Einführung in das juristische Denken
Hrsg. u. bearb. v. Thomas Würtenberger u. Dirk Otto
Die 1956 erstmals erschienene "Einführung in das juristische Denken" von Karl Engisch gehört mittlerweile zu den "Klassikern" der rechtswissenschaftlichen Literatur. In acht Kapiteln werden vor allem Grundsatzfragen der Methodenlehre, aber auch der...
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Produktinformationen zu „Einführung in das juristische Denken “
Klappentext zu „Einführung in das juristische Denken “
Die 1956 erstmals erschienene "Einführung in das juristische Denken" von Karl Engisch gehört mittlerweile zu den "Klassikern" der rechtswissenschaftlichen Literatur. In acht Kapiteln werden vor allem Grundsatzfragen der Methodenlehre, aber auch der Rechtsphilosophie in Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen des zwanzigsten Jahrhunderts abgehandelt.Zielsetzung dieses Buches ist es, dem Rechtsstudenten wie auch dem interessierten Laien die geheimnisvolle und bisweilen suspekte Logik und Methodik des juristischen Denkens nahezubringen.
Lese-Probe zu „Einführung in das juristische Denken “
Einführung in das juristische Denken von Karl EnglischKapitel I
Einleitung
Wer sich anschickt, die Rechtswissenschaft und das juristische Denken dem Anfänger oder dem Laien näherzubringen, sieht sich dabei im Vergleich mit anderen Wissenschaften mancherlei Hemmnissen und Anzweiflungen ausgesetzt. Blickt der Jurist im Kreise der Geistes- und Kulturwissenschaften, denen die Rechtswissenschaft zugezählt wird, um sich, so muss er mit Neid und Beklemmung feststellen, dass die meisten von ihnen extra muros mit sehr viel mehr Interesse, Verständnis und Vertrauen rechnen dürfen als gerade seine Wissenschaft. Zumal die Wissenschaften von der Sprache, der Literatur, der Kunst, der Musik und der Religion faszinieren den bildungsbeflissenen Laien in ganz anderem Maße als die sachlich und auch methodologisch nahe verwandte Wissenschaft vom Recht. Man wird ohne viel Besinnen ein archäologisches oder literarhistorisches Buch auf den Geschenktisch legen, kaum je aber ein juristisches Buch, mag dieses auch an das Wissen des Lesers keine besonderen Anforderungen stellen. Die üblichen Einführungen in die Rechtswissenschaft scheinen mit seltenen Ausnahmen nur dem angehenden Juristen, nicht aber dem Laien etwas zu bieten. Wie oft findet man wohl auch in der Bibliothek des Nichtjuristen ein Gesetzbuch? Die Gründe für diese Interesselosigkeit des Laien am Recht und an der Rechtswissenschaft sind leicht aufzudecken. Und doch handelt es sich hier um etwas sehr Seltsames. Geht doch kaum ein anderes Kulturgebiet den Menschen näher an als das Recht. So gibt es Menschen, die ohne lebendige Beziehung zur Dichtung, zur Kunst, zur Musik leben können und leben. Aber es gibt keinen Menschen, der nicht unter dem Recht lebt und ständig von ihm berührt und gelenkt ist. Der Mensch wird innerhalb der Gemeinschaft geboren und großgezogen und - von abnormen Fällen abgesehen - niemals aus der
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Gemeinschaft entlassen. Das Recht aber ist Wesenselement der Gemeinschaft. Es geht uns daher unvermeidlich an. Auch steht der Grundwert, an dem es sich ausrichten soll: das Gerechte, nicht zurück hinter den Werten des Schönen, des Guten und des Heiligen. Ein gerechtes Recht „gehört zum Sinn derWelt"2.Warum dennoch sowenig Aufgeschlossenheit für Recht und Jurisprudenz?
Nun wird man einwenden, Recht und Rechtswissenschaft seien zweierlei, verdächtig sei dem Laien nur die Letztere. Aber abgesehen davon, dass sich der Laie auch um das Recht nur insoweit kümmert, als dies praktisches Gebot ist, Recht und Rechtswissenschaft sind gar nicht so sehr zweierlei. Sie sind es jedenfalls viel weniger, als es beispielsweise etwa Kunst und Kunstwissenschaft sind. Ohne Zweifel dient auch die Kunstwissenschaft der Kunst, indem sie das Kunstverständnis fördert. Auch mag es einmal vorkommen, dass wissenschaftliche Theorien die Kunstübung beeinflussen. Im Allgemeinen aber geht die Kunst ihre eigenen Wege, und die Kunstwissenschaft folgt ihr nach, erhellend, reflektierend und historisierend, oft vom Künstler selbst mit Misstrauen betrachtet, wenn nicht gar abgelehnt und verspottet. Es liegt mir natürlich ferne, die große geistige Bedeutung der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung in Frage stellen zu wollen. Wie viel hat Winckelmann unseren Klassikern bedeutet? Welch beglückende Einsichten haben uns ein Jakob Burckhardt oder ein Heinrich Wölfflin geschenkt? Trotzdem bleibt es dabei: Kunst und Kunstwissenschaft sind zweierlei. Und Ähnliches gilt für das Verhältnis anderer Kulturwissenschaften zu ihrem jeweiligen Gegenstand. Es ist dagegen der fast einzigartige Vorzug der Rechtswissenschaft unter den Kulturwissenschaften, nicht neben und hinter dem Recht einherzugehen, sondern das Recht selbst und das Leben in und unter dem Recht mitgestalten zu dürfen. Seit es eine Rechtswissenschaft gibt, ist sie praktische Wissenschaft. Die Römer, denen das unsterbliche Verdienst zukommt, diese Wissenschaft begründet zu haben, wussten sehr genau, was sie an ihr hatten. Sie haben sie gerühmt als die „divinarum atque humanarum rerum notitia"3, sie haben sie also für die lebendigste aller Wissenschaften gehalten, und sie sind mit ihrem Recht und ihrer Rechtswissenschaft groß und stark geworden.Was wahrhaft begabte und schöpferische Juristen gedacht und an Rechtserkenntnissen zutage gefördert haben, ist z üallen Zeiten dem Recht selbst zum Segen geworden4, sei es, dass es den Gesetzgeber inspiriert, sei es, dass es die Entscheidung einzelner Rechtsfälle beeinflusst hat. Von der Rechtsweisheit der klassischen römischen Juristen oder der italienischen Postglossatoren (nach 1250) haben Jahrhunderte gezehrt. Auch die Lehren neuerer Juristen wie Ihering, Windscheid, Binding, Liszt und Frank sind stetig fruchtbar geworden für Rechtspflege und Rechtssetzung, also für das Recht selbst - ganz zu schweigen von dem Falle, dass ein Rechtsdenker geradezu zur Gesetzgebung berufen wird, wie Eugen Huber für das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom Jahre 1907, das Wieacker in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit als „die reifste Frucht der deutschsprachigen Rechtswissenschaft des 19. Jhs. in Gesetzesgestalt"5 bezeichnet. Kein Verständiger wird daran denken, darum die großen Rechtsgelehrten über die großen Historiker, Sprachforscher und Kunstgelehrten hinausheben und den genialen Philosophen, Dichtern, Künstlern und Musikern an die Seite stellen zu wollen. Was aber die unmittelbare kulturelle Wirksamkeit betrifft, so sind die wesentlichen rechtswissenschaftlichen Leistungen sehr wohl vergleichbar den bedeutenden Philosophemen, Kunstgebilden und literarischen Erzeugnissen. Sie haben insoweit die gleiche Valenz.
Dass hieraus der Rechtswissenschaft eine besondere Verantwortung erwächst, versteht sich dann von selbst. Von ganz anderer Art als das Ringen um Verständnis und Sympathie in Konkurrenz mit den anderen Geistes- und Kulturwissenschaften ist die immer wieder nötig werdende Selbstbehauptung der Rechtswissenschaft gegenüber Anzweiflungen, die sich bei einem Vergleich mit den Wissenschaften von der Natur einstellen. Dass es überhaupt zu diesem Vergleich kommt, dürfte mit dem Gesetzescharakter des Rechts zusammenhängen. Die Rechtswissenschaft ist wie die Naturwissenschaften eine Gesetzeswissenschaft. Aber wer uns die Gesetze der Natur entschleiert, offenbart uns Sein und Notwendigkeit. Führt uns auch der Jurist an das Sein heran, kann er uns von der Notwendigkeit der Rechtsgesetze überzeugen? Die Freiheit, die dem menschlichen Geiste im Wirkungsbereich der Individualität, also gerade wieder im Bereich der Künste, ohne weiteres zugestanden wird, erscheint im Bereich des Rechts, in dem Regeln und Gesetze herrschen sollen, allzu leicht als Zufall, Willkür, Anmaßung. Gewiss kennt auch der Künstler Regeln und Gesetze. Aber diese sind ihm nur die „Formen", die er mit persönlichen Gehalten erfüllen darf und soll. Auch sind diese „Formen", wenngleich sie als relativ konstant gedacht werden, ihrerseits individuell geprägt. Sie sind darum kulturell verschieden und historisch wandelbar. Sie sind nicht allgemeingültig und nicht streng verbindlich. „Der Meister kann die Form zerbrechen"6. Von den Gesetzen, die das Recht beherrschen und durch die das Recht herrscht, erwartet man dagegen immer wieder Allgemeingültigkeit wie von Wahrheiten und Naturgesetzen. Man ist tief enttäuscht, wenn man sie nicht findet. In klassischer Weise hat dieser Enttäuschung Pascal Ausdruck verliehen mit den vielzitierten Worten: „... man (findet) ... kein Recht und kein Unrecht ..., das nicht mit dem Klima sein Wesen ändere. Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit; nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze; das Recht hat seine Epochen ... Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum"7. Dass es die Juristen trotz allen heißen Bemühens bis heute nicht fertig gebracht haben, das wahre Recht zu finden, es mit der „Natur", sei es der Natur des Menschen, sei es der Natur der Dinge, zu verknüpfen, lässt ihre Wissenschaft vielfach in trübem Lichte erscheinen.
Auch die berühmte Kritik, die Julius v. Kirchmann, selbst Jurist, an der Jurisprudenz als Wissenschaft geübt hat, gründet sich eben hierauf: „Sonne, Mond und Sterne scheinen heute wie vor Jahrtausenden; die Rose blüht heute noch so wie im Paradiese; das Recht aber ist seitdem ein Anderes geworden. Die Ehe, die Familie, der Staat, das Eigentum haben die mannigfachsten Bildungen durchlaufen" 8. Einige einfache Beispiele mögen das Befremden des Laien über die „Willkürlichkeit" und Naturferne der Jurisprudenz beleuchten. Das erste dieser Beispiele ist sicher banal, wird aber gerade wegen seiner Einfachheit einen guten Anknüpfungspunkt für die weitere Betrachtung bieten können. Als ich noch Student war, empörte sich ein Mediziner in meiner Gegenwart darüber, dass der damals (heute nicht mehr) geltende § 1589 Abs. 2 BGB erklärte: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt". Er sah in dieser Bestimmung juristischeWillkür, arrogante Verleugnung biologischer Gegebenheiten, vielleicht auch so etwas wie falsche Scham und verlogene Moral. Er meinte offenbar, das Recht könne sich doch unmöglich in dieserWeise über Naturtatsachen hinwegsetzen.
Nun noch ein zweites Beispiel: In einer wissenschaftlichen Diskussion über Naturrecht brachte ein namhafter Biologe das heute öfters zitierte Beispiel von den Regeln, die Wölfe beim Kampf beobachten: Unterliegt ein Wolf im Kampf, so nimmt er „Demutshaltung" an, was seinen Gegner dazu veranlasst, von weiteren Bissen abzusehen. Ersichtlich schwebte diesem Biologen der Gedanke vor, ein echtes Naturrecht müsse auf ähnliche Weise in biologischen Gegebenheiten wurzeln. Das ihm von juristischer Seite vorgestellte „Naturrecht", wie es sich etwa in den Grund- und Menschenrechten manifestiert, schien ihm kein echtes Naturrecht zu sein. Noch ein letztes Beispiel: In Arztkreisen wird oft beklagt, dass es den Juristen am rechten Verständnis des Heilberufes fehle. Als besonders anstößig wird empfunden, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung auch die notwendige und kunstgerecht ausgeführte ärztliche Operation als „Körperverletzung" qualifiziere, die nur straflos sei, weil der Patient sich mit ihr einverstanden erklärt habe9. Diese Auffassung scheint der Natur des Heilberufs zu widerstreiten und sich nur aus der Überheblichkeit der Juristen erklären zu lassen. Was soll der Jurist zu alledem sagen? Wie kann er der Interesselosigkeit, der Abneigung, dem Misstrauen entgegentreten? Zunächst einmal nur dadurch, dass er den Außenstehenden mit der Art seines Denkens, die so fremd und geheimnisvoll erscheint, ein wenig vertraut macht. Wir können das Denken des Juristen nur dadurch in seinem Ansehen retten, dass wir es gewissenhaft analysieren, auch seine Abirrungen und Fehltritte sowie die Bemühungen, diese zu vermeiden, ins Auge fassen. Wie alles menschliche Streben und Handeln ist auch die Jurisprudenz mit Mängeln behaftet und Gefahren ausgesetzt. Aber man darf vermuten, dass sie, der so viele hervorragende Menschen ihre Kraft gewidmet haben, nicht von allen guten Geistern verlassen ist.
Dabei soll nicht verhehlt werden, dass die folgenden Darlegungen dem Charakter einer „Einführung" gemäß von den traditionellen Rechtsfindungsmethoden ausgehen und im Großen und Ganzen auf ihnen fußen. Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches im Jahre 1956 haben diese Methoden mitunter Anfechtung erfahren. Wie z üBeginn des 20. Jahrhunderts „Freirechtsschule" und „Interessenjurisprudenz" der Rechtsfindung und ihrer Methodik neue Ziele gewiesen haben, so bleiben nun auch in der Gegenwart progressive Theorien und Parolen der Rechtsgewinnung nicht aus. Sie sollen nicht unberücksichtigt bleiben. Im Wesentlichen aber scheint mir die herkömmliche Methodenlehre, wie sie durch und seit Savigny herausgebildet worden ist, noch eine genügend feste Plattform zu bilden, der sich der Jurist unserer Tage als Basis seiner Gedankenarbeit anvertrauen darf.
Nun wird man einwenden, Recht und Rechtswissenschaft seien zweierlei, verdächtig sei dem Laien nur die Letztere. Aber abgesehen davon, dass sich der Laie auch um das Recht nur insoweit kümmert, als dies praktisches Gebot ist, Recht und Rechtswissenschaft sind gar nicht so sehr zweierlei. Sie sind es jedenfalls viel weniger, als es beispielsweise etwa Kunst und Kunstwissenschaft sind. Ohne Zweifel dient auch die Kunstwissenschaft der Kunst, indem sie das Kunstverständnis fördert. Auch mag es einmal vorkommen, dass wissenschaftliche Theorien die Kunstübung beeinflussen. Im Allgemeinen aber geht die Kunst ihre eigenen Wege, und die Kunstwissenschaft folgt ihr nach, erhellend, reflektierend und historisierend, oft vom Künstler selbst mit Misstrauen betrachtet, wenn nicht gar abgelehnt und verspottet. Es liegt mir natürlich ferne, die große geistige Bedeutung der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung in Frage stellen zu wollen. Wie viel hat Winckelmann unseren Klassikern bedeutet? Welch beglückende Einsichten haben uns ein Jakob Burckhardt oder ein Heinrich Wölfflin geschenkt? Trotzdem bleibt es dabei: Kunst und Kunstwissenschaft sind zweierlei. Und Ähnliches gilt für das Verhältnis anderer Kulturwissenschaften zu ihrem jeweiligen Gegenstand. Es ist dagegen der fast einzigartige Vorzug der Rechtswissenschaft unter den Kulturwissenschaften, nicht neben und hinter dem Recht einherzugehen, sondern das Recht selbst und das Leben in und unter dem Recht mitgestalten zu dürfen. Seit es eine Rechtswissenschaft gibt, ist sie praktische Wissenschaft. Die Römer, denen das unsterbliche Verdienst zukommt, diese Wissenschaft begründet zu haben, wussten sehr genau, was sie an ihr hatten. Sie haben sie gerühmt als die „divinarum atque humanarum rerum notitia"3, sie haben sie also für die lebendigste aller Wissenschaften gehalten, und sie sind mit ihrem Recht und ihrer Rechtswissenschaft groß und stark geworden.Was wahrhaft begabte und schöpferische Juristen gedacht und an Rechtserkenntnissen zutage gefördert haben, ist z üallen Zeiten dem Recht selbst zum Segen geworden4, sei es, dass es den Gesetzgeber inspiriert, sei es, dass es die Entscheidung einzelner Rechtsfälle beeinflusst hat. Von der Rechtsweisheit der klassischen römischen Juristen oder der italienischen Postglossatoren (nach 1250) haben Jahrhunderte gezehrt. Auch die Lehren neuerer Juristen wie Ihering, Windscheid, Binding, Liszt und Frank sind stetig fruchtbar geworden für Rechtspflege und Rechtssetzung, also für das Recht selbst - ganz zu schweigen von dem Falle, dass ein Rechtsdenker geradezu zur Gesetzgebung berufen wird, wie Eugen Huber für das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom Jahre 1907, das Wieacker in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit als „die reifste Frucht der deutschsprachigen Rechtswissenschaft des 19. Jhs. in Gesetzesgestalt"5 bezeichnet. Kein Verständiger wird daran denken, darum die großen Rechtsgelehrten über die großen Historiker, Sprachforscher und Kunstgelehrten hinausheben und den genialen Philosophen, Dichtern, Künstlern und Musikern an die Seite stellen zu wollen. Was aber die unmittelbare kulturelle Wirksamkeit betrifft, so sind die wesentlichen rechtswissenschaftlichen Leistungen sehr wohl vergleichbar den bedeutenden Philosophemen, Kunstgebilden und literarischen Erzeugnissen. Sie haben insoweit die gleiche Valenz.
Dass hieraus der Rechtswissenschaft eine besondere Verantwortung erwächst, versteht sich dann von selbst. Von ganz anderer Art als das Ringen um Verständnis und Sympathie in Konkurrenz mit den anderen Geistes- und Kulturwissenschaften ist die immer wieder nötig werdende Selbstbehauptung der Rechtswissenschaft gegenüber Anzweiflungen, die sich bei einem Vergleich mit den Wissenschaften von der Natur einstellen. Dass es überhaupt zu diesem Vergleich kommt, dürfte mit dem Gesetzescharakter des Rechts zusammenhängen. Die Rechtswissenschaft ist wie die Naturwissenschaften eine Gesetzeswissenschaft. Aber wer uns die Gesetze der Natur entschleiert, offenbart uns Sein und Notwendigkeit. Führt uns auch der Jurist an das Sein heran, kann er uns von der Notwendigkeit der Rechtsgesetze überzeugen? Die Freiheit, die dem menschlichen Geiste im Wirkungsbereich der Individualität, also gerade wieder im Bereich der Künste, ohne weiteres zugestanden wird, erscheint im Bereich des Rechts, in dem Regeln und Gesetze herrschen sollen, allzu leicht als Zufall, Willkür, Anmaßung. Gewiss kennt auch der Künstler Regeln und Gesetze. Aber diese sind ihm nur die „Formen", die er mit persönlichen Gehalten erfüllen darf und soll. Auch sind diese „Formen", wenngleich sie als relativ konstant gedacht werden, ihrerseits individuell geprägt. Sie sind darum kulturell verschieden und historisch wandelbar. Sie sind nicht allgemeingültig und nicht streng verbindlich. „Der Meister kann die Form zerbrechen"6. Von den Gesetzen, die das Recht beherrschen und durch die das Recht herrscht, erwartet man dagegen immer wieder Allgemeingültigkeit wie von Wahrheiten und Naturgesetzen. Man ist tief enttäuscht, wenn man sie nicht findet. In klassischer Weise hat dieser Enttäuschung Pascal Ausdruck verliehen mit den vielzitierten Worten: „... man (findet) ... kein Recht und kein Unrecht ..., das nicht mit dem Klima sein Wesen ändere. Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit; nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze; das Recht hat seine Epochen ... Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum"7. Dass es die Juristen trotz allen heißen Bemühens bis heute nicht fertig gebracht haben, das wahre Recht zu finden, es mit der „Natur", sei es der Natur des Menschen, sei es der Natur der Dinge, zu verknüpfen, lässt ihre Wissenschaft vielfach in trübem Lichte erscheinen.
Auch die berühmte Kritik, die Julius v. Kirchmann, selbst Jurist, an der Jurisprudenz als Wissenschaft geübt hat, gründet sich eben hierauf: „Sonne, Mond und Sterne scheinen heute wie vor Jahrtausenden; die Rose blüht heute noch so wie im Paradiese; das Recht aber ist seitdem ein Anderes geworden. Die Ehe, die Familie, der Staat, das Eigentum haben die mannigfachsten Bildungen durchlaufen" 8. Einige einfache Beispiele mögen das Befremden des Laien über die „Willkürlichkeit" und Naturferne der Jurisprudenz beleuchten. Das erste dieser Beispiele ist sicher banal, wird aber gerade wegen seiner Einfachheit einen guten Anknüpfungspunkt für die weitere Betrachtung bieten können. Als ich noch Student war, empörte sich ein Mediziner in meiner Gegenwart darüber, dass der damals (heute nicht mehr) geltende § 1589 Abs. 2 BGB erklärte: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt". Er sah in dieser Bestimmung juristischeWillkür, arrogante Verleugnung biologischer Gegebenheiten, vielleicht auch so etwas wie falsche Scham und verlogene Moral. Er meinte offenbar, das Recht könne sich doch unmöglich in dieserWeise über Naturtatsachen hinwegsetzen.
Nun noch ein zweites Beispiel: In einer wissenschaftlichen Diskussion über Naturrecht brachte ein namhafter Biologe das heute öfters zitierte Beispiel von den Regeln, die Wölfe beim Kampf beobachten: Unterliegt ein Wolf im Kampf, so nimmt er „Demutshaltung" an, was seinen Gegner dazu veranlasst, von weiteren Bissen abzusehen. Ersichtlich schwebte diesem Biologen der Gedanke vor, ein echtes Naturrecht müsse auf ähnliche Weise in biologischen Gegebenheiten wurzeln. Das ihm von juristischer Seite vorgestellte „Naturrecht", wie es sich etwa in den Grund- und Menschenrechten manifestiert, schien ihm kein echtes Naturrecht zu sein. Noch ein letztes Beispiel: In Arztkreisen wird oft beklagt, dass es den Juristen am rechten Verständnis des Heilberufes fehle. Als besonders anstößig wird empfunden, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung auch die notwendige und kunstgerecht ausgeführte ärztliche Operation als „Körperverletzung" qualifiziere, die nur straflos sei, weil der Patient sich mit ihr einverstanden erklärt habe9. Diese Auffassung scheint der Natur des Heilberufs zu widerstreiten und sich nur aus der Überheblichkeit der Juristen erklären zu lassen. Was soll der Jurist zu alledem sagen? Wie kann er der Interesselosigkeit, der Abneigung, dem Misstrauen entgegentreten? Zunächst einmal nur dadurch, dass er den Außenstehenden mit der Art seines Denkens, die so fremd und geheimnisvoll erscheint, ein wenig vertraut macht. Wir können das Denken des Juristen nur dadurch in seinem Ansehen retten, dass wir es gewissenhaft analysieren, auch seine Abirrungen und Fehltritte sowie die Bemühungen, diese zu vermeiden, ins Auge fassen. Wie alles menschliche Streben und Handeln ist auch die Jurisprudenz mit Mängeln behaftet und Gefahren ausgesetzt. Aber man darf vermuten, dass sie, der so viele hervorragende Menschen ihre Kraft gewidmet haben, nicht von allen guten Geistern verlassen ist.
Dabei soll nicht verhehlt werden, dass die folgenden Darlegungen dem Charakter einer „Einführung" gemäß von den traditionellen Rechtsfindungsmethoden ausgehen und im Großen und Ganzen auf ihnen fußen. Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches im Jahre 1956 haben diese Methoden mitunter Anfechtung erfahren. Wie z üBeginn des 20. Jahrhunderts „Freirechtsschule" und „Interessenjurisprudenz" der Rechtsfindung und ihrer Methodik neue Ziele gewiesen haben, so bleiben nun auch in der Gegenwart progressive Theorien und Parolen der Rechtsgewinnung nicht aus. Sie sollen nicht unberücksichtigt bleiben. Im Wesentlichen aber scheint mir die herkömmliche Methodenlehre, wie sie durch und seit Savigny herausgebildet worden ist, noch eine genügend feste Plattform zu bilden, der sich der Jurist unserer Tage als Basis seiner Gedankenarbeit anvertrauen darf.
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Autoren-Porträt von Thomas Würtenberger, Karl Engisch, Dirk Otto
Prof. Dr. Thomas Würtenberger, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg; Dr. Dirk Otto, Promotion und Publikationen im Bereich der Staatsphilosophie.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Thomas Würtenberger , Karl Engisch , Dirk Otto
- 2010, 11. Aufl., 356 Seiten, Maße: 11,4 x 18,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben:Würtenberger, Thomas; Otto, Dirk
- Herausgegeben: Thomas Würtenberger, Dirk Otto
- Verlag: Kohlhammer
- ISBN-10: 3170214144
- ISBN-13: 9783170214149
Rezension zu „Einführung in das juristische Denken “
"Seit mehr als 50 Jahren gilt die Darstellung von Karl Engisch als die Einführung in das juristische Denken schlechthin. Dem Autor gelingt es, die Besonderheiten der Sprache und des Denkens der Juristen in einer allgemein verständlichen Form darzulegen. Mit großer Souveränität zeigt er die Möglichkeiten und Grenzen der juristischen Wissenschaft und Praxis auf. Seit mehr als einem halben Jahrhundert trägt dieses Buch wesentlich dazu bei, die bestehende Kluft zwischen Juristen und juristischen Laien zu überbrücken. Dass Jura dennoch eine schwierige und bisweilen sperrige Materie bleibt, kann jedoch auch Engisch nicht ändern." (Dr. R. Scholzen, in: Internetportal Bundespolizeigewerkschaft 10/2010)
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