Durch den Wind
Roman
Muss es mit Mitte dreißig nicht endlich losgehen? Yoko, Friederike, Alison und Siri, vier Freundinnen aus Berlin, sind auf der Suche nach der Liebe und nach dem richtigen Leben. Und alle vier hadern mit sich, weil sie Angst vor dem Scheitern haben. Fehlt...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Durch den Wind “
Klappentext zu „Durch den Wind “
Muss es mit Mitte dreißig nicht endlich losgehen? Yoko, Friederike, Alison und Siri, vier Freundinnen aus Berlin, sind auf der Suche nach der Liebe und nach dem richtigen Leben. Und alle vier hadern mit sich, weil sie Angst vor dem Scheitern haben. Fehlt ihnen der Mut? Annika Reich erzählt von einer Generation, die das Neue will und vor den alten Fragen steht. Am Ende merken die vier Frauen: Leben lernen muss jede für sich allein.
Lese-Probe zu „Durch den Wind “
Durch den Wind von Annika Reich... mehr
Alison lehnte ihren Hinterkopf so an Victors Brust, dass sein Kinn auf ihren langen roten Haaren lag. Ihre Haut schimmerte wie vom Mond beschienen, und ihre Augen waren halb geschlossen. Die grüne Seidenbluse hing an einer Seite aus ihrer Hose heraus, und der Kragen war etwas verrutscht. So sah Alison eigentlich fast immer aus, ein bisschen müde oder als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie schien einen Körper zu haben, der Kleider nie an Ort und Stelle trug, der sich seiner Kleider am liebsten entledigen wollte.
Die Musik war langsamer geworden, das Geklapper der Gläser und der Absätze leiser, und einzelne Worte verschwammen in der weinseligen Atmosphäre. Victor nahm sie in den Arm, und ihre Schulter schmiegte sich in seine Achsel, als hätten sie ein gemeinsames Gelenk. Auf der Tanz fläche wiegte sich ein einzelner Mann, der Diskjockey schmuste mit seiner Freundin, und die Mädchen, die die Tabletts mit den Getränken herum getragen hatten, gruppierten sich um eines der Sofas und zogen ihre Schuhe aus. Victors rechter Arm streckte sich zur Seite, um von einem Stehtisch eine Zigarettenpackung zu greifen, während sein Kinn auf Alisons Kopf ruhen blieb. Ihr Hals und ihr Oberkörper folgten dem Arm, ohne dass sie dabei ins Wanken geriet. Als er das Päckchen erwischt hatte, zog seine linke Hand ihre linke Schulter wieder zurück in die Mitte. Er hob seinen Kopf und steckte sich eine Zigarette in den Mund, während seine linke Hand ihren Arm hinunter am Ellbogen entlang auf ihren Bauch wanderte. Sie löste ihren Arm vom Körper, griff in seine Jackentasche, holte mit immer noch geschlossenen Lidern ein Feuerzeug heraus und streckte es über ihren Kopf vor seine Zigarette. Nachdem er seinen ersten Zug genommen hatte, strich sie ihm über den Nacken und legte ihre halbgeöffnete Faust mit dem Feuerzeug hinter seinen Kopf.
All das geschah in einer einzigen Bewegung. Sie tanzten miteinander, ohne es zu merken, und glichen so weniger einem Tangopaar als einer mehrarmigen indischen Gottheit oder einem Körper, der aus irgendeinem Grund die Fähigkeit hatte, sich zu teilen und getrennte Wege zu gehen. Hätte sie zu dieser Zeit geahnt, dass kaum ein Monat vergehen würde, bis sie sich verlieren würden, dann hätte sie versucht, sein Handgelenk zu greifen und es nicht mehr loszulassen, dann hätte sie aufgehört zu tanzen, den Tanz geopfert für das, was sie sonst verlieren würde; wenn sie gewusst hätte, dass er einfach verschwinden würde, dann hätte sie ihn vielleicht festgehalten. Aber sie hatte es nicht einmal geahnt, denn sein Verschwinden war genau wie der Tanz, den sie miteinander tanzten. Victor verschwand mit einer großen Geschmeidigkeit, die keinerlei Verkantungen vorausschickte, keinerlei Irritationen. Ihr Zusammensein endete mit der gleichen Leichtigkeit, mit der es angefangen hatte - nur dass es sich anders an fühlte, ganz anders.
Alison und Victor schauten in den Raum, der sich langsam leerte, und beobachteten die verbliebenen Gäste. Siri stand allein an einem Tisch - die blonden Haare aus dem Gesicht gekämmt, schön und nervös wie immer; sie klappte ihre Zigarettenpackung auf und zu und nestelte an dem Silberpapier herum. Alison hatte heute Abend noch keine Zeit gehabt, sich mit ihr zu unterhalten, aber irgendetwas stimmte nicht, denn die Nervosität verwackelte das ansonsten scharf gestochene Bild ihrer Schönheit. Gleich würde sie hinübergehen und fragen, was los sei, noch genoss sie den Moment mit Victor zu sehr, um sich lösen zu können; außerdem kam langsam die Erschöpfung bei ihr an, die das ausklingende Fest begleitete.
Eines der Mädchen, das den Abend über bedient hatte, stand vom Sofa auf und näherte sich dem Mann, der sich immer noch alleine auf der Tanzfläche wiegte. Das Mädchen fing an, sich zu drehen und die Arme über den Kopf zu heben. Der Mann blinzelte zwischen den Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, und Alison sah ihm an, dass er das Angebot nur zu gerne angenommen hätte. Statt dessen hob er lächelnd die Schultern, machte eine unsichere, charmante Verbeugung und legte die Hände vor seiner Brust zusammen. Das Mädchen lächelte zurück, formte ihre Lippen zu dem Wort ›schade‹, drehte sich noch eine Weile und ging dann wieder zurück zu den anderen. Siri stand immer noch allein am Rand der Tanzfläche. Sie trug ein enges silbernes Kleid und hohe silberne Schuhe, was das Gereizte ihrer Stimmung noch unterstrich.
»Mit wem sprichst du eigentlich?« fragte Yoko, als sie auf Siri zukam. »Mit dem heiligen Geist? Oder betest du deine Zigaretten an?«
»Heiliger Geist? Schön wär's«, antwortete Siri und zog an ihrer Zigarette. »Was ist mit dir?« fragte Yoko, und ihr Mund bewegte sich dabei kaum. »Du rauchst schon den ganzen Abend, als gäbe es kein Morgen mehr.«
Siri schaute auf den Filter ihrer Zigarette, den ein tiefschwarzer Fleck zierte. Sie hatte es auch mit Trinken versucht, aber der Alkohol hatte das Unwohlsein in ihrem Inneren eher zementiert als verflüchtigt: »Meine Großmutter hat meinen Großvater verlassen.« Yoko stockte kurz, dann sagte sie mit ihrer tiefen Stimme: »Das ist ja wunderbar«, und lächelte dem Mann am anderen Ende des Raumes, der sie schon die ganze Zeit unverhohlen beobachtete, dabei kaum merklich zu, »sie lebt noch.« Siri folgte ihrem Blick quer durch den Raum. Wunderbar? Sie nahm Yoko das Glas Wodka aus der Hand. Ein letzter Versuch. Die Flüssigkeit kam kalt an dem Ort an, an dem mal ihr Magen gewesen war, und vermischte sich mit dem inhalierten Rauch: »Sie waren glücklich miteinander. Wenn ich an irgend was nie gezweifelt habe, dann ... « »Glück«, Yoko wippte mit ihren hohen Absätzen auf und ab. »Mein Vater hat immer gesagt: Glück ist wie das Gift des Kugelfischs - eine kleine Dosis davon berauscht das Leben und heizt den Hunger an, aber ein Hauch zu viel und ... «
Siri schaute Yoko an. Was hatte sie da gerade gesagt? Sie blickte an ihr hinab, als könnte sie so noch einmal rekonstruieren, was sie gerade gesagt hatte. Yoko hatte wie immer et was Schwarzes und etwas Weißes an, sie schien überhaupt nur schwarze und weiße Kleider zu besitzen. Der Rock war asymmetrisch geschnitten und die Bluse an den Seiten gerafft. Eine schwarze Strähne hing ihr in die blasse Stirn, und ihre Lippen glänzten dunkelrot, als wären sie versiegelt. Sie erinnerte sie an die dunkelhaarige Frau in dem Film Being John Malkovich, obwohl die Schauspielerin keine Japanerin war. Hatte sie gerade etwas von einem Kugelfisch gesagt? Yokos Satz blieb im Raum hängen wie eine in sich abgeschlossene, glänzende Kapsel.
»Ein Kugelfisch?« fragte Siri und drückte ihre halbgerauchte Zigarette aus, »diese Nachricht bringt mein ganzes Leben durcheinander.« Yoko schaute sie kurz von der Seite an, dann lenkte sie ihren Blick wieder zurück zu ihrem Beobachter, der ihr jede Silbe von den Lippen abzulesen schien: »Dein Leben ist sowieso ...« »Mein Leben?« fragte Siri und fasste sich an die Ohren. »Wovon redest du?«
Yoko setzte erneut an: »Davon, dass es auch dann durcheinander ist, wenn du deine Zigaretten nur zur Hälfte rauchst, und auch dann, wenn Eduard denkt, dass es das Gegenteil beweist.« Siri schaute zu Eduard hinüber, der mit einem Fremden auf einem Fensterbrett saß und sich unterhielt: »Ich denke das.«
Seit sie Eduards Heiratsantrag angenommen hatte, hatte sie keine einzige Zigarette mehr zu Ende geraucht. Außerdem hatte sie aufgehört, während des Rauchens zu reden und die qualmenden Zigaretten überall herumliegen zu lassen, und hatte so tatsächlich ein gewisses Gefühl von Kontrolle bekommen.
»Ich denke das«, wiederholte Siri, diesmal etwas leiser. »Und ich denke«, sagte Yoko, »dass dein Leben nicht durch einander ist, weil deine Großmutter eine lebenshungrige Frau ist, sondern ... «, dann setzte sie beide Füße geräuschvoll auf, »du bist es auch - trotz allem.«
Siri schluckte und schaute Yoko von der Seite an. Dann sagte sie: »Zwei Angriffe in einem Satz, eine Bedrohung und eine Beleidigung.« Yoko öffnete die linke Manschette ihrer Bluse. Der Mann am anderen Ende des Raums zuckte mit den Augenbrauen und griff sich an seinen Krawatten knoten. Ihre schwarz glänzende Strähne deutete nun wie ein Pfeil auf ihren Mund und verlieh ihren Worten noch mehr Schärfe: »Eduards Schnittmenge mit dir ist klein. Sie hat die Schwerkraft, um dich bei ihm zu halten, aber ein Großteil von dir schwebt angebissen und allein durchs Weltall. Ein einsamer, verglühender Stern.« Siri summte vor sich hin. »Das müsste nicht so sein«, sagte Yoko leiser, wie zu sich selbst, »das müsste wirklich nicht so sein.« Yoko zog die Spitzen ihrer Schuhe nach oben und öffnete die andere Manschette. Der Mann löste den Knoten seiner Krawatte. » Du brauchst nur eine Affäre, um wieder ins Leben zu kommen. Die Dinge klären sich dann. Du hast Eduards Schwerkraft, du hast deinen Sohn, und dann hast du auch wieder Sex. Das hilft, glaub mir«, sagte sie. Siri schüttelte kaum merklich den Kopf. »Und wenn du dich einmal umschaust, scheint es hier mehrere Exemplare zu geben, die dir nur zu gerne dabei behilflich sein würden.«
Siri schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal etwas deutlicher, und blickte dem grauen Rauch nach, den sie gegen die Decke blies. Zum Glück standen sie nicht unter freiem Himmel, zum Glück fand das Fest in einem geschlossenen Raum statt. So konnte sie den Rauch gegen eine Decke blasen und nicht ins Weltall. Den Gedanken an die Unendlichkeit des Universums ertrug sie sowieso nicht.
Sie drückte ihre Zigarette aus, zeigte Yoko die leere Schachtel und ging an die Bar. Dort würde sie bleiben, bis der letzte Gast gegangen war, dann würde sie zu Eduard ins Auto steigen und mit ihm nach Hause fahren. Eduard war doch so ein Exemplar gewesen, das ihr nur allzu gern behilflich gewesen war - und was hatte es gebracht? Aber das war ihr jetzt gleichgültig, jetzt wollte sie nur noch nach Hause, neben ihm liegen und sich von ihm in den Arm nehmen lassen auf seine Art, gegen die sie doch eigentlich nichts hatte. Sie würde einschlafen, und am nächsten Morgen würde sie ihrem Sohn seine Milch warm machen und ein Honigbrötchen schmieren. »Haben Sie Zigaretten?« fragte Siri den Barkeeper. »Für Sie?« fragte der Barkeeper. Siri schaute ihn an. »Sie rauchen zu viel«, sagte der Barkeeper, »oder wollen Sie sterben? Sie wären die schönste Leiche, die ich je gesehen habe.« Was hatte der Mann sie gerade gefragt?
»Wirklich eine spektakulär schöne Leiche«, sagte er. »Ich rauche immer so viel, wenn ich sterben will«, fuhr er fort, als erzählte er von einem Ausflug ins Grüne, »ich hab dann das Gefühl, das Leben etwas schneller zu drehen.« Er machte eine Pause, dann: »Aber das muss ja für Sie nicht gelten.« »Ich will leben«, sagte Siri, und dann fügte sie hinzu: »und rauchen.« Sie lächelte ihn an: »Haben Sie welche?« »Hier«, sagte der Barkeeper und schob ihr eine angebrochene Packung über den Tresen, »behalten Sie's. Heute muss ich nicht. Meine Schwester hat ein Kind bekommen.«
Siri lehnte sich über den Tresen, gab dem Barkeeper einen langen Kuss auf die Wange: »Für das Kompliment mit der Leiche«, und drehte sich der Tanzfläche zu. In den Sofas im linken Teil des Raums drängten sich die letzten Gäste. Aus den Lautsprechern klang noch einmal David Bowies Lied von Major Tom, das vorhin schon einmal gelaufen war. Sie mochte dieses Lied, auch wenn sie das Weltall nicht ertragen konnte. Wieso sie auch noch ein silbernes Kleid angezogen hatte? Auch Friederike schien die Stimmung des Lieds zu gefallen, denn sie hatte sich gerade auf die Tanzfläche bewegt und tanzte nun in der Nähe des Ausgangs mit geschlossenen Augen. Sie trug einen Rock mit bunten Schmetterlingen und einen kurzen Pullover und fuhr sich mit den Fingern mehrmals durch die dunklen Locken. Friederike tanzte mit kleinen, angedeuteten Bewegungen, so als skizzierte sie den Tanz, den sie eigentlich tanzen wollte. Sie drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, aber fast ohne Schwung, bedacht. Siri hatte Friederike schon ganz anders tanzen sehen, normalerweise tanzte Friederike, als vollzöge ihr Körper die Drehungen und Windungen ihrer Haare nach, und nach zwei dieser Tänze waren ihre Wangen rot, und sie musste eine Pause einlegen und Wasser trinken und dann weiter machen, weil ihr Tanz, wenn er einmal angefangen hatte, eine Art Eigenrotation entwickelte, die sich ausdrehen musste, egal wie erschöpft sie war. Siri liebte es, Friederike beim Tanzen zu beobachten, weil sie den Rhythmus in sich spürte wie den eigenen Pulsschlag und dabei nichts Aufdringliches hatte, nichts, was die Zuschauer mit einer schwülen Sinnlichkeit bedrohte. Siri mochte es, weil das Kreiseln so gut zu Friederike und ihrem herrlich drallen Körper passte und sie sich von nichts und niemandem darin beirren ließ.
Aber heute sah ihr Tanzen anders aus. Tom war nicht gekommen; und wenn Friederike etwas noch nie gekonnt hatte, dann ihre Enttäuschung verbergen. Und so kreiselte sie auf der Tanzfläche herum, als würde sie gleich zur Seite kippen und dort liegen bleiben, bis jemand kam, der ihr neuen Schwung geben konnte. Und dieser jemand hätte nur ein bestimmter sein können, nur ein einziger, jeder andere würde sie nicht von der Stelle bekommen. Siri wendete den Kopf ab. Diese Zustände, die Friederike in solchen Momenten befielen, waren unter Friederikes Würde und passten nicht zu ihr. Sie hielt inne: Ob es überhaupt so etwas geben konnte -- dass etwas nicht zu einem passte, obwohl es ein ständiger Begleiter war? So etwas wie Eduard vielleicht, dachte sie dann und musste lachen über diesen Gedanken, weil er so gemein und so treffend war. Zu Friederike passte es jedenfalls nicht, dass sie der Enttäuschung immer wieder die Hoheit über ihr Erleben zuschrieb, dafür war ihr Leben zu reich.
Alison und Victor standen immer noch aneinandergelehnt oder vielleicht besser: ineinandergelehnt da, und Alisons Gesichtszüge waren so entspannt, als schliefe sie. Victors Hand war inzwischen auf ihrem verrutschten Kragen angekommen, sein Blick wanderte von einem Ende des Raumes zum anderen, er winkte einem befreundeten Paar zu und schien die Situation zu genießen. Je entspannter Alison an seiner Seite war, desto größer wurde der Radius, den er überstrahlte. Er war ein König, dachte Siri, der mit einem Handzeichen über alles Mögliche entscheiden konnte, wenn er wollte, und der sich seiner Macht so bewusst war, dass er niemals davon Gebrauch machen würde. Sie konnte ihn nie lange ansehen, sein Blick machte sie verlegen; er machte sie verlegen, weil er so viel von seinem Gegenüber erwartete und sie diesen Erwartungen nicht standhalten konnte. Zwischen Yoko und ihrem Flirt war die Stimmung inzwischen bis zum Zerreißen gespannt. Ganz hinten am Fenster saß Eduard mit einem Fremden auf einem Fensterbrett. Er balancierte einen Aschenbecher auf dem Rücken seines Schuhs und beugte sich zu dem Mann hinunter, um ihn besser zu hören. Er konnte in betrunkenem Zu stand einen Aschenbecher auf dem Fuß balancieren, ohne dabei in seinem Gespräch gestört zu werden. Und er konnte, nicht nur wenn er betrunken war, jedem Menschen etwas abgewinnen - auch diesem Unbekannten, der alles andere als spannend aussah. Auf dem Heimweg würde er ihr etwas über dessen Leben erzählen, das außergewöhnlich und anrührend war. Eduard schmunzelte. Sie mochte ihn doch, warum konnte sie das nicht einfach so stehen lassen? Warum brauchte es immer nur eine Kleinigkeit, um dieses Gefühl in Verachtung umzukippen? Warum musste sie ihn jetzt schon wieder blass finden, nur weil sie den Mann an seiner Seite blass fand? Eduard hielt inne und schaute zu ihr hinüber - zuerst mit unverhohlenem Wohlgefallen auf ihre Beine, ihr silbernes Kleid, dann mit einem langen, zögerlichen Blick in ihre Augen. Sie schaute auf den Boden. Dann sagte sie in den Raum hinein: »Es ist anders, als du denkst.«
Als die Gruppe von Gästen von den Sofas aufbrach, ging Yoko auf den Mann am anderen Ende des Raumes zu. Der Mann hatte sich inzwischen einen Barhocker geholt und saß nun an der Stelle, an der er vorher gestanden hatte. Er hielt ihrem Blick stand, während Yoko eine lange Diagonale durch den Raum schnitt. Sie lehnte sich neben ihn an die Wand und schaute in dem gleichen Winkel in den Raum, in dem er sie beobachtet hatte. Sie wippte auf ihren Absätzen und schwieg. Nach ein, zwei Minuten fragte sie: »Wie ist sie?« Er schaute in den leeren Raum und sagte: »Scharf.« »Und?« Sie schaute auf die Uhr.
»Geschliffen.« »Und?« »Sie wird mir das Ausmaß zeigen.« Yoko schwieg wieder eine Weile, dann sagte sie: »Gehen wir.«
© S. Fisrher Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Alison lehnte ihren Hinterkopf so an Victors Brust, dass sein Kinn auf ihren langen roten Haaren lag. Ihre Haut schimmerte wie vom Mond beschienen, und ihre Augen waren halb geschlossen. Die grüne Seidenbluse hing an einer Seite aus ihrer Hose heraus, und der Kragen war etwas verrutscht. So sah Alison eigentlich fast immer aus, ein bisschen müde oder als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie schien einen Körper zu haben, der Kleider nie an Ort und Stelle trug, der sich seiner Kleider am liebsten entledigen wollte.
Die Musik war langsamer geworden, das Geklapper der Gläser und der Absätze leiser, und einzelne Worte verschwammen in der weinseligen Atmosphäre. Victor nahm sie in den Arm, und ihre Schulter schmiegte sich in seine Achsel, als hätten sie ein gemeinsames Gelenk. Auf der Tanz fläche wiegte sich ein einzelner Mann, der Diskjockey schmuste mit seiner Freundin, und die Mädchen, die die Tabletts mit den Getränken herum getragen hatten, gruppierten sich um eines der Sofas und zogen ihre Schuhe aus. Victors rechter Arm streckte sich zur Seite, um von einem Stehtisch eine Zigarettenpackung zu greifen, während sein Kinn auf Alisons Kopf ruhen blieb. Ihr Hals und ihr Oberkörper folgten dem Arm, ohne dass sie dabei ins Wanken geriet. Als er das Päckchen erwischt hatte, zog seine linke Hand ihre linke Schulter wieder zurück in die Mitte. Er hob seinen Kopf und steckte sich eine Zigarette in den Mund, während seine linke Hand ihren Arm hinunter am Ellbogen entlang auf ihren Bauch wanderte. Sie löste ihren Arm vom Körper, griff in seine Jackentasche, holte mit immer noch geschlossenen Lidern ein Feuerzeug heraus und streckte es über ihren Kopf vor seine Zigarette. Nachdem er seinen ersten Zug genommen hatte, strich sie ihm über den Nacken und legte ihre halbgeöffnete Faust mit dem Feuerzeug hinter seinen Kopf.
All das geschah in einer einzigen Bewegung. Sie tanzten miteinander, ohne es zu merken, und glichen so weniger einem Tangopaar als einer mehrarmigen indischen Gottheit oder einem Körper, der aus irgendeinem Grund die Fähigkeit hatte, sich zu teilen und getrennte Wege zu gehen. Hätte sie zu dieser Zeit geahnt, dass kaum ein Monat vergehen würde, bis sie sich verlieren würden, dann hätte sie versucht, sein Handgelenk zu greifen und es nicht mehr loszulassen, dann hätte sie aufgehört zu tanzen, den Tanz geopfert für das, was sie sonst verlieren würde; wenn sie gewusst hätte, dass er einfach verschwinden würde, dann hätte sie ihn vielleicht festgehalten. Aber sie hatte es nicht einmal geahnt, denn sein Verschwinden war genau wie der Tanz, den sie miteinander tanzten. Victor verschwand mit einer großen Geschmeidigkeit, die keinerlei Verkantungen vorausschickte, keinerlei Irritationen. Ihr Zusammensein endete mit der gleichen Leichtigkeit, mit der es angefangen hatte - nur dass es sich anders an fühlte, ganz anders.
Alison und Victor schauten in den Raum, der sich langsam leerte, und beobachteten die verbliebenen Gäste. Siri stand allein an einem Tisch - die blonden Haare aus dem Gesicht gekämmt, schön und nervös wie immer; sie klappte ihre Zigarettenpackung auf und zu und nestelte an dem Silberpapier herum. Alison hatte heute Abend noch keine Zeit gehabt, sich mit ihr zu unterhalten, aber irgendetwas stimmte nicht, denn die Nervosität verwackelte das ansonsten scharf gestochene Bild ihrer Schönheit. Gleich würde sie hinübergehen und fragen, was los sei, noch genoss sie den Moment mit Victor zu sehr, um sich lösen zu können; außerdem kam langsam die Erschöpfung bei ihr an, die das ausklingende Fest begleitete.
Eines der Mädchen, das den Abend über bedient hatte, stand vom Sofa auf und näherte sich dem Mann, der sich immer noch alleine auf der Tanzfläche wiegte. Das Mädchen fing an, sich zu drehen und die Arme über den Kopf zu heben. Der Mann blinzelte zwischen den Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, und Alison sah ihm an, dass er das Angebot nur zu gerne angenommen hätte. Statt dessen hob er lächelnd die Schultern, machte eine unsichere, charmante Verbeugung und legte die Hände vor seiner Brust zusammen. Das Mädchen lächelte zurück, formte ihre Lippen zu dem Wort ›schade‹, drehte sich noch eine Weile und ging dann wieder zurück zu den anderen. Siri stand immer noch allein am Rand der Tanzfläche. Sie trug ein enges silbernes Kleid und hohe silberne Schuhe, was das Gereizte ihrer Stimmung noch unterstrich.
»Mit wem sprichst du eigentlich?« fragte Yoko, als sie auf Siri zukam. »Mit dem heiligen Geist? Oder betest du deine Zigaretten an?«
»Heiliger Geist? Schön wär's«, antwortete Siri und zog an ihrer Zigarette. »Was ist mit dir?« fragte Yoko, und ihr Mund bewegte sich dabei kaum. »Du rauchst schon den ganzen Abend, als gäbe es kein Morgen mehr.«
Siri schaute auf den Filter ihrer Zigarette, den ein tiefschwarzer Fleck zierte. Sie hatte es auch mit Trinken versucht, aber der Alkohol hatte das Unwohlsein in ihrem Inneren eher zementiert als verflüchtigt: »Meine Großmutter hat meinen Großvater verlassen.« Yoko stockte kurz, dann sagte sie mit ihrer tiefen Stimme: »Das ist ja wunderbar«, und lächelte dem Mann am anderen Ende des Raumes, der sie schon die ganze Zeit unverhohlen beobachtete, dabei kaum merklich zu, »sie lebt noch.« Siri folgte ihrem Blick quer durch den Raum. Wunderbar? Sie nahm Yoko das Glas Wodka aus der Hand. Ein letzter Versuch. Die Flüssigkeit kam kalt an dem Ort an, an dem mal ihr Magen gewesen war, und vermischte sich mit dem inhalierten Rauch: »Sie waren glücklich miteinander. Wenn ich an irgend was nie gezweifelt habe, dann ... « »Glück«, Yoko wippte mit ihren hohen Absätzen auf und ab. »Mein Vater hat immer gesagt: Glück ist wie das Gift des Kugelfischs - eine kleine Dosis davon berauscht das Leben und heizt den Hunger an, aber ein Hauch zu viel und ... «
Siri schaute Yoko an. Was hatte sie da gerade gesagt? Sie blickte an ihr hinab, als könnte sie so noch einmal rekonstruieren, was sie gerade gesagt hatte. Yoko hatte wie immer et was Schwarzes und etwas Weißes an, sie schien überhaupt nur schwarze und weiße Kleider zu besitzen. Der Rock war asymmetrisch geschnitten und die Bluse an den Seiten gerafft. Eine schwarze Strähne hing ihr in die blasse Stirn, und ihre Lippen glänzten dunkelrot, als wären sie versiegelt. Sie erinnerte sie an die dunkelhaarige Frau in dem Film Being John Malkovich, obwohl die Schauspielerin keine Japanerin war. Hatte sie gerade etwas von einem Kugelfisch gesagt? Yokos Satz blieb im Raum hängen wie eine in sich abgeschlossene, glänzende Kapsel.
»Ein Kugelfisch?« fragte Siri und drückte ihre halbgerauchte Zigarette aus, »diese Nachricht bringt mein ganzes Leben durcheinander.« Yoko schaute sie kurz von der Seite an, dann lenkte sie ihren Blick wieder zurück zu ihrem Beobachter, der ihr jede Silbe von den Lippen abzulesen schien: »Dein Leben ist sowieso ...« »Mein Leben?« fragte Siri und fasste sich an die Ohren. »Wovon redest du?«
Yoko setzte erneut an: »Davon, dass es auch dann durcheinander ist, wenn du deine Zigaretten nur zur Hälfte rauchst, und auch dann, wenn Eduard denkt, dass es das Gegenteil beweist.« Siri schaute zu Eduard hinüber, der mit einem Fremden auf einem Fensterbrett saß und sich unterhielt: »Ich denke das.«
Seit sie Eduards Heiratsantrag angenommen hatte, hatte sie keine einzige Zigarette mehr zu Ende geraucht. Außerdem hatte sie aufgehört, während des Rauchens zu reden und die qualmenden Zigaretten überall herumliegen zu lassen, und hatte so tatsächlich ein gewisses Gefühl von Kontrolle bekommen.
»Ich denke das«, wiederholte Siri, diesmal etwas leiser. »Und ich denke«, sagte Yoko, »dass dein Leben nicht durch einander ist, weil deine Großmutter eine lebenshungrige Frau ist, sondern ... «, dann setzte sie beide Füße geräuschvoll auf, »du bist es auch - trotz allem.«
Siri schluckte und schaute Yoko von der Seite an. Dann sagte sie: »Zwei Angriffe in einem Satz, eine Bedrohung und eine Beleidigung.« Yoko öffnete die linke Manschette ihrer Bluse. Der Mann am anderen Ende des Raums zuckte mit den Augenbrauen und griff sich an seinen Krawatten knoten. Ihre schwarz glänzende Strähne deutete nun wie ein Pfeil auf ihren Mund und verlieh ihren Worten noch mehr Schärfe: »Eduards Schnittmenge mit dir ist klein. Sie hat die Schwerkraft, um dich bei ihm zu halten, aber ein Großteil von dir schwebt angebissen und allein durchs Weltall. Ein einsamer, verglühender Stern.« Siri summte vor sich hin. »Das müsste nicht so sein«, sagte Yoko leiser, wie zu sich selbst, »das müsste wirklich nicht so sein.« Yoko zog die Spitzen ihrer Schuhe nach oben und öffnete die andere Manschette. Der Mann löste den Knoten seiner Krawatte. » Du brauchst nur eine Affäre, um wieder ins Leben zu kommen. Die Dinge klären sich dann. Du hast Eduards Schwerkraft, du hast deinen Sohn, und dann hast du auch wieder Sex. Das hilft, glaub mir«, sagte sie. Siri schüttelte kaum merklich den Kopf. »Und wenn du dich einmal umschaust, scheint es hier mehrere Exemplare zu geben, die dir nur zu gerne dabei behilflich sein würden.«
Siri schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal etwas deutlicher, und blickte dem grauen Rauch nach, den sie gegen die Decke blies. Zum Glück standen sie nicht unter freiem Himmel, zum Glück fand das Fest in einem geschlossenen Raum statt. So konnte sie den Rauch gegen eine Decke blasen und nicht ins Weltall. Den Gedanken an die Unendlichkeit des Universums ertrug sie sowieso nicht.
Sie drückte ihre Zigarette aus, zeigte Yoko die leere Schachtel und ging an die Bar. Dort würde sie bleiben, bis der letzte Gast gegangen war, dann würde sie zu Eduard ins Auto steigen und mit ihm nach Hause fahren. Eduard war doch so ein Exemplar gewesen, das ihr nur allzu gern behilflich gewesen war - und was hatte es gebracht? Aber das war ihr jetzt gleichgültig, jetzt wollte sie nur noch nach Hause, neben ihm liegen und sich von ihm in den Arm nehmen lassen auf seine Art, gegen die sie doch eigentlich nichts hatte. Sie würde einschlafen, und am nächsten Morgen würde sie ihrem Sohn seine Milch warm machen und ein Honigbrötchen schmieren. »Haben Sie Zigaretten?« fragte Siri den Barkeeper. »Für Sie?« fragte der Barkeeper. Siri schaute ihn an. »Sie rauchen zu viel«, sagte der Barkeeper, »oder wollen Sie sterben? Sie wären die schönste Leiche, die ich je gesehen habe.« Was hatte der Mann sie gerade gefragt?
»Wirklich eine spektakulär schöne Leiche«, sagte er. »Ich rauche immer so viel, wenn ich sterben will«, fuhr er fort, als erzählte er von einem Ausflug ins Grüne, »ich hab dann das Gefühl, das Leben etwas schneller zu drehen.« Er machte eine Pause, dann: »Aber das muss ja für Sie nicht gelten.« »Ich will leben«, sagte Siri, und dann fügte sie hinzu: »und rauchen.« Sie lächelte ihn an: »Haben Sie welche?« »Hier«, sagte der Barkeeper und schob ihr eine angebrochene Packung über den Tresen, »behalten Sie's. Heute muss ich nicht. Meine Schwester hat ein Kind bekommen.«
Siri lehnte sich über den Tresen, gab dem Barkeeper einen langen Kuss auf die Wange: »Für das Kompliment mit der Leiche«, und drehte sich der Tanzfläche zu. In den Sofas im linken Teil des Raums drängten sich die letzten Gäste. Aus den Lautsprechern klang noch einmal David Bowies Lied von Major Tom, das vorhin schon einmal gelaufen war. Sie mochte dieses Lied, auch wenn sie das Weltall nicht ertragen konnte. Wieso sie auch noch ein silbernes Kleid angezogen hatte? Auch Friederike schien die Stimmung des Lieds zu gefallen, denn sie hatte sich gerade auf die Tanzfläche bewegt und tanzte nun in der Nähe des Ausgangs mit geschlossenen Augen. Sie trug einen Rock mit bunten Schmetterlingen und einen kurzen Pullover und fuhr sich mit den Fingern mehrmals durch die dunklen Locken. Friederike tanzte mit kleinen, angedeuteten Bewegungen, so als skizzierte sie den Tanz, den sie eigentlich tanzen wollte. Sie drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, aber fast ohne Schwung, bedacht. Siri hatte Friederike schon ganz anders tanzen sehen, normalerweise tanzte Friederike, als vollzöge ihr Körper die Drehungen und Windungen ihrer Haare nach, und nach zwei dieser Tänze waren ihre Wangen rot, und sie musste eine Pause einlegen und Wasser trinken und dann weiter machen, weil ihr Tanz, wenn er einmal angefangen hatte, eine Art Eigenrotation entwickelte, die sich ausdrehen musste, egal wie erschöpft sie war. Siri liebte es, Friederike beim Tanzen zu beobachten, weil sie den Rhythmus in sich spürte wie den eigenen Pulsschlag und dabei nichts Aufdringliches hatte, nichts, was die Zuschauer mit einer schwülen Sinnlichkeit bedrohte. Siri mochte es, weil das Kreiseln so gut zu Friederike und ihrem herrlich drallen Körper passte und sie sich von nichts und niemandem darin beirren ließ.
Aber heute sah ihr Tanzen anders aus. Tom war nicht gekommen; und wenn Friederike etwas noch nie gekonnt hatte, dann ihre Enttäuschung verbergen. Und so kreiselte sie auf der Tanzfläche herum, als würde sie gleich zur Seite kippen und dort liegen bleiben, bis jemand kam, der ihr neuen Schwung geben konnte. Und dieser jemand hätte nur ein bestimmter sein können, nur ein einziger, jeder andere würde sie nicht von der Stelle bekommen. Siri wendete den Kopf ab. Diese Zustände, die Friederike in solchen Momenten befielen, waren unter Friederikes Würde und passten nicht zu ihr. Sie hielt inne: Ob es überhaupt so etwas geben konnte -- dass etwas nicht zu einem passte, obwohl es ein ständiger Begleiter war? So etwas wie Eduard vielleicht, dachte sie dann und musste lachen über diesen Gedanken, weil er so gemein und so treffend war. Zu Friederike passte es jedenfalls nicht, dass sie der Enttäuschung immer wieder die Hoheit über ihr Erleben zuschrieb, dafür war ihr Leben zu reich.
Alison und Victor standen immer noch aneinandergelehnt oder vielleicht besser: ineinandergelehnt da, und Alisons Gesichtszüge waren so entspannt, als schliefe sie. Victors Hand war inzwischen auf ihrem verrutschten Kragen angekommen, sein Blick wanderte von einem Ende des Raumes zum anderen, er winkte einem befreundeten Paar zu und schien die Situation zu genießen. Je entspannter Alison an seiner Seite war, desto größer wurde der Radius, den er überstrahlte. Er war ein König, dachte Siri, der mit einem Handzeichen über alles Mögliche entscheiden konnte, wenn er wollte, und der sich seiner Macht so bewusst war, dass er niemals davon Gebrauch machen würde. Sie konnte ihn nie lange ansehen, sein Blick machte sie verlegen; er machte sie verlegen, weil er so viel von seinem Gegenüber erwartete und sie diesen Erwartungen nicht standhalten konnte. Zwischen Yoko und ihrem Flirt war die Stimmung inzwischen bis zum Zerreißen gespannt. Ganz hinten am Fenster saß Eduard mit einem Fremden auf einem Fensterbrett. Er balancierte einen Aschenbecher auf dem Rücken seines Schuhs und beugte sich zu dem Mann hinunter, um ihn besser zu hören. Er konnte in betrunkenem Zu stand einen Aschenbecher auf dem Fuß balancieren, ohne dabei in seinem Gespräch gestört zu werden. Und er konnte, nicht nur wenn er betrunken war, jedem Menschen etwas abgewinnen - auch diesem Unbekannten, der alles andere als spannend aussah. Auf dem Heimweg würde er ihr etwas über dessen Leben erzählen, das außergewöhnlich und anrührend war. Eduard schmunzelte. Sie mochte ihn doch, warum konnte sie das nicht einfach so stehen lassen? Warum brauchte es immer nur eine Kleinigkeit, um dieses Gefühl in Verachtung umzukippen? Warum musste sie ihn jetzt schon wieder blass finden, nur weil sie den Mann an seiner Seite blass fand? Eduard hielt inne und schaute zu ihr hinüber - zuerst mit unverhohlenem Wohlgefallen auf ihre Beine, ihr silbernes Kleid, dann mit einem langen, zögerlichen Blick in ihre Augen. Sie schaute auf den Boden. Dann sagte sie in den Raum hinein: »Es ist anders, als du denkst.«
Als die Gruppe von Gästen von den Sofas aufbrach, ging Yoko auf den Mann am anderen Ende des Raumes zu. Der Mann hatte sich inzwischen einen Barhocker geholt und saß nun an der Stelle, an der er vorher gestanden hatte. Er hielt ihrem Blick stand, während Yoko eine lange Diagonale durch den Raum schnitt. Sie lehnte sich neben ihn an die Wand und schaute in dem gleichen Winkel in den Raum, in dem er sie beobachtet hatte. Sie wippte auf ihren Absätzen und schwieg. Nach ein, zwei Minuten fragte sie: »Wie ist sie?« Er schaute in den leeren Raum und sagte: »Scharf.« »Und?« Sie schaute auf die Uhr.
»Geschliffen.« »Und?« »Sie wird mir das Ausmaß zeigen.« Yoko schwieg wieder eine Weile, dann sagte sie: »Gehen wir.«
© S. Fisrher Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
... weniger
Autoren-Porträt von Annika Reich
Annika Reich wurde 1973 in München geboren und lebt in Berlin. Sie ist Gastdozentin an der Kunstakademie Düsseldorf und Kolumnistin von »10 nach 8« auf Zeit-Online, 2016 hat sie das Aktionsbündnis »Wir machen das« mitbegründet. 2003 erschien die Erzählung 'Teflon', 2010 folgte der Roman 'Durch den Wind', 2012 der zweite Roman '34 Meter über dem Meer', im Frühjahr 2015 der Roman 'Die Nächte auf ihrer Seite' und im Herbst 2016 ihr erstes Kinderbuch 'LOTTO macht, was sie will'.Literaturpreise:2003 Arbeitsstipendium des Berliner Senats
Bibliographische Angaben
- Autor: Annika Reich
- 2010, 2. Aufl., 334 Seiten, Maße: 12,6 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191408
- ISBN-13: 9783596191406
- Erscheinungsdatum: 06.12.2011
Kommentar zu "Durch den Wind"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Durch den Wind".
Kommentar verfassen