Eins zu eins
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Am Anfang steht der »Fall Wenzel«: Der schweigsame Mitarbeiter von andersWandern, einer Berliner Firma für Wanderkarten, ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Olaf Gruber, Ich-Erzähler und Arbeitskollege, erhält den Auftrag, Wenzel aufzuspüren. Mit einigen dürftigen Anhaltspunkten, vor allem einer DDR-Karte des Verschollenen, die die Standorte alter Dorfkirchen verzeichnet, macht er sich auf den Weg. Bald zeigt sich, dass Wenzel einen Plan verfolgt: Er sucht Rethra, das sagenumwobene Heiligtum der Wenden jenes geheimnisvollen Volkes, das vor tausend Jahren die Mark Brandenburg bevölkerte und dann fast spurlos verschwand.Bei seiner Spürreise ins Innere der Mark verliert Gruber Schritt für Schritt den sicheren Boden unter den Füßen. Fasziniert von den Spuren eines untergegangenen Volkes, entdeckt er eine bis heute lebendige Vergangenheit, die sich in keinem Kartenraster verfangen hat. Zugleich gerät Gruber in die Fallstricke der Gegenwart, die ihn in Gestalt seiner Chefin, der schönen Cora, mehr und mehr in den Bann zieht.
Jens Sparschuh, spätestens seit dem Zimmerspringbrunnen einer großen Öffentlichkeit bekannt, lenkt in seinem neuen fulminanten Roman den Blick zurück auf die slawische Geschichte der Landschaft zwischen Elbe und Oder. Zugleich betreibt er eine subtile Archäologie des neuen deutsch-deutschen Alltags mit skurrilem Humor, genauem Blick und geschliffener Sprache.
Eins zu eins von Jens Sparschuh
LESEPROBE
Lockruf der Wildnis
Von einem Fall Wenzel zu sprechen, halte ich noch für verfrüht.Die Trottenburg sieht das übrigens ähnlich. Nachher klärt sich allesüberraschend simpel auf - und wie stehen wir dann da. IhrAnruf kam kurz nach der Mittagspause. »Du, Olaf, ich glaube, wir haben einProblem.« »Wenzel«, sagte ich. »Kommst du mal bitte rüber.« Ichweiß nicht, warum mir spontan Wenzel eingefallen ist. Für diesen halboffenenAugenblick zwischen Träumen und Wachen, in dieser Grauzone meines Denkens - ichhatte gerade meinen täglichen 5-Minuten-Büroschlaf absolviert, und meinOberkörper lag noch abgeknickt über der Schreibtischplatte - muß ich ein Sehergewesen sein. Ich sah: einen langgestreckten See. Ein paarKiefern am Ufer, die mürrisch herumstanden; schief, gegen den Wind. Aber es wargar kein Wind. Nur ein paar Vögel, die sich in den Himmel fallen ließen. Unten,im schwarzen Wasser, schwammen Wolken vorüber. Ein Findling lag am Feldrand.Ein abschüssiger Weg. Auf dem hopste in eigensinnigen Schlenkern ein Autoreifendavon. Das alles stand deutlich vor meinen Augen. Radab! dachte ich noch. Doch schon wenig später konnte ich mich anEinzelheiten kaum noch erinnern. Das Bild zerfiel. So wie morgens ein Traum.Eben noch mit beiden Händen zu greifen, entzieht er sich - ein Schwindelgefühl,über einem Abgrund, hinterlassend - plötzlich ins Unterbewußtsein und läßt sichvon dort schon nicht mehr zurückrufen. Je angestrengter ich mir das ebenGesehene klarmachen wollte, desto verschwommener wurde es. Am Ende blieb: die Erinnerungan einen Alptraum, der angeschmort nach Gummi roch und aus dem ein Autoreifenmit unbekanntem Ziel davonrollte. Die Trottenburg erwartete mich schon. Kaumhatte sie mich in ihr Zimmer gelotst, schloß sie, was sie sonst nie tut, dieTür. Da ahnte ich, daß was passiert sein mußte. Normalerweise steht ihr Bürooffen. Wenn man auf unserer Etage unterwegs ist (zum Kopierer, zum Kartenraum, zurKochnische, zum Klo), kommt man also nicht dort vorbei, ohne im dunklenEichenholzrahmen das höchst lebendige Bild unserer Chefin Cora Trottenburg zusehen: wie sie, elegant in Schwarz, vor dem Weiß des Tapetenhintergrunds,telefoniert, diktiert, tippt, redigiert, Kaffee trinkt - oft in denriskantesten Kombinationen, manchmal auch, wie der indische Gott Shiva, mitwerweißwievielen Armen alles gleichzeitig -, und trotzdem bleibt ihr immer nochZeit für ein Nicken und/oder Winken nach draußen in den Flur, zu uns, zu denVorübergehenden. »Was ist denn los?« wollte ich wissen und zogmir einen Stuhl heran. Sie antwortete nicht sofort. Dann fragte sie:»Wieso bist du eigentlich gleich auf Wenzel gekommen?« »KeineAhnung. Nur so eine . . .«, ich verdrehte die Augen. »Ahnung«, vervollständigtesie leise. »Genau.« Seit Donnerstag letzter Woche ist Wenzelnicht mehr im Büro gewesen. Natürlich hatte ich das bemerkt, ohne mir aber großGedanken darüber zu machen. Das war nicht ungewöhnlich - schließlich gibt eslaufend irgendwelche Besichtigungen vor Ort, Vermessungen und Abgleichungen, geradewenn es in die letzte Phase geht. Außerdem, ich war ganz froh darüber, daß derSchreibtisch mir gegenüber ein paar Tage leer geblieben war, ich brauchtedringend Ruhe, um endlich meine interne Diskussionsvorlage wenigstens ein Stückweit voranzubringen. Einem langfristig vereinbartenGesprächstermin am Freitag, 11 Uhr, in Potsdam war Wenzel ebenfalls ohne Angabevon Gründen ferngeblieben. Der zuständige Abteilungsleiter vomLandesvermessungsamt hatte daraufhin bei der Trottenburg nachgefragt. Sie wußteaber nicht Bescheid - peinliche Situation. Eine Krankmeldung war bis heutenicht eingegangen. »Und nun?« fragte ich. »Heutevormittag habe ich bei ihm zu Hause angerufen. Seine Frau war am Apparat. Diewußte aber auch nichts. Am Mittwochabend, sagt sie, hat er seine Sachengepackt, Rucksack, Blechkoffer, alles wie immer. Sie dachte, es ist wegen derKarte.« Ich kniff die Augen zusammen, als sähe ich irgendwo, in weiterFerne, die Lösung. »Na sicher, Cora. Wahrscheinlich ist erwirklich einfach noch mal raus, weil er da noch irgendwo einen Fehler oder wasgefunden hat, was weiß ich. Klar, genauso wird es sein.« Siesah mich nachdenklich an. »Klingt überzeugend, was du sagst. Es hat nurleider einen winzig kleinen Fehler.« »Nämlich?« »Es stimmt nicht. Es kanngar nicht stimmen.« »Ach so.« Ich lehnte mich im Stuhl zurück. »Hörmal«, sagte sie, »du sitzt doch mit ihm in einem Büro. Du weißt genau, daß dernicht einfach so wegbleibt, ohne sich drei Wochen vorher abzumelden. Der hatauch noch nie einen Termin platzen lassen.« Sie ließ eine kleine Pause. »Dakenne ich übrigens ganz andere.« »Danke«, sagte ich und sah über sie hinweg.Mein Blick lag auf den grauen Feldern, Wäldern und Sümpfen der MarkBrandenburg, die sich hinter ihrem Rücken auf der großen Oesfeld-Wandkarte von1778 breitmachten. Die Trottenburg bemerkte das. Sie beugte sichvor: »Aber dann, dann ist seiner Frau doch noch was eingefallen. Erst hatte siegedacht, es ist ein Witz. Als er im Schlafzimmer seine Sachen in den Rucksack stopfte,fragte er sie, wieviel Paar Socken er einstecken soll.« »WievielPaar . . . und wo, bitteschön, ist da der Witz?« » Für wie lange ist esdenn? rief sie zurück, sie war nämlich gerade in der Küche.« »Jaund«, ich nickte verständnislos - »was hat er gesagt?« »Fürimmer.« Lange stand ich nach diesem Gespräch am Fenster. Vom Hof aus mußich ausgesehen haben wie eine Schaufensterpuppe, die man irrtümlich, fernab vomPublikumsverkehr, im 5. Stockwerk abgestellt und dort vergessen hat. Unten,auf dem Parkplatz, umschlichen sich zwei große schwarze Autos, wie Raubkatzen.Es ging ihnen offensichtlich um die schmale Lücke, die der weghüpfendehellgrüne Fiat vorhin in die dichtgeschlossene Parkreihe gerissen hatte. DieEntscheidung dort unten wollte ich noch abwarten und dann anfangen. (...)
© btb Verlag
- Autor: Jens Sparschuh
- 2003, 2. Aufl., 427 Seiten, 50672 farbige Abbildungen, 11 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,6 x 21,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462032143
- ISBN-13: 9783462032147
- Erscheinungsdatum: 20.02.2003
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eins zu eins".
Kommentar verfassen