Ein Bräutigam und zwei Bräute
Geschichten
27 Geschichten des Literaturnobelpreisträgers Singer (1904 - 1991): eine Chronik der untergegangenen Welt des Ostjudentums. Singers Geschichten erzählen vom »Hof« seines Vaters. Vom »Beth Din«, der Synagoge, Schule, Gerichtshof und psychologische Praxis in...
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Produktinformationen zu „Ein Bräutigam und zwei Bräute “
27 Geschichten des Literaturnobelpreisträgers Singer (1904 - 1991): eine Chronik der untergegangenen Welt des Ostjudentums. Singers Geschichten erzählen vom »Hof« seines Vaters. Vom »Beth Din«, der Synagoge, Schule, Gerichtshof und psychologische Praxis in einem war. Die Erzählungen ergeben ein Porträt des Schriftstellers als ganz junger Mann. Und wie in seinen Romanen wimmelt es auch hier vor exzentrischen und außergewöhnlichen Charakteren. Mit: - Chaim der Schlosser - Ein Rabbi, anders als mein Vater - Feine Juden, aber... - Eine ungewöhnliche Hochzeit - u.a.
Klappentext zu „Ein Bräutigam und zwei Bräute “
Neues vom Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer: 27 Geschichten des großen Erzählers liegen hier erstmals auf Deutsch vor. So erzählt er von einem Handwerker, der eine Prostituierte heiraten will, oder von einem armen Klempner, der alles dafür gibt, um aus seinem Sohn einen Rabbi zu machen. Ein faszinierendes Bild der untergegangenen Welt des Ostjudentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Lese-Probe zu „Ein Bräutigam und zwei Bräute “
Aus dem Amerikanischen von Sylvia ListEin Stück Finsternis
Die Tür ging auf, und eine alte Frau mit Stock trat ein. Sie war nicht weiß, sondern schwarz: Sie trug eine zottelige schwarze Frauenperücke, hatte ein dunkles, runzliges Gesicht, schwarze Augen, ein schwarzes Bärtchen an der Spitze ihres vorstehenden Doppelkinns – und sie trug ein schwarzes Umschlagtuch und ein so langes schwarzes Kleid, daß es den Boden hinter ihr zu fegen schien. Mit hohem Alter verbindet man gewöhnlich Ruhe und Frieden, aber bei dieser Frau hatte es etwas Finsteres, Hexenhaftes. Überall sprossen ihr Barthaare und Warzen.
Sie hatte jedoch ein jüdisches Anliegen. Sie sei alt, sagte sie. Sie hatte ein wenig Geld gespart, das sie bei Lebzeiten nicht aufbrauchen würde. Da sie kinderlos war, wollte sie einen achtbaren Mann verpflichten, der eines Tages zu ihrem Andenken Kaddisch sagen würde. Sie schlug vor, mein Vater solle das tun, und war bereit, ihm einen Vorschuß von hundert Rubeln zu geben. Der Rest sollte nach ihrer Beerdigung gezahlt werden.
Wir hätten das Geld gut gebrauchen können, aber mein Vater lehnte ab. Er sagte, niemand wisse, was morgen sei. Wie könne er da Geld von ihr annehmen? Niemand habe einen Vertrag mit dem Allmächtigen. Ich spürte, daß Vater noch andere Bedenken hatte. Er wollte nicht vom Tod eines anderen profitieren, selbst wenn es der einer alten Frau war. Die ganze Sache war ihm zuwider.
Doch die alte Frau ließ nicht locker. Wenn der Rabbi ihr nicht helfen könne, wer dann, forderte sie laut und pochte mit dem Stock. Vater überlegte, wer diese Aufgabe übernehmen könnte, und fand rasch den rechten Mann. Im Bethaus gab es einen kleinen Mann mit grauem Bärtchen, frischer Gesichtsfarbe und jungen Augen. Obwohl nicht mehr der Jüngste, hatte er noch immer einen munteren Gang. Er trank oft, dachte sich Geschichten aus und machte seine Späßchen. Ganz offensichtlich war er gesund, Gott sei Dank, und würde noch viele Jahre zu leben haben. Er war ein
... mehr
kleiner Krämer gewesen, doch jetzt unterstützte ihn sein Schwiegersohn, ein wohlhabender Obstgroßhändler. Vater ließ den Mann holen. Als er ihm die Bitte der Alten vortrug, war der Mann sofort einverstanden. Er rieb sich die geröteten Hände und sagte: »Warum nicht? Kaddisch ist Kaddisch.«
Die Alte starrte ihn finster an. Ihre schwarzen Augen schienen sich in ihn hineinzubohren, um seine innersten Geheimnisse zu ergründen. Nach einem kurzen Augenblick rief sie: »Er soll bei dem Totengebet für mich auch Vorbeter sein.«
»Warum nicht? Ich mache den Vorbeter.«
»Ein ganzes Jahr lang!« stieß die Alte zornig hervor.
»Gewiß, das ganze Jahr hindurch.«
»Und an meinem Todestag soll ein Jahrzeitlicht für mich entzündet werden, und Sie müssen die Mischna studieren.«
»Die Mischna studiere ich sowieso...«
»Ich will einen Vertrag und einen Handschlag.«
Hier schaltete Vater sich endlich ein: »Wir können eine schriftliche Vereinbarung treffen, aber ein Handschlag ist nicht nötig. Wenn ein Jude ein Versprechen abgibt, hält er sein Wort, so Gott will.«
»Sie, Rabbi, würden Ihr Versprechen halten, aber ihm traue ich nicht!« erklärte die Frau mit einer Heftigkeit, die ihr Alter Lügen strafte.
»Wenn Sie ihm nicht trauen, hat es keinen Sinn«, sagte Vater. »Bei einer solchen Sache muß man darauf vertrauen, daß der andere Wort hält.«
»Rabbi, Ihnen vertraue ich.«
Der grauhaarige Mann stand die ganze Zeit dabei, und seine Miene sagte: Wie immer es läuft, ich kann gut ohne diese Frau auskommen... Er trug einen wattierten grauen Kaftan, eine Plüschkappe, ein rotes Halstuch und Lederstiefel, die unverwüstlich aussahen. Seine von Äderchen überzogenen roten Wangen zeigten deutlich, daß er gerne trank und voller Lebenssaft war. Er holte eine Schnupftabakdose heraus, schüttete sich eine Prise in die Hand und zog sie durch seine behaarten Nasenlöcher tief ein. Er nieste nicht einmal. Wir Chederschüler sagten immer, nicht zu niesen sei ein sicheres Zeichen, daß der Tabak direkt ins Gehirn ging...
Schließlich setzten sie einen Vertrag auf, und der Mann unterschrieb. Als er vorschlug, den Abschluß mit einem Glas Schnaps zu besiegeln, schickte die Alte mich hinunter, um eine Flasche und Eierküchel zu besorgen. Der Mann schenkte sich ein großes Glas ein, und die Frau selber trank auch eins. Vater trank nicht. Der Mann, der Kaddischbeter, füllte sich das Glas zum zweitenmal und rief: »Jetzt haben Sie einen, der für Sie Kaddisch sagt – mögen Sie noch hundertzwanzig Jahre leben!«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Wozu ist mein Leben nütze?«
Sie hatte vorgehabt, meinem Vater hundert Rubel Vorschuß zu zahlen, doch dem Alten gab sie nur fünfundzwanzig und versprach, der Rest werde nach ihrem Tod beglichen. Der Alte willigte in alles ein und verschwand dann.
Die Frau blieb noch; sie kam in die Küche und deutete Mutter an, daß sie mit dem Handel nicht zufrieden war. Sie habe kein Vertrauen zu diesem Menschen. Meine Mutter hörte
sie an und sagte: »Das beste ist, für sich selbst Kaddisch zu sagen.«
»Wie soll das denn gehen, meine Liebe?«
»Man tut gute Werke. Man betet. Man wahrt Jüdischkeit. Man spricht nicht schlecht von anderen. All das ist besser als das beste Kaddisch.«
Die Alte sann darüber nach und ging dann.
Einige Monate vergingen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und die Alte humpelte herein, schwarz wie eine Krähe. Selbst ihre Nase glich einem Krähenschnabel.
»Rebbezin, ich bin hereingelegt worden.«
»Was ist passiert?«
»Stellen Sie sich vor, dieser dämliche Windbeutel will heiraten.«
Offenbar wollte der alte Mann, ihr Kaddischbeter, ein Miststück heiraten, das auf dem Markt faulige Äpfel verkaufte.
Im ersten Augenblick war Mutter überrascht, dann fragte sie: »Was ist daran so schlimm? Er hat Ihnen versprochen, Kaddisch zu sagen, und wird das auch tun.«
»Seine Frau wird es nicht zulassen.«
»Warum nicht?«
»Weil sie ein Biest ist.«
Die Frau bestand darauf, daß wir ihren Kaddischbeter holten. Ich mußte nicht allzuweit laufen, denn das Ganze spielte sich in unserem Hof ab. Der Mann saß im Bethaus und erzählte Geschichten. Er kam sofort mit. Kaum erblickte er die Alte, funkelten seine Augen.
»Was will sie diesmal?«
Die Alte erklärte, da er heiraten wolle, reue sie der ganze Handel.
»Reue und Geschäft sind zwei Paar Stiefel«, erwiderte der alte Mann.
Die Alte wollte ihre fünfundzwanzig Rubel zurück, aber der Mann sagte, er habe sie schon ausgegeben. Er scharrte ungeduldig mit den dickbesohlten Lederstiefeln. »So ein Schlamassel!« entfuhr es ihm.
Es war kein einfacher Rechtsstreit. Der Mann stritt nichts ab. Er hatte das Geld schon verbraucht. Er hatte mit der Alten nicht vereinbart, daß er nicht heiraten dürfe. Für einen Vergleich war kein Raum, weil der Mann nicht willens war, auch nur eine einzige Kopeke zurückzuzahlen. Vater sagte, die Heirat des Mannes sei kein Hindernis, Kaddisch zu sagen. Wie sollte denn das eine mit dem anderen zu tun haben? Aber die Alte war wütend. Ihr Gebrummel und Gemurmel verhieß nichts Gutes. Sie starrte den Mann finster an. Mir kam es
vor, als wolle sie ihn mit dem bösen Blick verhexen und ihn vernichten.
»Ich werde mir jemand anderes suchen müssen«, rief sie.
»Warum denn? Ich werde für Sie Kaddisch sagen.«
»Ich will Ihr Kaddisch nicht.«
»Dann eben nicht.«
»Das Geld, das er von mir hat, wird ihm Unglück bringen«, prophezeite die Alte düster.
Der alte Mann heiratete. Ein paar Wochen nach der Hochzeit kam er ins Bethaus. Seine roten Wangen waren fahl geworden. Er ging gebückt. Die Stiefel schienen ihm jetzt viel
zu groß. Die Männer im Bethaus hänselten ihn: »Na, wie geht’s dem jungen Ehemann?«
Der Mann spuckte aus. »Nicht gut.«
»Was ist los?«
»Eine Hexe, das niederträchtigste Stück, das man sich vorstellen kann.«
»Was will sie denn?«
»Was weiß ich? Sie piesackt mich. Sie läßt mich mit ihrem Gekeife nachts nicht schlafen. Sie weckt die Nachbarn. Die Leute kommen und hämmern gegen die Tür.«
»Also, was will sie?«
»Weiß der Kuckuck. Sie redet wie eine Irre, möge das keinem von uns widerfahren!«
»Und was willst du nun tun? Zurückgehen zu deiner Tochter?«
»Sie würde mich nicht aufnehmen.«
»Wieso?«
»Sie ist wütend, daß ich geheiratet habe.«
»Und was jetzt?«
»Es sieht schlecht aus.«
Der Mann hatte sich mit Tochter und Schwiegersohn zerstritten und ein halbverrücktes Marktweib geheiratet. Sein graues Bärtchen war schneeweiß geworden.
Er erzählte keine Geschichten mehr. Er saß im Bethaus
und psalmodierte wehklagend, wie für einen Schwerkranken. Mehrmals ging er zum Schlafen nicht nach Hause. Am Morgen fand der Schammes ihn auf einer Bank liegend, einen zerschlissenen Gebetsmantel unter dem Kopf.
Nach einer Weile hörte man, er habe sich von dem Marktweib scheiden lassen, aber seine Tochter lasse ihn nach wie vor nicht in ihr Haus. Er hatte ihre Mutter durch eine ordinäre Marktvettel ersetzt – und das konnte seine Tochter ihm nicht verzeihen. Der Mann unternahm Schritte, um ins Altersheim aufgenommen zu werden, aber dort sagte man ihm, er sei zu jung. Außerdem hätte er auch eine Mitgift einbringen müssen, wie – man verzeihe den Vergleich – eine Nonne, die in ein Kloster eintreten will.
Da tauchte die Alte mit dem schwarzen Bärtchen wieder auf. Sie fing an, Hafergrütze für ihn zu kochen, seine Strümpfe
zu stopfen, seine Hemden und Unterhosen zu waschen. Sie wurde seine Beschützerin. Diese Frau, für die er Kaddisch sagen sollte, verhielt sich auf einmal wie eine Ehefrau.
Nicht lange, und das Unvermeidliche geschah. Die Alte kam zu uns und verkündete, daß sie gewillt sei, diesen Mann zu heiraten, der für sie hätte Kaddisch sagen sollen und der sicherlich zwanzig Jahre jünger war als sie.
Bei dieser Rede pochte sie mit ihrem Stock auf den Boden. Ihr Bärtchen zitterte. Die Warzen in ihrem Gesicht hüpften flink. Für eine Frau ist es nicht schlimm, allein zu sein, erklärte sie. Wozu brauchte sie einen Mann? Sie kocht sich ein bißchen was zu essen, wäscht ihre paar Sachen, fegt ihre Wohnung, und schon ist alles in bester Ordnung. Wenn sie hin und wieder nachts Bauchschmerzen bekommt, erhitzt sie einen Topfdeckel und legt ihn sich auf den Leib. Ein Mann aber ist wie ein verlassenes Kind. Er kann nicht kochen, nicht Wäsche waschen, nicht saubermachen. Wenn man nicht für ihn sorgt, verwahrlost er völlig. Da er sowieso Kaddisch für sie sagen werde, könne er ebensogut auch ihr Ehemann werden. Sie habe eine Wohnung und etwas Geld. Er werde bestimmt nicht verhungern. »Die paar Jahre, die ich noch habe, sollten wir in Anstand leben«, setzte sie hinzu.
Mutter hörte ihr zu und schwieg. Der alte Mann kam auch dazu. Er hatte keine große Lust zu dieser Verbindung, aber er sagte: »Habe ich denn die Wahl? Meine Tochter will mich nicht, also muß sich irgendwer meiner erbarmen... und ich bin nicht mehr kräftig genug, um auf einer harten Bank zu schlafen.«
Er heiratete – hatte aber anscheinend nicht das große Los gezogen. Wieder saß er im Bethaus und psalmodierte wehklagend.
Die jungen Leute fingen an, ihn auszufragen. Sie wollten wissen, ob er der Hexe nähergetreten sei, aber der alte Mann fauchte: »Ich bin nicht verpflichtet, euch Auskunft zu geben.«
»Wie alt ist sie?«
»Ich habe ihre Jahre nicht gezählt.«
»Hat sie ein Reisigbündel?«
»Werdet nicht frech!« rief der alte Mann. »Zurück an eure Bücher!«
Eines Winterabends, zwischen Nachmittags- und Abendgebet, klagte der Alte, er sei stark erkältet. Er ging nach Hause, erschien anderntags aber nicht zum Morgengebet. Auch am folgenden Morgen kam er nicht ins Bethaus. Dort meinte man, man werde ihm wohl einen Krankenbesuch abstatten müssen. Doch es war schon zu spät – der Kaddischbeter war gestorben.
Bei der Beerdigung brach zwischen der Witwe und der Tochter des alten Mannes Streit aus. Nach den sieben Tagen der Schiwe kam die Alte zu Vater und verlangte, er solle einen neuen Kaddischbeter für sie suchen. Und noch eins: Da ihr Ehemann keinen Sohn hinterlassen habe und sein Schwiegersohn ein Grobian, Flegel und Schurke sei, sei sie bereit, zusätzlich ein paar Rubel aufzuwenden für jemanden, der für ihn Kaddisch sagte.
Die Alte stand in der Küche, kohlrabenschwarz, mit verzerrtem Gesicht, schiefem Mund – ein Stück Finsternis. Eine dämonische Kraft ging von ihr aus. Meine Mutter kam normalerweise allen Leuten freundlich entgegen, aber gegen diese alte Mörderin zeigte sie offenen Widerwillen. Vater sagte,
er wisse keinen anderen Kaddischbeter, und deutete an, sie möge ihn in Ruhe lassen. Doch sie ging nicht sogleich. Ihr Blick strahlte grimmige Entschlossenheit aus, die gespenstische Selbstsicherheit derer, die zu lange gelebt haben und den Todesengel nicht mehr fürchten. Ich war damals noch ein kleiner Junge, aber ich spürte genau, daß die Alte auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihren Kaddischbeter umgebracht hatte. Einer Spinne gleich, hatte sie ihn in ihrem Netz gefangen und vernichtet.
Die Alte starrte ihn finster an. Ihre schwarzen Augen schienen sich in ihn hineinzubohren, um seine innersten Geheimnisse zu ergründen. Nach einem kurzen Augenblick rief sie: »Er soll bei dem Totengebet für mich auch Vorbeter sein.«
»Warum nicht? Ich mache den Vorbeter.«
»Ein ganzes Jahr lang!« stieß die Alte zornig hervor.
»Gewiß, das ganze Jahr hindurch.«
»Und an meinem Todestag soll ein Jahrzeitlicht für mich entzündet werden, und Sie müssen die Mischna studieren.«
»Die Mischna studiere ich sowieso...«
»Ich will einen Vertrag und einen Handschlag.«
Hier schaltete Vater sich endlich ein: »Wir können eine schriftliche Vereinbarung treffen, aber ein Handschlag ist nicht nötig. Wenn ein Jude ein Versprechen abgibt, hält er sein Wort, so Gott will.«
»Sie, Rabbi, würden Ihr Versprechen halten, aber ihm traue ich nicht!« erklärte die Frau mit einer Heftigkeit, die ihr Alter Lügen strafte.
»Wenn Sie ihm nicht trauen, hat es keinen Sinn«, sagte Vater. »Bei einer solchen Sache muß man darauf vertrauen, daß der andere Wort hält.«
»Rabbi, Ihnen vertraue ich.«
Der grauhaarige Mann stand die ganze Zeit dabei, und seine Miene sagte: Wie immer es läuft, ich kann gut ohne diese Frau auskommen... Er trug einen wattierten grauen Kaftan, eine Plüschkappe, ein rotes Halstuch und Lederstiefel, die unverwüstlich aussahen. Seine von Äderchen überzogenen roten Wangen zeigten deutlich, daß er gerne trank und voller Lebenssaft war. Er holte eine Schnupftabakdose heraus, schüttete sich eine Prise in die Hand und zog sie durch seine behaarten Nasenlöcher tief ein. Er nieste nicht einmal. Wir Chederschüler sagten immer, nicht zu niesen sei ein sicheres Zeichen, daß der Tabak direkt ins Gehirn ging...
Schließlich setzten sie einen Vertrag auf, und der Mann unterschrieb. Als er vorschlug, den Abschluß mit einem Glas Schnaps zu besiegeln, schickte die Alte mich hinunter, um eine Flasche und Eierküchel zu besorgen. Der Mann schenkte sich ein großes Glas ein, und die Frau selber trank auch eins. Vater trank nicht. Der Mann, der Kaddischbeter, füllte sich das Glas zum zweitenmal und rief: »Jetzt haben Sie einen, der für Sie Kaddisch sagt – mögen Sie noch hundertzwanzig Jahre leben!«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Wozu ist mein Leben nütze?«
Sie hatte vorgehabt, meinem Vater hundert Rubel Vorschuß zu zahlen, doch dem Alten gab sie nur fünfundzwanzig und versprach, der Rest werde nach ihrem Tod beglichen. Der Alte willigte in alles ein und verschwand dann.
Die Frau blieb noch; sie kam in die Küche und deutete Mutter an, daß sie mit dem Handel nicht zufrieden war. Sie habe kein Vertrauen zu diesem Menschen. Meine Mutter hörte
sie an und sagte: »Das beste ist, für sich selbst Kaddisch zu sagen.«
»Wie soll das denn gehen, meine Liebe?«
»Man tut gute Werke. Man betet. Man wahrt Jüdischkeit. Man spricht nicht schlecht von anderen. All das ist besser als das beste Kaddisch.«
Die Alte sann darüber nach und ging dann.
Einige Monate vergingen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und die Alte humpelte herein, schwarz wie eine Krähe. Selbst ihre Nase glich einem Krähenschnabel.
»Rebbezin, ich bin hereingelegt worden.«
»Was ist passiert?«
»Stellen Sie sich vor, dieser dämliche Windbeutel will heiraten.«
Offenbar wollte der alte Mann, ihr Kaddischbeter, ein Miststück heiraten, das auf dem Markt faulige Äpfel verkaufte.
Im ersten Augenblick war Mutter überrascht, dann fragte sie: »Was ist daran so schlimm? Er hat Ihnen versprochen, Kaddisch zu sagen, und wird das auch tun.«
»Seine Frau wird es nicht zulassen.«
»Warum nicht?«
»Weil sie ein Biest ist.«
Die Frau bestand darauf, daß wir ihren Kaddischbeter holten. Ich mußte nicht allzuweit laufen, denn das Ganze spielte sich in unserem Hof ab. Der Mann saß im Bethaus und erzählte Geschichten. Er kam sofort mit. Kaum erblickte er die Alte, funkelten seine Augen.
»Was will sie diesmal?«
Die Alte erklärte, da er heiraten wolle, reue sie der ganze Handel.
»Reue und Geschäft sind zwei Paar Stiefel«, erwiderte der alte Mann.
Die Alte wollte ihre fünfundzwanzig Rubel zurück, aber der Mann sagte, er habe sie schon ausgegeben. Er scharrte ungeduldig mit den dickbesohlten Lederstiefeln. »So ein Schlamassel!« entfuhr es ihm.
Es war kein einfacher Rechtsstreit. Der Mann stritt nichts ab. Er hatte das Geld schon verbraucht. Er hatte mit der Alten nicht vereinbart, daß er nicht heiraten dürfe. Für einen Vergleich war kein Raum, weil der Mann nicht willens war, auch nur eine einzige Kopeke zurückzuzahlen. Vater sagte, die Heirat des Mannes sei kein Hindernis, Kaddisch zu sagen. Wie sollte denn das eine mit dem anderen zu tun haben? Aber die Alte war wütend. Ihr Gebrummel und Gemurmel verhieß nichts Gutes. Sie starrte den Mann finster an. Mir kam es
vor, als wolle sie ihn mit dem bösen Blick verhexen und ihn vernichten.
»Ich werde mir jemand anderes suchen müssen«, rief sie.
»Warum denn? Ich werde für Sie Kaddisch sagen.«
»Ich will Ihr Kaddisch nicht.«
»Dann eben nicht.«
»Das Geld, das er von mir hat, wird ihm Unglück bringen«, prophezeite die Alte düster.
Der alte Mann heiratete. Ein paar Wochen nach der Hochzeit kam er ins Bethaus. Seine roten Wangen waren fahl geworden. Er ging gebückt. Die Stiefel schienen ihm jetzt viel
zu groß. Die Männer im Bethaus hänselten ihn: »Na, wie geht’s dem jungen Ehemann?«
Der Mann spuckte aus. »Nicht gut.«
»Was ist los?«
»Eine Hexe, das niederträchtigste Stück, das man sich vorstellen kann.«
»Was will sie denn?«
»Was weiß ich? Sie piesackt mich. Sie läßt mich mit ihrem Gekeife nachts nicht schlafen. Sie weckt die Nachbarn. Die Leute kommen und hämmern gegen die Tür.«
»Also, was will sie?«
»Weiß der Kuckuck. Sie redet wie eine Irre, möge das keinem von uns widerfahren!«
»Und was willst du nun tun? Zurückgehen zu deiner Tochter?«
»Sie würde mich nicht aufnehmen.«
»Wieso?«
»Sie ist wütend, daß ich geheiratet habe.«
»Und was jetzt?«
»Es sieht schlecht aus.«
Der Mann hatte sich mit Tochter und Schwiegersohn zerstritten und ein halbverrücktes Marktweib geheiratet. Sein graues Bärtchen war schneeweiß geworden.
Er erzählte keine Geschichten mehr. Er saß im Bethaus
und psalmodierte wehklagend, wie für einen Schwerkranken. Mehrmals ging er zum Schlafen nicht nach Hause. Am Morgen fand der Schammes ihn auf einer Bank liegend, einen zerschlissenen Gebetsmantel unter dem Kopf.
Nach einer Weile hörte man, er habe sich von dem Marktweib scheiden lassen, aber seine Tochter lasse ihn nach wie vor nicht in ihr Haus. Er hatte ihre Mutter durch eine ordinäre Marktvettel ersetzt – und das konnte seine Tochter ihm nicht verzeihen. Der Mann unternahm Schritte, um ins Altersheim aufgenommen zu werden, aber dort sagte man ihm, er sei zu jung. Außerdem hätte er auch eine Mitgift einbringen müssen, wie – man verzeihe den Vergleich – eine Nonne, die in ein Kloster eintreten will.
Da tauchte die Alte mit dem schwarzen Bärtchen wieder auf. Sie fing an, Hafergrütze für ihn zu kochen, seine Strümpfe
zu stopfen, seine Hemden und Unterhosen zu waschen. Sie wurde seine Beschützerin. Diese Frau, für die er Kaddisch sagen sollte, verhielt sich auf einmal wie eine Ehefrau.
Nicht lange, und das Unvermeidliche geschah. Die Alte kam zu uns und verkündete, daß sie gewillt sei, diesen Mann zu heiraten, der für sie hätte Kaddisch sagen sollen und der sicherlich zwanzig Jahre jünger war als sie.
Bei dieser Rede pochte sie mit ihrem Stock auf den Boden. Ihr Bärtchen zitterte. Die Warzen in ihrem Gesicht hüpften flink. Für eine Frau ist es nicht schlimm, allein zu sein, erklärte sie. Wozu brauchte sie einen Mann? Sie kocht sich ein bißchen was zu essen, wäscht ihre paar Sachen, fegt ihre Wohnung, und schon ist alles in bester Ordnung. Wenn sie hin und wieder nachts Bauchschmerzen bekommt, erhitzt sie einen Topfdeckel und legt ihn sich auf den Leib. Ein Mann aber ist wie ein verlassenes Kind. Er kann nicht kochen, nicht Wäsche waschen, nicht saubermachen. Wenn man nicht für ihn sorgt, verwahrlost er völlig. Da er sowieso Kaddisch für sie sagen werde, könne er ebensogut auch ihr Ehemann werden. Sie habe eine Wohnung und etwas Geld. Er werde bestimmt nicht verhungern. »Die paar Jahre, die ich noch habe, sollten wir in Anstand leben«, setzte sie hinzu.
Mutter hörte ihr zu und schwieg. Der alte Mann kam auch dazu. Er hatte keine große Lust zu dieser Verbindung, aber er sagte: »Habe ich denn die Wahl? Meine Tochter will mich nicht, also muß sich irgendwer meiner erbarmen... und ich bin nicht mehr kräftig genug, um auf einer harten Bank zu schlafen.«
Er heiratete – hatte aber anscheinend nicht das große Los gezogen. Wieder saß er im Bethaus und psalmodierte wehklagend.
Die jungen Leute fingen an, ihn auszufragen. Sie wollten wissen, ob er der Hexe nähergetreten sei, aber der alte Mann fauchte: »Ich bin nicht verpflichtet, euch Auskunft zu geben.«
»Wie alt ist sie?«
»Ich habe ihre Jahre nicht gezählt.«
»Hat sie ein Reisigbündel?«
»Werdet nicht frech!« rief der alte Mann. »Zurück an eure Bücher!«
Eines Winterabends, zwischen Nachmittags- und Abendgebet, klagte der Alte, er sei stark erkältet. Er ging nach Hause, erschien anderntags aber nicht zum Morgengebet. Auch am folgenden Morgen kam er nicht ins Bethaus. Dort meinte man, man werde ihm wohl einen Krankenbesuch abstatten müssen. Doch es war schon zu spät – der Kaddischbeter war gestorben.
Bei der Beerdigung brach zwischen der Witwe und der Tochter des alten Mannes Streit aus. Nach den sieben Tagen der Schiwe kam die Alte zu Vater und verlangte, er solle einen neuen Kaddischbeter für sie suchen. Und noch eins: Da ihr Ehemann keinen Sohn hinterlassen habe und sein Schwiegersohn ein Grobian, Flegel und Schurke sei, sei sie bereit, zusätzlich ein paar Rubel aufzuwenden für jemanden, der für ihn Kaddisch sagte.
Die Alte stand in der Küche, kohlrabenschwarz, mit verzerrtem Gesicht, schiefem Mund – ein Stück Finsternis. Eine dämonische Kraft ging von ihr aus. Meine Mutter kam normalerweise allen Leuten freundlich entgegen, aber gegen diese alte Mörderin zeigte sie offenen Widerwillen. Vater sagte,
er wisse keinen anderen Kaddischbeter, und deutete an, sie möge ihn in Ruhe lassen. Doch sie ging nicht sogleich. Ihr Blick strahlte grimmige Entschlossenheit aus, die gespenstische Selbstsicherheit derer, die zu lange gelebt haben und den Todesengel nicht mehr fürchten. Ich war damals noch ein kleiner Junge, aber ich spürte genau, daß die Alte auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihren Kaddischbeter umgebracht hatte. Einer Spinne gleich, hatte sie ihn in ihrem Netz gefangen und vernichtet.
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Autoren-Porträt von Isaac Bashevis Singer
Autoren-Porträt von Isaac Bashevis Singer
Isaac Bashevis Singer wurde am 14. Juli 1904 in Radzymin in Polen geboren und wuchs in Warschau auf. Ererhielt eine traditionelle jüdische Erziehung. Mit 22 Jahren begann er, füreine jiddische Zeitung in Warschau Geschichten zu schreiben, zuerst aufhebräisch, dann auf jiddisch. 1935 emigrierte er in die USA und gehörte dortbald zum Redaktionsstab des "Jewish DailyForward". 1978 wurde ihm für sein Gesamtwerk der Nobelpreis für Literaturverliehen. Für Aufsehen sorgten auch die Verfilmungen seiner Werke"Feinde, die Geschichte einer Liebe" und "Yentl".Singer starb am 24. Juli 1991 in Miami.
Bibliographische Angaben
- Autor: Isaac Bashevis Singer
- 2004, 2. Aufl., 216 Seiten, Maße: 13,3 x 21,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Sylvia List
- Übersetzer: Sylvia List
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446204679
- ISBN-13: 9783446204676
- Erscheinungsdatum: 15.03.2004
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