, ein schottischer Historiker, der genauso, wenn nicht noch renommierter ist, zu einer Zahl von mindestens sechsundzwanzig Millionen gelangt: Damit liegt die offizielle sowjetische Zahl, fast auf die Million genau, in der Mitte. Was die deutschen Verluste angeht – nur die in der UdSSR selbstverständlich –, können wir von der noch offizielleren und mit deutscher Gründlichkeit ermittelten Zahl von 6 172 373 Soldaten ausgehen, die zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. März 1945 im Osten als solche registriert wurden; sie wird in einem nach dem Krieg aufgefundenen internen Bericht des OKH (Oberkommandos des Heeres) genannt, umfasst allerdings neben den Gefallenen (mehr als eine Million) auch die Verwundeten (fast vier Millionen) und Vermissten (das heißt Gefallenen, Kriegsgefangenen und in der Gefangenschaft Gestorbenen, rund 1 288 000). Sagen wir, um es kurz zu machen, zwei Millionen Tote, die Verwundeten interessieren uns hier nicht, darunter die gut fünfzigtausend zusätzlichen Toten, die in dem Zeitraum zwischen dem 1. April und dem 8. Mai 1945 umgekommen sind, vor allem in Berlin, zuzüglich jener Million, auf die man die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Zuge der Invasion Ostdeutschlands und der anschließenden Vertreibungen schätzt, womit wir insgesamt auf eine Zahl von ungefähr drei Millionen kommen. Bei den Juden haben wir die Wahl: Die übliche Zahl ist sechs Millionen, obwohl nur wenige Menschen wissen, woher sie stammt. (Höttl hat in Nürnberg ausgesagt, Eichmann habe sie ihm genannt; doch Wisliceny behauptet, Eichmann habe gegenüber seinen Kameraden von fünf Millionen gesprochen; und Eichmann selbst hat, als die Juden ihm die Frage endlich persönlich stellen konnten, erklärt, zwischen fünf und sechs Millionen, aber auf jeden Fall fünf.) Dr. Koherr, der für den Reichsführer SS Heinrich Himmler die Statistik zusammenstellte, kam bis zum 31. Dezember 1942 auf etwas unter zwei Millionen, räumte aber ein, als ich 1943 Gelegenheit hatte, das Thema mit ihm zu erörtern, dass seine Ausgangszahlen wenig zuverlässig seien. Professor Hilberg schließlich, ein sehr angesehener Spezialist auf diesem Gebiet und kaum der Parteilichkeit, jedenfalls nicht der prodeutschen, verdächtig, kommt nach einer sehr strengen Beweisführung von neunzehn Seiten auf die Zahl von 5 100 000, was sich im Großen und Ganzen mit der Auffassung des verstorbenen Obersturmbannführers Eichmann deckt. Halten wir uns also an die Zahl von Professor Hilberg, womit sich insgesamt folgendes Bild ergibt:
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Autoren-Porträt von Jonathan Littell
Jonathan Littell, 1967 in New York geboren in einer jüdischen Familie russischer Herkunft, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika niedergelassen hat, ist in Frankreich aufgewachsen, wo er 1985 das Abitur machte, studierte in Yale (USA). Zwischen 1993 und 2001 arbeitete er für die humanitäre Organisation »Aktion gegen den Hunger« (ACF) in Bosnien und Afghanistan, im Kongo und in Tschetschenien. Littell lebt mit seiner Familie in Barcelona. Für seinen Roman »Die Wohlgesinnten« erhielt er 2006 den Grand Prix du Roman der Académie Française und den Prix Goncourt. Kober, HainerHainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er übersetzt seit 1972 belletristische und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen, unter anderem von Stephen Hawking, Brian Greene, Jonathan Littell und Oliver Sacks. 2015 wurde er mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jonathan Littell
- 2009, 4. Aufl., 1392 Seiten, Maße: 12,1 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Hainer Kober
- Verlag: Berlin Verlag Taschenbuch
- ISBN-10: 3833306289
- ISBN-13: 9783833306280
- Erscheinungsdatum: 22.09.2009
Rezension zu „Die Wohlgesinnten “
"Ganze Lebensbereiche, die zuvor als nicht erzählbar galten, hat Littell im Gewaltstreich erobert und der Gattung des 'hohen' moralistisch reflektierenden Romans einverleibt." Wilfried Wiegand FAZ "Jonathan Littell ist es gelungen, dass einem die Vergangenheit die Zähne ins Fleisch schlägt." Volker Weidermann FAS "Der beeindruckendste Antikriegsroman der vergangenen Jahrzehnte." Rainer Schmitz FOCUS
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