Ein unmögliches Leben
Roman
»Dieser wunderbare Roman lehrt uns nicht weniger als Magie.« (John Irving)
»Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal« - Greta Wells widerfährt es gleich mehrmals: Sie wird durch die Zeit katapultiert, in alternative Versionen ihres Lebens, die sich...
»Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal« - Greta Wells widerfährt es gleich mehrmals: Sie wird durch die Zeit katapultiert, in alternative Versionen ihres Lebens, die sich...
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Produktinformationen zu „Ein unmögliches Leben “
Klappentext zu „Ein unmögliches Leben “
»Dieser wunderbare Roman lehrt uns nicht weniger als Magie.« (John Irving)»Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal« - Greta Wells widerfährt es gleich mehrmals: Sie wird durch die Zeit katapultiert, in alternative Versionen ihres Lebens, die sich 1918, 1941, 1985 zutragen. Überall trifft sie ihre Lieben wieder, den Zwillingsbruder, den Geliebten, die exzentrische Tante Ruth, aber jede Zeit kennt andere Träume und andere Tode, und jede Zeit macht Greta zu einer anderen. Welche dieser Frauen will sie sein?
Andrew Sean Greer erzählt wie kein anderer vom rätselhaften Reichtum unserer Existenz. Ein unvergesslicher Roman, gefühlvoll und atmosphärisch, über unsere Möglichkeiten und was wir daraus machen, denn »wir sind so viel mehr, als wir meinen«.
Lese-Probe zu „Ein unmögliches Leben “
Ein unmögliches Leben von Andrew Sean Greer30. Oktober 1985
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Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal. Bei mir war es 1985 kurz vor Halloween zu Hause am Patchin Place. Selbst für New Yorker ist die Häuserzeile schwer zu finden: eine schmale Gasse westlich der Sixth Avenue, wo die Stadt trunken ins Gefüge des achtzehnten Jahrhunderts kippt und Kuriosa hervorbringt, wie dass die West Fourth die West Eighth kreuzt und Waverly Place sich selbst. Es gibt die West Twelfth und die Little West Twelfth. Es gibt die Greenwich Street und die Greenwich Avenue; Letztere folgt als Diagonale dem einstigen alten Indianerpfad. Sollten dort noch Gespenster mit Maisbündeln umgehen, dann sieht sie keiner - oder sie bleiben einfach unter den vielen Spinnern und Touristen unerkannt, die zu jeder Tages- und Nachtzeit lachend an meiner Haustür vorüberziehen. Man sagt, die Touristen verderben alles. Man sagt, das sage man immer schon.
Aber ich verrate es euch: Stellt euch an die Ecke West Tenth und Sixth Avenue in den pagodengezackten Schatten des alten Jefferson Market Courthouse mit seinem hohen Turm. Dreht euch herum, bis ihr das schmiedeeiserne Tor im Blick habt, das man so leicht übersieht, späht durch die Stäbe: Das ist sie, kaum mehr als ein halber Block, von spindligen Ahornbäumen gesäumt, ein Halbdutzend Haustüren später einfach endend, nichts Besonderes, eine kleine, holprige Sackgasse mit dreigeschossigen, einst als Unterkünfte für die baskischen Kellner des Breevort errichteten Wohnhäusern aus Backstein, und dort, ganz am Ende, rechts, gleich hinter dem letzten Baum: unsere Haustür. Putzt euch die Schuhe an der alten Borstenmatte im Gehweg ab. Tretet durch die grüne Haustür und klopft links an der Wohnungstür meiner Tante Ruth oder steigt die Treppe hinauf und klopft bei mir. Am Treppenabsatz könnt ihr, wenn ihr wollt, stehen bleiben und die Größe zweier Kinder ablesen, meine in rotem Wachsstift und weit darüber in Blau die meines Zwillingsbruders Felix.
Patchin Place. Das Eisentor abgesperrt und schwarz gestrichen. Die Häuser geduckt und für sich. Der wuchernde Efeu nach jedem Schnitt wieder wuchernd, das Pflaster bucklig und voll Unkraut; nicht mal ein Bezirksbürgermeister würde auf dem hastigen Heimweg zum Essen den Kopf wenden. Wer käme auch drauf? Hinter dem Tor, den Haustüren, dem Efeu. Wo höchstens ein Kind nachsehen würde. Denn ihr wisst, so wirkt eben Zauber. Ohne Vorwarnung trifft er von uns allen die, bei denen man es am wenigsten erwartet, und das, wie und wann er will. Er macht ein Nussschalenspiel aus der Zeit. Und eben so kam es, dass ich an einem Donnerstagmorgen in einer anderen Welt aufwachte.
Doch lasst mich neun Monate früher beginnen, im Januar, als ich mit Felix zusammen Alans Hund ausführte. Wir hatten die grüne Haustür hinter uns verschlossen und zogen durch das eisstarrende Tor am Eingang zum Patchin Place; die Hündin, Lady, beschnüffelte jeden freien Fleck. Kalt, kalt, kalt. Wir hatten die Krägen unserer Wollmäntel hochgeschlagen und teilten uns Felix' Schal, der unsere Hälse je einmal umschlang und verband, meine Hand in seiner Manteltasche und seine in meiner. Er war mein Zwilling, aber kein Double, denn er besaß zwar die gleichen roten Backen und gebogene Nase, mein rotes Haar und den blassen Teint, meinen blauen Silberblick - »fuchsgesichtig « nannte uns unsere Tante Ruth -, aber er überragte mich und war auch sonst größer, irgendwie. Ich musste Felix auf dem Eis stützen, und doch hatte er darauf bestanden, an diesem Abend ohne Stock auszugehen; es war einer seiner guten Abende. Ich fand ihn mit seinem neuen Schnurrbart immer noch albern. In seinem neuen Mantel so dünn. Es war unser einunddreißigster Geburtstag.
Ich sagte: »Es war eine schöne Party.«
Rings umher die fröstelnde Stille eines New Yorker Winters: über uns erleuchtete Apartments, auf den eisigen Straßen ein Glanz, in den Restaurants zu dieser späten Stunde gedämpftes Licht, an den Straßenecken Schneepyramiden, die Müll und Münzen und Schlüssel bargen. Der Hall unserer Schritte auf dem Bürgersteig.
»Weißt du was?«, sagte er. »Wenn ich tot bin, musst du allen sagen, sie sollen sich an unserem nächsten Geburtstag zur Party als ich verkleiden.« Immer die nächste Party im Sinn. Als Kind war er, meiner Erinnerung nach, herrschsüchtig und selbstgerecht tugendhaft gewesen, einer, der sich zum »Feuerwehrhauptmann« ernannte und die Familie zu lächerlichen Übungen zwang. Nach dem Tod unserer Eltern allerdings, und besonders nachdem er unserer armseligen Pubertät entschlüpft war, schmolz das ganze Eis auf einmal - er lief sozusagen zur anderen Seite, der Seite des Feuers, über. Er wurde unruhig; wenn der Tag kein besonderes Ereignis parat hielt, dann plante er es oft selbst und schmiss für alle und jeden eine Party, solange damit Drinks und Kostüme einhergingen. Unsere Tante Ruth hieß das gut.
»Ach, hör doch auf«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass Nathan früher wegmusste. Aber er hat in der letzten Zeit viel gearbeitet, weißt du.«
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Ich sah ihn an, das sommersprossige Gesicht, den roten Schnurrbart. Die dunklen Kommas unter den Augen. Mager und bange und still, das ganze innere Feuer erloschen. Statt zu antworten, sagte ich: »Sieh mal das viele Eis an den Bäumen!«
Er ließ Lady an einem Zaun schnüffeln. »Du wirst dafür sorgen, dass Nathan mein altes Halloweenkostüm trägt.«
»Das Cowgirl.«
Er lachte. »Nein, Ethel Mermaid. Du setzt ihn in einen Sessel und versorgst ihn mit Drinks. Das wird ihm gefallen. «
»Hat dir unser Geburtstag denn nicht gefallen?«, fragte ich ihn. »Ich weiß, dass es nicht gerade berauschend war. Kannst du Alan nicht endlich mal beibringen, Kuchen zu backen?«
»Unser Geburtstag muntert mich auf.« Wir gingen die Straße entlang und schielten nach Silhouetten oben in den Fenstern. »Du darfst Nathan nicht vernachlässigen.«
Das Licht erfasste die vereisten Bäume und elektrifizierte sie.
»Es sind jetzt zehn Jahre. Vielleicht tut ihm ein bisschen Vernachlässigung ganz gut«, sagte ich und packte seinen Arm fester, um ihn zu stützen.
Auf der kalten Winterstraße hörte ich Felix flüstern: »Schau, wieder einer.«
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Frisiersalon, der stets die Ecke markiert hatte. Im Fenster ein Schild: FÜR GESCHÄFTSVERKEHR GESCHLOSSEN. Mein Bruder blieb einen Augenblick stehen, Lady erwog den Baumstamm. »Gegangen«, sagte Felix schlicht.
Das war die gängige Wendung: Chronik eines Seuchenjahres. Der Hundesalon. Die Bäckerei. Der Barkeeper, der Schneider und der Kellner vom Village Gate. Die vielen Schilder: FÜR GESCHÄFTSVERKEHR GESCHLOSSEN. Wenn man nach dem Kellner fragte, hieß es »gegangen «. Der Barkeeper mit dem Vogel-Tatoo: »gegangen«. Der Junge von oben, der den Feueralarm ausgelöst hatte: »gegangen«. Danny. Samuel. Patrick. So viele Gespenster, dass die Indianer dazwischen nicht auszumachen wären, selbst wenn sie lauthals nach ihrem verlorenen Manahatta heulten.
Ein Türenknallen; eine Frau kam aus dem Gebäude geschossen - schwarzgefärbte Pudelkrause, Trench. »Ihr Arschlöcher macht die Bäume kaputt!«
»Tag auch«, sagte Felix freundlich. »Wir sind Nachbarn, schön, Sie kennenzulernen.«
Sie schüttelte den Kopf und fixierte Lady, die im Begriff war, sich ins gefrorene Gras zu hocken. »Ihr macht meine Stadt kaputt«, sagte sie. »Schafft den Hund da weg.«
Ihr barscher Ton verstörte uns beide; die Hand meines Bruders ballte sich in meiner Tasche zur Faust. Ich überlegte, was ich noch sagen oder tun könnte, ehe wir einfach kehrtmachten. Die Frau verschränkte feindselig die Arme.
Felix sagte: »Verzeihen Sie, aber ... ich glaube, Hündinnen schaden den Bäumen nicht.«
»Schaffen Sie sie weg.«
Ich studierte das Gesicht meines Bruders. So ausgemergelt, ein Schatten nur des starken, grinsenden Zwillings, den ich mein Leben lang gekannt hatte, sein erhitztes Gesicht schrecklich verhärmt. Ich packte seinen Arm und wollte ihn weiterziehen, das brauchte er sich wirklich nicht anzuhören, nicht an unserem Geburtstag. Aber er war nicht zu bewegen. Ich sah förmlich, wie er den Mut zu einer Replik zu finden versuchte. Wo ich doch glaubte, er habe seine ganzen Reserven an Courage im Laufe des letzten Jahrs aufgebraucht.
»Na gut«, sagte er schließlich und riss Lady so heftig zurück, dass sie stolperte. »Eine Frage nur.«
Die selbstzufrieden feixende Frau hob die Brauen.
Felix rang sich ein Lächeln ab. Und dann sagte er etwas, was sie einen einzigen Schritt zurückweichen ließ, während wir schon um die Ecke verschwanden und an diesem kalten Abend unseres letzten Geburtstags losprusteten. Seine Worte trug ich während der folgenden schweren Wochen im Herzen, der Schreckensmonate, des halben Jahrs Hölle, das mich in tiefere Trauer stürzte, als ich sie je gekannt hatte. Stand da, ohne zu wanken, und stellte der Frau seelenruhig diese Frage:
»Als sie noch ein kleines Mädchen waren, Madam«, sprach er und zeigte auf sie, »war das die Frau, die zu werden Sie sich immer erträumt haben?«
Es kam schneller, als wir Vorkehrungen treffen konnten. Am Vorabend hatte Felix noch munter über die Bücher geredet, die ich ihm gebracht hatte. Am Morgen erhielt ich einen Anruf von Alan, der sagte: »Wir verlieren ihn, es geht zu schnell, ich glaube, wir müssen -«, so dass ich hinstürzte in ihr Apartment, wo Felix zwischen Wach- und Dämmerzustand lag. Seine Gelenke waren so geschwollen, dass jede Bewegung zur Qual wurde, unbeschreibliche Schmerzen, das Kopfweh war wieder und viel schlimmer da, und die letzte Runde Antibiotika hatte nichts bewirkt. Wir standen links und recht an seinem Bett und fragten wieder und wieder: »Möchtest du gehen?«, und erst nach zwanzig Minuten war mein Bruder in der Lage, die Augen zu öffnen und uns zu hören. Sprechen konnte er nicht, aber er nickte. Ich sah an seinen Augen, dass er da war und Bescheid wusste.
Patchin Place, mit Nathan allein, meinen Bruder beweinend. Schwer fiel der Schnee in diesem Winter auf das Tor, lastete auf den Ahornbäumen vor meinem Fenster. Ruth übernahm Felix' Vogel, und ich hörte ihn in der unteren Wohnung tschilpen, während ich hinausstarrte in einen vogellosen Wintertag. Felix hatte mit so vielem falschgelegen, was aber Nathan betraf, so behielt er recht: Ich hätte ihn nicht vernachlässigen dürfen.
Den Mann, mit dem ich zusammenlebte, den ich aber nie geheiratet hatte, meinen Dr. Michelson, einen klugen und sanften, lächelnden Mann mit rotbraunem Bart und Brille. Langes, schmales Gesicht mit Sorgenfalten um die Augen und sich herzförmig lichtendem Haar. Als wir uns kennenlernten, hatte ich Nathan als »älteren Mann« empfunden, doch mit dreißig dämmerte mir, dass uns nur acht Jahre trennten und der Abstand sich mit der Zeit verringern würde, bis wir beide gleich alt wären, und mit der Erkenntnis ging etwas Kummer darüber einher, dass ich etwas verlieren würde, was ich ihm »voraus« gehabt hatte. Mit vierzig war er von einer leicht melancholischen, freundlich lächelnden Art, die andere ausrufen ließ: »Aber Sie sind doch noch so jung!« Was sie meinten, war, dass er nicht bitter geworden war. Er schloss bei dieser Bemerkung immer lächelnd die Augen. Vermutlich, weil er genau der war, der werden zu wollen er immer behauptet hatte. Er war Arzt, geliebt von einer Frau. Er lebte in Greenwich Village. Trotz der vereinzelten grauen Fäden in seinem Bart hielten ihn, wie ich fand, gerade die Spukgestalten aus seiner Kindheit jung, die er hegte wie Haustiere: seine Angst vor Haien selbst in Schwimmbecken, seine Angst, »Tristesse« falsch auszusprechen. Er musste stets lachen, wenn er sich ertappte, und erzählte es mir auch. Wer weiß, was alles unerzählt blieb? Doch mir wuchsen seine Spukgestalten als Vertraute ans Herz, und als ich ihn Jahre später »Tristesse« bei mehreren Gelegenheiten richtig aussprechen hörte, war mir, als wäre eine alte einäugige Hauskatze gestorben.
Sein Wesen schien in der Formulierung aufzugehen, die er so beruhigend schon zu Beginn unserer Beziehung in jeder Problemlage anbrachte: »Das überlasse ich dir.« Sie war das Gegengift zu all meinen Ängsten. Verbrachte ich zu viel Zeit mit Felix und zu wenig mit ihm? »Das überlasse ich dir.« Die Formulierung nahm mir jede Sorge; ich liebte ihn dafür. Er wurde mein Gefährte und blieb es zehn Jahre. In Felix' letzten Monaten aber wurde Nathan zum Gespenst, das ich nicht sah. Ich ignorierte ihn, schob ihn beiseite, und eine Zeitlang hatte er dafür Verständnis. Dann hatte er keins mehr. Er war so gut, konnte aber, wenn es nicht nach ihm ging, leicht auch kalt sein. Und dann verlor ich ihn.
Wenige Monate nach Felix' Tod entdeckte ich, dass er fremdging. Ich war Nathan eines Abends gefolgt und fand mich vor einem Backsteingebäude wieder, vor dem Zickzack- Grinsen einer Feuertreppe, vor den Silhouetten meines Lebensgefährten und seiner jungen Geliebten. Wer weiß, wie lange ich dort stand? Wie lange steht man vor dem Anblick des Grauens? Es hatte zu schneien begonnen, stiebende Flocken, und das machte das Licht, das durchs Fenster auf die Straße fiel, länger.
Ich werde mich immer fragen, ob ich das Richtige tat. Ich trat von dem Gebäude weg, kehrte nach Hause zurück, wärmte mich im einsamen Bett und erwähnte die Sache ihm gegenüber mit keinem Wort. Bei allem, was los war, bei dem ganzen Aufruhr in mir, dem vielen angestauten Leid, konnte ich sein Bedürfnis nach mehr Leichtigkeit und Zuwendung so gut verstehen, danach, für diese Spielfrau den Ehemann zu spielen - quasi ein anderes Leben zu proben -, und ich sagte mir: ›Zu mir wird er zurückkehren, bei mir ist er daheim, nicht bei ihr.‹ Wir hatten schließlich so vieles miteinander geteilt, auch die Jahre vor den grauen Haaren. Wer sonst sollte je so gut zu ihm passen?
Er kehrte tatsächlich zu mir zurück. Er verließ sie. Das weiß ich, weil er ein paar Wochen später eines Abends, als ich am Patchin Place saß und in einem Buch las, während auf dem Herd die Bohnensuppe noch eine Stunde vor sich hin köcheln sollte, regengetränkt heimkehrte, mit rot verquollenem Gesicht und abwesendem Blick, als hätte er einen Mord mit ansehen müssen. Sein Bart glitzernd vor Tröpfchen. Er sagte hallo und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich ziehe nur eben die nassen Sachen aus«, sagte er, ging nach nebenan und schloss die Tür.
Ich hörte drüben ein Streichquartett - entgegen seinen sonstigen Vorlieben; er hatte offenbar im Radio den erstbesten Sender eingestellt, der laut genug war. Aber nicht laut genug. Ich hörte es trotz der Musik, während er sich nebenan vor mir verschanzte, die Laute, die er nicht unterdrücken konnte und doch so verzweifelt verbergen wollte: das Schluchzen eines gebrochenen Herzens.
Bei einer kaum vorstellbaren Szene musste es zum endgültigen Abschied gekommen sein, musste er sie geküsst, vielleicht ein letztes Mal geliebt und sich seinen Weg zur Tür gebahnt haben, während sie um die richtigen Worte rang, die Worte, die ihn zum Bleiben bewegen könnten. Dazu, mich zu verlassen statt sie. Gewiss hatte er mit zitternder Hand den Türknauf gepackt, hatten sie sich lange angesehen. Weinte er da schon? Denn sie hatte die Worte nicht gefunden - und da war er nun. Saß nebenan und schluchzte wie ein kleines Kind. Im wirbelnden Derwisch- klang der Violinen. Und da saß ich: mit dem Buch im Sessel unter der großen Messinglampe, die einen Goldreif in meinen Schoß warf. Im Wissen um das, was er getan hatte. Mit dem Wunsch, ihm zu sagen, dass ich wütend sei und verletzt und dankbar. Die Violinen tremolierten die Oktave hinab. Und etwas später kam Nathan aus dem Nebenzimmer und fragte: »Möchtest du einen Drink? Ich mache mir einen, einen Whiskey.« Da stand er und stand ihm das Leid ins Gesicht geschrieben. Wie viele Wochen, Monate mochten es gewesen sein? Wie viele Anrufe, Briefe, Nächte er ihr gewidmet haben? Aus und vorbei, als bräche man ein Genick. »Ja«, sagte ich und legte mein Buch weg, »die Suppe ist bald fertig«, also tranken und stärkten wir uns und sprachen nicht über das Ungeheuerliche, das sich soeben ereignet hatte.
Die eigentliche Überraschung war, dass er mich ein paar Monate später doch noch verließ. In einem Mietwagen draußen vor dem schmiedeeisernen Tor, ich auf dem Fahrersitz.
»Bleib bei mir, Nathan.«
»Nein, Greta. Ich kann das nicht mehr.«
Seine Hand an der Tür, sorgsam die Worte wählend, die unser gemeinsames Leben beenden würden. Welche es waren, spielte kaum eine Rolle. Ich sehe mich in diesem grimmigen Moment: blass im Licht der Straßenlaterne, Tränen in den farblosen Wimpern, das rote Haar jüngst erst im letzten, verzweifelten Versuch zur Veränderung raspelkurz geschnitten, die Lippen im Versuch geöffnet, irgendetwas noch zu sagen zu finden. Entriegelter Türgriff, plötzlicher Windstoß, die letzten Minuten - ich begriff, dass das Blitzen seiner Brillengläser im Licht der Straßenlaterne vielleicht das Letzte wäre, was ich je von ihm sähe. »Was soll ich denn tun?«, brüllte ich aus dem Wagen.
Er sah mich einen Augenblick kalt an, dann berührte er die Tür und sagte, ehe er sie zudrückte: »Das überlasse ich dir.«
»Versuch es mit Hypnose«, riet mir Tante Ruth, während sie mir die Schläfen mit Öl einrieb. »Mit EST. Mit allem außer Seelenklempnern, Darling.« Sie war in diesen Monaten meine einzige Stütze. Mein Vater hätte ihre Besuche sicher missbilligt, stets hatte er seine Schwester als flatterhaft, selbstbezogen, undiszipliniert empfunden, künstlerisch, gefährlich, zu unterbinden. Eine Frau, hatte er zu mir einmal gesagt, die »Theater!« im vollen Feuer riefe. Mir war sie ein Trost, eine Verbündete, aber was in mir tatsächlich vorging, davon wusste sie nichts.
Jeder kam mir mit Ratschlägen. Versuch es mit Akupunktur, sagte man mir, wenn ich mich doch einmal zu einer Party aufraffte. Versuch es mit Akupressur. Versuch es mit Yoga, versuch es mit Dauerläufen, versuch es mit Hasch. Versuch es mit Hafer, mit Kleie, mit Heilfasten. Verzichte aufs Rauchen, auf Milchprodukte, auf Fleisch. Verzichte auf Alkohol, aufs Fernsehen, auf Selbstbezogenheit. Der Therapeut, zu dem ich schließlich ging, Dr. Gilleo, sprach mit mir endlos über meine toten Eltern, über Kindheitserinnerungen an goldene Hunde, die mit meinem Bruder durch goldene Nachmittage liefen, und fand die gewöhnlichen Dornen eines gewöhnlichen Lebens. War es denn so schlimm, fragte ich ihn, traurig zu sein, weil traurige Dinge passierten? »Es gibt eine Reihe neuer Antidepressiva«, erwiderte er. »Und mit denen werden wir es mal probieren.« Ich probierte sie wirklich, von Ambivalon bis Zimelidine. Doch sie konnten den Albtraum nicht abstellen: an die Tür zu gehen und dort Felix mit seinem absurden Schnurrbart stehen zu sehen, der um Einlass bat und dem ich sagen musste, das gehe nicht. »Warum nicht?«, fragte er dann. Und Nacht für Nacht erklärte ich ihm: »Weil du tot bist.«
Ruth massierte mir die Schläfen, küsste meine Stirn. »Ist ja gut, ist ja gut, Darling. Das geht vorüber. Das geht vorüber. « Und setzte, wie immer wenig hilfreich, hinzu: »Ich finde, du brauchst einen Liebhaber.«
Es ist fast unmöglich, wahre Trauer zu fassen; sie ist ein Tiefseegeschöpf, das nicht ans Licht geholt werden kann. Ich sage, ich erinnere mich, traurig gewesen zu sein, aber tatsächlich erinnere ich mich bloß an Morgen, an denen die Frau im Bett - die Frau, in der ich eingeschlossen war - nicht aufwachen, nicht zur Arbeit gehen konnte, nichts von dem tun konnte, von dem sie wusste, dass es die Rettung wäre, sondern sich an das hielt, was sie zerstören musste: Alkohol, verbotene Zigaretten und endlose verlorene schwarze Stunden der Einsamkeit. Ich bin versucht, mich von ihr zu distanzieren, zu sagen: »Ach, das war nicht ich.« Aber ich war sehr wohl die, die die Wand anstarrte und den Wunsch verspürte, sie mit Wachsbuntstiften vollzukritzeln, aber nicht einmal dazu den Willen aufbrachte. Nicht einmal den Willen zum Selbstmord. Ich war sehr wohl die auf meinem Zimmer, die zum Fenster hinaus auf den Patchin Place schaute, während es in den Ahornbäumen gelber Herbst wurde.
In der Nachbarschaft machte sich schon die Vorfreude auf Halloween bemerkbar. Die Auslagen der Geschäfte füllten sich mit silbern gesprayten nackten Faunen, großen, leuchtenden Pappmachépuppen, Skeletten und Hexen aller Art. Ausgehöhlte Kürbisse flankierten das Eisentor zum Patchin Place. Mir war, als könnte man meinen Kopf gleich dazulegen. Die Straßen sahen einsam aus. Ich sah einsam aus, wenn ich mich morgens zur Arbeit schleppte und Abend für Abend bei zunehmend tiefem Zwielicht wieder heim, wenn meine kleine Gasse alle Farben gegen Blau tauschte und im Westen der helle, lavendel zerfließende Sonnenuntergang über dem Hudson stand. Er brachte den ganzen Himmel zum Leuchten, und die hohen Apartmenthäuser hoben sich schwarz und spitzkantig davor ab. Dort lebte ich. Im Herbst 1985. Wie gern hätte ich zu jeder anderen Zeit gelebt. Diese lag unter dem Fluch von Trauer und Tod.
Wie klar hörte ich meinen Bruder mich aus dem Grab fragen: War das die Frau, die zu werden du dir immer erträumt hast? War das die Frau?
Und dann, eines Tages, klopfte der liebe, gute Dr. Gilleo mit dem Bleistift auf seinen Notizblock: »Es gibt da noch eine andere Möglichkeit.«
Die Arztpraxis war anders als erwartet. Wahrscheinlich hatte ich mir, weil doch Halloween war, eine Art Frankenstein- Labor vorgestellt, irgendwo in eine Felswand gehauen. Stattdessen handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Backsteinhaus, das den Innenhof mit dem teilte, was zu meiner Zeit eine Grundschule gewesen, jetzt aber dem Ärztehaus einverleibt worden war, so dass dort rauchend Arzthelferinnen herumstanden. Ich saß ein paar Minuten gegenüber von einer Frau mit einem knallgrünen Schultertuch und Strickzeug auf einem im Karomuster gepolsterten Stuhl, dann wurde ich zu Dr. Cerletti gerufen. Auf dem Türschild: CERLETTI - ELEKTROKONVULSIONSTHERAPIE.
»Miss Wells, wie ich sehe, haben wir von Dr. Gilleo die informierte Einwilligung vorliegen?« Der dies sagte, war ein vierschrötiger, kahlköpfiger Mann mit großer Halbbrille und mildem Gesicht.
»Ja, das ist richtig.« Ich sah mich im Raum nach dem Gerät um, das mich kurieren sollte.
»Wir haben von ihm also eine Überweisungsdiagnose.«
»Ich leide unter Depressionen«, sagte ich ihm. »Mit Pillen haben wir es schon versucht. Nichts hilft.«
»Sonst wären Sie kaum hier, Miss Wells.«
Dr. Cerletti studierte sein Klemmbrett. »Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?«
»Nur, wenn ich auch welche stellen darf. Die Vorstellung von Elektroschocks macht mir Angst und -«
»Wir sprechen heutzutage von Elektrokonvulsion. Bestimmt hat Dr. Gilleo das alles gründlich mit Ihnen besprochen. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass das Gehirn dabei Schaden nimmt.«
»Elektrokonvulsion klingt auch nicht viel besser.«
Er lächelte, und das Lächeln in dem glatten, gütigen Gesicht war beruhigend. »Die heutige Anwendungspraxis ist ganz anders als früher. Ich werde Ihnen zum Beispiel Thiopental verabreichen, ein Anästhetikum und Muskelrelaxans. Ein Zahnarztbesuch ist schlimmer.«
»Das ist doch Natriumpentothal, oder? Werde ich Ihnen die Wahrheit sagen, Doktor?«
»Wollten Sie das nicht? Das Mittel bewirkt eigentlich keinen Wahrheitsdrang. Es schwächt nur den Willen des Patienten.«
»Nicht gerade das, was ich brauche, scheint mir.«
»Im Augenblick ist es genau das, was Sie brauchen«, entgegnete er, während er sich stirnrunzelnd etwas notierte. »Wir werden zweimal wöchentlich behandeln, mit Ausnahme der letzten, ein Zyklus von zwölf Wochen. Fünfundzwanzig Anwendungen. Im Februar schließen wir die Behandlung ab. Sie wird Ihnen über eine schwere Zeit hinweghelfen. Wenn ich recht informiert bin, ist kürzlich Ihr Bruder gestorben.«
»Unter anderem«, sagte ich, den Blick starr aus dem Fenster auf die Arzthelferinnen gerichtet. »Werde ich mich verändern?«, fragte ich den Arzt.
Dr. Cerletti überlegte genau. »Nicht im Geringsten, Miss Wells. Was Sie verändert, ist die Depression. Was wir erreichen wollen, ist, Sie zurückzuholen.«
»Mich zurückholen.«
Er lächelte erneut und holte dann Luft. »Sie können ganz normal Ihrem gewohnten Tagesablauf nachgehen. Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie versuchen sollten, schwanger zu werden.«
»Das ist eher unwahrscheinlich, Doktor.«
»EKT ist zwar auch bei Schwangeren nicht kontraindiziert, aber das sollten wir schon wissen. Sie werden sich nach der Anwendung vielleicht etwas desorientiert fühlen. Das ist normal.«
»Was heißt desorientiert?«
»Bitte nehmen Sie nun auf der Liege Platz. Es heißt: leichter Schwindel. Eventualiter, eventuell also Halluzinationen. Das heißt kurzzeitig nicht wissen, wo Sie oder ganz wer Sie sind. Gelegentlich erleben Patienten auch akustische Halluzinationen, hören Glocken läuten und Ähnliches.«
»Moment. Das klingt beunruhigend.«
»Bitte legen Sie sich zurück. Es ist nicht weiter schlimm. Unsere Patienten berichten uns, das sei, wie in einem Hotelzimmer aufzuwachen. Man weiß erst einmal nicht recht, wo man ist. Dann ist man wieder man selbst. Legen Sie sich bitte zurück, so ist es gut. Zunächst also das Anästhetikum. Sie werden von elektrischen Strömen gar nichts bemerken. «
Die Arzthelferin erschien mit zwei Spritzen - dem Anästhetikum und dem Muskelrelaxans. Ich sank auf das knisternde Papier zurück und studierte die Konstellationen der schalldämpfenden Deckenplatten über mir. Ich schloss die Augen. Dr. Cerletti sagte, ich würde nur die erste Injektion spüren, nicht aber die zweite, und dass der anschließende Vorgang bei der anderthalbfachen Krampf- Schwellendosis für eine Frau meines Alters nur eine Minute dauern werde. Ziel war es, wenn ich ihn recht verstand, mein Gehirn durch einen Krampfanfall neu zu kalibrieren. Cerletti ließ sich über die historische Entwicklung aus, vielleicht, um mich abzulenken, erzählte, wie viel besser das Verfahren heute sei als früher. Damals habe man noch elektrostatische Kondensatoren verwendet, unglaublich, oder? Ich spürte, wie mir Metall an die Schläfen gelegt wurde, dann den kalten Tupfer des Alkohols in der Armbeuge, dann das gemeine Zwicken der eingeführten Nadel. Ich hielt den Atem an. Fast augenblicklich breitete sich ein unangenehmer Geruch im Raum aus - wie von faulenden Zwiebeln -; mein Hirn machte einen Satz, und dann war ich woanders. Holt mich bloß nicht zurück, dachte ich noch. Lasst mich fort.
Wie ich mich aber fühlte - den Zustand konnte ich im Nachhinein nur als aus der Welt geschnitten beschreiben. Nicht unbedingt ein unangenehmes Gefühl, sondern eher wie der Schock, den man empfindet, wenn man seine kalten Gliedmaßen in heißes Badewasser taucht, ein Gefühl, als würde die Zugluft sich von der Haut schälen, das knisternde Papier von meinem Rücken, die Luft aus meinen Lungen, so dass ich einen Augenblick vollkommen losgelöst war von allem. Aus der Welt geschnitten, wie ein Lebkuchenmann aus Teig gestanzt wird. Ausgeschnitten und wer weiß wohin gebracht?
Wie nennt man die Zeit, in der wir fehlen? Etwa Situationen, wo wir so viel getrunken haben, dass poröse Minuten durchrutschen oder uns ganze Stunden abhandenkommen und wir dennoch zugegen waren, Dinge gesagt und getan haben und für das, was geschah, verantwortlich sind? Oder noch der kleinste verlorengegangene Moment, wenn wir zu uns kommen und feststellen, dass wir mitten in einem Telefongespräch stecken und uns durchbluffen müssen? Wie nennt man diese Lückenzeit? Welcher Teil von uns funktioniert weiter? Trifft uns die Schuld für das, was wir tun? Und schließlich: Wer sind wir, wenn wir nicht wir selbst sind?
»So.«
Ich schlug die Augen auf. Über mir hing das lächelnde Gesicht des Doktors, und mir entging der Schweißtropfen zwischen seinen Brauen keineswegs. »Es kann sein, dass Sie sich für den Rest des Tages leicht verkatert fühlen werden.«
Ich sah mich im Raum um, der unverändert schien, höchstens ein bisschen wie unter Wasser. Und dann sagte ich etwas sehr Merkwürdiges, worüber er schmunzeln musste. »Wo ist wer geblieben, Miss Wells?«
»Tut mir leid; ich bin wohl noch etwas benommen.«
»Glauben Sie, Sie schaffen es ohne Hilfe nach Hause?«
Selbstverständlich, sagte ich ihm.
Er nickte und meinte: »Ich denke, Sie werden einen Unterschied bemerken. Da wir die Anwendungen in kurzer Folge durchführen wollen, sehen wir uns morgen wieder und dann nächste Woche; lassen Sie sich von Marcia die Termine geben, bevor Sie gehen.« Er schenkte seiner Helferin ein Lächeln und tätschelte ihr, als sie sich zum Gehen wandte, kurz den Hintern. Die Arzthelferin, eine dauergewellte Blondine mit blauem Lidschatten und Schiefnase, brachte mir meine Sachen und wartete grinsend, während ich mich ankleidete. Vielleicht wegen des Tätschelns. Oder wegen meiner seltsamen, halb narkotisierten Frage:
»Doktor, wo sind die ganzen Kinder geblieben?«
»Ich habe etwas gesehen«, sagte ich später zu meiner Tante Ruth. »Als ich die Augen schloss, als sie ... ich dachte, ich bin woanders.« Wir saßen in meinem Apartment beim Tee - oder vielmehr saß sie; ich lag auf dem Bett, eine Hand an der Stirn, und rang mit dem »Kater«, den der Arzt mir prophezeit hatte. Ein kleines, schlichtes Zimmer mit einem großen Nordfenster, an dem das Bett stand, nur war dieses einstige Kinderzimmer inzwischen modern unterkühlt: weiße Wände, extragroße gerahmte Abzüge meiner Fotos, rote Jalousien, ein niedriges, mit weißen Kissen übersätes Bett. Keine Möbel, keinerlei mädchenhafte Anmutung bis auf den einen Holzstuhl, über dessen Lehne die schwarze Hose des heutigen Tages hing. Ein Bett, eine Aussicht. Weniger Raum als Absichtserklärung.
»Ist dir noch schwindlig?«, fragte Tante Ruth. Sie trug zu ihrem schwarzen Baumwollkleid eine mehrsträngige Halskette aus Edelstahl und hatte sich das Haar, obwohl sie erst Mitte fünfzig war, platinweiß färben lassen - ihrer privaten Theorie gemäß, dass sie das alterslos machte. »Du musst Tee trinken, viel Tee. Mir gefällt gar nicht, was sie dir da antun.«
»Tante Ruth, das fehlt mir jetzt gerade noch. Ich brauche Klarheit. Ich treffe mich in einer Stunde mit Alan.«
»Nun, dann hör nicht auf mich«, meinte sie. »Bist du sicher, dass du dich dem Treffen gewachsen fühlst?«
»Gibst du in diesem Jahr keine Halloweenparty, Ruth?«
»Wechsel jetzt nicht das Thema. Natürlich nicht. Wie sollte ich - ohne ihn?«
»Er würde es aber wollen.«
»Dann hätte er eben nicht sterben dürfen«, sagte sie energisch. »Und erzähl mir nicht, dass das nicht ziemlich extrem ist: Elektroschocks.«
»Elektrokonvulsionstherapie. Letzter Versuch. Sie sprechen von Krampfanfällen, die meine Denkmuster durchbrechen sollen, aber ich weiß, worum es wirklich geht. Sie finden, ich sollte anders sein. Diese Greta funktioniert ja offenbar nicht. Das hat sie zwar mehr als dreißig Jahre lang, aber jetzt braucht sie eine Generalüberholung. Austausch sämtlicher Teile.«
»Nur eines Teils.«
»Nur eines Teils. Und der bin ich. Mir gefällt es auch nicht, aber ich weiß nicht mehr weiter. Ich kann nicht ... ich komme morgens kaum aus dem Bett. Dabei ...«
»Was genau hast du eigentlich gesehen?«
Es sei gleich nach dem fauligen Zwiebelgeruch gewesen, erklärte ich ihr. Nach dem Gefühl, aus der Welt geschnitten zu sein - wobei ich zu keiner Zeit so etwas wie elektrischen Strom verspürt hatte -, und zwar, als ich die Augen aufschlug und dachte, sie wären mit der Anwendung fertig. Nur lag ich in einem anderen Zimmer. Oder nein, nicht ganz - es war dasselbe Zimmer, aber anders. Die Wände waren cyanblau, nicht weiß, und wo die EKT- Maschine gestanden hatte, ragte ein größeres, weiß emailliertes Gerät neben einer Nierenschale mit Tupfern auf; an der Wand hing ein Schaubild der verschiedenen Gehirnregionen. Doch der wahre Schock war gewesen, was ich vor dem Fenster sah. Wo zuvor ein mit Kies bestreuter Innenhof und rauchende Arzthelferinnen gewesen waren, lag jetzt ein gepflastertes, mit Linien und Ziffern bemaltes Geviert. Und dort wimmelte es von laufenden, lachenden, juchzenden, kreischenden Kindern.
»Und dann habe ich die Augen noch mal aufgemacht.«
»Wie? Du hast sie zu und dann wieder aufgemacht?«
»Nein, ich meine, als hätte ich zwei Paar Augenlider. Und schlüge das zweite Paar auf. Ich sah wieder die Kinder, aber diesmal in Kniehosen und so ... altmodischen Kittelkleidchen alle in einer Reihe. Und dann war Schluss - dann erschien über mir das Gesicht des Arztes, und ich ...« Ich musste lachen und stellte meinen Tee ab. »Ich habe ihn gefragt: ›Wo sind die ganzen Kinder geblieben?‹ Wahrscheinlich hält er mich sowieso für verrückt. Ich habe dafür keine Erklärung. Es kam mir alles genauso real vor wie die Arztpraxis. Ich hörte draußen den Verkehr; ein Fenster stand offen. Ich roch frische Farbe.«
»Bist du dir sicher? Ich habe mal gehört, nur Hunde könnten im Traum riechen.«
»Es war kein Traum. Er hat ja gesagt, dass es eine gewisse ... Desorientierung geben könne, so hat er sich ausgedrückt. «
Meine Tante saß still da und musterte mich schlicht wie jemand, der sich entscheiden muss, ob er einen sehr ernst oder überhaupt nicht ernst nehmen soll; eine andere Möglichkeit gibt es nicht mehr. Aus ihrer Wohnung unten war ein Vogel im Käfig zu hören, Felix' alter Wellensittich, der vor sich hin trällerte wie sonst auch - den Vögeln jenseits der Fensterscheibe vorsang, wie Felix immer behauptet hatte, ohne zu begreifen, dass sie ihn nicht hören konnten. Er sang und sang, während meine Tante mich musterte und sogar ihr ewig klirrender Schmuck vorerst schwieg und ich in ihren blanken schwarzen, staunenden Augen Faszination und ein erhöhtes Interesse entdeckte, wie sie es seit Monaten an mir nicht gezeigt hatte.
»Was sollte es anderes gewesen sein als ein Traum?«
»Nun«, begann ich und schob mich im Bett etwas weiter zurück. »Vielleicht war es eine Art Kurzschluss im Gehirn, weißt du, der verschiedene Erinnerungen verkoppelt hat: mein altes Klassenzimmer mit alten Filmen, ein Funkenschlag, der sie für den Bruchteil einer Sekunde real erscheinen ließ.«
»Bist du dir denn sicher, dass es nicht real war?«
»Wie sollte es real gewesen sein können?«
Ihr Blick tastete mein Gesicht ab, als läse sie in einem Buch; so offen, so leicht zu durchschauen muss ich in den ersten Stunden nach der Anwendung gewesen sein. Sie nahm Tasse und Untertasse hoch. »Es gibt meines Erachtens zwei Arten von Menschen«, sagte sie, und das Trällern des Sittichs füllte die Pause, die sie einlegte. Der Apostroph zwischen ihren Augen wurde markanter, dann wieder zarter. »Einmal die, die mitten in der Nacht aufwachen, eine Frau im Hochzeitskleid am Fenster sitzen sehen und sich sagen: ›Lieber Gott, ein Gespenst!‹ Das sind die einen. Die etwas als real empfinden und glauben, dass es real ist. Und dann gibt es die, die ein Phantom sehen und sich sagen: ›Ich weiß zwar nicht, was ich gesehen habe, aber ein Gespenst war es nicht, weil es Gespenster nicht gibt.‹ Ich habe im Laufe meines Leben festgestellt, dass es diese zwei Typen gibt.«
Sie hob ihre Tasse an die Lippen und setzte sie dann mit einem Lächeln wieder auf der Untertasse ab. »Und zum zweiten gehört niemand.«
»Gut siehst du aus, Alan«, sagte ich und drückte ihn. Alan, Lebensgefährte meines Bruders bis zum Schluss, Mitte vierzig, als sie sich kennenlernten, und jetzt an die fünfzig. Wir hatten uns auf einen Drink verabredet, und ich war drauf und dran gewesen, abzusagen, als dann das Schwindelgefühl bei mir doch noch nachließ. Wir hatten uns monatelang nicht gesehen und auch vorher kaum, nach Felix' Tod. Das war ein weiterer Kummer in meinem Leben, aber ich vermute, wir gingen uns in ähnlicher Weise aus dem Weg, wie Verbrecher einen Tatort meiden.
Alan überragte alle um Haupteslänge, er trug ein Cowboyhemd mit Perlmuttdruckknöpfen zu Jeans, einem geflochtenen Ledergürtel und einem Mantel aus geöltem Leder. Ich sah sein Lächeln alle Falten im Gesicht beleben. Falten von sonnigen Kindersommern in Iowa und Wochenenden mit Felix und mir in den Hamptons. Kurzgeschorenes Silberhaar, silberne Bartstoppeln am großen Kinn mit der hellen, von einem Missgeschick im Garten herrührenden Narbe, die er gern zum »Berglöwenangriff« stilisierte, und doch - seine Krankheit zwang zu Korrekturen. Vor mir: eine geminderte Ausgabe des Alan von einst. Die Umarmung dürrer. Felix' Riesenkerl war jetzt schmal wie ein Jüngling, und trotz des Mantels spürte ich doch beinahe die Rippen. Ich sagte aber nichts weiter, als dass er gut aussehe.
»Danke, Greta.« Er lächelte und legte mir die Hand an die Wange. »Du hast dich in letzter Zeit rar gemacht.«
»Es ging mir nicht gut«, sagte ich. Es war eines der alten, eher touristischen Cafés an der Bleecker, die für mich nie ihren Charme eingebüßt haben. Wir wählten eine unbequeme Holznische in der Ecke bei einem verrosteten russischen Samowar, und Alan legte seinen Mantel ab. Das Cowboyhemd spannte nicht mehr über Muskeln, und dieser dünnere Alan wirkte irgendwie auch jünger. Am Nachbartisch baute ein junger Mann mit einem breiten, schlauen Gesicht gerade ein Kartenhaus. Neben sich hatte er einen Touristenstadtplan liegen, und als er hochsah, bemerkte er meinen neugierigen Blick. Er zog eine Augenbraue hoch, und ich wandte mich ab.
»Wie geht es Nathan?«, fragte Alan und strich sich übers Kinn, als suchte er die alte Narbe.
In meinem Seufzer steckte zugleich ein kleines Lachen, ich winkte nach Kaffee. »Er hat mich verlassen, Alan. Nein, ist schon gut. Oder eigentlich nicht, aber es ist eine Weile her und ... ich werde auf meine Art damit fertig. Lange Geschichte, lass uns ein andermal drüber reden. Hast du jemanden kennengelernt?« Da grinste er verlegen, der erwachsene Mann! Saß da mit seinem kantigen Kinn und der bodenständigen Miene eines Kerls aus dem Mittleren Westen, und dann dieses Grinsen! Ich bedeckte eine schwielige Hand mit der meinen. »Schon gut, Alan, Felix war nie eifersüchtig, und ich würde mir Sorgen machen, wenn es nicht so wäre. Obwohl ich es verstehen könnte.«
»Nein, ganz so ist es nicht«, sagte er, nahm den Salzstreuer hoch und ließ ihn auf der Kante kippeln. »Es gibt da jemanden, der sich um mich kümmern will. Ich möchte aber nicht, dass sich jemand kümmert.«
»Nein, wolltest du nie.«
»Er fehlt mir«, sagte er schwer und ließ den Salzstreuer kreiseln. Im Grunde, dachte ich, war Alan immer viel weicher gewesen als Felix, verletzlicher, seine Ruhe halb Zufriedenheit, halb unausgesprochenes Leid. Es hatte, vor Felix, eine Frau gegeben und Kinder. Es hatte volle vierzig Jahre eines anderen Alan gegeben. Vielleicht hatte er meinen Bruder deshalb geliebt: Felix' Lebensgier machte verlorene Zeit wett. Alan hatte sich nie gern verkleidet oder getanzt, aber er hatte gern dabei zugesehen. In seinen verwaschenen Jeans leise lächelnd.
»Mir fehlt er auch«, sagte ich. Ich sah zu, wie Alan den Salzstreuer auf dem Tisch tanzen ließ, sah diesen das Licht bündeln und wie Glassplitter an die Wand werfen. Er fing den Streuer in der Faust. Ich sagte: »Weißt du, was ich mir wünsche? Nicht etwa, dass ich darüber hinwegkomme. Ich wünsche mir das Unmögliche. Ich wünsche es ungeschehen gemacht.«
»Tja«, sagte er.
»Ich wünsche es ungeschehen gemacht. Ich habe den Verstand verloren, Alan. Sie schicken mich zur EKT.«
Er ergriff meine Hand und drückte sie.
»Heute war die erste Anwendung. Seitdem halluziniere ich.«
Er verzog das Gesicht. »Das bewirken die Medikamente bei mir auch. Mal mehr, mal weniger. Tut mir so leid.«
»Lass diesen Typen sich um dich kümmern, Alan.«
Er erfasste den Ernst meines Blicks, er verengte die Augen, was die Fältchen außen noch stärker hervortreten ließ, dann schüttelte er den Kopf und gab meine Hand frei. »Ich bin zu alt und zu krank für das alles.« Er nahm einen Schluck Kaffee und zuckte mit den Achseln; um sein Haar schimmerte ein silberner Lichtkranz. »Der Junge glaubt, es wäre romantisch, ganz bis zum Schluss da zu sein. Bei der Trauerfeier die Witwe zu sein. Ich war schon mal Witwe, habe ich ihm gesagt, es fühlt sich ganz und gar nicht so an.«
»Du wirst nicht sterben, Alan.«
Das ist dummes Zeug, ganz gleich, zu wem man es sagt, war es aber in seinem Fall besonders. Er hob den Blick von seinem Kaffeebecher, und das so vertraute grüne Craquelé seiner Augen blitzte vor Kummer und Belustigung; die Todgeweihten sehen uns andere oft auf diese merkwürdige Art an: Als wären wir die eigentlich Sterblichen. In der Ferne heulte und heulte eine Sirene. Neben uns ein Seufzer: Das Kartenhaus war eingestürzt, die Karten überall verteilt.
»Natürlich nicht«, sagte er und lachte in sich hinein. »Wird keiner von uns.«
Ich blieb an diesem Abend sehr lange auf, sortierte Kontaktabzüge und versuchte, nicht an Alan zu denken und erst recht nicht an Felix. Vielleicht fürchtete ich meine Träume, fürchtete, mein Bruder könnte wieder in ihnen erscheinen. Erst gegen vier Uhr morgens fand ich mich im Bett wieder, den Blick starr auf die weiße Wand gerichtet, die Fotovergrößerungen, die hochgezogenen roten Jalousien, die den Blick auf ein nächtliches Greenwich Village freigaben und die immer gleiche Aussicht: die Häuserzeile von Patchin Place, den Turm des Jefferson Market und den angrenzenden kleinen Park. Die gelben Schöpfe der Ginkgobäume, die alles dazwischen schmückten. Ich wünsche es ungeschehen gemacht. Ich entsinne mich, die Augen geschlossen und einen einzigen hellen blauen Stern im Dunkeln schweben und vor Licht pulsieren gesehen zu haben. Zu jeder anderen Zeit. Gesehen zu haben, wie der Stern entzweibrach, und dann die zwei Teile, und dann wieder und wieder: sich teilende, pulsende blaue Sterne, bis sich ein Kreis ballte und es eine Art Donnerschlag tat und ich hineinstürzte - und mehr weiß ich nicht.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Das Unmögliche passiert uns allen ein Mal. Bei mir war es 1985 kurz vor Halloween zu Hause am Patchin Place. Selbst für New Yorker ist die Häuserzeile schwer zu finden: eine schmale Gasse westlich der Sixth Avenue, wo die Stadt trunken ins Gefüge des achtzehnten Jahrhunderts kippt und Kuriosa hervorbringt, wie dass die West Fourth die West Eighth kreuzt und Waverly Place sich selbst. Es gibt die West Twelfth und die Little West Twelfth. Es gibt die Greenwich Street und die Greenwich Avenue; Letztere folgt als Diagonale dem einstigen alten Indianerpfad. Sollten dort noch Gespenster mit Maisbündeln umgehen, dann sieht sie keiner - oder sie bleiben einfach unter den vielen Spinnern und Touristen unerkannt, die zu jeder Tages- und Nachtzeit lachend an meiner Haustür vorüberziehen. Man sagt, die Touristen verderben alles. Man sagt, das sage man immer schon.
Aber ich verrate es euch: Stellt euch an die Ecke West Tenth und Sixth Avenue in den pagodengezackten Schatten des alten Jefferson Market Courthouse mit seinem hohen Turm. Dreht euch herum, bis ihr das schmiedeeiserne Tor im Blick habt, das man so leicht übersieht, späht durch die Stäbe: Das ist sie, kaum mehr als ein halber Block, von spindligen Ahornbäumen gesäumt, ein Halbdutzend Haustüren später einfach endend, nichts Besonderes, eine kleine, holprige Sackgasse mit dreigeschossigen, einst als Unterkünfte für die baskischen Kellner des Breevort errichteten Wohnhäusern aus Backstein, und dort, ganz am Ende, rechts, gleich hinter dem letzten Baum: unsere Haustür. Putzt euch die Schuhe an der alten Borstenmatte im Gehweg ab. Tretet durch die grüne Haustür und klopft links an der Wohnungstür meiner Tante Ruth oder steigt die Treppe hinauf und klopft bei mir. Am Treppenabsatz könnt ihr, wenn ihr wollt, stehen bleiben und die Größe zweier Kinder ablesen, meine in rotem Wachsstift und weit darüber in Blau die meines Zwillingsbruders Felix.
Patchin Place. Das Eisentor abgesperrt und schwarz gestrichen. Die Häuser geduckt und für sich. Der wuchernde Efeu nach jedem Schnitt wieder wuchernd, das Pflaster bucklig und voll Unkraut; nicht mal ein Bezirksbürgermeister würde auf dem hastigen Heimweg zum Essen den Kopf wenden. Wer käme auch drauf? Hinter dem Tor, den Haustüren, dem Efeu. Wo höchstens ein Kind nachsehen würde. Denn ihr wisst, so wirkt eben Zauber. Ohne Vorwarnung trifft er von uns allen die, bei denen man es am wenigsten erwartet, und das, wie und wann er will. Er macht ein Nussschalenspiel aus der Zeit. Und eben so kam es, dass ich an einem Donnerstagmorgen in einer anderen Welt aufwachte.
Doch lasst mich neun Monate früher beginnen, im Januar, als ich mit Felix zusammen Alans Hund ausführte. Wir hatten die grüne Haustür hinter uns verschlossen und zogen durch das eisstarrende Tor am Eingang zum Patchin Place; die Hündin, Lady, beschnüffelte jeden freien Fleck. Kalt, kalt, kalt. Wir hatten die Krägen unserer Wollmäntel hochgeschlagen und teilten uns Felix' Schal, der unsere Hälse je einmal umschlang und verband, meine Hand in seiner Manteltasche und seine in meiner. Er war mein Zwilling, aber kein Double, denn er besaß zwar die gleichen roten Backen und gebogene Nase, mein rotes Haar und den blassen Teint, meinen blauen Silberblick - »fuchsgesichtig « nannte uns unsere Tante Ruth -, aber er überragte mich und war auch sonst größer, irgendwie. Ich musste Felix auf dem Eis stützen, und doch hatte er darauf bestanden, an diesem Abend ohne Stock auszugehen; es war einer seiner guten Abende. Ich fand ihn mit seinem neuen Schnurrbart immer noch albern. In seinem neuen Mantel so dünn. Es war unser einunddreißigster Geburtstag.
Ich sagte: »Es war eine schöne Party.«
Rings umher die fröstelnde Stille eines New Yorker Winters: über uns erleuchtete Apartments, auf den eisigen Straßen ein Glanz, in den Restaurants zu dieser späten Stunde gedämpftes Licht, an den Straßenecken Schneepyramiden, die Müll und Münzen und Schlüssel bargen. Der Hall unserer Schritte auf dem Bürgersteig.
»Weißt du was?«, sagte er. »Wenn ich tot bin, musst du allen sagen, sie sollen sich an unserem nächsten Geburtstag zur Party als ich verkleiden.« Immer die nächste Party im Sinn. Als Kind war er, meiner Erinnerung nach, herrschsüchtig und selbstgerecht tugendhaft gewesen, einer, der sich zum »Feuerwehrhauptmann« ernannte und die Familie zu lächerlichen Übungen zwang. Nach dem Tod unserer Eltern allerdings, und besonders nachdem er unserer armseligen Pubertät entschlüpft war, schmolz das ganze Eis auf einmal - er lief sozusagen zur anderen Seite, der Seite des Feuers, über. Er wurde unruhig; wenn der Tag kein besonderes Ereignis parat hielt, dann plante er es oft selbst und schmiss für alle und jeden eine Party, solange damit Drinks und Kostüme einhergingen. Unsere Tante Ruth hieß das gut.
»Ach, hör doch auf«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass Nathan früher wegmusste. Aber er hat in der letzten Zeit viel gearbeitet, weißt du.«
»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Ich sah ihn an, das sommersprossige Gesicht, den roten Schnurrbart. Die dunklen Kommas unter den Augen. Mager und bange und still, das ganze innere Feuer erloschen. Statt zu antworten, sagte ich: »Sieh mal das viele Eis an den Bäumen!«
Er ließ Lady an einem Zaun schnüffeln. »Du wirst dafür sorgen, dass Nathan mein altes Halloweenkostüm trägt.«
»Das Cowgirl.«
Er lachte. »Nein, Ethel Mermaid. Du setzt ihn in einen Sessel und versorgst ihn mit Drinks. Das wird ihm gefallen. «
»Hat dir unser Geburtstag denn nicht gefallen?«, fragte ich ihn. »Ich weiß, dass es nicht gerade berauschend war. Kannst du Alan nicht endlich mal beibringen, Kuchen zu backen?«
»Unser Geburtstag muntert mich auf.« Wir gingen die Straße entlang und schielten nach Silhouetten oben in den Fenstern. »Du darfst Nathan nicht vernachlässigen.«
Das Licht erfasste die vereisten Bäume und elektrifizierte sie.
»Es sind jetzt zehn Jahre. Vielleicht tut ihm ein bisschen Vernachlässigung ganz gut«, sagte ich und packte seinen Arm fester, um ihn zu stützen.
Auf der kalten Winterstraße hörte ich Felix flüstern: »Schau, wieder einer.«
Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Frisiersalon, der stets die Ecke markiert hatte. Im Fenster ein Schild: FÜR GESCHÄFTSVERKEHR GESCHLOSSEN. Mein Bruder blieb einen Augenblick stehen, Lady erwog den Baumstamm. »Gegangen«, sagte Felix schlicht.
Das war die gängige Wendung: Chronik eines Seuchenjahres. Der Hundesalon. Die Bäckerei. Der Barkeeper, der Schneider und der Kellner vom Village Gate. Die vielen Schilder: FÜR GESCHÄFTSVERKEHR GESCHLOSSEN. Wenn man nach dem Kellner fragte, hieß es »gegangen «. Der Barkeeper mit dem Vogel-Tatoo: »gegangen«. Der Junge von oben, der den Feueralarm ausgelöst hatte: »gegangen«. Danny. Samuel. Patrick. So viele Gespenster, dass die Indianer dazwischen nicht auszumachen wären, selbst wenn sie lauthals nach ihrem verlorenen Manahatta heulten.
Ein Türenknallen; eine Frau kam aus dem Gebäude geschossen - schwarzgefärbte Pudelkrause, Trench. »Ihr Arschlöcher macht die Bäume kaputt!«
»Tag auch«, sagte Felix freundlich. »Wir sind Nachbarn, schön, Sie kennenzulernen.«
Sie schüttelte den Kopf und fixierte Lady, die im Begriff war, sich ins gefrorene Gras zu hocken. »Ihr macht meine Stadt kaputt«, sagte sie. »Schafft den Hund da weg.«
Ihr barscher Ton verstörte uns beide; die Hand meines Bruders ballte sich in meiner Tasche zur Faust. Ich überlegte, was ich noch sagen oder tun könnte, ehe wir einfach kehrtmachten. Die Frau verschränkte feindselig die Arme.
Felix sagte: »Verzeihen Sie, aber ... ich glaube, Hündinnen schaden den Bäumen nicht.«
»Schaffen Sie sie weg.«
Ich studierte das Gesicht meines Bruders. So ausgemergelt, ein Schatten nur des starken, grinsenden Zwillings, den ich mein Leben lang gekannt hatte, sein erhitztes Gesicht schrecklich verhärmt. Ich packte seinen Arm und wollte ihn weiterziehen, das brauchte er sich wirklich nicht anzuhören, nicht an unserem Geburtstag. Aber er war nicht zu bewegen. Ich sah förmlich, wie er den Mut zu einer Replik zu finden versuchte. Wo ich doch glaubte, er habe seine ganzen Reserven an Courage im Laufe des letzten Jahrs aufgebraucht.
»Na gut«, sagte er schließlich und riss Lady so heftig zurück, dass sie stolperte. »Eine Frage nur.«
Die selbstzufrieden feixende Frau hob die Brauen.
Felix rang sich ein Lächeln ab. Und dann sagte er etwas, was sie einen einzigen Schritt zurückweichen ließ, während wir schon um die Ecke verschwanden und an diesem kalten Abend unseres letzten Geburtstags losprusteten. Seine Worte trug ich während der folgenden schweren Wochen im Herzen, der Schreckensmonate, des halben Jahrs Hölle, das mich in tiefere Trauer stürzte, als ich sie je gekannt hatte. Stand da, ohne zu wanken, und stellte der Frau seelenruhig diese Frage:
»Als sie noch ein kleines Mädchen waren, Madam«, sprach er und zeigte auf sie, »war das die Frau, die zu werden Sie sich immer erträumt haben?«
Es kam schneller, als wir Vorkehrungen treffen konnten. Am Vorabend hatte Felix noch munter über die Bücher geredet, die ich ihm gebracht hatte. Am Morgen erhielt ich einen Anruf von Alan, der sagte: »Wir verlieren ihn, es geht zu schnell, ich glaube, wir müssen -«, so dass ich hinstürzte in ihr Apartment, wo Felix zwischen Wach- und Dämmerzustand lag. Seine Gelenke waren so geschwollen, dass jede Bewegung zur Qual wurde, unbeschreibliche Schmerzen, das Kopfweh war wieder und viel schlimmer da, und die letzte Runde Antibiotika hatte nichts bewirkt. Wir standen links und recht an seinem Bett und fragten wieder und wieder: »Möchtest du gehen?«, und erst nach zwanzig Minuten war mein Bruder in der Lage, die Augen zu öffnen und uns zu hören. Sprechen konnte er nicht, aber er nickte. Ich sah an seinen Augen, dass er da war und Bescheid wusste.
Patchin Place, mit Nathan allein, meinen Bruder beweinend. Schwer fiel der Schnee in diesem Winter auf das Tor, lastete auf den Ahornbäumen vor meinem Fenster. Ruth übernahm Felix' Vogel, und ich hörte ihn in der unteren Wohnung tschilpen, während ich hinausstarrte in einen vogellosen Wintertag. Felix hatte mit so vielem falschgelegen, was aber Nathan betraf, so behielt er recht: Ich hätte ihn nicht vernachlässigen dürfen.
Den Mann, mit dem ich zusammenlebte, den ich aber nie geheiratet hatte, meinen Dr. Michelson, einen klugen und sanften, lächelnden Mann mit rotbraunem Bart und Brille. Langes, schmales Gesicht mit Sorgenfalten um die Augen und sich herzförmig lichtendem Haar. Als wir uns kennenlernten, hatte ich Nathan als »älteren Mann« empfunden, doch mit dreißig dämmerte mir, dass uns nur acht Jahre trennten und der Abstand sich mit der Zeit verringern würde, bis wir beide gleich alt wären, und mit der Erkenntnis ging etwas Kummer darüber einher, dass ich etwas verlieren würde, was ich ihm »voraus« gehabt hatte. Mit vierzig war er von einer leicht melancholischen, freundlich lächelnden Art, die andere ausrufen ließ: »Aber Sie sind doch noch so jung!« Was sie meinten, war, dass er nicht bitter geworden war. Er schloss bei dieser Bemerkung immer lächelnd die Augen. Vermutlich, weil er genau der war, der werden zu wollen er immer behauptet hatte. Er war Arzt, geliebt von einer Frau. Er lebte in Greenwich Village. Trotz der vereinzelten grauen Fäden in seinem Bart hielten ihn, wie ich fand, gerade die Spukgestalten aus seiner Kindheit jung, die er hegte wie Haustiere: seine Angst vor Haien selbst in Schwimmbecken, seine Angst, »Tristesse« falsch auszusprechen. Er musste stets lachen, wenn er sich ertappte, und erzählte es mir auch. Wer weiß, was alles unerzählt blieb? Doch mir wuchsen seine Spukgestalten als Vertraute ans Herz, und als ich ihn Jahre später »Tristesse« bei mehreren Gelegenheiten richtig aussprechen hörte, war mir, als wäre eine alte einäugige Hauskatze gestorben.
Sein Wesen schien in der Formulierung aufzugehen, die er so beruhigend schon zu Beginn unserer Beziehung in jeder Problemlage anbrachte: »Das überlasse ich dir.« Sie war das Gegengift zu all meinen Ängsten. Verbrachte ich zu viel Zeit mit Felix und zu wenig mit ihm? »Das überlasse ich dir.« Die Formulierung nahm mir jede Sorge; ich liebte ihn dafür. Er wurde mein Gefährte und blieb es zehn Jahre. In Felix' letzten Monaten aber wurde Nathan zum Gespenst, das ich nicht sah. Ich ignorierte ihn, schob ihn beiseite, und eine Zeitlang hatte er dafür Verständnis. Dann hatte er keins mehr. Er war so gut, konnte aber, wenn es nicht nach ihm ging, leicht auch kalt sein. Und dann verlor ich ihn.
Wenige Monate nach Felix' Tod entdeckte ich, dass er fremdging. Ich war Nathan eines Abends gefolgt und fand mich vor einem Backsteingebäude wieder, vor dem Zickzack- Grinsen einer Feuertreppe, vor den Silhouetten meines Lebensgefährten und seiner jungen Geliebten. Wer weiß, wie lange ich dort stand? Wie lange steht man vor dem Anblick des Grauens? Es hatte zu schneien begonnen, stiebende Flocken, und das machte das Licht, das durchs Fenster auf die Straße fiel, länger.
Ich werde mich immer fragen, ob ich das Richtige tat. Ich trat von dem Gebäude weg, kehrte nach Hause zurück, wärmte mich im einsamen Bett und erwähnte die Sache ihm gegenüber mit keinem Wort. Bei allem, was los war, bei dem ganzen Aufruhr in mir, dem vielen angestauten Leid, konnte ich sein Bedürfnis nach mehr Leichtigkeit und Zuwendung so gut verstehen, danach, für diese Spielfrau den Ehemann zu spielen - quasi ein anderes Leben zu proben -, und ich sagte mir: ›Zu mir wird er zurückkehren, bei mir ist er daheim, nicht bei ihr.‹ Wir hatten schließlich so vieles miteinander geteilt, auch die Jahre vor den grauen Haaren. Wer sonst sollte je so gut zu ihm passen?
Er kehrte tatsächlich zu mir zurück. Er verließ sie. Das weiß ich, weil er ein paar Wochen später eines Abends, als ich am Patchin Place saß und in einem Buch las, während auf dem Herd die Bohnensuppe noch eine Stunde vor sich hin köcheln sollte, regengetränkt heimkehrte, mit rot verquollenem Gesicht und abwesendem Blick, als hätte er einen Mord mit ansehen müssen. Sein Bart glitzernd vor Tröpfchen. Er sagte hallo und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich ziehe nur eben die nassen Sachen aus«, sagte er, ging nach nebenan und schloss die Tür.
Ich hörte drüben ein Streichquartett - entgegen seinen sonstigen Vorlieben; er hatte offenbar im Radio den erstbesten Sender eingestellt, der laut genug war. Aber nicht laut genug. Ich hörte es trotz der Musik, während er sich nebenan vor mir verschanzte, die Laute, die er nicht unterdrücken konnte und doch so verzweifelt verbergen wollte: das Schluchzen eines gebrochenen Herzens.
Bei einer kaum vorstellbaren Szene musste es zum endgültigen Abschied gekommen sein, musste er sie geküsst, vielleicht ein letztes Mal geliebt und sich seinen Weg zur Tür gebahnt haben, während sie um die richtigen Worte rang, die Worte, die ihn zum Bleiben bewegen könnten. Dazu, mich zu verlassen statt sie. Gewiss hatte er mit zitternder Hand den Türknauf gepackt, hatten sie sich lange angesehen. Weinte er da schon? Denn sie hatte die Worte nicht gefunden - und da war er nun. Saß nebenan und schluchzte wie ein kleines Kind. Im wirbelnden Derwisch- klang der Violinen. Und da saß ich: mit dem Buch im Sessel unter der großen Messinglampe, die einen Goldreif in meinen Schoß warf. Im Wissen um das, was er getan hatte. Mit dem Wunsch, ihm zu sagen, dass ich wütend sei und verletzt und dankbar. Die Violinen tremolierten die Oktave hinab. Und etwas später kam Nathan aus dem Nebenzimmer und fragte: »Möchtest du einen Drink? Ich mache mir einen, einen Whiskey.« Da stand er und stand ihm das Leid ins Gesicht geschrieben. Wie viele Wochen, Monate mochten es gewesen sein? Wie viele Anrufe, Briefe, Nächte er ihr gewidmet haben? Aus und vorbei, als bräche man ein Genick. »Ja«, sagte ich und legte mein Buch weg, »die Suppe ist bald fertig«, also tranken und stärkten wir uns und sprachen nicht über das Ungeheuerliche, das sich soeben ereignet hatte.
Die eigentliche Überraschung war, dass er mich ein paar Monate später doch noch verließ. In einem Mietwagen draußen vor dem schmiedeeisernen Tor, ich auf dem Fahrersitz.
»Bleib bei mir, Nathan.«
»Nein, Greta. Ich kann das nicht mehr.«
Seine Hand an der Tür, sorgsam die Worte wählend, die unser gemeinsames Leben beenden würden. Welche es waren, spielte kaum eine Rolle. Ich sehe mich in diesem grimmigen Moment: blass im Licht der Straßenlaterne, Tränen in den farblosen Wimpern, das rote Haar jüngst erst im letzten, verzweifelten Versuch zur Veränderung raspelkurz geschnitten, die Lippen im Versuch geöffnet, irgendetwas noch zu sagen zu finden. Entriegelter Türgriff, plötzlicher Windstoß, die letzten Minuten - ich begriff, dass das Blitzen seiner Brillengläser im Licht der Straßenlaterne vielleicht das Letzte wäre, was ich je von ihm sähe. »Was soll ich denn tun?«, brüllte ich aus dem Wagen.
Er sah mich einen Augenblick kalt an, dann berührte er die Tür und sagte, ehe er sie zudrückte: »Das überlasse ich dir.«
»Versuch es mit Hypnose«, riet mir Tante Ruth, während sie mir die Schläfen mit Öl einrieb. »Mit EST. Mit allem außer Seelenklempnern, Darling.« Sie war in diesen Monaten meine einzige Stütze. Mein Vater hätte ihre Besuche sicher missbilligt, stets hatte er seine Schwester als flatterhaft, selbstbezogen, undiszipliniert empfunden, künstlerisch, gefährlich, zu unterbinden. Eine Frau, hatte er zu mir einmal gesagt, die »Theater!« im vollen Feuer riefe. Mir war sie ein Trost, eine Verbündete, aber was in mir tatsächlich vorging, davon wusste sie nichts.
Jeder kam mir mit Ratschlägen. Versuch es mit Akupunktur, sagte man mir, wenn ich mich doch einmal zu einer Party aufraffte. Versuch es mit Akupressur. Versuch es mit Yoga, versuch es mit Dauerläufen, versuch es mit Hasch. Versuch es mit Hafer, mit Kleie, mit Heilfasten. Verzichte aufs Rauchen, auf Milchprodukte, auf Fleisch. Verzichte auf Alkohol, aufs Fernsehen, auf Selbstbezogenheit. Der Therapeut, zu dem ich schließlich ging, Dr. Gilleo, sprach mit mir endlos über meine toten Eltern, über Kindheitserinnerungen an goldene Hunde, die mit meinem Bruder durch goldene Nachmittage liefen, und fand die gewöhnlichen Dornen eines gewöhnlichen Lebens. War es denn so schlimm, fragte ich ihn, traurig zu sein, weil traurige Dinge passierten? »Es gibt eine Reihe neuer Antidepressiva«, erwiderte er. »Und mit denen werden wir es mal probieren.« Ich probierte sie wirklich, von Ambivalon bis Zimelidine. Doch sie konnten den Albtraum nicht abstellen: an die Tür zu gehen und dort Felix mit seinem absurden Schnurrbart stehen zu sehen, der um Einlass bat und dem ich sagen musste, das gehe nicht. »Warum nicht?«, fragte er dann. Und Nacht für Nacht erklärte ich ihm: »Weil du tot bist.«
Ruth massierte mir die Schläfen, küsste meine Stirn. »Ist ja gut, ist ja gut, Darling. Das geht vorüber. Das geht vorüber. « Und setzte, wie immer wenig hilfreich, hinzu: »Ich finde, du brauchst einen Liebhaber.«
Es ist fast unmöglich, wahre Trauer zu fassen; sie ist ein Tiefseegeschöpf, das nicht ans Licht geholt werden kann. Ich sage, ich erinnere mich, traurig gewesen zu sein, aber tatsächlich erinnere ich mich bloß an Morgen, an denen die Frau im Bett - die Frau, in der ich eingeschlossen war - nicht aufwachen, nicht zur Arbeit gehen konnte, nichts von dem tun konnte, von dem sie wusste, dass es die Rettung wäre, sondern sich an das hielt, was sie zerstören musste: Alkohol, verbotene Zigaretten und endlose verlorene schwarze Stunden der Einsamkeit. Ich bin versucht, mich von ihr zu distanzieren, zu sagen: »Ach, das war nicht ich.« Aber ich war sehr wohl die, die die Wand anstarrte und den Wunsch verspürte, sie mit Wachsbuntstiften vollzukritzeln, aber nicht einmal dazu den Willen aufbrachte. Nicht einmal den Willen zum Selbstmord. Ich war sehr wohl die auf meinem Zimmer, die zum Fenster hinaus auf den Patchin Place schaute, während es in den Ahornbäumen gelber Herbst wurde.
In der Nachbarschaft machte sich schon die Vorfreude auf Halloween bemerkbar. Die Auslagen der Geschäfte füllten sich mit silbern gesprayten nackten Faunen, großen, leuchtenden Pappmachépuppen, Skeletten und Hexen aller Art. Ausgehöhlte Kürbisse flankierten das Eisentor zum Patchin Place. Mir war, als könnte man meinen Kopf gleich dazulegen. Die Straßen sahen einsam aus. Ich sah einsam aus, wenn ich mich morgens zur Arbeit schleppte und Abend für Abend bei zunehmend tiefem Zwielicht wieder heim, wenn meine kleine Gasse alle Farben gegen Blau tauschte und im Westen der helle, lavendel zerfließende Sonnenuntergang über dem Hudson stand. Er brachte den ganzen Himmel zum Leuchten, und die hohen Apartmenthäuser hoben sich schwarz und spitzkantig davor ab. Dort lebte ich. Im Herbst 1985. Wie gern hätte ich zu jeder anderen Zeit gelebt. Diese lag unter dem Fluch von Trauer und Tod.
Wie klar hörte ich meinen Bruder mich aus dem Grab fragen: War das die Frau, die zu werden du dir immer erträumt hast? War das die Frau?
Und dann, eines Tages, klopfte der liebe, gute Dr. Gilleo mit dem Bleistift auf seinen Notizblock: »Es gibt da noch eine andere Möglichkeit.«
Die Arztpraxis war anders als erwartet. Wahrscheinlich hatte ich mir, weil doch Halloween war, eine Art Frankenstein- Labor vorgestellt, irgendwo in eine Felswand gehauen. Stattdessen handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Backsteinhaus, das den Innenhof mit dem teilte, was zu meiner Zeit eine Grundschule gewesen, jetzt aber dem Ärztehaus einverleibt worden war, so dass dort rauchend Arzthelferinnen herumstanden. Ich saß ein paar Minuten gegenüber von einer Frau mit einem knallgrünen Schultertuch und Strickzeug auf einem im Karomuster gepolsterten Stuhl, dann wurde ich zu Dr. Cerletti gerufen. Auf dem Türschild: CERLETTI - ELEKTROKONVULSIONSTHERAPIE.
»Miss Wells, wie ich sehe, haben wir von Dr. Gilleo die informierte Einwilligung vorliegen?« Der dies sagte, war ein vierschrötiger, kahlköpfiger Mann mit großer Halbbrille und mildem Gesicht.
»Ja, das ist richtig.« Ich sah mich im Raum nach dem Gerät um, das mich kurieren sollte.
»Wir haben von ihm also eine Überweisungsdiagnose.«
»Ich leide unter Depressionen«, sagte ich ihm. »Mit Pillen haben wir es schon versucht. Nichts hilft.«
»Sonst wären Sie kaum hier, Miss Wells.«
Dr. Cerletti studierte sein Klemmbrett. »Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?«
»Nur, wenn ich auch welche stellen darf. Die Vorstellung von Elektroschocks macht mir Angst und -«
»Wir sprechen heutzutage von Elektrokonvulsion. Bestimmt hat Dr. Gilleo das alles gründlich mit Ihnen besprochen. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass das Gehirn dabei Schaden nimmt.«
»Elektrokonvulsion klingt auch nicht viel besser.«
Er lächelte, und das Lächeln in dem glatten, gütigen Gesicht war beruhigend. »Die heutige Anwendungspraxis ist ganz anders als früher. Ich werde Ihnen zum Beispiel Thiopental verabreichen, ein Anästhetikum und Muskelrelaxans. Ein Zahnarztbesuch ist schlimmer.«
»Das ist doch Natriumpentothal, oder? Werde ich Ihnen die Wahrheit sagen, Doktor?«
»Wollten Sie das nicht? Das Mittel bewirkt eigentlich keinen Wahrheitsdrang. Es schwächt nur den Willen des Patienten.«
»Nicht gerade das, was ich brauche, scheint mir.«
»Im Augenblick ist es genau das, was Sie brauchen«, entgegnete er, während er sich stirnrunzelnd etwas notierte. »Wir werden zweimal wöchentlich behandeln, mit Ausnahme der letzten, ein Zyklus von zwölf Wochen. Fünfundzwanzig Anwendungen. Im Februar schließen wir die Behandlung ab. Sie wird Ihnen über eine schwere Zeit hinweghelfen. Wenn ich recht informiert bin, ist kürzlich Ihr Bruder gestorben.«
»Unter anderem«, sagte ich, den Blick starr aus dem Fenster auf die Arzthelferinnen gerichtet. »Werde ich mich verändern?«, fragte ich den Arzt.
Dr. Cerletti überlegte genau. »Nicht im Geringsten, Miss Wells. Was Sie verändert, ist die Depression. Was wir erreichen wollen, ist, Sie zurückzuholen.«
»Mich zurückholen.«
Er lächelte erneut und holte dann Luft. »Sie können ganz normal Ihrem gewohnten Tagesablauf nachgehen. Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie versuchen sollten, schwanger zu werden.«
»Das ist eher unwahrscheinlich, Doktor.«
»EKT ist zwar auch bei Schwangeren nicht kontraindiziert, aber das sollten wir schon wissen. Sie werden sich nach der Anwendung vielleicht etwas desorientiert fühlen. Das ist normal.«
»Was heißt desorientiert?«
»Bitte nehmen Sie nun auf der Liege Platz. Es heißt: leichter Schwindel. Eventualiter, eventuell also Halluzinationen. Das heißt kurzzeitig nicht wissen, wo Sie oder ganz wer Sie sind. Gelegentlich erleben Patienten auch akustische Halluzinationen, hören Glocken läuten und Ähnliches.«
»Moment. Das klingt beunruhigend.«
»Bitte legen Sie sich zurück. Es ist nicht weiter schlimm. Unsere Patienten berichten uns, das sei, wie in einem Hotelzimmer aufzuwachen. Man weiß erst einmal nicht recht, wo man ist. Dann ist man wieder man selbst. Legen Sie sich bitte zurück, so ist es gut. Zunächst also das Anästhetikum. Sie werden von elektrischen Strömen gar nichts bemerken. «
Die Arzthelferin erschien mit zwei Spritzen - dem Anästhetikum und dem Muskelrelaxans. Ich sank auf das knisternde Papier zurück und studierte die Konstellationen der schalldämpfenden Deckenplatten über mir. Ich schloss die Augen. Dr. Cerletti sagte, ich würde nur die erste Injektion spüren, nicht aber die zweite, und dass der anschließende Vorgang bei der anderthalbfachen Krampf- Schwellendosis für eine Frau meines Alters nur eine Minute dauern werde. Ziel war es, wenn ich ihn recht verstand, mein Gehirn durch einen Krampfanfall neu zu kalibrieren. Cerletti ließ sich über die historische Entwicklung aus, vielleicht, um mich abzulenken, erzählte, wie viel besser das Verfahren heute sei als früher. Damals habe man noch elektrostatische Kondensatoren verwendet, unglaublich, oder? Ich spürte, wie mir Metall an die Schläfen gelegt wurde, dann den kalten Tupfer des Alkohols in der Armbeuge, dann das gemeine Zwicken der eingeführten Nadel. Ich hielt den Atem an. Fast augenblicklich breitete sich ein unangenehmer Geruch im Raum aus - wie von faulenden Zwiebeln -; mein Hirn machte einen Satz, und dann war ich woanders. Holt mich bloß nicht zurück, dachte ich noch. Lasst mich fort.
Wie ich mich aber fühlte - den Zustand konnte ich im Nachhinein nur als aus der Welt geschnitten beschreiben. Nicht unbedingt ein unangenehmes Gefühl, sondern eher wie der Schock, den man empfindet, wenn man seine kalten Gliedmaßen in heißes Badewasser taucht, ein Gefühl, als würde die Zugluft sich von der Haut schälen, das knisternde Papier von meinem Rücken, die Luft aus meinen Lungen, so dass ich einen Augenblick vollkommen losgelöst war von allem. Aus der Welt geschnitten, wie ein Lebkuchenmann aus Teig gestanzt wird. Ausgeschnitten und wer weiß wohin gebracht?
Wie nennt man die Zeit, in der wir fehlen? Etwa Situationen, wo wir so viel getrunken haben, dass poröse Minuten durchrutschen oder uns ganze Stunden abhandenkommen und wir dennoch zugegen waren, Dinge gesagt und getan haben und für das, was geschah, verantwortlich sind? Oder noch der kleinste verlorengegangene Moment, wenn wir zu uns kommen und feststellen, dass wir mitten in einem Telefongespräch stecken und uns durchbluffen müssen? Wie nennt man diese Lückenzeit? Welcher Teil von uns funktioniert weiter? Trifft uns die Schuld für das, was wir tun? Und schließlich: Wer sind wir, wenn wir nicht wir selbst sind?
»So.«
Ich schlug die Augen auf. Über mir hing das lächelnde Gesicht des Doktors, und mir entging der Schweißtropfen zwischen seinen Brauen keineswegs. »Es kann sein, dass Sie sich für den Rest des Tages leicht verkatert fühlen werden.«
Ich sah mich im Raum um, der unverändert schien, höchstens ein bisschen wie unter Wasser. Und dann sagte ich etwas sehr Merkwürdiges, worüber er schmunzeln musste. »Wo ist wer geblieben, Miss Wells?«
»Tut mir leid; ich bin wohl noch etwas benommen.«
»Glauben Sie, Sie schaffen es ohne Hilfe nach Hause?«
Selbstverständlich, sagte ich ihm.
Er nickte und meinte: »Ich denke, Sie werden einen Unterschied bemerken. Da wir die Anwendungen in kurzer Folge durchführen wollen, sehen wir uns morgen wieder und dann nächste Woche; lassen Sie sich von Marcia die Termine geben, bevor Sie gehen.« Er schenkte seiner Helferin ein Lächeln und tätschelte ihr, als sie sich zum Gehen wandte, kurz den Hintern. Die Arzthelferin, eine dauergewellte Blondine mit blauem Lidschatten und Schiefnase, brachte mir meine Sachen und wartete grinsend, während ich mich ankleidete. Vielleicht wegen des Tätschelns. Oder wegen meiner seltsamen, halb narkotisierten Frage:
»Doktor, wo sind die ganzen Kinder geblieben?«
»Ich habe etwas gesehen«, sagte ich später zu meiner Tante Ruth. »Als ich die Augen schloss, als sie ... ich dachte, ich bin woanders.« Wir saßen in meinem Apartment beim Tee - oder vielmehr saß sie; ich lag auf dem Bett, eine Hand an der Stirn, und rang mit dem »Kater«, den der Arzt mir prophezeit hatte. Ein kleines, schlichtes Zimmer mit einem großen Nordfenster, an dem das Bett stand, nur war dieses einstige Kinderzimmer inzwischen modern unterkühlt: weiße Wände, extragroße gerahmte Abzüge meiner Fotos, rote Jalousien, ein niedriges, mit weißen Kissen übersätes Bett. Keine Möbel, keinerlei mädchenhafte Anmutung bis auf den einen Holzstuhl, über dessen Lehne die schwarze Hose des heutigen Tages hing. Ein Bett, eine Aussicht. Weniger Raum als Absichtserklärung.
»Ist dir noch schwindlig?«, fragte Tante Ruth. Sie trug zu ihrem schwarzen Baumwollkleid eine mehrsträngige Halskette aus Edelstahl und hatte sich das Haar, obwohl sie erst Mitte fünfzig war, platinweiß färben lassen - ihrer privaten Theorie gemäß, dass sie das alterslos machte. »Du musst Tee trinken, viel Tee. Mir gefällt gar nicht, was sie dir da antun.«
»Tante Ruth, das fehlt mir jetzt gerade noch. Ich brauche Klarheit. Ich treffe mich in einer Stunde mit Alan.«
»Nun, dann hör nicht auf mich«, meinte sie. »Bist du sicher, dass du dich dem Treffen gewachsen fühlst?«
»Gibst du in diesem Jahr keine Halloweenparty, Ruth?«
»Wechsel jetzt nicht das Thema. Natürlich nicht. Wie sollte ich - ohne ihn?«
»Er würde es aber wollen.«
»Dann hätte er eben nicht sterben dürfen«, sagte sie energisch. »Und erzähl mir nicht, dass das nicht ziemlich extrem ist: Elektroschocks.«
»Elektrokonvulsionstherapie. Letzter Versuch. Sie sprechen von Krampfanfällen, die meine Denkmuster durchbrechen sollen, aber ich weiß, worum es wirklich geht. Sie finden, ich sollte anders sein. Diese Greta funktioniert ja offenbar nicht. Das hat sie zwar mehr als dreißig Jahre lang, aber jetzt braucht sie eine Generalüberholung. Austausch sämtlicher Teile.«
»Nur eines Teils.«
»Nur eines Teils. Und der bin ich. Mir gefällt es auch nicht, aber ich weiß nicht mehr weiter. Ich kann nicht ... ich komme morgens kaum aus dem Bett. Dabei ...«
»Was genau hast du eigentlich gesehen?«
Es sei gleich nach dem fauligen Zwiebelgeruch gewesen, erklärte ich ihr. Nach dem Gefühl, aus der Welt geschnitten zu sein - wobei ich zu keiner Zeit so etwas wie elektrischen Strom verspürt hatte -, und zwar, als ich die Augen aufschlug und dachte, sie wären mit der Anwendung fertig. Nur lag ich in einem anderen Zimmer. Oder nein, nicht ganz - es war dasselbe Zimmer, aber anders. Die Wände waren cyanblau, nicht weiß, und wo die EKT- Maschine gestanden hatte, ragte ein größeres, weiß emailliertes Gerät neben einer Nierenschale mit Tupfern auf; an der Wand hing ein Schaubild der verschiedenen Gehirnregionen. Doch der wahre Schock war gewesen, was ich vor dem Fenster sah. Wo zuvor ein mit Kies bestreuter Innenhof und rauchende Arzthelferinnen gewesen waren, lag jetzt ein gepflastertes, mit Linien und Ziffern bemaltes Geviert. Und dort wimmelte es von laufenden, lachenden, juchzenden, kreischenden Kindern.
»Und dann habe ich die Augen noch mal aufgemacht.«
»Wie? Du hast sie zu und dann wieder aufgemacht?«
»Nein, ich meine, als hätte ich zwei Paar Augenlider. Und schlüge das zweite Paar auf. Ich sah wieder die Kinder, aber diesmal in Kniehosen und so ... altmodischen Kittelkleidchen alle in einer Reihe. Und dann war Schluss - dann erschien über mir das Gesicht des Arztes, und ich ...« Ich musste lachen und stellte meinen Tee ab. »Ich habe ihn gefragt: ›Wo sind die ganzen Kinder geblieben?‹ Wahrscheinlich hält er mich sowieso für verrückt. Ich habe dafür keine Erklärung. Es kam mir alles genauso real vor wie die Arztpraxis. Ich hörte draußen den Verkehr; ein Fenster stand offen. Ich roch frische Farbe.«
»Bist du dir sicher? Ich habe mal gehört, nur Hunde könnten im Traum riechen.«
»Es war kein Traum. Er hat ja gesagt, dass es eine gewisse ... Desorientierung geben könne, so hat er sich ausgedrückt. «
Meine Tante saß still da und musterte mich schlicht wie jemand, der sich entscheiden muss, ob er einen sehr ernst oder überhaupt nicht ernst nehmen soll; eine andere Möglichkeit gibt es nicht mehr. Aus ihrer Wohnung unten war ein Vogel im Käfig zu hören, Felix' alter Wellensittich, der vor sich hin trällerte wie sonst auch - den Vögeln jenseits der Fensterscheibe vorsang, wie Felix immer behauptet hatte, ohne zu begreifen, dass sie ihn nicht hören konnten. Er sang und sang, während meine Tante mich musterte und sogar ihr ewig klirrender Schmuck vorerst schwieg und ich in ihren blanken schwarzen, staunenden Augen Faszination und ein erhöhtes Interesse entdeckte, wie sie es seit Monaten an mir nicht gezeigt hatte.
»Was sollte es anderes gewesen sein als ein Traum?«
»Nun«, begann ich und schob mich im Bett etwas weiter zurück. »Vielleicht war es eine Art Kurzschluss im Gehirn, weißt du, der verschiedene Erinnerungen verkoppelt hat: mein altes Klassenzimmer mit alten Filmen, ein Funkenschlag, der sie für den Bruchteil einer Sekunde real erscheinen ließ.«
»Bist du dir denn sicher, dass es nicht real war?«
»Wie sollte es real gewesen sein können?«
Ihr Blick tastete mein Gesicht ab, als läse sie in einem Buch; so offen, so leicht zu durchschauen muss ich in den ersten Stunden nach der Anwendung gewesen sein. Sie nahm Tasse und Untertasse hoch. »Es gibt meines Erachtens zwei Arten von Menschen«, sagte sie, und das Trällern des Sittichs füllte die Pause, die sie einlegte. Der Apostroph zwischen ihren Augen wurde markanter, dann wieder zarter. »Einmal die, die mitten in der Nacht aufwachen, eine Frau im Hochzeitskleid am Fenster sitzen sehen und sich sagen: ›Lieber Gott, ein Gespenst!‹ Das sind die einen. Die etwas als real empfinden und glauben, dass es real ist. Und dann gibt es die, die ein Phantom sehen und sich sagen: ›Ich weiß zwar nicht, was ich gesehen habe, aber ein Gespenst war es nicht, weil es Gespenster nicht gibt.‹ Ich habe im Laufe meines Leben festgestellt, dass es diese zwei Typen gibt.«
Sie hob ihre Tasse an die Lippen und setzte sie dann mit einem Lächeln wieder auf der Untertasse ab. »Und zum zweiten gehört niemand.«
»Gut siehst du aus, Alan«, sagte ich und drückte ihn. Alan, Lebensgefährte meines Bruders bis zum Schluss, Mitte vierzig, als sie sich kennenlernten, und jetzt an die fünfzig. Wir hatten uns auf einen Drink verabredet, und ich war drauf und dran gewesen, abzusagen, als dann das Schwindelgefühl bei mir doch noch nachließ. Wir hatten uns monatelang nicht gesehen und auch vorher kaum, nach Felix' Tod. Das war ein weiterer Kummer in meinem Leben, aber ich vermute, wir gingen uns in ähnlicher Weise aus dem Weg, wie Verbrecher einen Tatort meiden.
Alan überragte alle um Haupteslänge, er trug ein Cowboyhemd mit Perlmuttdruckknöpfen zu Jeans, einem geflochtenen Ledergürtel und einem Mantel aus geöltem Leder. Ich sah sein Lächeln alle Falten im Gesicht beleben. Falten von sonnigen Kindersommern in Iowa und Wochenenden mit Felix und mir in den Hamptons. Kurzgeschorenes Silberhaar, silberne Bartstoppeln am großen Kinn mit der hellen, von einem Missgeschick im Garten herrührenden Narbe, die er gern zum »Berglöwenangriff« stilisierte, und doch - seine Krankheit zwang zu Korrekturen. Vor mir: eine geminderte Ausgabe des Alan von einst. Die Umarmung dürrer. Felix' Riesenkerl war jetzt schmal wie ein Jüngling, und trotz des Mantels spürte ich doch beinahe die Rippen. Ich sagte aber nichts weiter, als dass er gut aussehe.
»Danke, Greta.« Er lächelte und legte mir die Hand an die Wange. »Du hast dich in letzter Zeit rar gemacht.«
»Es ging mir nicht gut«, sagte ich. Es war eines der alten, eher touristischen Cafés an der Bleecker, die für mich nie ihren Charme eingebüßt haben. Wir wählten eine unbequeme Holznische in der Ecke bei einem verrosteten russischen Samowar, und Alan legte seinen Mantel ab. Das Cowboyhemd spannte nicht mehr über Muskeln, und dieser dünnere Alan wirkte irgendwie auch jünger. Am Nachbartisch baute ein junger Mann mit einem breiten, schlauen Gesicht gerade ein Kartenhaus. Neben sich hatte er einen Touristenstadtplan liegen, und als er hochsah, bemerkte er meinen neugierigen Blick. Er zog eine Augenbraue hoch, und ich wandte mich ab.
»Wie geht es Nathan?«, fragte Alan und strich sich übers Kinn, als suchte er die alte Narbe.
In meinem Seufzer steckte zugleich ein kleines Lachen, ich winkte nach Kaffee. »Er hat mich verlassen, Alan. Nein, ist schon gut. Oder eigentlich nicht, aber es ist eine Weile her und ... ich werde auf meine Art damit fertig. Lange Geschichte, lass uns ein andermal drüber reden. Hast du jemanden kennengelernt?« Da grinste er verlegen, der erwachsene Mann! Saß da mit seinem kantigen Kinn und der bodenständigen Miene eines Kerls aus dem Mittleren Westen, und dann dieses Grinsen! Ich bedeckte eine schwielige Hand mit der meinen. »Schon gut, Alan, Felix war nie eifersüchtig, und ich würde mir Sorgen machen, wenn es nicht so wäre. Obwohl ich es verstehen könnte.«
»Nein, ganz so ist es nicht«, sagte er, nahm den Salzstreuer hoch und ließ ihn auf der Kante kippeln. »Es gibt da jemanden, der sich um mich kümmern will. Ich möchte aber nicht, dass sich jemand kümmert.«
»Nein, wolltest du nie.«
»Er fehlt mir«, sagte er schwer und ließ den Salzstreuer kreiseln. Im Grunde, dachte ich, war Alan immer viel weicher gewesen als Felix, verletzlicher, seine Ruhe halb Zufriedenheit, halb unausgesprochenes Leid. Es hatte, vor Felix, eine Frau gegeben und Kinder. Es hatte volle vierzig Jahre eines anderen Alan gegeben. Vielleicht hatte er meinen Bruder deshalb geliebt: Felix' Lebensgier machte verlorene Zeit wett. Alan hatte sich nie gern verkleidet oder getanzt, aber er hatte gern dabei zugesehen. In seinen verwaschenen Jeans leise lächelnd.
»Mir fehlt er auch«, sagte ich. Ich sah zu, wie Alan den Salzstreuer auf dem Tisch tanzen ließ, sah diesen das Licht bündeln und wie Glassplitter an die Wand werfen. Er fing den Streuer in der Faust. Ich sagte: »Weißt du, was ich mir wünsche? Nicht etwa, dass ich darüber hinwegkomme. Ich wünsche mir das Unmögliche. Ich wünsche es ungeschehen gemacht.«
»Tja«, sagte er.
»Ich wünsche es ungeschehen gemacht. Ich habe den Verstand verloren, Alan. Sie schicken mich zur EKT.«
Er ergriff meine Hand und drückte sie.
»Heute war die erste Anwendung. Seitdem halluziniere ich.«
Er verzog das Gesicht. »Das bewirken die Medikamente bei mir auch. Mal mehr, mal weniger. Tut mir so leid.«
»Lass diesen Typen sich um dich kümmern, Alan.«
Er erfasste den Ernst meines Blicks, er verengte die Augen, was die Fältchen außen noch stärker hervortreten ließ, dann schüttelte er den Kopf und gab meine Hand frei. »Ich bin zu alt und zu krank für das alles.« Er nahm einen Schluck Kaffee und zuckte mit den Achseln; um sein Haar schimmerte ein silberner Lichtkranz. »Der Junge glaubt, es wäre romantisch, ganz bis zum Schluss da zu sein. Bei der Trauerfeier die Witwe zu sein. Ich war schon mal Witwe, habe ich ihm gesagt, es fühlt sich ganz und gar nicht so an.«
»Du wirst nicht sterben, Alan.«
Das ist dummes Zeug, ganz gleich, zu wem man es sagt, war es aber in seinem Fall besonders. Er hob den Blick von seinem Kaffeebecher, und das so vertraute grüne Craquelé seiner Augen blitzte vor Kummer und Belustigung; die Todgeweihten sehen uns andere oft auf diese merkwürdige Art an: Als wären wir die eigentlich Sterblichen. In der Ferne heulte und heulte eine Sirene. Neben uns ein Seufzer: Das Kartenhaus war eingestürzt, die Karten überall verteilt.
»Natürlich nicht«, sagte er und lachte in sich hinein. »Wird keiner von uns.«
Ich blieb an diesem Abend sehr lange auf, sortierte Kontaktabzüge und versuchte, nicht an Alan zu denken und erst recht nicht an Felix. Vielleicht fürchtete ich meine Träume, fürchtete, mein Bruder könnte wieder in ihnen erscheinen. Erst gegen vier Uhr morgens fand ich mich im Bett wieder, den Blick starr auf die weiße Wand gerichtet, die Fotovergrößerungen, die hochgezogenen roten Jalousien, die den Blick auf ein nächtliches Greenwich Village freigaben und die immer gleiche Aussicht: die Häuserzeile von Patchin Place, den Turm des Jefferson Market und den angrenzenden kleinen Park. Die gelben Schöpfe der Ginkgobäume, die alles dazwischen schmückten. Ich wünsche es ungeschehen gemacht. Ich entsinne mich, die Augen geschlossen und einen einzigen hellen blauen Stern im Dunkeln schweben und vor Licht pulsieren gesehen zu haben. Zu jeder anderen Zeit. Gesehen zu haben, wie der Stern entzweibrach, und dann die zwei Teile, und dann wieder und wieder: sich teilende, pulsende blaue Sterne, bis sich ein Kreis ballte und es eine Art Donnerschlag tat und ich hineinstürzte - und mehr weiß ich nicht.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Andrew Sean Greer
Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder und wuchs in einem Vorort von Washington D.C. auf. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Greer lebt zwischen San Francisco und der Toskana, wo er die Santa Maddalena Writer's Residency leitet. Auf Deutsch liegen außerdem Greers Romane »Geschichte einer Ehe«, »Die Nacht des Lichts« und »Ein unmögliches Leben« vor. 2018 erschien bei S. Fischer sein letzter Roman »Mister Weniger«, für den Andrew Sean Greer mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet wurde. Strätling, UdaUda Strätling lebt in Hamburg und hat u. a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrew Sean Greer
- 2014, 1. Auflage, 336 Seiten, Maße: 13,7 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Uda Strätling
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100278275
- ISBN-13: 9783100278272
- Erscheinungsdatum: 16.04.2014
Pressezitat
Greer schreibt eine klare, sinnliche Prosa, die sich [...]durch einen sehr ökonomischen Metapherngebrauch auszeichnet und Mut zum Fühlsamen zeigt. Ingo Flothen Badische Zeitung 20140617
Kommentar zu "Ein unmögliches Leben"
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