Eine Begegnung
Essays
Milan Kundera, einer der der großen Romanciers unserer Zeit, ist zugleich ein großer Kenner der Literatur und der Kunst. »Eine Begegnung« ist vielleicht sein persönlichstes Buch. Selten hat Milan Kundera von seinen Liebesgeschichten mit Autoren, Malern,...
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Produktinformationen zu „Eine Begegnung “
Klappentext zu „Eine Begegnung “
Milan Kundera, einer der der großen Romanciers unserer Zeit, ist zugleich ein großer Kenner der Literatur und der Kunst. »Eine Begegnung« ist vielleicht sein persönlichstes Buch. Selten hat Milan Kundera von seinen Liebesgeschichten mit Autoren, Malern, Romanen und Filmen so leicht erzählt wie in diesem Band. Seine Begegnungen mit Francis Bacon, Thomas Mann, Beethoven, Philip Roth, Fellini oder Xenakis sind brillante Spiegelungen der eigenen künstlerischen Überzeugungen. Hier spricht ein Liebender mit scharfem Blick, ein Mann mit großem Herzen.
Lese-Probe zu „Eine Begegnung “
Eine Begegnung von Milan KunderaI
Die brutale Geste des Malers: Über Francis Bacon
1
Michel Archimbaud, der einen Band mit Porträts und Selbstporträts von Francis Bacon plant, schlägt mir eines Tages vor, einen Essay über diese Bilder zu schreiben. Er versichert mir, dies sei der Wunsch des Malers persönlich gewesen. Er erinnert mich an meinen kleinen Text in der Revue L'Arc, den Bacon für einen der wenigen hielt, in denen er sich wiedererkannte. Ich leugne nicht meine Bewegtheit bei dieser Botschaft, die mich nach Jahren von einem Künstler erreicht, dem ich nie begegnet bin und den ich so sehr bewundert habe.
Diesen Text in L'Arc über das Porträt-Triptychon von Henrietta Moraes (der später ein Kapitel meines Buchs vom Lachen und Vergessen angeregt hat) habe ich in der allerersten Zeit meiner Emigration, um 1977, geschrieben, noch verfolgt von Erinnerungen an das Land, das ich gerade verlassen hatte und das mir als eine Welt der Verhöre und der Überwachung im Gedächtnis geblieben war. Heute kann ich meine neue Reflexion über Bacons Kunst wieder nur mit demselben alten Text beginnen:
2
»Es war im Jahr 1972. Ich traf mich mit einem Mädchen am Stadtrand von Prag in einer Wohnung, die uns jemand zur Verfügung gestellt hatte. Zwei Tage zuvor war sie vierundzwanzig Stunden lang von der Polizei über mich verhört worden. Jetzt wollte sie mich heimlich treffen (sie befürchtete, ständig beschattet zu werden), um mir zu sagen, welche Fragen man ihr gestellt und was sie geantwortet hatte. Bei einem möglichen Verhör mussten meine Antworten mit ihren übereinstimmen.
... mehr
Es war ein blutjunges Mädchen, das die Welt noch kaum kannte. Das Verhör hatte sie aufgewühlt, und seit drei Tagen drehte die Angst ihr unentwegt den Magen um. Sie war ganz blass und verließ während unseres Gesprächs andauernd das Zimmer, um auf die Toilette zu gehen, so dass unser ganzes Treffen vom Rauschen des sich füllenden Wasserkastens begleitet wurde.
Ich kannte sie seit langem. Sie war intelligent, geistreich, sie wusste ihre Gefühle perfekt zu beherrschen und war immer so tadellos angezogen, dass ihr Kleid genauso wenig wie ihr Verhalten die allerkleinste Blöße zu erkennen gab. Und nun auf einmal hatte die Angst sie wie ein großes Messer geöffnet. Sie stand vor mir, klaffend wie der zweigeteilte Rumpf einer Färse an einem Fleischerhaken.
Das Rauschen der Wasserspülung hörte praktisch nicht auf und ich hatte plötzlich Lust, sie zu vergewaltigen. Ich weiß, was ich sage: sie zu vergewaltigen, nicht, Liebe mit ihr zu machen. Ich war nicht auf ihre Zärtlichkeit aus. Ich wollte brutal die Hand auf ihr Gesicht legen und sie einen einzigen Moment lang ganz nehmen, mit all ihren so unerträglich erregenden Widersprüchen: mit ihrem tadellosen Kleid wie mit ihren revoltierenden Gedärmen, mit ihrer Vernunft wie mit ihrer Angst, mit ihrem Stolz wie mit ihrem Unglück. Ich hatte das Gefühl, dass in all diesen Widersprüchen ihre Essenz verborgen war: dieser Schatz, dieser Goldklumpen, dieser im tiefsten Innern versteckte Diamant. Ich wollte sie eine einzige Sekunde lang besitzen, gleichermaßen mit ihrer Scheiße wie mit ihrer unaussprechlichen Seele.
Aber ich sah diese Augen, die mich angstvoll ansahen (verängstigte Augen in einem vernünftigen Gesicht), und je verängstigter diese Augen waren, desto absurder, dümmer, skandalöser, unbegreiflicher und unmöglicher wurde mein Begehren.
Fehl am Platz und nicht zu rechfertigen, war dieses Begehren deshalb doch nicht weniger real. Ich könnte es nicht leugnen - und wenn ich Francis Bacons Porträt-Triptychen ansehe, ist es so, als erinnerte ich mich daran. Der Blick des Malers legt sich wie eine brutale Hand auf das Gesicht und versucht, sich dessen Essenz zu bemächtigen, dieses im tiefsten Innern versteckten Diamanten. Wir sind zwar nicht sicher, ob das tiefste Innere wirklich etwas verborgen hält - aber wie dem auch sei, in jedem von uns ist diese brutale Geste, diese Bewegung der Hand, die das Gesicht des anderen in der Hoffnung zerdrückt, darin und dahinter etwas Verstecktes zu finden.«
3
Die besten Kommentare zu Bacons Werk hat Bacon selbst in zwei Gesprächen abgegeben: in dem mit Sylvester im Jahr 1976 und mit Archimbaud im Jahr 1992. In beiden Fällen spricht er voller Bewunderung von Picasso, insbesondere von dessen Periode zwischen 1926 und 1932, der einzigen, der er sich wirklich nahe fühlt. Darin sieht er einen Bereich eröffnet, der »noch nicht erkundet wurde: eine organische Form, die sich auf das Menschenbild bezieht, aber seine komplette Verzerrung ist«. (Hervorhebung von mir.)
Abgesehen von dieser kurzen Periode, die Bacon erwähnt, könnte man sagen, dass überall sonst bei Picasso eine leichte Geste des Malers Motive des menschlichen Körpers in eine zweidimensionale und nicht unbedingt ähnliche Form verwandelt. Die spielerische Euphorie Picassos wird bei Bacon abgelöst durch Erstaunen (wenn nicht Entsetzen) angesichts dessen, was wir sind, was wir stofflich, physisch sind. Von diesem Entsetzen bewegt, legt sich die Hand des Malers (um die Worte meines alten Textes wiederaufzunehmen) mit einer »brutalen Geste« auf einen Körper, auf ein Gesicht, »in der Hoffnung, darin und dahinter etwas Verstecktes zu finden«.
Aber was versteckt sich darin? Sein »Ich«? Selbstverständlich wollen alle Porträts, die je gemalt wurden, das »Ich« des Modells enthüllen. Doch Bacon lebt in der Zeit, in der sich das »Ich« allmählich überall entzieht. Tatsächlich lehrt uns unsere banalste Erfahrung (vor allem, wenn sich das hinter uns liegende Leben zu sehr verlängert), dass die Gesichter beklagenswert gleich sind (wobei die unsinnige demographische Lawine dieses Gefühl noch verstärkt), dass man sie verwechseln kann, dass sie sich durch irgendeine kaum fassbare Winzigkeit unterscheiden, die innerhalb der Proportionen mathematisch oft nur wenige Millimeter Unterschied ausmacht. Hinzu kommt unsere historische Erfahrung, die uns klargemacht hat, dass sich die Menschen in ihrem Handeln gegenseitig imitieren, dass ihre Verhaltensweisen statistisch berechenbar, ihre Meinungen manipulierbar sind und der Mensch daher weniger ein Individuum (ein Subjekt) ist als das Element einer Masse.
In dieser Zeit der Zweifel nun legt sich die vergewaltigende Hand des Malers mit einer »brutalen Geste« auf das Gesicht seiner Modelle, um irgendwo im tiefsten Innern ihr vergrabenes »Ich« zu finden. Bei dieser baconschen Suche verlieren die einer »vollständigen Verzerrung« unterzogenen Formen nie ihren Charakter lebendiger Organismen, erinnern an ihre körperliche Existenz, an ihr Fleisch und bewahren immer ihre Dreidimensionalität. Und außerdem ähneln sie ihrem Modell! Doch wie kann das Porträt seinem Modell ähneln, dessen bewusste Verzerrung es ist? Aber die Fotos der Porträtierten beweisen es: sie ähneln ihnen; sehen Sie sich die Triptychen an - drei nebeneinandergestellte Variationen des Porträts ein und derselben Person; diese Variationen unterscheiden sich voneinander und haben zugleich etwas gemeinsam: »jenen Schatz, jenen Goldklumpen, jenen versteckten Diamanten«, das »Ich« eines Gesichts.
4
Ich könnte es anders sagen: Bacons Porträts loten die Grenzen des »Ich« aus. Bis zu welchem Grad von Verzerrung bleibt ein Individuum noch es selbst? Bis zu welchem Grad von Verzerrung bleibt ein geliebter Mensch noch ein geliebter Mensch? Wie lange bleibt ein liebes Gesicht, das sich in eine Krankheit, in Wahnsinn, in Hass, in den Tod entfernt, noch erkennbar? Wo ist die Grenze, hinter der ein »Ich« aufhört, »Ich« zu sein?
5
In meiner imaginären Galerie der modernen Kunst bildeten Bacon und Beckett seit langem ein Paar. Dann lese ich das Gespräch mit Archimbaud: »Ich habe mich immer über diesen Vergleich zwischen Beckett und mir gewundert«, sagt Bacon. Dann, an anderer Stelle: »... ich habe immer gefunden, dass Shakespeare viel besser, richtiger und stärker ausgedrückt hat, was Beckett und Joyce sagen wollten ...« Und weiter: »Ich frage mich, ob Becketts Ideen über seine Kunst nicht am Ende sein Schaffen abgetötet haben. Es gibt bei ihm etwas gleichzeitig zu Systematisches und zu Intelligentes, vielleicht ist es das, was mich immer gestört hat.« Und schließlich: »In der Malerei belässt man immer zuviel Gewohntes, man eliminiert nie genug, aber bei Beckett habe ich oft den Eindruck, dass vor lauter Eliminieren nichts mehr übriggeblieben ist und dass dieses Nichts letzten Endes hohl klang ...«
Wenn ein Künstler über einen anderen spricht, spricht er (indirekt, auf Umwegen) immer über sich selbst, und eben das macht sein Urteil so interessant. Wenn Bacon über Beckett spricht, was sagt er uns dann über sich selbst?
Dass er nicht eingeordnet werden will. Dass er sein Werk vor Klischees schützen will.
Außerdem: dass er sich den Dogmatikern des Modernismus widersetzt, die eine Schranke zwischen der Tradition und der modernen Kunst errichtet haben, so als stellte diese innerhalb der Kunstgeschichte eine isolierte Periode dar mit ihren eigenen unvergleichbaren Werten, ihren ganz autonomen Kriterien. Bacon aber beruft sich auf die gesamte Kunstgeschichte; das 20. Jahrhundert enthebt uns nicht unserer Schulden gegenüber Shakespeare.
Und genauso versagt er es sich, seine Ideen zur Kunst allzu systematisch zu äußern, weil er befürchtet, seine Kunst könnte in eine Art vereinfachte Botschaft umgeformt werden. Er weiß, dass die Gefahr umso größer ist, als die Kunst unserer Jahrhunderthälfte von einer lärmenden, opaken theoretischen Logorrhöe verrußt wird, die ein Werk daran hindert, in direkten, nicht durch Medien vermittelten, nicht vor-interpretierten Kontakt mit dem Betrachter (Leser, Hörer) zu treten.
Also verwischt Bacon, wo er nur kann, die Spuren, um die Exegeten abzuschütteln, die den Sinn seines Werkes auf einen klischeehaften Pessimismus reduzieren wollen: er sträubt sich dagegen, in Bezug auf sein Werk das Wort »Grauen« zu gebrauchen; er unterstreicht die Rolle, die der Zufall in seiner Malerei spielt (ein beim Arbeiten eingetretener Zufall, ein unversehens gesetzter Farbfleck, der auf einmal sogar das Thema des Bildes verändern kann); er besteht auf dem Wort »Spiel«, während alle den Ernst seiner Gemälde rühmen. Man möchte von seiner Verzweiflung sprechen? Gut, aber, stellt er sogleich klar, in seinem Fall handelt es sich um eine »fröhliche Verzweiflung«.
6
In seiner Reflexion über Beckett sagt Bacon: »In der Malerei belässt man immer zuviel Gewohntes, man eliminiert nie genug« ... Zuviel Gewohntes, das heißt: alles, was keine Entdeckung des Malers ist, was nicht sein ureigener Beitrag, seine Originalität ist; alles, was Erbe, Routine, Füll- werk, aus technischer Notwendigkeit Ausgearbeitetes ist. Es ist das, was zum Beispiel in der Form der Sonate (sogar bei den Größten, bei Mozart, bei Beethoven) alle (oft sehr konventionellen) Übergänge von einem Thema zum anderen sind. Fast alle großen modernen Künstler haben die Absicht, diese »Füllsel« wegzulassen, alles wegzulassen, was vom Gewohnten herkommt, alles, was sie hindert, sich unmittelbar und ausschließlich mit dem Wesentlichen auseinanderzusetzen; das Wesentliche: was der Künstler selbst und er allein sagen kann.
So auch Bacon: sein Bildgrund ist ganz einfach, monochrom; aber: die Körper im Vordergrund sind in ihren Farben und Formen umso reicher und dichter. Eben dieser (shakespearesche) Reichtum liegt ihm am Herzen. Denn ohne diesen Reichtum (der im Kontrast zu dem monochromen Bildgrund steht) wäre die Schönheit asketisch, gleichsam auf Diät gesetzt, geschmälert, und es geht für Bacon immer und vor allem um die Schönheit, um die Explosion der Schönheit, denn auch wenn es heute abgedroschen, altmodisch erscheint, so ist es dieses Wort, das ihn mit Shakespeare verbindet.
Und deshalb reizt ihn das Wort »Grauen«, das seiner Malerei hartnäckig zugeschrieben wird. Tolstoi sagte über Leonid Andrejew und seine schwarzen Novellen: »Er will mich erschrecken, aber ich habe keine Angst.« Es gibt heute zu viele Bilder, die uns erschrecken wollen und uns langweilen. Der Schrecken ist keine ästhetische Empfindung, und das Grauen, das wir in Tolstois Romanen finden, ist nie da, um uns zu erschrecken. Der herzzerreißenden Szene, wenn der lebensgefährlich verwundete Andrej Bolkonski ohne Betäubung operiert wird, fehlt es nicht an Schönheit, wie es keiner Szene von Shakespeare, keinem Gemälde von Bacon je an Schönheit fehlt.
Fleischerläden sind grauenhaft, aber wenn Bacon davon spricht, vergisst er nicht anzumerken, dass »es für einen Maler die große Schönheit der Farbe des Fleisches gibt«.
7
Weshalb nur hat Bacon für mich, trotz all seiner Vorbehalte, weiterhin etwas mit Beckett zu tun?
Beide befinden sich etwa an der gleichen Stelle der Geschichte ihrer jeweiligen Kunst. Nämlich in der allerletzten Periode der dramatischen Kunst, in der allerletzten Periode der Geschichte der Malerei. Bacon ist ja einer der letzten Maler, dessen Sprache noch Öl und Pinsel ist. Und Beckett schreibt noch Theaterstücke, deren Grundlage der Text des Autors ist. Nach ihm existiert das Theater zwar noch, vielleicht entwickelt es sich sogar noch, aber es sind nicht mehr die Texte von Dramatikern, die diese Entwicklung inspirieren, innovativ beleben, sichern.
In der Geschichte der modernen Kunst sind es nicht Bacon und Beckett, die den Weg öffnen; sie schließen ihn. Auf Archimbauds Frage, welche zeitgenössischen Maler wichtig für ihn seien, antwortet Bacon: »Nach Picasso weiß ich nicht so recht. Zur Zeit läuft eine Pop-Art-Ausstellung in der Royal Academy [...], wenn man all diese Bilder versammelt sieht, sieht man nichts. Ich finde, da ist nichts drin, das ist leer, völlig leer.« Und Warhol? »... für mich ist er nicht wichtig. « Und die abstrakte Kunst? O nein, die mag er nicht.
»Nach Picasso weiß ich nicht so recht.« Er redet wie eine Waise. Und er ist es. Er ist es sogar ganz konkret in seinem Leben: jene, die den Weg öffneten, waren umgeben von Kollegen, Kommentatoren, Bewunderern, Sympathisanten, Weggefährten, von einer ganzen Bande. Er ist allein. Wie Beckett. Im Gespräch mit Sylvester sagte Bacon: »Ich glaube, es wäre aufregender, einer von mehreren gemeinsam arbeitenden Künstlern zu sein. [...] Ich glaube, es wäre wahnsinnig angenehm, jemanden zu haben, mit dem man sprechen kann. Heute gibt es absolut niemanden, mit dem man sprechen könnte.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Es war ein blutjunges Mädchen, das die Welt noch kaum kannte. Das Verhör hatte sie aufgewühlt, und seit drei Tagen drehte die Angst ihr unentwegt den Magen um. Sie war ganz blass und verließ während unseres Gesprächs andauernd das Zimmer, um auf die Toilette zu gehen, so dass unser ganzes Treffen vom Rauschen des sich füllenden Wasserkastens begleitet wurde.
Ich kannte sie seit langem. Sie war intelligent, geistreich, sie wusste ihre Gefühle perfekt zu beherrschen und war immer so tadellos angezogen, dass ihr Kleid genauso wenig wie ihr Verhalten die allerkleinste Blöße zu erkennen gab. Und nun auf einmal hatte die Angst sie wie ein großes Messer geöffnet. Sie stand vor mir, klaffend wie der zweigeteilte Rumpf einer Färse an einem Fleischerhaken.
Das Rauschen der Wasserspülung hörte praktisch nicht auf und ich hatte plötzlich Lust, sie zu vergewaltigen. Ich weiß, was ich sage: sie zu vergewaltigen, nicht, Liebe mit ihr zu machen. Ich war nicht auf ihre Zärtlichkeit aus. Ich wollte brutal die Hand auf ihr Gesicht legen und sie einen einzigen Moment lang ganz nehmen, mit all ihren so unerträglich erregenden Widersprüchen: mit ihrem tadellosen Kleid wie mit ihren revoltierenden Gedärmen, mit ihrer Vernunft wie mit ihrer Angst, mit ihrem Stolz wie mit ihrem Unglück. Ich hatte das Gefühl, dass in all diesen Widersprüchen ihre Essenz verborgen war: dieser Schatz, dieser Goldklumpen, dieser im tiefsten Innern versteckte Diamant. Ich wollte sie eine einzige Sekunde lang besitzen, gleichermaßen mit ihrer Scheiße wie mit ihrer unaussprechlichen Seele.
Aber ich sah diese Augen, die mich angstvoll ansahen (verängstigte Augen in einem vernünftigen Gesicht), und je verängstigter diese Augen waren, desto absurder, dümmer, skandalöser, unbegreiflicher und unmöglicher wurde mein Begehren.
Fehl am Platz und nicht zu rechfertigen, war dieses Begehren deshalb doch nicht weniger real. Ich könnte es nicht leugnen - und wenn ich Francis Bacons Porträt-Triptychen ansehe, ist es so, als erinnerte ich mich daran. Der Blick des Malers legt sich wie eine brutale Hand auf das Gesicht und versucht, sich dessen Essenz zu bemächtigen, dieses im tiefsten Innern versteckten Diamanten. Wir sind zwar nicht sicher, ob das tiefste Innere wirklich etwas verborgen hält - aber wie dem auch sei, in jedem von uns ist diese brutale Geste, diese Bewegung der Hand, die das Gesicht des anderen in der Hoffnung zerdrückt, darin und dahinter etwas Verstecktes zu finden.«
3
Die besten Kommentare zu Bacons Werk hat Bacon selbst in zwei Gesprächen abgegeben: in dem mit Sylvester im Jahr 1976 und mit Archimbaud im Jahr 1992. In beiden Fällen spricht er voller Bewunderung von Picasso, insbesondere von dessen Periode zwischen 1926 und 1932, der einzigen, der er sich wirklich nahe fühlt. Darin sieht er einen Bereich eröffnet, der »noch nicht erkundet wurde: eine organische Form, die sich auf das Menschenbild bezieht, aber seine komplette Verzerrung ist«. (Hervorhebung von mir.)
Abgesehen von dieser kurzen Periode, die Bacon erwähnt, könnte man sagen, dass überall sonst bei Picasso eine leichte Geste des Malers Motive des menschlichen Körpers in eine zweidimensionale und nicht unbedingt ähnliche Form verwandelt. Die spielerische Euphorie Picassos wird bei Bacon abgelöst durch Erstaunen (wenn nicht Entsetzen) angesichts dessen, was wir sind, was wir stofflich, physisch sind. Von diesem Entsetzen bewegt, legt sich die Hand des Malers (um die Worte meines alten Textes wiederaufzunehmen) mit einer »brutalen Geste« auf einen Körper, auf ein Gesicht, »in der Hoffnung, darin und dahinter etwas Verstecktes zu finden«.
Aber was versteckt sich darin? Sein »Ich«? Selbstverständlich wollen alle Porträts, die je gemalt wurden, das »Ich« des Modells enthüllen. Doch Bacon lebt in der Zeit, in der sich das »Ich« allmählich überall entzieht. Tatsächlich lehrt uns unsere banalste Erfahrung (vor allem, wenn sich das hinter uns liegende Leben zu sehr verlängert), dass die Gesichter beklagenswert gleich sind (wobei die unsinnige demographische Lawine dieses Gefühl noch verstärkt), dass man sie verwechseln kann, dass sie sich durch irgendeine kaum fassbare Winzigkeit unterscheiden, die innerhalb der Proportionen mathematisch oft nur wenige Millimeter Unterschied ausmacht. Hinzu kommt unsere historische Erfahrung, die uns klargemacht hat, dass sich die Menschen in ihrem Handeln gegenseitig imitieren, dass ihre Verhaltensweisen statistisch berechenbar, ihre Meinungen manipulierbar sind und der Mensch daher weniger ein Individuum (ein Subjekt) ist als das Element einer Masse.
In dieser Zeit der Zweifel nun legt sich die vergewaltigende Hand des Malers mit einer »brutalen Geste« auf das Gesicht seiner Modelle, um irgendwo im tiefsten Innern ihr vergrabenes »Ich« zu finden. Bei dieser baconschen Suche verlieren die einer »vollständigen Verzerrung« unterzogenen Formen nie ihren Charakter lebendiger Organismen, erinnern an ihre körperliche Existenz, an ihr Fleisch und bewahren immer ihre Dreidimensionalität. Und außerdem ähneln sie ihrem Modell! Doch wie kann das Porträt seinem Modell ähneln, dessen bewusste Verzerrung es ist? Aber die Fotos der Porträtierten beweisen es: sie ähneln ihnen; sehen Sie sich die Triptychen an - drei nebeneinandergestellte Variationen des Porträts ein und derselben Person; diese Variationen unterscheiden sich voneinander und haben zugleich etwas gemeinsam: »jenen Schatz, jenen Goldklumpen, jenen versteckten Diamanten«, das »Ich« eines Gesichts.
4
Ich könnte es anders sagen: Bacons Porträts loten die Grenzen des »Ich« aus. Bis zu welchem Grad von Verzerrung bleibt ein Individuum noch es selbst? Bis zu welchem Grad von Verzerrung bleibt ein geliebter Mensch noch ein geliebter Mensch? Wie lange bleibt ein liebes Gesicht, das sich in eine Krankheit, in Wahnsinn, in Hass, in den Tod entfernt, noch erkennbar? Wo ist die Grenze, hinter der ein »Ich« aufhört, »Ich« zu sein?
5
In meiner imaginären Galerie der modernen Kunst bildeten Bacon und Beckett seit langem ein Paar. Dann lese ich das Gespräch mit Archimbaud: »Ich habe mich immer über diesen Vergleich zwischen Beckett und mir gewundert«, sagt Bacon. Dann, an anderer Stelle: »... ich habe immer gefunden, dass Shakespeare viel besser, richtiger und stärker ausgedrückt hat, was Beckett und Joyce sagen wollten ...« Und weiter: »Ich frage mich, ob Becketts Ideen über seine Kunst nicht am Ende sein Schaffen abgetötet haben. Es gibt bei ihm etwas gleichzeitig zu Systematisches und zu Intelligentes, vielleicht ist es das, was mich immer gestört hat.« Und schließlich: »In der Malerei belässt man immer zuviel Gewohntes, man eliminiert nie genug, aber bei Beckett habe ich oft den Eindruck, dass vor lauter Eliminieren nichts mehr übriggeblieben ist und dass dieses Nichts letzten Endes hohl klang ...«
Wenn ein Künstler über einen anderen spricht, spricht er (indirekt, auf Umwegen) immer über sich selbst, und eben das macht sein Urteil so interessant. Wenn Bacon über Beckett spricht, was sagt er uns dann über sich selbst?
Dass er nicht eingeordnet werden will. Dass er sein Werk vor Klischees schützen will.
Außerdem: dass er sich den Dogmatikern des Modernismus widersetzt, die eine Schranke zwischen der Tradition und der modernen Kunst errichtet haben, so als stellte diese innerhalb der Kunstgeschichte eine isolierte Periode dar mit ihren eigenen unvergleichbaren Werten, ihren ganz autonomen Kriterien. Bacon aber beruft sich auf die gesamte Kunstgeschichte; das 20. Jahrhundert enthebt uns nicht unserer Schulden gegenüber Shakespeare.
Und genauso versagt er es sich, seine Ideen zur Kunst allzu systematisch zu äußern, weil er befürchtet, seine Kunst könnte in eine Art vereinfachte Botschaft umgeformt werden. Er weiß, dass die Gefahr umso größer ist, als die Kunst unserer Jahrhunderthälfte von einer lärmenden, opaken theoretischen Logorrhöe verrußt wird, die ein Werk daran hindert, in direkten, nicht durch Medien vermittelten, nicht vor-interpretierten Kontakt mit dem Betrachter (Leser, Hörer) zu treten.
Also verwischt Bacon, wo er nur kann, die Spuren, um die Exegeten abzuschütteln, die den Sinn seines Werkes auf einen klischeehaften Pessimismus reduzieren wollen: er sträubt sich dagegen, in Bezug auf sein Werk das Wort »Grauen« zu gebrauchen; er unterstreicht die Rolle, die der Zufall in seiner Malerei spielt (ein beim Arbeiten eingetretener Zufall, ein unversehens gesetzter Farbfleck, der auf einmal sogar das Thema des Bildes verändern kann); er besteht auf dem Wort »Spiel«, während alle den Ernst seiner Gemälde rühmen. Man möchte von seiner Verzweiflung sprechen? Gut, aber, stellt er sogleich klar, in seinem Fall handelt es sich um eine »fröhliche Verzweiflung«.
6
In seiner Reflexion über Beckett sagt Bacon: »In der Malerei belässt man immer zuviel Gewohntes, man eliminiert nie genug« ... Zuviel Gewohntes, das heißt: alles, was keine Entdeckung des Malers ist, was nicht sein ureigener Beitrag, seine Originalität ist; alles, was Erbe, Routine, Füll- werk, aus technischer Notwendigkeit Ausgearbeitetes ist. Es ist das, was zum Beispiel in der Form der Sonate (sogar bei den Größten, bei Mozart, bei Beethoven) alle (oft sehr konventionellen) Übergänge von einem Thema zum anderen sind. Fast alle großen modernen Künstler haben die Absicht, diese »Füllsel« wegzulassen, alles wegzulassen, was vom Gewohnten herkommt, alles, was sie hindert, sich unmittelbar und ausschließlich mit dem Wesentlichen auseinanderzusetzen; das Wesentliche: was der Künstler selbst und er allein sagen kann.
So auch Bacon: sein Bildgrund ist ganz einfach, monochrom; aber: die Körper im Vordergrund sind in ihren Farben und Formen umso reicher und dichter. Eben dieser (shakespearesche) Reichtum liegt ihm am Herzen. Denn ohne diesen Reichtum (der im Kontrast zu dem monochromen Bildgrund steht) wäre die Schönheit asketisch, gleichsam auf Diät gesetzt, geschmälert, und es geht für Bacon immer und vor allem um die Schönheit, um die Explosion der Schönheit, denn auch wenn es heute abgedroschen, altmodisch erscheint, so ist es dieses Wort, das ihn mit Shakespeare verbindet.
Und deshalb reizt ihn das Wort »Grauen«, das seiner Malerei hartnäckig zugeschrieben wird. Tolstoi sagte über Leonid Andrejew und seine schwarzen Novellen: »Er will mich erschrecken, aber ich habe keine Angst.« Es gibt heute zu viele Bilder, die uns erschrecken wollen und uns langweilen. Der Schrecken ist keine ästhetische Empfindung, und das Grauen, das wir in Tolstois Romanen finden, ist nie da, um uns zu erschrecken. Der herzzerreißenden Szene, wenn der lebensgefährlich verwundete Andrej Bolkonski ohne Betäubung operiert wird, fehlt es nicht an Schönheit, wie es keiner Szene von Shakespeare, keinem Gemälde von Bacon je an Schönheit fehlt.
Fleischerläden sind grauenhaft, aber wenn Bacon davon spricht, vergisst er nicht anzumerken, dass »es für einen Maler die große Schönheit der Farbe des Fleisches gibt«.
7
Weshalb nur hat Bacon für mich, trotz all seiner Vorbehalte, weiterhin etwas mit Beckett zu tun?
Beide befinden sich etwa an der gleichen Stelle der Geschichte ihrer jeweiligen Kunst. Nämlich in der allerletzten Periode der dramatischen Kunst, in der allerletzten Periode der Geschichte der Malerei. Bacon ist ja einer der letzten Maler, dessen Sprache noch Öl und Pinsel ist. Und Beckett schreibt noch Theaterstücke, deren Grundlage der Text des Autors ist. Nach ihm existiert das Theater zwar noch, vielleicht entwickelt es sich sogar noch, aber es sind nicht mehr die Texte von Dramatikern, die diese Entwicklung inspirieren, innovativ beleben, sichern.
In der Geschichte der modernen Kunst sind es nicht Bacon und Beckett, die den Weg öffnen; sie schließen ihn. Auf Archimbauds Frage, welche zeitgenössischen Maler wichtig für ihn seien, antwortet Bacon: »Nach Picasso weiß ich nicht so recht. Zur Zeit läuft eine Pop-Art-Ausstellung in der Royal Academy [...], wenn man all diese Bilder versammelt sieht, sieht man nichts. Ich finde, da ist nichts drin, das ist leer, völlig leer.« Und Warhol? »... für mich ist er nicht wichtig. « Und die abstrakte Kunst? O nein, die mag er nicht.
»Nach Picasso weiß ich nicht so recht.« Er redet wie eine Waise. Und er ist es. Er ist es sogar ganz konkret in seinem Leben: jene, die den Weg öffneten, waren umgeben von Kollegen, Kommentatoren, Bewunderern, Sympathisanten, Weggefährten, von einer ganzen Bande. Er ist allein. Wie Beckett. Im Gespräch mit Sylvester sagte Bacon: »Ich glaube, es wäre aufregender, einer von mehreren gemeinsam arbeitenden Künstlern zu sein. [...] Ich glaube, es wäre wahnsinnig angenehm, jemanden zu haben, mit dem man sprechen kann. Heute gibt es absolut niemanden, mit dem man sprechen könnte.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris. Uli Aumüller lebt in Berlin. Sie übersetzt u.a. Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Milan Kundera und Siri Hustvedt. Für ihre Übersetzungen erhielt sie u.a. den Paul Celan-Preis und den Jane Scatcherd-Preis.Grete Osterwald lebt als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen in Frankfurt am Main. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Georges Duby, Jacques Chessex, Hédi Kaddour sowie Nicole Krauss, Lloyd Jones und J.G. Farrell.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2013, 1. Auflage, 208 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Uli Aumüller
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596197465
- ISBN-13: 9783596197460
- Erscheinungsdatum: 22.10.2013
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