Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Roman
Mit ihrem Romandebüt gilt TAIYE SELASI in den USA als neue literarische SENSATION. Geboren wurde sie 1979 als Tochter einer nigerianisch-schottischen Mutter und eines ghanaischen Vaters in LONDON. Sie wuchs in Massachusetts auf und studierte in...
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Produktinformationen zu „Diese Dinge geschehen nicht einfach so “
Mit ihrem Romandebüt gilt TAIYE SELASI in den USA als neue literarische SENSATION. Geboren wurde sie 1979 als Tochter einer nigerianisch-schottischen Mutter und eines ghanaischen Vaters in LONDON. Sie wuchs in Massachusetts auf und studierte in Yale und Oxford. Taiye Selasi prägte den Begriff "AFROPOLITAN": eine neue Generation von WELTBÜRGERN MIT AFRIKANISCHEN WURZELN, zu der sie auch selbst gehört.
Sechs Menschen, eine Familie, über Weltstädte und Kontinente zerstreut. In Afrika haben sie ihre Wurzeln und überall auf der Welt ihr Leben. Bis plötzlich der Vater in Afrika stirbt. Nach vielen Jahren kommen die Familienmitglieder wieder zusammen und machen eine überraschende Entdeckung. Und sie finden das verloren geglaubte Glück – den Zusammenhalt der Familie.Endlich verstehen sie, dass die Dinge nicht einfach ohne Grund geschehen.
Sechs Menschen, eine Familie, über Weltstädte und Kontinente zerstreut. In Afrika haben sie ihre Wurzeln und überall auf der Welt ihr Leben. Bis plötzlich der Vater in Afrika stirbt. Nach vielen Jahren kommen die Familienmitglieder wieder zusammen und machen eine überraschende Entdeckung. Und sie finden das verloren geglaubte Glück – den Zusammenhalt der Familie.Endlich verstehen sie, dass die Dinge nicht einfach ohne Grund geschehen.
Klappentext zu „Diese Dinge geschehen nicht einfach so “
Die literarische Sensation aus Amerika - ein kosmopolitischer Familienroman: In Boston, London und Ghana sind sie zu Hause, Olu, Sadie und Taiwo. Sechs Menschen, eine Familie, über Weltstädte und Kontinente zerstreut. In Afrika haben sie ihre Wurzeln und überall auf der Welt ihr Leben. Bis plötzlich der Vater in Afrika stirbt. Nach vielen Jahren sehen sie sich wieder und machen eine überraschende Entdeckung. Und sie finden das verloren geglaubte Glück - den Zusammenhalt der Familie. Endlich verstehen sie, dass die Dinge nicht einfach ohne Grund geschehen. So wurde noch kein Familienroman erzählt. Taiye Selasi ist die neue internationale Stimme - jenseits von Afrika.
Lese-Probe zu „Diese Dinge geschehen nicht einfach so “
Diese Dinge geschehen nicht einfach so von Taiye SelasiEins
Kweku stirbt barfuß, an einem Sonntag vor Sonnenaufgang, seine Hausschuhe kauern an der Tür zum Schlafzimmer, wie Hunde. Jetzt steht er auf der Schwelle zwischen Glasveranda und Garten und überlegt, ob er zurück soll, um die Pantoffeln zu holen. Er holt sie nicht. Seine zweite Frau, Ama, schläft dort im Schlafzimmer, die Lippen leicht geöffnet, mit gerunzelter Stirn, ihre heißen Wangen auf der Suche nach einer kühlen Stelle auf dem Kopfkissen, Kweku will sie nicht wecken.
Er hätte es auch gar nicht geschafft, selbst wenn er's versucht hätte.
Sie schläft wie eine Cocoyam. Ein Ding ohne Sinnesorgane. Sie schläft wie seine Mutter, abgeschnitten von der Welt. Das Haus könnte von Nigerianern in Flipflops leergeräumt werden - sie könnten in verrosteten russischen Armeepanzern direkt bis vor die Tür rollen, ohne Rücksicht auf Verluste, so wie sie das jetzt auf Victoria Island in Lagos machen (jedenfalls hört er das von seinen Freunden, Rohöl-Könige und Cowboys, die nach Greater Lagos vertrieben wurden, diese seltsame Sorte Afrikaner: furchtlos und reich). Ama würde sanft und selig weiter schnarchen, die musikalische Untermalung eines Traums vom Tanz der Zuckerfee und von Tschaikowski.
Sie schläft wie ein Kind.
... mehr
Er denkt den Gedanken trotzdem, nimmt ihn mit vom Schlafzimmer zur Glasveranda; ein demonstrativer Akt der Vorsicht. Eine Show für ihn selbst. Das macht er schon lange, eigentlich seit er von seinem Dorf weg ist, kleine Freilichtspiele für ein Ein-Mann-Publikum. Oder für zwei Personen. Für ihn und seinen Kameramann, den stummen-unsichtbaren Kameramann, der damals, vor vielen Jahrzehnten, gemeinsam mit ihm abgehauen ist, heimlich, in der Dunkelheit, noch vor Anbruch der Dämmerung, der Ozean ganz in der Nähe. Dieser Kameramann, der ihm seither immer und überallhin folgt. Und schweigend sein Leben filmt. Oder: Das Leben des Mannes, der er sein möchte und der er nicht mehr werden wird.
Diese Szene nun, eine Schlafzimmerszene: der einfühlsame Ehemann.
Der keinen Mucks von sich gibt, als er aus dem Bett schlüpft, der geräuschlos die Decke zur Seite schlägt, einen Fuß nach dem anderen auf den Fußboden setzt und sich die größte Mühe gibt, seine nicht-weckbare Ehefrau ja nicht zu wecken. Ja nicht zu schnell aufstehen, weil sich sonst die Matratze bewegt. Ganz leise durchs Zimmer schleichen, lautlos die Tür schließen. Dann genauso lautlos den Flur entlang, durch die Tür zum Innenhof, wo sie ihn garantiert nicht mehr hören kann. Trotzdem immer noch auf Zehenspitzen. Den kurzen, geheizten Verbindungsgang vom Schlaftrakt zum Wohntrakt, wo er einen Moment stehen bleibt, um sein Haus zu bewundern.
Es ist eine geniale Komposition, diese einstöckige Anlage, nicht besonders originell, sondern funktional und vor allem elegant durchgeplant. Ein schlichter Hof in der Mitte, mit einer Tür auf jeder Seite, zum Wohntrakt, zum Esstrakt, zum großen Schlafzimmer, zu den Gästezimmern. Er hat den Entwurf in einer Krankenhauscafeteria auf eine Serviette gekritzelt, im dritten Jahr seiner Facharztausbildung, mit einunddreißig. Mit achtundvierzig kaufte er das Grundstück von einem Patienten aus Neapel, einem reichen Immobilienmakler mit Verbindungen zur Mafia und mit Diabetes Typ II, der nach Accra gezogen war, weil die Stadt ihn an Neapel in den fünfziger Jahren erinnert, wie er behauptet (der Reichtum so nah beim Elend, die frische Seeluft so nah beim Abwasser, am Strand stinkreiche Leute neben stinkarmen.) Mit neunundvierzig fand er einen Zimmermann, der bereit war, den Auftrag anzunehmen - der einzige Ghanaer, der sich nicht weigerte, ein Haus mit einem Loch in der Mitte zu bauen. Dieser Zimmermann war siebzig, mit grünem Star und Sixpack. Er arbeitete einwandfrei und immer allein, und nach zwei Jahren war er fertig.
Mit einundfünfzig brachte Kweku seine Sachen her, fand es aber zu ruhig.
Mit dreiundfünfzig heiratete er zum zweiten Mal.
Elegant geplant.
Nun bleibt er an einer Seite des Quadrats stehen, zwischen den Türen. Hier ist die Struktur deutlich zu erkennen, er kann den Entwurf sehen, und er betrachtet ihn, so wie der Maler ein Gemälde betrachtet oder die Mutter das Neugeborene. Voller Verwirrung und Ehrfurcht, dass dieses Ding, das irgendwo im Kopf oder im Körper konzipiert wurde, es nach draußen in die Welt geschafft hat, und jetzt ein Eigenleben hat. Etwas perplex. Wie ist es hierhergekommen, von in ihm zu vor ihm? (Klar, er weiß, durch die richtige Verwendung des entsprechenden Werkzeugs; das gilt für den Maler, die Mutter, den Amateur-Architekten - aber trotzdem ist es ein Wunder, wenn man es so vor sich sieht.)
Sein Haus.
Sein schönes, funktionales, elegantes Haus, das ihm als Ganzes erschienen ist, als Gesamtkonzept, in einem einzigen Augenblick, wie eine befruchtete Eizelle, die unerklärlich aus der Dunkelheit herausgeschleudert wird und einen vollständigen genetischen Code enthält. Ein logisches System. Die vier Quadranten: eine Verbeugung vor der Symmetrie, vor seiner Ausbildung, vor Millimeterpapier, vor dem Kompass, ewige Reise, ewige Rückkehr und so weiter, ein grauer Innenhof, nicht grün, glänzender Stein, Schieferplatten, Beton, sozusagen eine Widerlegung der Tropen, der Heimat. Das heißt, die Heimat neu gedacht, alle Linien klar und gerade, nichts üppig, weich oder grün. In einem einzigen Augenblick. Alles da. Hier und jetzt. Jahrzehnte später in einer Straße in Old Adabraka, einer verfallenden Vorstadt aus Kolonialvillen, weißer Stuck, streunende Hunde. Das Haus ist das Schönste, was er je geschaffen hat -
außer Taiwo, denkt er plötzlich. Der Gedanke ein Schock. Woraufhin Taiwo selbst vor ihm erscheint - die Wimpern ein schwarzes Dickicht, die Wangenknochen gemeißelter Fels und Edelsteine als Augen, ihre rosaroten Lippen, die gleiche Farbe wie das Innere eines Muschelhorns, unmöglich schön, ein unmögliches Mädchen - und seine »Einfühlsamer Ehemann«-Szene stört. Dann löst sie sich in Rauch auf. Das Haus ist das Schönste, was er je allein geschaffen hat, korrigiert er sich.
Dann geht er den Verbindungsgang zum Wohntrakt weiter, durch die Tür ins Wohnzimmer, durch das Esszimmer, zur Glasveranda und zur Schwelle.
Wo er stehen bleibt.
Zwei
Später am Morgen, als es angefangen hat zu schneien und der Mann aufgehört hat zu sterben und ein Hund den Tod gerochen hat, wird Olu ohne große Eile das Krankenhaus verlassen, sein Blackberry ausschalten, den Kaffee abstellen und zu weinen anfangen. Er wird keine Ahnung haben, wie der Tag in Ghana angefangen hat, er wird Meilen und Ozeane und Zeitzonen weit entfernt sein (und noch andere Arten von Entfernungen, die schwerer zu überwinden sind, wie gebrochene Herzen und Wut und versteinerter Schmerz und all die Fragen, die zu lange ungefragt oder unbeantwortet blieben, und Generationen von VaterSohn- Schweigen und Scham), während er Sojamilch in den Kaffee rührt, in einer Krankenhauscafeteria, mit verschwommenem Blick, unausgeschlafen, hier und nicht da. Aber er wird es sich vorstellen - sein Vater, dort, tot in einem Garten, ein Mann, gesund, siebenundfünfzig, in bemerkenswert guter Verfassung, kleiner-runder Bizeps unter der Haut seiner Oberarme, kleinerrunder Bauch unter seinem Unterhemd, einem Fruit of the Loom-Feinripp-Unterhemd, sehr weiß auf dunkelbraun, dazu diese lächerlichen MC Hammer-Hosen, die er, Olu, hasst und die Kweku liebt - und obwohl er es versucht (er ist Arzt, er weiß Bescheid, er kann es nicht ausstehen, wenn seine Patienten ihn fragen »Was ist, wenn Sie sich irren?«), wird er den Gedanken nicht los.
Dass die Ärzte sich irren.
Dass solche Dinge nicht »manchmal passieren«.
Dass dort etwas passiert ist.
Kein Arzt mit seiner Erfahrung und erst recht kein so außergewöhnlich guter Arzt - und man kann sagen, was man will, aber der Mann war erstklassig in seinem Beruf, selbst seine Widersacher geben das zu, ein »Künstler am Skalpell«, ein Chirurg, der seinesgleichen sucht, ein ghanaischer Carson und so weiter - kein Arzt dieses Kalibers hätte sämtliche Anzeichen eines sich so langsam aufbauenden Herzinfarkts übersehen können. Typische Koronarthrombose. Null Problem. Schnell handeln. Und er hätte genug Zeit gehabt, eine halbe Stunde, und das scheint eher untertrieben, nach allem, was Mom erzählt, dreißig Minuten, um zu handeln, um zur »Ausbildung zurückzukehren«, wie Dr. Soto sagen würde, Olus Lieblings-Oberarzt, sein Xicano- Hausheiliger. Symptome durchgehen, Diagnose erstellen, aufstehen, ins Haus gehen, die Frau aufwecken, und falls die Frau nicht Auto fahren kann - wovon auszugehen ist, sie kann nicht lesen - selbst ans Steuer setzen und sich in Sicherheit bringen. Und Pantoffeln anziehen, Herrgott nochmal.
Aber er tat nichts dergleichen. Ging nichts durch, erstellte nichts. Durchquerte nur eine Glasveranda, fiel ins Gras. Ohne ersichtlichen Grund - oder aus undurchschaubaren Gründen, die Olu nicht ahnen kann und die er, zur Unwissenheit verdammt, nicht verzeihen kann - blieb sein Vater liegen, Kweku Sai, die Große Hoffnung der Ga, der verlorene Sohn, das verlorene Wunderkind, lag einfach da in seinen Schlafsachen und tat gar nichts, bis die erbarmungslose Sonne aufging, weniger ein Aufgang als ein Aufstand, Tod dem fahlen Grau durch das goldene Schwert, während drinnen die Ehefrau die Augen aufschlug und die Pantoffeln in der Tür stehen sah. Und weil sie das seltsam fand, ging sie ihn suchen und fand ihn. Tot.
Ein außergewöhnlicher Chirurg.
Und ein gewöhnlicher Herzinfarkt.
Durchschnittlich hat man vierzig Minuten zwischen Beginn der Attacke und Tod. Also selbst wenn es stimmt, dass solche Dinge »manchmal« passieren, das heißt, wenn es stimmt, dass gesunde Herzen sich »manchmal« verkrampfen, einfach so, aus heiterem Himmel, wie ein Wadenkrampf, besteht immer noch die Frage der Zeit. Die ganzen Minuten dazwischen. Zwischen dem ersten Stich und dem letzten Atemzug. Speziell diese Momente faszinieren Olu, er ist besessen von ihnen, schon sein ganzes Leben, in der Jugend als Sportler, dann später als Arzt. Die Momente, die das Ergebnis bestimmen.
Die stillen Momente.
Dieses zerrissene Schweigen zwischen Auslöser und Handlung, wenn sich das Denken nur auf das konzentriert, was der Augenblick fordert, und die ganze Welt sich verlangsamt, als wollte sie sehen, was passiert. Wenn der eine handelt und der andere nicht. Die Momente, nach denen es zu spät ist. Nicht das Ende selbst - diese wenigen, verzweifelten und schrillen Sekunden, die dem endgültigen Signalton vorausgehen oder dem langgezogenen Piepsen der Nulllinie -, sondern die Stille davor, die Unterbrechung des Geschehens, die Pause. Diese Pause gibt es immer, das weiß Olu, ausnahmslos. Die Sekunden, gleich nachdem die Pistole losgegangen ist und der Läufer unten bleibt oder zu früh hochkommt. Oder nachdem das Schussopfer spürt, wie die Kugel seine Haut zerreißt, und mit der Hand nach der Wunde tastet oder nicht. Die Welt steht still. Ob der Läufer gewinnt und ob der Patient durchkommt, hat letzten Endes weniger damit zu tun, wie er die Linie überquert, als vielmehr damit, was er in den Augenblicken kurz davor getan hat. Kweku hat nichts getan, und Olu weiß nicht, warum.
Wie konnte sein Vater nicht merken, was los war? Und wenn er es merkte, wie konnte er dann dort liegenbleiben, um zu sterben? Nein. Irgendetwas musste passiert sein, was ihm die Orientierung nahm, ein überwältigendes Gefühl, eine geistige Verwirrung. Olu weiß nicht, was es war. Er weiß nur so viel: ein aktiver Mann, unter sechzig, keine Krankheiten bekannt, aufgewachsen mit Frischwasserfisch, läuft jeden Tag fünf Meilen, vögelt eine attraktive Dorfidiotin - man kann sagen, was man will, aber diese neue Ehefrau ist keine Krankenschwester. Es ist sinnlos, Vorwürfe zu erheben, aber es hätte vielleicht Hoffnung gegeben, die richtige Herzdruckmassage / wenn sie aufgewacht wäre - aber so ein Mann stirbt nicht in einem Garten an einem Herzstillstand.
Etwas muss ihn zum Stillstand gebracht haben.
Drei
Tautropfen auf Gras.
Tautropfen auf Grashalmen, wie Diamanten, großzügig verstreut aus der Tasche eines Elementargeistes, der zufällig vorbeikam und mit leichten, geschmeidigen Schritten durch Kweku Sais Garten ging, kurz bevor Kweku selbst dort erschien. Der ganze Garten glitzert, blinzelt und kichert, wie Schulmädchen, die verlegen verstummen, wenn der Liebste sich nähert. Glitzernder Mangobaum, Herrscher, strotzend im Zentrum, mit den kräftigen, leuchtend grünen Blättern und den leuchtend gelben Früchten; glitzernder Brunnen, jetzt voller Risse und umgeben von Unkraut, das Weiß blüht, aber die Statue steht noch da, die »Mutter von Zwillingen«, iya-ibeji, ein Geschenk für seine Ex- frau Folasadé, jetzt verlassen im Brunnen, mit ihren handgemeißelten Zwillingen; glitzernde Blumen, die Folasadé an ihren Blüten, ihren Gesichtern erkennen konnte, die englischen Namen, die lateinischen Namen, eine Million verschiedener Rosatöne; leuchtender Himmel, das weiche Grau des Südens ohne Sonnenlicht, glitzernde Wolken an den Rändern.
Glitzernder Garten.
Glitzernd nass.
Kweku bleibt auf der Schwelle stehen und starrt hinaus, atemlos, eine Schulter an die halb offene Schiebetür gelehnt. Er denkt vor sich hin, ein Stechen in der Brust, dass die Welt manchmal zu schön ist. Dass sie einfach kein Gewicht hat, dass man sie unmöglich akzeptieren kann. Der Tau auf dem Gras und das Licht auf dem Tau und die Färbung dieses Lichts - das ist nichts für einen Arzt wie ihn, der weiß, dass solche Dinge selten eine Nacht überleben. Der weiß, dass sie zwar da sind, aber nie lange, für die Welt, wie er sie kennt, diesen grausamen und sinnlosen und quälenden Ort. Der weiß, dass sie entweder zerbrochen werden oder wegbrechen, sich befreien von dem, was Verlust bedeutet. Und dass die Neugeborenen-Intensivstation, N.I.C.U., es richtig gemacht hat.
In der N.I.C.U. empfiehlt man, keinen Namen zu geben, wie er in seinem dritten Ausbildungsjahr in der Pädiatrie lernen sollte, in diesem herzzerbrechenden Winter 1975, als seine Mutter gerade gestorben und sein erster Sohn gerade geboren war. Wenn ein unglückliches Neugeborenes aller Voraussicht nach das Wochenende nicht überstehen würde, riet man den Eltern davon ab, ihm einen Namen zu geben, und schrieb »Baby« samt Nachnamen auf das Schild am Brutkasten (»Baby A«, »Baby B« und so weiter, bei Mehrfachgeburten). Viele seiner Jahrgangskollegen fanden diese Praxis befremdlich - als würde man sich zu früh geschlagen geben. Das waren vor allem die Amerikaner, mit ihren weißen Zähnen und der Kuhmilch, für die Kindersterblichkeit etwas Unvorstellbares ist. Oder besser gesagt, vorstellbar in der Summe, als eine Zahl, eine Statistik, das heißt, x % der in Ghana geborenen Kinder sterben vor der zweiten Woche. Vorstellbar im Plural, aber inakzeptabel im Singular. Das eine grau-blaue Baby.
Das verstorbene Baby Nachname.
Für die Afrikaner hingegen (und die Inder und die Westinder und für den einen Flüchtling aus Lettland, dem es in Baltimore gefiel) war ein totes Neugeborenes nicht nur vorstellbar, sondern auch nicht weiter erwähnenswert, vor allem, wenn unvermeidlich, das heißt, erklärbar. So war das Leben. Ihnen erschien es nur logisch, keinen Namen zu geben, ja, sogar gut, ein Mittel, um Distanz zur Existenz und damit auch zum Tod zu schaffen. Etwas, was man sich typischerweise in Amerika ausdachte, während man sich in Riga oder in Accra gar keine Gedanken darüber machte. Die Sterilisierung menschlicher Emotion. Die Reduzierung aller Schmerzen auf das Niveau von Hallmark-Karten- Kummer. Von den vielen Gesichtern des Leids wird, als helfe eine fleißige OP-Schwester, alle Hässlichkeit abgewaschen.
Gesichter, die Kweku Sai kannte.
Ihm, der jeden Schmerz an seinem Gesicht erkennen konnte, war die Logik vertraut, aus einer wärmeren Dritten Welt, wo der Junge seine Mutter, blutverschmiert von den Wehen (von fruchtlosen Wehen), in der Dämmerung bis ans Ufer eines Ozeans begleitet und sieht, wie sie die kleine Leiche, in Palmblätter gewickelt, sozusagen ein unglücklicher Moses, in den Schaum der Wellen legt und dann weggeht. Er wird sie niemals darüber sprechen hören, nie, kein einziges Mal - und er lernt, dass »Verlust« nur ein Konstrukt ist. Nur ein Gedanke. Den man ausformuliert oder auch nicht. Mit Worten. Das heißt, etwas, dessen Existenz man gar nicht bis ins Denken vordringen lässt, kann man nicht verlieren, und man kann nie sagen, man habe es verloren.
Schon damals, mit vierundzwanzig, als junger Vater und immer noch Kind, ein neuerdings mutterloses Kind, wusste Kweku das alles.
Jetzt starrt er auf das Glitzern, er wird zum Stillstand gebracht von der Schönheit, und er weiß, was er vor so vielen Wintern wusste. Wenn man vor etwas steht, was fragil und perfekt ist, in einer Welt, die hässlich und erdrückend und grausam ist, dann lautet die korrekte Verhaltensregel: Gib ihm keinen Namen. Tu so, als existierte es nicht.
Aber das funktioniert nicht.
Er spürt einen zweiten Stich, jetzt, weil es die Perfektion gibt, weil die Perfektion hartnäckig gegenwärtig ist, gerade in den verletzlichsten Dingen, selbst wenn er sich noch so weigert - eine bewundernswerte, logische Weigerung -, sich in seinem Herzen, in seinem Denken darauf einzulassen. Und weil seine Logik so trostlos ist. Gleichgültig, an welchem Faden er zieht, um den elenden Knoten zu lösen: (a) wie vergeblich es ist, etwas zu sehen, angesichts der Vergänglichkeit des Schönen, vor allem des Schönen in der Zerbrechlichkeit, und das an einem Ort wie diesem, wo eine Mutter, noch blutig, ihr Neugeborenes begraben muss, sich danach abwäscht und nach Hause geht, um Süßkartoffeln zu Brei zu stampfen; (b) wie beharrlich das Schöne ist, ausgerechnet in der Zerbrechlichkeit!, in einem Tautropfen vor Tagesanbruch - ein Ding, das enden wird, und zwar schon bald, in einem Garten, in Ghana, im üppigen Ghana, im weichen Ghana, im grünen Ghana, wo zerbrechliche Dinge sterben.
Er sieht das alles so deutlich, dass er die Augen schließt. Sein Kopf beginnt zu pulsieren. Er öffnet die Augen. Er will sich bewegen, kann aber nicht. Er klebt dort fest, überwältigt.
Das letzte Mal, dass er sich so gefühlt hat, war bei Sadie.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Er denkt den Gedanken trotzdem, nimmt ihn mit vom Schlafzimmer zur Glasveranda; ein demonstrativer Akt der Vorsicht. Eine Show für ihn selbst. Das macht er schon lange, eigentlich seit er von seinem Dorf weg ist, kleine Freilichtspiele für ein Ein-Mann-Publikum. Oder für zwei Personen. Für ihn und seinen Kameramann, den stummen-unsichtbaren Kameramann, der damals, vor vielen Jahrzehnten, gemeinsam mit ihm abgehauen ist, heimlich, in der Dunkelheit, noch vor Anbruch der Dämmerung, der Ozean ganz in der Nähe. Dieser Kameramann, der ihm seither immer und überallhin folgt. Und schweigend sein Leben filmt. Oder: Das Leben des Mannes, der er sein möchte und der er nicht mehr werden wird.
Diese Szene nun, eine Schlafzimmerszene: der einfühlsame Ehemann.
Der keinen Mucks von sich gibt, als er aus dem Bett schlüpft, der geräuschlos die Decke zur Seite schlägt, einen Fuß nach dem anderen auf den Fußboden setzt und sich die größte Mühe gibt, seine nicht-weckbare Ehefrau ja nicht zu wecken. Ja nicht zu schnell aufstehen, weil sich sonst die Matratze bewegt. Ganz leise durchs Zimmer schleichen, lautlos die Tür schließen. Dann genauso lautlos den Flur entlang, durch die Tür zum Innenhof, wo sie ihn garantiert nicht mehr hören kann. Trotzdem immer noch auf Zehenspitzen. Den kurzen, geheizten Verbindungsgang vom Schlaftrakt zum Wohntrakt, wo er einen Moment stehen bleibt, um sein Haus zu bewundern.
Es ist eine geniale Komposition, diese einstöckige Anlage, nicht besonders originell, sondern funktional und vor allem elegant durchgeplant. Ein schlichter Hof in der Mitte, mit einer Tür auf jeder Seite, zum Wohntrakt, zum Esstrakt, zum großen Schlafzimmer, zu den Gästezimmern. Er hat den Entwurf in einer Krankenhauscafeteria auf eine Serviette gekritzelt, im dritten Jahr seiner Facharztausbildung, mit einunddreißig. Mit achtundvierzig kaufte er das Grundstück von einem Patienten aus Neapel, einem reichen Immobilienmakler mit Verbindungen zur Mafia und mit Diabetes Typ II, der nach Accra gezogen war, weil die Stadt ihn an Neapel in den fünfziger Jahren erinnert, wie er behauptet (der Reichtum so nah beim Elend, die frische Seeluft so nah beim Abwasser, am Strand stinkreiche Leute neben stinkarmen.) Mit neunundvierzig fand er einen Zimmermann, der bereit war, den Auftrag anzunehmen - der einzige Ghanaer, der sich nicht weigerte, ein Haus mit einem Loch in der Mitte zu bauen. Dieser Zimmermann war siebzig, mit grünem Star und Sixpack. Er arbeitete einwandfrei und immer allein, und nach zwei Jahren war er fertig.
Mit einundfünfzig brachte Kweku seine Sachen her, fand es aber zu ruhig.
Mit dreiundfünfzig heiratete er zum zweiten Mal.
Elegant geplant.
Nun bleibt er an einer Seite des Quadrats stehen, zwischen den Türen. Hier ist die Struktur deutlich zu erkennen, er kann den Entwurf sehen, und er betrachtet ihn, so wie der Maler ein Gemälde betrachtet oder die Mutter das Neugeborene. Voller Verwirrung und Ehrfurcht, dass dieses Ding, das irgendwo im Kopf oder im Körper konzipiert wurde, es nach draußen in die Welt geschafft hat, und jetzt ein Eigenleben hat. Etwas perplex. Wie ist es hierhergekommen, von in ihm zu vor ihm? (Klar, er weiß, durch die richtige Verwendung des entsprechenden Werkzeugs; das gilt für den Maler, die Mutter, den Amateur-Architekten - aber trotzdem ist es ein Wunder, wenn man es so vor sich sieht.)
Sein Haus.
Sein schönes, funktionales, elegantes Haus, das ihm als Ganzes erschienen ist, als Gesamtkonzept, in einem einzigen Augenblick, wie eine befruchtete Eizelle, die unerklärlich aus der Dunkelheit herausgeschleudert wird und einen vollständigen genetischen Code enthält. Ein logisches System. Die vier Quadranten: eine Verbeugung vor der Symmetrie, vor seiner Ausbildung, vor Millimeterpapier, vor dem Kompass, ewige Reise, ewige Rückkehr und so weiter, ein grauer Innenhof, nicht grün, glänzender Stein, Schieferplatten, Beton, sozusagen eine Widerlegung der Tropen, der Heimat. Das heißt, die Heimat neu gedacht, alle Linien klar und gerade, nichts üppig, weich oder grün. In einem einzigen Augenblick. Alles da. Hier und jetzt. Jahrzehnte später in einer Straße in Old Adabraka, einer verfallenden Vorstadt aus Kolonialvillen, weißer Stuck, streunende Hunde. Das Haus ist das Schönste, was er je geschaffen hat -
außer Taiwo, denkt er plötzlich. Der Gedanke ein Schock. Woraufhin Taiwo selbst vor ihm erscheint - die Wimpern ein schwarzes Dickicht, die Wangenknochen gemeißelter Fels und Edelsteine als Augen, ihre rosaroten Lippen, die gleiche Farbe wie das Innere eines Muschelhorns, unmöglich schön, ein unmögliches Mädchen - und seine »Einfühlsamer Ehemann«-Szene stört. Dann löst sie sich in Rauch auf. Das Haus ist das Schönste, was er je allein geschaffen hat, korrigiert er sich.
Dann geht er den Verbindungsgang zum Wohntrakt weiter, durch die Tür ins Wohnzimmer, durch das Esszimmer, zur Glasveranda und zur Schwelle.
Wo er stehen bleibt.
Zwei
Später am Morgen, als es angefangen hat zu schneien und der Mann aufgehört hat zu sterben und ein Hund den Tod gerochen hat, wird Olu ohne große Eile das Krankenhaus verlassen, sein Blackberry ausschalten, den Kaffee abstellen und zu weinen anfangen. Er wird keine Ahnung haben, wie der Tag in Ghana angefangen hat, er wird Meilen und Ozeane und Zeitzonen weit entfernt sein (und noch andere Arten von Entfernungen, die schwerer zu überwinden sind, wie gebrochene Herzen und Wut und versteinerter Schmerz und all die Fragen, die zu lange ungefragt oder unbeantwortet blieben, und Generationen von VaterSohn- Schweigen und Scham), während er Sojamilch in den Kaffee rührt, in einer Krankenhauscafeteria, mit verschwommenem Blick, unausgeschlafen, hier und nicht da. Aber er wird es sich vorstellen - sein Vater, dort, tot in einem Garten, ein Mann, gesund, siebenundfünfzig, in bemerkenswert guter Verfassung, kleiner-runder Bizeps unter der Haut seiner Oberarme, kleinerrunder Bauch unter seinem Unterhemd, einem Fruit of the Loom-Feinripp-Unterhemd, sehr weiß auf dunkelbraun, dazu diese lächerlichen MC Hammer-Hosen, die er, Olu, hasst und die Kweku liebt - und obwohl er es versucht (er ist Arzt, er weiß Bescheid, er kann es nicht ausstehen, wenn seine Patienten ihn fragen »Was ist, wenn Sie sich irren?«), wird er den Gedanken nicht los.
Dass die Ärzte sich irren.
Dass solche Dinge nicht »manchmal passieren«.
Dass dort etwas passiert ist.
Kein Arzt mit seiner Erfahrung und erst recht kein so außergewöhnlich guter Arzt - und man kann sagen, was man will, aber der Mann war erstklassig in seinem Beruf, selbst seine Widersacher geben das zu, ein »Künstler am Skalpell«, ein Chirurg, der seinesgleichen sucht, ein ghanaischer Carson und so weiter - kein Arzt dieses Kalibers hätte sämtliche Anzeichen eines sich so langsam aufbauenden Herzinfarkts übersehen können. Typische Koronarthrombose. Null Problem. Schnell handeln. Und er hätte genug Zeit gehabt, eine halbe Stunde, und das scheint eher untertrieben, nach allem, was Mom erzählt, dreißig Minuten, um zu handeln, um zur »Ausbildung zurückzukehren«, wie Dr. Soto sagen würde, Olus Lieblings-Oberarzt, sein Xicano- Hausheiliger. Symptome durchgehen, Diagnose erstellen, aufstehen, ins Haus gehen, die Frau aufwecken, und falls die Frau nicht Auto fahren kann - wovon auszugehen ist, sie kann nicht lesen - selbst ans Steuer setzen und sich in Sicherheit bringen. Und Pantoffeln anziehen, Herrgott nochmal.
Aber er tat nichts dergleichen. Ging nichts durch, erstellte nichts. Durchquerte nur eine Glasveranda, fiel ins Gras. Ohne ersichtlichen Grund - oder aus undurchschaubaren Gründen, die Olu nicht ahnen kann und die er, zur Unwissenheit verdammt, nicht verzeihen kann - blieb sein Vater liegen, Kweku Sai, die Große Hoffnung der Ga, der verlorene Sohn, das verlorene Wunderkind, lag einfach da in seinen Schlafsachen und tat gar nichts, bis die erbarmungslose Sonne aufging, weniger ein Aufgang als ein Aufstand, Tod dem fahlen Grau durch das goldene Schwert, während drinnen die Ehefrau die Augen aufschlug und die Pantoffeln in der Tür stehen sah. Und weil sie das seltsam fand, ging sie ihn suchen und fand ihn. Tot.
Ein außergewöhnlicher Chirurg.
Und ein gewöhnlicher Herzinfarkt.
Durchschnittlich hat man vierzig Minuten zwischen Beginn der Attacke und Tod. Also selbst wenn es stimmt, dass solche Dinge »manchmal« passieren, das heißt, wenn es stimmt, dass gesunde Herzen sich »manchmal« verkrampfen, einfach so, aus heiterem Himmel, wie ein Wadenkrampf, besteht immer noch die Frage der Zeit. Die ganzen Minuten dazwischen. Zwischen dem ersten Stich und dem letzten Atemzug. Speziell diese Momente faszinieren Olu, er ist besessen von ihnen, schon sein ganzes Leben, in der Jugend als Sportler, dann später als Arzt. Die Momente, die das Ergebnis bestimmen.
Die stillen Momente.
Dieses zerrissene Schweigen zwischen Auslöser und Handlung, wenn sich das Denken nur auf das konzentriert, was der Augenblick fordert, und die ganze Welt sich verlangsamt, als wollte sie sehen, was passiert. Wenn der eine handelt und der andere nicht. Die Momente, nach denen es zu spät ist. Nicht das Ende selbst - diese wenigen, verzweifelten und schrillen Sekunden, die dem endgültigen Signalton vorausgehen oder dem langgezogenen Piepsen der Nulllinie -, sondern die Stille davor, die Unterbrechung des Geschehens, die Pause. Diese Pause gibt es immer, das weiß Olu, ausnahmslos. Die Sekunden, gleich nachdem die Pistole losgegangen ist und der Läufer unten bleibt oder zu früh hochkommt. Oder nachdem das Schussopfer spürt, wie die Kugel seine Haut zerreißt, und mit der Hand nach der Wunde tastet oder nicht. Die Welt steht still. Ob der Läufer gewinnt und ob der Patient durchkommt, hat letzten Endes weniger damit zu tun, wie er die Linie überquert, als vielmehr damit, was er in den Augenblicken kurz davor getan hat. Kweku hat nichts getan, und Olu weiß nicht, warum.
Wie konnte sein Vater nicht merken, was los war? Und wenn er es merkte, wie konnte er dann dort liegenbleiben, um zu sterben? Nein. Irgendetwas musste passiert sein, was ihm die Orientierung nahm, ein überwältigendes Gefühl, eine geistige Verwirrung. Olu weiß nicht, was es war. Er weiß nur so viel: ein aktiver Mann, unter sechzig, keine Krankheiten bekannt, aufgewachsen mit Frischwasserfisch, läuft jeden Tag fünf Meilen, vögelt eine attraktive Dorfidiotin - man kann sagen, was man will, aber diese neue Ehefrau ist keine Krankenschwester. Es ist sinnlos, Vorwürfe zu erheben, aber es hätte vielleicht Hoffnung gegeben, die richtige Herzdruckmassage / wenn sie aufgewacht wäre - aber so ein Mann stirbt nicht in einem Garten an einem Herzstillstand.
Etwas muss ihn zum Stillstand gebracht haben.
Drei
Tautropfen auf Gras.
Tautropfen auf Grashalmen, wie Diamanten, großzügig verstreut aus der Tasche eines Elementargeistes, der zufällig vorbeikam und mit leichten, geschmeidigen Schritten durch Kweku Sais Garten ging, kurz bevor Kweku selbst dort erschien. Der ganze Garten glitzert, blinzelt und kichert, wie Schulmädchen, die verlegen verstummen, wenn der Liebste sich nähert. Glitzernder Mangobaum, Herrscher, strotzend im Zentrum, mit den kräftigen, leuchtend grünen Blättern und den leuchtend gelben Früchten; glitzernder Brunnen, jetzt voller Risse und umgeben von Unkraut, das Weiß blüht, aber die Statue steht noch da, die »Mutter von Zwillingen«, iya-ibeji, ein Geschenk für seine Ex- frau Folasadé, jetzt verlassen im Brunnen, mit ihren handgemeißelten Zwillingen; glitzernde Blumen, die Folasadé an ihren Blüten, ihren Gesichtern erkennen konnte, die englischen Namen, die lateinischen Namen, eine Million verschiedener Rosatöne; leuchtender Himmel, das weiche Grau des Südens ohne Sonnenlicht, glitzernde Wolken an den Rändern.
Glitzernder Garten.
Glitzernd nass.
Kweku bleibt auf der Schwelle stehen und starrt hinaus, atemlos, eine Schulter an die halb offene Schiebetür gelehnt. Er denkt vor sich hin, ein Stechen in der Brust, dass die Welt manchmal zu schön ist. Dass sie einfach kein Gewicht hat, dass man sie unmöglich akzeptieren kann. Der Tau auf dem Gras und das Licht auf dem Tau und die Färbung dieses Lichts - das ist nichts für einen Arzt wie ihn, der weiß, dass solche Dinge selten eine Nacht überleben. Der weiß, dass sie zwar da sind, aber nie lange, für die Welt, wie er sie kennt, diesen grausamen und sinnlosen und quälenden Ort. Der weiß, dass sie entweder zerbrochen werden oder wegbrechen, sich befreien von dem, was Verlust bedeutet. Und dass die Neugeborenen-Intensivstation, N.I.C.U., es richtig gemacht hat.
In der N.I.C.U. empfiehlt man, keinen Namen zu geben, wie er in seinem dritten Ausbildungsjahr in der Pädiatrie lernen sollte, in diesem herzzerbrechenden Winter 1975, als seine Mutter gerade gestorben und sein erster Sohn gerade geboren war. Wenn ein unglückliches Neugeborenes aller Voraussicht nach das Wochenende nicht überstehen würde, riet man den Eltern davon ab, ihm einen Namen zu geben, und schrieb »Baby« samt Nachnamen auf das Schild am Brutkasten (»Baby A«, »Baby B« und so weiter, bei Mehrfachgeburten). Viele seiner Jahrgangskollegen fanden diese Praxis befremdlich - als würde man sich zu früh geschlagen geben. Das waren vor allem die Amerikaner, mit ihren weißen Zähnen und der Kuhmilch, für die Kindersterblichkeit etwas Unvorstellbares ist. Oder besser gesagt, vorstellbar in der Summe, als eine Zahl, eine Statistik, das heißt, x % der in Ghana geborenen Kinder sterben vor der zweiten Woche. Vorstellbar im Plural, aber inakzeptabel im Singular. Das eine grau-blaue Baby.
Das verstorbene Baby Nachname.
Für die Afrikaner hingegen (und die Inder und die Westinder und für den einen Flüchtling aus Lettland, dem es in Baltimore gefiel) war ein totes Neugeborenes nicht nur vorstellbar, sondern auch nicht weiter erwähnenswert, vor allem, wenn unvermeidlich, das heißt, erklärbar. So war das Leben. Ihnen erschien es nur logisch, keinen Namen zu geben, ja, sogar gut, ein Mittel, um Distanz zur Existenz und damit auch zum Tod zu schaffen. Etwas, was man sich typischerweise in Amerika ausdachte, während man sich in Riga oder in Accra gar keine Gedanken darüber machte. Die Sterilisierung menschlicher Emotion. Die Reduzierung aller Schmerzen auf das Niveau von Hallmark-Karten- Kummer. Von den vielen Gesichtern des Leids wird, als helfe eine fleißige OP-Schwester, alle Hässlichkeit abgewaschen.
Gesichter, die Kweku Sai kannte.
Ihm, der jeden Schmerz an seinem Gesicht erkennen konnte, war die Logik vertraut, aus einer wärmeren Dritten Welt, wo der Junge seine Mutter, blutverschmiert von den Wehen (von fruchtlosen Wehen), in der Dämmerung bis ans Ufer eines Ozeans begleitet und sieht, wie sie die kleine Leiche, in Palmblätter gewickelt, sozusagen ein unglücklicher Moses, in den Schaum der Wellen legt und dann weggeht. Er wird sie niemals darüber sprechen hören, nie, kein einziges Mal - und er lernt, dass »Verlust« nur ein Konstrukt ist. Nur ein Gedanke. Den man ausformuliert oder auch nicht. Mit Worten. Das heißt, etwas, dessen Existenz man gar nicht bis ins Denken vordringen lässt, kann man nicht verlieren, und man kann nie sagen, man habe es verloren.
Schon damals, mit vierundzwanzig, als junger Vater und immer noch Kind, ein neuerdings mutterloses Kind, wusste Kweku das alles.
Jetzt starrt er auf das Glitzern, er wird zum Stillstand gebracht von der Schönheit, und er weiß, was er vor so vielen Wintern wusste. Wenn man vor etwas steht, was fragil und perfekt ist, in einer Welt, die hässlich und erdrückend und grausam ist, dann lautet die korrekte Verhaltensregel: Gib ihm keinen Namen. Tu so, als existierte es nicht.
Aber das funktioniert nicht.
Er spürt einen zweiten Stich, jetzt, weil es die Perfektion gibt, weil die Perfektion hartnäckig gegenwärtig ist, gerade in den verletzlichsten Dingen, selbst wenn er sich noch so weigert - eine bewundernswerte, logische Weigerung -, sich in seinem Herzen, in seinem Denken darauf einzulassen. Und weil seine Logik so trostlos ist. Gleichgültig, an welchem Faden er zieht, um den elenden Knoten zu lösen: (a) wie vergeblich es ist, etwas zu sehen, angesichts der Vergänglichkeit des Schönen, vor allem des Schönen in der Zerbrechlichkeit, und das an einem Ort wie diesem, wo eine Mutter, noch blutig, ihr Neugeborenes begraben muss, sich danach abwäscht und nach Hause geht, um Süßkartoffeln zu Brei zu stampfen; (b) wie beharrlich das Schöne ist, ausgerechnet in der Zerbrechlichkeit!, in einem Tautropfen vor Tagesanbruch - ein Ding, das enden wird, und zwar schon bald, in einem Garten, in Ghana, im üppigen Ghana, im weichen Ghana, im grünen Ghana, wo zerbrechliche Dinge sterben.
Er sieht das alles so deutlich, dass er die Augen schließt. Sein Kopf beginnt zu pulsieren. Er öffnet die Augen. Er will sich bewegen, kann aber nicht. Er klebt dort fest, überwältigt.
Das letzte Mal, dass er sich so gefühlt hat, war bei Sadie.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Taiye Selasi
Selasi, TaiyeTaiye Selasi ist Schriftstellerin und Fotografin. Sie erfand den Begriff »Afropolitan«. »Afropolitan« bezeichnet eine neue Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln. Toni Morrison, die Selasi während ihres Studiums in Oxford kennenlernte, inspirierte sie zum Schreiben. Ihre erste Erzählung 'The Sex Lives of African Girls' erschien in der Literaturzeitschrift »Granta«. 'Diese Dinge geschehen nicht einfach so' ist ihr erster Roman. Selasi ist in London geboren und wuchs in Massachusetts auf. Ihre Eltern, beide Ärzte und Bürgerrechtler, stammen aus Ghana und Nigeria.Zöfel, Adelheid
Adelheid Zöfel lebt und übersetzt in Freiburg im Breisgau. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Marisha Pessl, Chuck Klosterman, Bill Clegg, David Gilmour, Janice Deaner und Louise Erdrich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Taiye Selasi
- 2013, 6. Aufl., 400 Seiten, Maße: 14,6 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zöfel, Adelheid
- Übersetzer: Adelheid Zöfel
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100725255
- ISBN-13: 9783100725257
- Erscheinungsdatum: 07.03.2013
Rezension zu „Diese Dinge geschehen nicht einfach so “
Sie schreibt so berührend, fast poetisch, dass es ihr gelingt, Fantasie und Gedanken ihrer Leser anzuregen wie es nur ein Buch vermag. Bastian Wünsch Norddeutscher Rundfunk, NDR 2 20130609
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