Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben
Rainer Werner Fassbinder. Die Biographie
Rainer Werner Fassbinder gehört zu den Großen des deutschen Nachkriegsfilms. Rastlos schuf er zwischen 1969 und seinem frühen Tod 1982 als Regisseur, Produzent, Schauspieler und Drehbuchautor ein umfangreiches Werk von mehr als vierzig Kino- und...
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Produktinformationen zu „Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben “
Klappentext zu „Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben “
Rainer Werner Fassbinder gehört zu den Großen des deutschen Nachkriegsfilms. Rastlos schuf er zwischen 1969 und seinem frühen Tod 1982 als Regisseur, Produzent, Schauspieler und Drehbuchautor ein umfangreiches Werk von mehr als vierzig Kino- und Fernsehfilmen. Damit schrieb er Filmgeschichte und verschaffte dem deutschen Kino zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder internationale Geltung. Der erfahrene Biograph Jürgen Trimborn legt nun die erste unabhängige, gründlich recherchierte Biographie des legendären Filmemachers vor. Fassbinder lebte für den Film, verzehrte sich für sein Werk. Wie kein anderer war er der Seismograph deutscher Befindlichkeiten der sechziger und siebziger Jahre. Seien es die Auswüchse des »Wirtschaftswunders«, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit oder der Terror der RAF- mit seinen Filmstoffen sprach er zielsicher die Ängste und Tabus der Deutschen an. Nicht zufällig polarisierte er sein Publikum, lösten seine Filme heftige Diskussionen aus. Bravourös gelingt es Trimborn, die Filmbesessenheit,aber auch die Zerrissenheit und Exzentrik Fassbinders einzufangen.Lese-Probe zu „Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben “
Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben - Rainer Werner Fassbinder von Jürgen TrimbornVorwort
»Life is so precious - even right now«
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»Viele Filme machen, damit mein Leben zum Film wird«, dies war das Lebensmotto des größten, vielseitigsten und produktivsten deutschen Filmemachers der Nachkriegszeit.
In nur dreizehn Jahren schuf der besessene Arbeiter Rainer Werner Fassbinder in einem nahezu unvergleichlichen Schaffensrausch über vierzig Filme, schrieb Filmgeschichte und verlieh dem deutschen Kino zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Weltgeltung.
Während die meisten anderen Vertreter des Neuen Deutschen Films längst in Vergessenheit geraten sind, werden Fassbinders Filme bis heute international wahrgenommen. Nach wie vor gilt er als der repräsentative Filmkünstler der deutschen Nachkriegszeit. Große Retrospektiven in Berlin, New York und Paris wurden vom Publikum geradezu gestürmt, die Presse feierte ihn enthusiastisch als »Cineast Deutschlands« und »deutschen Balzac« . Bis heute werden auf den bedeutenden Filmfestivals in Berlin, Cannes und Locarno Fassbinder-Streifen wiederaufgeführt.
Rainer Werner Fassbinder machte zahlreiche Stars, darunter Hanna Schygulla und Barbara Sukowa, Kurt Raab und Günther Kaufmann, Ingrid Caven und Irm Hermann, Udo Kier und Harry Baer, Margit Carstensen und Klaus Löwitsch, Brigitte Mira und Günter Lamprecht, Armin Müller-Stahl und Rosel Zech, Barbara Valentin und Gottfried John, und gab dem deutschen Kino damit erstmals seit Kriegsende wieder ein eigenes Starsystem .
In seinen Filmen und in seinem Leben eröffnet sich ein Panorama der deutschen Nachkriegsgeschichte. Fassbinders Werke und die kontroversen Diskussionen, die sie seinerzeit auslösten, können als Seismograph deutscher Zeitgeschichte der sechziger und siebziger Jahre angesehen werden. Fassbinder war der mit Abstand wichtigste Chronist der westdeutschen Bundesrepublik von Konrad Adenauer bis Andreas Baader. Er widmete sich der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ebenso wie den Auswüchsen und Schattenseiten der Wirtschaftswunderzeit und dem Terror der RAF im Deutschen Herbst. Die damaligen, aber auch die heutigen Reaktionen auf seine Arbeit belegen, dass seine Filme dabei zielsicher ins Herz deutscher Befindlichkeiten trafen.
Dabei sprachen seine Filme nie allein nur die überschaubare Zahl der am Autorenkino Interessierten an, sondern vielmehr das breite Publikum, das Rainer Werner Fassbinder auch stets im Blick hatte, denn er wusste: »Leere Kinos helfen uns nicht weiter.« Indem er deutschen Bildungsidealismus und gesellschaftskritische Ansätze geschickt mit der Formensprache und Erzählweise populärer amerikanischer Melodramen und Gangsterfilme verband, gelang es ihm, gesellschaftliche Zustände und Probleme anhand mitreißender individueller Schicksale auf die Leinwand zu bringen und somit große Kinoträume zu schaffen, die viele Menschen ansprachen und berührten . Obwohl er sich höchst anspruchsvollen Fragen und Themen widmete und oft stark polarisierte, machte er im Gegensatz zu vielen anderen Vertretern des Neuen Deutschen Films nie Filme am Publikum vorbei .
Fassbinder lebte so extrem, wie er arbeitete. »Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben«, antwortete er einmal, als er danach gefragt wurde, wie es ihm gelänge, in so kurzer Zeit so unglaublich viele Filme zu produzieren. In dem Bewusstsein, dass ihm kein langes Leben beschieden sein würde, war er wild entschlossen, jeden einzelnen Tag so intensiv zu nutzen, als wäre er ein ganzes Leben. Drogen, Alkohol und Aufputschmittel befeuerten seine ungeheure Schaffenskraft und sollten ihm zudem über die eigene Zerrissenheit hinweghelfen. Dass ihn dieses Leben auf der Überholspur eines Tages umbringen würde, kalkulierte er dabei bewusst ein: »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.«
Je mehr Fassbinder seine Zerrissenheit spürte, desto bedingungsloser stürzte er sich in die Arbeit. Seine eigene Tragödie wurde dabei zu seinem wichtigsten Antrieb, und für seine künstlerische Verausgabung zahlte er einen hohen Preis. Aber auch viele seiner Mitarbeiter wurden Opfer dieses manisch-exzessiven Schaffensrausches, denn Fassbinder schonte in seiner Besessenheit niemanden, beutete so manchen rücksichtslos aus. Er war ein Verführer und Sadist, der aus seinen Schauspielern alles herauspresste, was seine Lebensgier brauchte, rechtfertigte sich letztlich aber durch seine außergewöhnlichen, bleibenden Werke.
1982 starb er, wie er gelebt hat, im Alter von nur 37 Jahren, den Kopf voller Filmpläne. Nach seinem Tod versank der deutsche Film im internationalen Kontext wieder in weitgehender Bedeutungslosigkeit. Fassbinders Weltruhm hingegen blieb - auch dreißig Jahre nach seinem Tod ist das Phänomen Fassbinder nach wie vor höchst aktuell, wie die breite Berichterstattung zu seinem sechzigsten Geburtstag 2005 und seinem fünfundzwanzigsten Todestag im Jahre 2007 nochmals deutlich vor Augen geführt hat . Die Feuilletons würdigten ihn in großen, oft ganzseitigen Artikeln, mehrere Fernsehsender wiederholten seine Filme. Wobei die Begeisterung für Fassbinders Arbeiten im Ausland meist noch höhere Wellen schlägt als in seiner eigenen Heimat.
Umso erstaunlicher ist es, dass bislang noch keine unabhängige Biographie Rainer Werner Fassbinders vorlag. Die zahlreichen über Fassbinder erschienenen Bücher sind, wenn sie sich nicht ohnehin an ein cineastisch interessiertes Nischenpublikum richten, oftmals höchst subjektive und verklärende Darstellungen von ehemaligen Freunden, Mitarbeitern und Weggefährten. Eine auf unabhängigen Recherchen beruhende Darstellung seines Lebens und Schaffens fehlte bislang. Zudem tobt seit Jahren ein bizarrer Streit darum, wer die Deutungshoheit über Fassbinders Leben und Werk besitzt. Ingrid Caven, die von 1970 bis 1972 mit dem Regisseur verheiratet war, griff in diesem Zusammenhang Juliane Lorenz an, die jahrelang als Cutterin für Fassbinder gearbeitet hat und seit 1992 als Präsidentin der Rainer Werner Fassbinder Foundation fungiert und sich der Bewahrung und Verbreitung von Fassbinders Werk verpflichtet fühlt . Hauptvorwurf der von zahlreichen ehemaligen Weggefährten des Regisseurs unterstützten Ingrid Caven ist, dass Juliane Lorenz Fassbinders Erbe bewusst verfälsche, missliebige Mitarbeiter von einst systematisch aus der Erinnerung zu tilgen versuche und sich so der »Zensur eines Lebens« schuldig mache .
Als Biograph war es mir von Beginn an wichtig, mich Rainer Werner Fassbinder jenseits dieser mir wenig produktiv erscheinenden Streitigkeiten zu nähern und statt hochkochender Emotionen belegbare Fakten und Dokumente sowie die meist stark autobiographisch geprägten Filme Fassbinders sprechen zu lassen. Ohne mich von der einen oder der anderen Seite vereinnahmen zu lassen, habe ich mich bemüht, Gespräche mit zahlreichen Zeitzeugen, darunter auch vielen erstmals nach ihren Erinnerungen befragten, zu führen, um mir ein eigenes Bild von Fassbinders Leben und Schaffen zu machen. Resultat meiner Recherche ist das Porträt eines sicherlich in vieler Hinsicht extremen Lebens - doch genau dieses Leben war es, das Fassbinder die Filme hat drehen lassen, die er der Nachwelt hinterlassen hat und die zu sehen auch heute noch eine enorme Bereicherung darstellt.
»Ein erfrorenes Kind«
1945-1963
Knapp drei Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, am 31. Mai 1945, kam Rainer Werner Fassbinder in Bad Wörishofen im bayerischen Allgäu zur Welt. Später kokettierte er einerseits mit dieser zeitlichen Nähe zum Kriegsende, indem er Freunden berichtete, sich angeblich an die Detonationen der Fliegerbomben zu erinnern, die er im Leib seiner Mutter verspürt haben will. Andererseits bemühte er sich jedoch auch, eine Distanz zu diesem epochalen Ereignis herzustellen, das die meisten Deutschen als Niederlage und nicht als Befreiung empfanden, indem er Journalisten über Jahre konsequent das falsche Geburtsdatum 1946 nannte.
Bad Wörishofen, ein beliebter, landschaftlich idyllisch gelegener Kneippkurort in Mittelschwaben, der durch eine Erzählung Katherine Mansfields in die Literaturgeschichte einging, war drei Wochen vor Fassbinders Geburt von amerikanischen Truppen eingenommen worden . Der Ort, in dem Sebastian Kneipp Ende des 19 . Jahrhunderts als Pfarrer gewirkt und aufgrund seiner Erkenntnisse über die heilende Kraft des Wassers die nach ihm benannte Kneipp-Kur entwickelt hatte, zählte nun zur amerikanischen Besatzungszone. Zwar stellte sich die Versorgungslage im ländlichen Wörishofen wesentlich besser dar als in den deutschen Großstädten, dennoch waren die Wirren des Kriegsendes auch in dem beschaulichen schwäbischen Kurort spürbar. So wurden im Hospital des Städtchens ehemalige KZ-Häftlinge behandelt, die zuvor im nahe gelegenen Türkheim in einem Außenlager von Dachau für die deutsche Rüstungsindustrie hatten arbeiten müssen. Viele von ihnen starben an den Folgen ihrer Haft. Zudem richteten die Amerikaner hier ein Lager zur Unterbringung von Displaced Persons ein, in dem unzählige litauische und ukrainische Zwangsarbeiter auf die Rückkehr in ihre Heimat warteten.
Fassbinders Mutter Lieselotte wurde 1922 als Lieselotte Irmgard Pempeit in der zentralpolnischen, südlich der Weichselmetropole Wocawek gelegenen Stadt Kuwal5 geboren6 und wuchs später in dem kleinen, westlich von Danzig gelegenen Dörfchen Schmiede und anschließend in dem Danziger Vorort Zigankenberg auf .7 1944 war sie ihrem Mann von München aus ins Allgäu gefolgt . Helmuth Fassbinder arbeitete nach Abschluss seines Medizinstudiums, von der Wehrmacht als Assistenzarzt dienstverpflichtet, im Reservelazarett Bad Wörishofen. Man hatte es im alten Kurhaus eingerichtet, da der einst florierende Kurbetrieb durch den Krieg ohnehin fast zum Erliegen gekommen war. Der 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs geborene Franz Karl Helmuth Josef Fassbinder, der einer stark katholisch geprägten Familie von Priestern, Lehrern und Studiendirektoren entstammte, war bereits in zweiter Ehe verheiratet. Von seiner ersten Frau, mit der er zwei Söhne hatte, ließ er sich scheiden, nachdem er sich Hals über Kopf in die zwanzigjährige Lieselotte verliebt hatte, die er zärtlich »Li« zu nennen pflegte. Im Anschluss an ihr in Danzig abgelegtes Abitur und den obligatorischen Arbeitsdienst hatte sie 1942 ein Studium der Germanistik und Geschichte in München aufgenommen und hier ihren späteren Mann, den vier Jahre älteren Helmuth, kennengelernt. Die angehende Lehrerin und den Arzt verband ihre gemeinsame Liebe zur Literatur. Helmuth, Sohn eines Oberstudiendirektors, hatte parallel zu seinem Medizinstudium auch Vorlesungen in Germanistik besucht und träumte von einer Karriere als Schriftsteller, die er jedoch nie verwirklichte. Noch bis ins hohe Alter blieb er der Medizin verpflichtet.
Das Paar heiratete 1944. Aus Angst, trotz der längst aussichtslosen Kriegslage in letzter Minute noch an die Front geschickt zu werden und im Krieg zu fallen, wollte Helmuth unbedingt ein Kind. Da Lieselotte, die fest entschlossen war, ihr Studium fortzuführen, seinen Kinderwunsch zumindest in der gegenwärtigen Situation nicht teilte, setzte er sie unter Druck: »Wenn du mich liebst, dann willst du jetzt ein Kind.« Die junge Frau gab nach, und im Herbst desselben Jahres wurde Rainer Werner Fassbinder im Kriegslazarett von Bad Wörishofen gezeugt. Die Zeit der Schwangerschaft verbrachte die angehende Mutter, von einigen Ausflügen nach München abgesehen, im vom Kriegsgeschehen weitgehend verschonten Allgäu und brachte ihr einziges Kind in einem Entbindungsheim, das bis vor kurzem noch vom NS-Hilfswerk »Mutter und Kind« betrieben worden war, zur Welt . Hier soll der kleine Rainer Werner kurz nach seiner Geburt verwechselt worden sein. Nur die charakteristischen mongolischen Wangenknochen, das Erbe einer aus Litauen stammenden Urgroßmutter, sollen das Missverständnis aufgeklärt haben.
Helmuth und Lieselotte Fassbinder kehrten kurz nach der Geburt ihres Sohnes ins achtzig Kilometer entfernte, von Bomben zertrümmerte München zurück. In unzähligen, teils verheerenden Großangriffen der britischen und amerikanischen Luftstreitkräfte waren weite Teile von Hitlers »Hauptstadt der Bewegung« in Schutt und Asche gelegt worden. Viele der Münchner Wahrzeichen waren zerstört oder zumindest stark beschädigt, über die Hälfte der Wohnungen nicht mehr zu nutzen. Heimatlos Gewordene irrten auf der Suche nach ihren Angehörigen durch die Ruinen. Kaum jemand vermochte sich vorzustellen, wie aus diesem Trümmerhaufen jemals wieder eine Stadt entstehen könnte. Klaus Mann, der als Kriegsberichterstatter in der Uniform eines amerikanischen GIs in seine Geburtsstadt zurückkehrte, hielt im Mai 1945 erschüttert seine Eindrücke fest: »Ich hatte mir's schlimm vorgestellt, aber es war noch schlimmer. München ist nicht mehr da.«
Um den Lebensunterhalt seiner Familie sichern zu können, beschloss Helmuth Fassbinder, so schnell wie möglich eine Praxis für Allgemeinmedizin zu eröffnen. Hierfür mietete er im August 1945 in der Sendlinger Straße, einer beliebten Einkaufsstraße mitten im Herzen Münchens, eine große Fünfzimmerwohnung an, in der er nicht nur sein Behandlungszimmer einrichtete, sondern in der auch Platz für seine Familie war. Die Lebensumstände hier waren unmittelbar nach Kriegsende mehr als bescheiden zu nennen. »Es war kein Glas in den Fenstern. Wir hatten nicht genug Heizmaterial«, erinnerte sich Fassbinders Mutter rückblickend.
Angesichts der ärmlichen Wohnbedingungen sowie der katastrophalen Ernährungslage, die unmittelbar nach Beendigung des Krieges herrschte, war Helmuth Fassbinder sich als Arzt im Klaren darüber, dass es unter diesen Gegebenheiten äußerst schwer werden würde, den gemeinsamen Sohn über seinen ersten Winter zu bringen . Über den Kopf seiner Frau hinweg veranlasste er deshalb, dass der gerade einmal vier Monate alte Rainer im Herbst 1945 zu Helmuths Zwillingsbruder und dessen Familie in den Schwarzwald gebracht wurde. Seine Schwägerin, die eine Landarztpraxis in der kleinen baden-württembergischen Gemeinde Kippenheim betrieb, hatte Ende Juli 1945 ebenfalls einen Sohn zur Welt gebracht, Egmont, Rainers Cousin.
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»Viele Filme machen, damit mein Leben zum Film wird«, dies war das Lebensmotto des größten, vielseitigsten und produktivsten deutschen Filmemachers der Nachkriegszeit.
In nur dreizehn Jahren schuf der besessene Arbeiter Rainer Werner Fassbinder in einem nahezu unvergleichlichen Schaffensrausch über vierzig Filme, schrieb Filmgeschichte und verlieh dem deutschen Kino zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Weltgeltung.
Während die meisten anderen Vertreter des Neuen Deutschen Films längst in Vergessenheit geraten sind, werden Fassbinders Filme bis heute international wahrgenommen. Nach wie vor gilt er als der repräsentative Filmkünstler der deutschen Nachkriegszeit. Große Retrospektiven in Berlin, New York und Paris wurden vom Publikum geradezu gestürmt, die Presse feierte ihn enthusiastisch als »Cineast Deutschlands« und »deutschen Balzac« . Bis heute werden auf den bedeutenden Filmfestivals in Berlin, Cannes und Locarno Fassbinder-Streifen wiederaufgeführt.
Rainer Werner Fassbinder machte zahlreiche Stars, darunter Hanna Schygulla und Barbara Sukowa, Kurt Raab und Günther Kaufmann, Ingrid Caven und Irm Hermann, Udo Kier und Harry Baer, Margit Carstensen und Klaus Löwitsch, Brigitte Mira und Günter Lamprecht, Armin Müller-Stahl und Rosel Zech, Barbara Valentin und Gottfried John, und gab dem deutschen Kino damit erstmals seit Kriegsende wieder ein eigenes Starsystem .
In seinen Filmen und in seinem Leben eröffnet sich ein Panorama der deutschen Nachkriegsgeschichte. Fassbinders Werke und die kontroversen Diskussionen, die sie seinerzeit auslösten, können als Seismograph deutscher Zeitgeschichte der sechziger und siebziger Jahre angesehen werden. Fassbinder war der mit Abstand wichtigste Chronist der westdeutschen Bundesrepublik von Konrad Adenauer bis Andreas Baader. Er widmete sich der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ebenso wie den Auswüchsen und Schattenseiten der Wirtschaftswunderzeit und dem Terror der RAF im Deutschen Herbst. Die damaligen, aber auch die heutigen Reaktionen auf seine Arbeit belegen, dass seine Filme dabei zielsicher ins Herz deutscher Befindlichkeiten trafen.
Dabei sprachen seine Filme nie allein nur die überschaubare Zahl der am Autorenkino Interessierten an, sondern vielmehr das breite Publikum, das Rainer Werner Fassbinder auch stets im Blick hatte, denn er wusste: »Leere Kinos helfen uns nicht weiter.« Indem er deutschen Bildungsidealismus und gesellschaftskritische Ansätze geschickt mit der Formensprache und Erzählweise populärer amerikanischer Melodramen und Gangsterfilme verband, gelang es ihm, gesellschaftliche Zustände und Probleme anhand mitreißender individueller Schicksale auf die Leinwand zu bringen und somit große Kinoträume zu schaffen, die viele Menschen ansprachen und berührten . Obwohl er sich höchst anspruchsvollen Fragen und Themen widmete und oft stark polarisierte, machte er im Gegensatz zu vielen anderen Vertretern des Neuen Deutschen Films nie Filme am Publikum vorbei .
Fassbinder lebte so extrem, wie er arbeitete. »Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben«, antwortete er einmal, als er danach gefragt wurde, wie es ihm gelänge, in so kurzer Zeit so unglaublich viele Filme zu produzieren. In dem Bewusstsein, dass ihm kein langes Leben beschieden sein würde, war er wild entschlossen, jeden einzelnen Tag so intensiv zu nutzen, als wäre er ein ganzes Leben. Drogen, Alkohol und Aufputschmittel befeuerten seine ungeheure Schaffenskraft und sollten ihm zudem über die eigene Zerrissenheit hinweghelfen. Dass ihn dieses Leben auf der Überholspur eines Tages umbringen würde, kalkulierte er dabei bewusst ein: »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.«
Je mehr Fassbinder seine Zerrissenheit spürte, desto bedingungsloser stürzte er sich in die Arbeit. Seine eigene Tragödie wurde dabei zu seinem wichtigsten Antrieb, und für seine künstlerische Verausgabung zahlte er einen hohen Preis. Aber auch viele seiner Mitarbeiter wurden Opfer dieses manisch-exzessiven Schaffensrausches, denn Fassbinder schonte in seiner Besessenheit niemanden, beutete so manchen rücksichtslos aus. Er war ein Verführer und Sadist, der aus seinen Schauspielern alles herauspresste, was seine Lebensgier brauchte, rechtfertigte sich letztlich aber durch seine außergewöhnlichen, bleibenden Werke.
1982 starb er, wie er gelebt hat, im Alter von nur 37 Jahren, den Kopf voller Filmpläne. Nach seinem Tod versank der deutsche Film im internationalen Kontext wieder in weitgehender Bedeutungslosigkeit. Fassbinders Weltruhm hingegen blieb - auch dreißig Jahre nach seinem Tod ist das Phänomen Fassbinder nach wie vor höchst aktuell, wie die breite Berichterstattung zu seinem sechzigsten Geburtstag 2005 und seinem fünfundzwanzigsten Todestag im Jahre 2007 nochmals deutlich vor Augen geführt hat . Die Feuilletons würdigten ihn in großen, oft ganzseitigen Artikeln, mehrere Fernsehsender wiederholten seine Filme. Wobei die Begeisterung für Fassbinders Arbeiten im Ausland meist noch höhere Wellen schlägt als in seiner eigenen Heimat.
Umso erstaunlicher ist es, dass bislang noch keine unabhängige Biographie Rainer Werner Fassbinders vorlag. Die zahlreichen über Fassbinder erschienenen Bücher sind, wenn sie sich nicht ohnehin an ein cineastisch interessiertes Nischenpublikum richten, oftmals höchst subjektive und verklärende Darstellungen von ehemaligen Freunden, Mitarbeitern und Weggefährten. Eine auf unabhängigen Recherchen beruhende Darstellung seines Lebens und Schaffens fehlte bislang. Zudem tobt seit Jahren ein bizarrer Streit darum, wer die Deutungshoheit über Fassbinders Leben und Werk besitzt. Ingrid Caven, die von 1970 bis 1972 mit dem Regisseur verheiratet war, griff in diesem Zusammenhang Juliane Lorenz an, die jahrelang als Cutterin für Fassbinder gearbeitet hat und seit 1992 als Präsidentin der Rainer Werner Fassbinder Foundation fungiert und sich der Bewahrung und Verbreitung von Fassbinders Werk verpflichtet fühlt . Hauptvorwurf der von zahlreichen ehemaligen Weggefährten des Regisseurs unterstützten Ingrid Caven ist, dass Juliane Lorenz Fassbinders Erbe bewusst verfälsche, missliebige Mitarbeiter von einst systematisch aus der Erinnerung zu tilgen versuche und sich so der »Zensur eines Lebens« schuldig mache .
Als Biograph war es mir von Beginn an wichtig, mich Rainer Werner Fassbinder jenseits dieser mir wenig produktiv erscheinenden Streitigkeiten zu nähern und statt hochkochender Emotionen belegbare Fakten und Dokumente sowie die meist stark autobiographisch geprägten Filme Fassbinders sprechen zu lassen. Ohne mich von der einen oder der anderen Seite vereinnahmen zu lassen, habe ich mich bemüht, Gespräche mit zahlreichen Zeitzeugen, darunter auch vielen erstmals nach ihren Erinnerungen befragten, zu führen, um mir ein eigenes Bild von Fassbinders Leben und Schaffen zu machen. Resultat meiner Recherche ist das Porträt eines sicherlich in vieler Hinsicht extremen Lebens - doch genau dieses Leben war es, das Fassbinder die Filme hat drehen lassen, die er der Nachwelt hinterlassen hat und die zu sehen auch heute noch eine enorme Bereicherung darstellt.
»Ein erfrorenes Kind«
1945-1963
Knapp drei Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, am 31. Mai 1945, kam Rainer Werner Fassbinder in Bad Wörishofen im bayerischen Allgäu zur Welt. Später kokettierte er einerseits mit dieser zeitlichen Nähe zum Kriegsende, indem er Freunden berichtete, sich angeblich an die Detonationen der Fliegerbomben zu erinnern, die er im Leib seiner Mutter verspürt haben will. Andererseits bemühte er sich jedoch auch, eine Distanz zu diesem epochalen Ereignis herzustellen, das die meisten Deutschen als Niederlage und nicht als Befreiung empfanden, indem er Journalisten über Jahre konsequent das falsche Geburtsdatum 1946 nannte.
Bad Wörishofen, ein beliebter, landschaftlich idyllisch gelegener Kneippkurort in Mittelschwaben, der durch eine Erzählung Katherine Mansfields in die Literaturgeschichte einging, war drei Wochen vor Fassbinders Geburt von amerikanischen Truppen eingenommen worden . Der Ort, in dem Sebastian Kneipp Ende des 19 . Jahrhunderts als Pfarrer gewirkt und aufgrund seiner Erkenntnisse über die heilende Kraft des Wassers die nach ihm benannte Kneipp-Kur entwickelt hatte, zählte nun zur amerikanischen Besatzungszone. Zwar stellte sich die Versorgungslage im ländlichen Wörishofen wesentlich besser dar als in den deutschen Großstädten, dennoch waren die Wirren des Kriegsendes auch in dem beschaulichen schwäbischen Kurort spürbar. So wurden im Hospital des Städtchens ehemalige KZ-Häftlinge behandelt, die zuvor im nahe gelegenen Türkheim in einem Außenlager von Dachau für die deutsche Rüstungsindustrie hatten arbeiten müssen. Viele von ihnen starben an den Folgen ihrer Haft. Zudem richteten die Amerikaner hier ein Lager zur Unterbringung von Displaced Persons ein, in dem unzählige litauische und ukrainische Zwangsarbeiter auf die Rückkehr in ihre Heimat warteten.
Fassbinders Mutter Lieselotte wurde 1922 als Lieselotte Irmgard Pempeit in der zentralpolnischen, südlich der Weichselmetropole Wocawek gelegenen Stadt Kuwal5 geboren6 und wuchs später in dem kleinen, westlich von Danzig gelegenen Dörfchen Schmiede und anschließend in dem Danziger Vorort Zigankenberg auf .7 1944 war sie ihrem Mann von München aus ins Allgäu gefolgt . Helmuth Fassbinder arbeitete nach Abschluss seines Medizinstudiums, von der Wehrmacht als Assistenzarzt dienstverpflichtet, im Reservelazarett Bad Wörishofen. Man hatte es im alten Kurhaus eingerichtet, da der einst florierende Kurbetrieb durch den Krieg ohnehin fast zum Erliegen gekommen war. Der 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs geborene Franz Karl Helmuth Josef Fassbinder, der einer stark katholisch geprägten Familie von Priestern, Lehrern und Studiendirektoren entstammte, war bereits in zweiter Ehe verheiratet. Von seiner ersten Frau, mit der er zwei Söhne hatte, ließ er sich scheiden, nachdem er sich Hals über Kopf in die zwanzigjährige Lieselotte verliebt hatte, die er zärtlich »Li« zu nennen pflegte. Im Anschluss an ihr in Danzig abgelegtes Abitur und den obligatorischen Arbeitsdienst hatte sie 1942 ein Studium der Germanistik und Geschichte in München aufgenommen und hier ihren späteren Mann, den vier Jahre älteren Helmuth, kennengelernt. Die angehende Lehrerin und den Arzt verband ihre gemeinsame Liebe zur Literatur. Helmuth, Sohn eines Oberstudiendirektors, hatte parallel zu seinem Medizinstudium auch Vorlesungen in Germanistik besucht und träumte von einer Karriere als Schriftsteller, die er jedoch nie verwirklichte. Noch bis ins hohe Alter blieb er der Medizin verpflichtet.
Das Paar heiratete 1944. Aus Angst, trotz der längst aussichtslosen Kriegslage in letzter Minute noch an die Front geschickt zu werden und im Krieg zu fallen, wollte Helmuth unbedingt ein Kind. Da Lieselotte, die fest entschlossen war, ihr Studium fortzuführen, seinen Kinderwunsch zumindest in der gegenwärtigen Situation nicht teilte, setzte er sie unter Druck: »Wenn du mich liebst, dann willst du jetzt ein Kind.« Die junge Frau gab nach, und im Herbst desselben Jahres wurde Rainer Werner Fassbinder im Kriegslazarett von Bad Wörishofen gezeugt. Die Zeit der Schwangerschaft verbrachte die angehende Mutter, von einigen Ausflügen nach München abgesehen, im vom Kriegsgeschehen weitgehend verschonten Allgäu und brachte ihr einziges Kind in einem Entbindungsheim, das bis vor kurzem noch vom NS-Hilfswerk »Mutter und Kind« betrieben worden war, zur Welt . Hier soll der kleine Rainer Werner kurz nach seiner Geburt verwechselt worden sein. Nur die charakteristischen mongolischen Wangenknochen, das Erbe einer aus Litauen stammenden Urgroßmutter, sollen das Missverständnis aufgeklärt haben.
Helmuth und Lieselotte Fassbinder kehrten kurz nach der Geburt ihres Sohnes ins achtzig Kilometer entfernte, von Bomben zertrümmerte München zurück. In unzähligen, teils verheerenden Großangriffen der britischen und amerikanischen Luftstreitkräfte waren weite Teile von Hitlers »Hauptstadt der Bewegung« in Schutt und Asche gelegt worden. Viele der Münchner Wahrzeichen waren zerstört oder zumindest stark beschädigt, über die Hälfte der Wohnungen nicht mehr zu nutzen. Heimatlos Gewordene irrten auf der Suche nach ihren Angehörigen durch die Ruinen. Kaum jemand vermochte sich vorzustellen, wie aus diesem Trümmerhaufen jemals wieder eine Stadt entstehen könnte. Klaus Mann, der als Kriegsberichterstatter in der Uniform eines amerikanischen GIs in seine Geburtsstadt zurückkehrte, hielt im Mai 1945 erschüttert seine Eindrücke fest: »Ich hatte mir's schlimm vorgestellt, aber es war noch schlimmer. München ist nicht mehr da.«
Um den Lebensunterhalt seiner Familie sichern zu können, beschloss Helmuth Fassbinder, so schnell wie möglich eine Praxis für Allgemeinmedizin zu eröffnen. Hierfür mietete er im August 1945 in der Sendlinger Straße, einer beliebten Einkaufsstraße mitten im Herzen Münchens, eine große Fünfzimmerwohnung an, in der er nicht nur sein Behandlungszimmer einrichtete, sondern in der auch Platz für seine Familie war. Die Lebensumstände hier waren unmittelbar nach Kriegsende mehr als bescheiden zu nennen. »Es war kein Glas in den Fenstern. Wir hatten nicht genug Heizmaterial«, erinnerte sich Fassbinders Mutter rückblickend.
Angesichts der ärmlichen Wohnbedingungen sowie der katastrophalen Ernährungslage, die unmittelbar nach Beendigung des Krieges herrschte, war Helmuth Fassbinder sich als Arzt im Klaren darüber, dass es unter diesen Gegebenheiten äußerst schwer werden würde, den gemeinsamen Sohn über seinen ersten Winter zu bringen . Über den Kopf seiner Frau hinweg veranlasste er deshalb, dass der gerade einmal vier Monate alte Rainer im Herbst 1945 zu Helmuths Zwillingsbruder und dessen Familie in den Schwarzwald gebracht wurde. Seine Schwägerin, die eine Landarztpraxis in der kleinen baden-württembergischen Gemeinde Kippenheim betrieb, hatte Ende Juli 1945 ebenfalls einen Sohn zur Welt gebracht, Egmont, Rainers Cousin.
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Autoren-Porträt von Jürgen Trimborn
Jürgen Trimborn, geboren 1971 in Köln. Autor zahlreicher Sachbücher, darunter Biographien über Leni Riefenstahl, Hildegard Knef, Romy Schneider und Rudi Carell.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jürgen Trimborn
- 2012, 1. Auflage, 464 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15 x 22,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 3549074263
- ISBN-13: 9783549074268
- Erscheinungsdatum: 16.03.2012
Rezension zu „Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben “
"Eine genaue, umfassend recherchierte und klug unparteiische Annäherung an den (...) Regisseur. Sehr lesenswert." Wolf Ebersberger NÜRNBERGER ZEITUNG 20120609
Pressezitat
"Eine genaue, umfassend recherchierte und klug unparteiische Annäherung an den (...) Regisseur. Sehr lesenswert." Wolf Ebersberger NÜRNBERGER ZEITUNG 20120609
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