Endstation Donau / Katharina Kafka Bd.4
Ein Wien-Krimi
AUF DER DONAU WIRD GESCHMUGGELT UND GEMORDET, WIEN IM VISIER DER MAFIA Für die Schönheit der Donau haben die beiden Kleinkriminellen Marko und Toni wenig Zeit, sind sie doch dabei, sich in der osteuropäischen Mafiaszene Wiens nach oben zu arbeiten. Während...
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Klappentext zu „Endstation Donau / Katharina Kafka Bd.4 “
AUF DER DONAU WIRD GESCHMUGGELT UND GEMORDET, WIEN IM VISIER DER MAFIA Für die Schönheit der Donau haben die beiden Kleinkriminellen Marko und Toni wenig Zeit, sind sie doch dabei, sich in der osteuropäischen Mafiaszene Wiens nach oben zu arbeiten. Während sie immer mehr in Schwierigkeiten geraten, kommt es einige Kilometer weiter auf einem Donaukreuzfahrtschiff zu einem mysteriösen Vorfall. Die Wiener Kellnerin Katharina Kafka, die mit ihrem Freund Orlando an der Schiffsbar angeheuert hat, erblickt im Wasser vor dem Bullauge ihrer Kabine eine Leiche. Und bald ist klar: Auf der "MS Kaiserin Sisi" geht es nicht mit rechten Dingen zu. Neben Kreuzfahrtpassagieren scheint das Schiff auch heiße Ware zu befördern. Hat die Mafia ihre Finger mit im Spiel? Ist Kafka gar dabei, sich in einen Kriminellen zu verlieben? Je weiter sich die "MS Kaiserin Sisi" Wien nähert, desto dramatischer wird die Lage. Die Abgründe der Wiener Seele sind Edith Kneifls Spezialität. Ebenso wie für die Donau gilt: So friedlich und ruhig die Oberfläche auch wirken mag, darunter verbirgt sich oft Böses! WEITERE KRIMIS MIT DEM ERMITTLERDUO KATHARINA KAFKA UND ORLANDO: - Schön tot - Blutiger Sand - Stadt der Schmerzen
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Endstation Donau von Edith Kneifl... mehr
1. Wien
Wien. Mexikoplatz. Kurz vor vier Uhr morgens. Kein Mond,
keine Sterne. Selbst die Straßenbeleuchtung im zweiten
Wiener Gemeindebezirk ließ zu wünschen übrig.
Zwei dunkel gekleidete Gestalten schleppten einen
prall gefüllten Leinensack durch den verwahrlosten Park
am Donauufer.
Ein eisiger Wind pfiff durch die Bäume. Es war viel zu
kalt für diese Jahreszeit. Der Sommer hatte sich gerade
erst verabschiedet. Trotz der niedrigen Temperaturen
standen den Männern Schweißperlen auf der Stirn. Fluchend
setzten sie den Sack auf dem Rasen ab.
„Scheiße! Mach nicht solchen Krach, Toni“, flüsterte
der Kleinere der beiden. Ein stämmiger Mann Anfang
dreißig. Er hatte pechschwarzes Haar und ein auffallend
unproportioniertes Gesicht: niedrige Stirn, schiefer Mund
und fliehendes Kinn.
„Beruhig dich, Marko. Hier ist kein Mensch.“
„Bist du blind, Mann?“ Marko deutete auf eine Parkbank.
Unter einem Berg von Zeitungen sah man ein bärtiges
Gesicht.
„Der ist so betrunken, dass er nichts mehr mitkriegt.“
Toni nahm ein Zigarettenpäckchen aus seiner Hosentasche.
Steckte sich eine an. Reichte das Päckchen dann seinem
Freund. „Warum müssen wir bloß immer die Drecksarbeit
machen?“
„Weil wir noch auf Probe sind.“
„Du meinst, die trauen uns nicht?“
„Endlich geschnallt, Mann?“
Das monotone Rauschen des Flusses war um diese
frühe Stunde das einzig vernehmbare Geräusch. Nur ab
und an drang Motorenlärm von der sechsspurigen Auffahrt
zur Reichsbrücke zu ihnen hinunter. Pendler auf dem
Weg zur Arbeit? Oder Nachtschwärmer auf dem Nachhauseweg?
Die Glocke der Franz-von-Assisi-Kirche schlug viermal.
Marko zuckte zusammen.
„Die Stunde des Todes“, flüsterte er.
„Sag bloß, du bist abergläubisch?“
„Meine Großmutter hat behauptet, dass der Tod
die meisten Menschen um diese Stunde holt.“
„Und meine hat behauptet, dass die Donau blau sei.
Schau dir das Wasser an. Dabei haben die überall Kanalisation.
Trotzdem könnte man glauben, dass der ganze
Dreck der Stadt hier vorbeischwimmt.“
„Wieso? Ich sehe nur schwarz.“
„Das weiß ich.“
Marko, völlig unempfänglich für Ironie, wollte weiter
über die Farbe der Donau diskutieren Toni brachte ihn
mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen.
„Sei still. Da ist jemand.“
„Ratten! Wenn ich eine Scheiß-Knarre dabei hätte,
würde ich diese Scheiß-Viecher sofort abknallen.“
„Musst du dauernd solche Kraftausdrücke verwenden?“
Marko antwortete nicht, sondern gab komische Geräusche
von sich, die entfernt nach dem Knattern eines
Maschinengewehrs klangen.
Er war ein Fan von amerikanischen Kriminalfilmen.
Sein Wortschatz in Deutsch stammte von synchronisierten
B-Movies der achtziger und neunziger Jahre.
„Ich krieg bald eine Knarre, hat Vladimir gesagt.“
„Keine Schusswaffen, habe ich gesagt!“
„Bleib cool, Mann. Du brauchst ja keine. Es genügt,
wenn ich eine hab.“
Toni hatte seinem Freund schon mehrmals zu verstehen
gegeben, dass er Waffen prinzipiell ablehnte. Dieser
schießwütige kleine Kerl wollte das einfach nicht kapieren.
Mittlerweile waren sie unter der Reichsbrücke angekommen.
Dieses Mal legten sie den Sack behutsam auf den Boden.
Ein leises Klirren war trotzdem zu hören.
„Wir sind zu früh“, sagte Marko.
„Nein, vier Uhr war abgemacht. Sie sind zu spät.“
2. Tulcea, Rumänien
Es war zu spät, um umzukehren. Ich bereute längst, mich
auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Was für ein
reizloser, schmuddeliger Hafen, dachte ich beim Anblick
der heruntergekommenen Lagerhäuser und verrosteten
Kräne, die in den strahlend blauen Himmel ragten.
Ich saß mit meinem Freund Orlando in einem Gastgarten
in der rumänischen Stadt Tulcea. Unser Tisch stand
nahe am Donauufer, eine alte Linde spendete dürftigen
Schatten. Es war Mitte September und hatte um die dreißig
Grad.
„Tulcea ist sozusagen das Nadelöhr zum Donaudelta“,
sagte ich zu Orlando. „Du wirst sehen, das Delta wird dir
gefallen.“
Seit wir in Bukarest den Flieger verlassen hatten,
schmollte er. Es war sein erster Besuch in einem ehemals
sozialistischen Land.
Ich hatte ihm von der grandiosen Landschaft und der
beeindruckenden Weite Rumäniens vorgeschwärmt. Er
interessierte sich jedoch nur für Graf Dracula. Seit er kapiert
hatte, dass Transsylvanien von der Donau weit entfernt
ist und sich ein Abstecher dorthin nicht ausgehen
würde, ließ er mich seine Enttäuschung spüren.
Ich war an seine Launen gewöhnt. Orlando war eben
eine Zicke. Dennoch versuchte ich ihn aufzuheitern, in
dem ich den tollen Kaviar erwähnte, den wir hier kriegen
würden. Mein Freund gebärdete sich gern als Gourmet,
obwohl Pizza Margherita seine Lieblingsspeise war.
„Kaviar?“
„Ja, den unbefruchteten Rogen von Stören.“
„Hier gibt’s bald keinen Kaviar mehr. Hab gerade erst
gelesen, dass die Störe vom Aussterben bedroht sind.
Durch den Bau der Wasserkraftwerke und Staudämme
haben sie ihre Laichgründe verloren. Außerdem werden
sie wegen ihrer Eier schlicht und einfach abgeschlachtet …“
„Quatsch! Der Stör ist der Fisch der Donau! Er wird sogar
‚der König der Donau‘ genannt.“
„Du bist wieder mal nicht am Laufenden, Kafka. In
dem Artikel stand, dass durch die hemmungslose Wildfischerei
und den illegalen Kaviarhandel die Störe beinahe
ausgerottet wurden. Obwohl die bulgarischen und rumänischen
Behörden ein vierjähriges Fangverbot für Störe
in der Donau und im Schwarzen Meer verhängt haben,
werden diese armen Fische wegen ihrer heißbegehrten
Eier zu tausenden umgebracht.“
„Störe gab es schon vor zweihundertfünfzig Millionen
Jahren und wird es immer geben. Mag sein, dass einige
Arten wegen der Überfischung bedroht sind, aber sicher
nicht alle.“
„Ich habe noch nie einen Stör gesehen.“
„Kein Wunder. Sie schwimmen ja auch am Grund des
Flusses. Angeblich sind sie genauso alt wie Dinosaurier.
Haben aber im Gegensatz zu denen überlebt.“
„Sie sehen den Dinos wirklich ähnlich.“ Orlando zeigte
mir ein Foto, das er im Internet gefunden hatte.
„Du weißt, dass die Roaming-Gebühren irrsinnig hoch
sind? An deiner Stelle würde ich nicht ständig im Internet
surfen.“
„Ich schalte es gleich aus.“
Missmutig starrten wir beide auf den langen, alten
Kahn, der direkt vor dem Lokal angelegt hatte.
Die „MS Kaiserin Sisi“ war nicht gerade das neueste
Schiff der rumänischen Kreuzfahrt-Flotte. Obwohl es vor
ein paar Jahren generalsaniert worden war, mangelte es
ihm an Schick und vor allem an Komfort. Die Kabinen,
selbst die Doppelkabinen auf Deck 1, waren sehr klein. In
den Toiletten und Duschen konnte man sich kaum umdrehen.
Die Klimaanlage funktionierte nur hin und wieder
und bei über dreißig Grad Außentemperatur gab sie
vollends den Geist auf.
Als ich Orlando erzählt hatte, dass das Schiff, auf dem
wir die nächsten fünf Wochen verbringen würden, nach
seiner geliebten österreichischen Kaiserin benannt war,
konnte er sich vor Begeisterung kaum einkriegen.
Orlando hatte einen Sisi-Tick. Als wir uns kennenlernten,
machte er des Nachts in langen Sisi-Roben die
Straßen Wiens unsicher. All meine Überredungskünste
waren vonnöten gewesen, ja ich hatte ihn sogar regelrecht
erpressen müssen, hatte gedroht, ihm die Freundschaft
zu kündigen, wenn er diese idiotische Verkleidung
nicht ablegte. Ich habe kein Problem damit, dass er Transvestit
ist, aber dieser Sisi-Wahn überstieg meine Toleranzgrenze.
„Kreuzfahrt – dass ich nicht lache! Sieh dir dieses
Prachtstück an. Alles verrostet und schnell überstrichen“,
meckerte er.
„Das sieht dein Malerauge sofort.“
Orlando war ein begabter Maler, aber leider ein faules
Aas. Vom Verkauf seiner Bilder konnte er ebenso wenig
leben wie ich von den zeitgeschichtlichen Projekten über
Roma und Sinti, an denen ich hin und wieder mitarbeitete.
„Spotte ruhig. Du wirst noch beten, dass wir heil nachhause
kommen.“
„Was soll uns auf einem Schiff passieren? Noch dazu
auf einem Fluss? Wenn es untergehen sollte, schwimmt
man halt an Land.“
„Da spuckt mal wieder jemand große Töne. Gestern
hast du fast geflennt, als es ein paar harmlose Turbulenzen
gegeben hat.“
„Ich habe Flugangst. Das ist ganz was anderes.“
„Und ich habe Angst vorm Wasser. Ertrinken ist bestimmt
ein sehr qualvoller Tod.“
„Quatsch, im Gegenteil, ich stelle mir vor, dass das eine
sehr angenehme Todesart sein könnte.“
„Du bist morbid, Kafka!“
„Und du bist ein Angsthase.“
„Jeder hat eben seine Ängste.“
Ich hatte keine Lust auf eine Fortführung dieses idiotischen
Gesprächs und zündete mir eine Zigarette an.
Orlando setzte an, mich zum hundertsten Mal zu ermahnen,
dass mich die Zigaretten noch eines Tages ins
Grab bringen würden. Mit einem heftigen „Halt den Mund“
gebot ich ihm zu schweigen. Als ich seinen verletzten Blick
bemerkte, bereute ich es sogleich, ihn derart angefahren
zu haben.
„Glaubst du nicht auch, dass diese rumänische Airline
TAROM bis heute die alten, längst schrottreifen, sowjetischen
Tupolews einsetzt?“
„Wir sind mit einer stinknormalen McDonnell Douglas
geflogen, meine Liebe.“
„Sind die nicht ebenfalls steinalt?“
„Mag sein. Wir sind heil angekommen und nur das
zählt, oder?“
Vor nunmehr etwa zehn Tagen rief mich überraschender
Weise mein Onkel Sandor an. Letztes Frühjahr hatte ich
mit Orlandos Hilfe den zweiten Mörder meiner Eltern in
den USA überführt. Daraufhin hatte ich meinen Patenonkel,
den Bruder meiner Mutter, per Internet gesucht. Wir
Roma haben überall auf der Welt Verwandte. Schließlich
hat einer meiner Cousins Sandor wirklich in einer Bar in
Marseille entdeckt. Die Bar gehörte seiner aktuellen Lebensgefährtin,
und er geigte dort an den Wochenenden auf.
In Wien hatte er den Ruf gehabt, ein Teufelsgeiger zu
sein. Seine Fans hatten ihn für fast so begnadet gehalten
wie Paganini. Ich war damals sehr stolz auf meinen berühmten
Onkel.
Nachdem ich die Telefonnummer der Bar herausgefunden
hatte, telefonierten wir ein paar Mal miteinander. Es
hatte ihn schwer beeindruckt, dass ich den Mörder seiner
geliebten Schwester zur Strecke gebracht hatte. Nach ein
paar Wochen war der Kontakt aber wieder eingeschlafen.
Sandor war kein großer Telefonierer. Deshalb freute ich
mich letztens auch sehr über seinen Anruf.
Er fragte mich, ob ich nicht Lust auf eine kostenlose
Kreuzfahrt hätte. Und meinen kleinen, tapferen Freund
sollte ich gleich mitbringen.
Ich bin studierte Historikerin, verdiene mir jedoch meinen
Lebensunterhalt seit Jahren als Barkeeperin. Da ich
gerade ohne Job war und Orlando sowieso seine Arbeitsplätze
wechselte wie seine Unterwäsche, fragte ich, welche
Gegenleistung ich dafür bringen müsste.
„Die Bar übernehmen“, sagte Sandor. „Du wärst Chef
de Bar.“
Als er mir vorrechnete, wie viel ich auf drei Donaukreuzfahrten
in fünf Wochen verdienen würde, sagte ich,
ohne Orlando zu fragen, für uns beide zu.
Ich hätte mir denken können, dass diese Geschichte
einen Haken hatte.
Sandor hatte, was den angeblich so tollen Lohn betraf,
das durchschnittliche Trinkgeld miteingerechnet und
auch verschwiegen, dass wir einen 16-Stunden-Tag haben
würden. Gestern bei meinem Vorstellungsgespräch
mit dem rumänischen Kapitän begriff ich zudem, dass auf
dem Schiff ein permanenter Personalwechsel herrschte.
Kein gutes Zeichen, das wusste ich aus Erfahrung.
Der Kapitän war nicht unsympathisch und sah auch
nicht übel aus. War groß, breitschultrig und hatte dunkelblondes,
dichtes Haar. Aber seine hohe Stimme, die
so gar nicht zu seinem kräftigen Körper passte, missfiel
mir ebenso wie die ersten Worte, die er an mich richtete.
„Ah, du bist die kleine Zigeunerin.“
„Mein Name ist Katharina Kafka. Magistra Kafka.“
Normalerweise erwähne ich meinen akademischen
Titel nie. Es ärgerte mich nur, dass er mich duzte. Ich bin
vierzig Jahre alt und einen Meter fünfundsiebzig groß –
von wegen kleine Zigeunerin!
„Einen studierten Chef de Bar hatten wir meines Wissens
noch nie.“ Falls er beeindruckt war, ließ er es sich
nicht anmerken.
„Wenigstens wird sie rechnen können“, sagte er zum
Ersten Offizier, der uns keinerlei Beachtung geschenkt
hatte und auch jetzt nicht vom Bildschirm seines Laptops
aufblickte.
„Das ist korrekt“, hörte ich ihn nach ein paar Sekunden
leise sagen.
„Uniformen habt ihr euch besorgt?“ Der Kapitän musterte
Orlando, der ein schickes, rosafarbenes Etuikleid
trug, abschätzig von Kopf bis Fuß.
Ich hatte uns in Wien blaue Uniformen gekauft. Orlando
hatte beteuert, dass er so eine Scheußlichkeit nicht
anziehen würde, während ich es eher als Zumutung empfand,
dass wir unsere Arbeitskleidung selbst bezahlen
mussten.
„Ja, haben wir“, sagte ich, da Orlando es vorzog zu
schweigen.
In diesem Augenblick schneite der Kreuzfahrtdirektor
herein. Er begrüßte uns freundlich lächelnd und wandte
sich dann mit einer Frage an den Kapitän.
Ich betrachtete unser Vorstellungsgespräch als beendet,
wünschte allen einen guten Tag und verließ mit
Orlando im Schlepptau die Kommandobrücke.
Der Kreuzfahrtdirektor schien okay zu sein. Er war
Deutscher und hieß Bernhard.
Gestern Abend an der Bar, als noch keine Gäste an Bord
waren, hatte er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit
anvertraut, dass die MS Kaiserin Sisi vor kurzem in
einer Werft in Belgrad technisch überholt werden hatte
müssen. Sie hatten auf der Fahrt von Wien ins Donaudelta
kurz nach Belgrad einen Maschinenschaden gehabt. Die
Passagiere hatten von Belgrad aus den Heimflug antreten
müssen und die Hälfte der Mannschaft hatte das Schiff
mit ihnen verlassen. Deshalb hätten sie so rasch neues
Personal für Bar, Küche und Service gebraucht.
Er deutete an, dass mein Onkel, der vom rumänischen
Reiseveranstalter als Alleinunterhalter engagiert worden
war, eine anständige Provision kassiert hätte, weil er ihnen
so schnell Ersatz verschafft hatte.
Das konnte ich mir gut vorstellen. Obwohl ich meinen
Patenonkel liebe, halte ich ihn für einen Gauner. Von
meinen nahen Verwandten sind mir aber nur Sandor und
mein Großvater väterlicherseits geblieben. Wahrscheinlich
hatte ich hunderte Verwandte in aller Welt. Doch die
kannte ich nicht näher.
Leider war Orlando dabei gewesen, als Bernhard von
den technischen Problemen gesprochen hatte. Seither
nervte er mich mit seinen Untergangsphantasien.
„Diese alte Fregatte ist total marod“, fing Orlando
wieder zu meckern an als wir zurück aufs Schiff gingen.
„Mit ‚alte Fregatte‘ meinst du wohl die Kaiserin Elisabeth?“
„Hör auf, Kafka! Mir schwant Übles. Diese Reise steht
unter keinem guten Stern! Spürst du das denn nicht? Was
ist bloß los mit dir?“
Früher hatte Orlando oft behauptet, ich würde wegen
meiner Roma-Vorfahren über den sechsten Sinn verfügen
und hellsehen können. Mittlerweile bildete er sich
ein, selbst diese Fähigkeit zu besitzen.
„Du weißt, ich halte nicht viel von Intuitionen.“
„Ich schon. Vor allem von deinen und meinen eigenen.“
„Nun gut. Wir werden es mindestens mit zwei oder
sogar drei mysteriösen Todesfällen zu tun kriegen. Darauf
wette ich, wenn ich an das Alter unserer Passagiere
denke.“ Lachend legte ich den Arm um Orlandos Taille und
schubste ihn mehr oder weniger über die Gangway an Bord.
Unser Dienst begann um achtzehn Uhr.
„Du fällst in deiner Heimat ganz schön auf mit deinen roten
Haaren“, sagte Orlando, als er in einem eleganten, weißen
Sommerkleid und perfekt geschminkt die Bar betrat.
„Rumänien ist nicht meine Heimat. Ich bin genauso
Wienerin wie du.“
Orlando kicherte.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Anscheinend hast du endlich kapiert, dass ich auch
eine ‚in‘ bin.
„Idiot.“
„Warum wirst du immer gleich ausfallend? Im Ernst,
die Leute in Tulcea haben uns beide angestarrt, als hätten
sie noch nie Rothaarige gesehen.“
unserer Abreise in Wien eine rote Meche in seine kinnlangen,
dunkelblonden Haare machen lassen. Man hielt uns
nun tatsächlich für Schwestern. Seit ich ihm abgewöhnt
hatte, in langen, wallenden Kleidern herumzulaufen, hatte
er sich auf Vintage-Klamotten verlegt und bemühte sich,
wie die berühmte, leider viel zu früh verstorbene Sisi-
Darstellerin Romy Schneider auszusehen.
„Außerdem habe ich die roten Haare von meinem österreichischen
Vater geerbt. Meine Mutter war dunkelhaarig,
wie oft soll ich dir das noch erzählen? Und sie stammte
weder aus Rumänien noch aus Ungarn, sondern war eine
österreichische Romni.“
„Aber du sprichst ungarisch.“
„Ja, weil meine Großmutter eine ungarische Romni
war. Könnten wir das Thema bitte beenden? Ich denke,
du solltest dich schleunigst umziehen.“
„Muss ich wirklich diese grauenhafte blaue Uniform
anziehen? Blau steht mir überhaupt nicht. Vor allem dieses
langweilige Marineblau …“
„Orlando, du kannst sofort wieder heimfliegen …“
„Ich bin schon unterwegs. Mach mir inzwischen einen
Capuccino, Baby“, zwitscherte er und eilte nach unten.
Wir bewohnten zu zweit eine Viererkabine. Nachdem
ich mir die Unterkunft der Matrosen kurz angesehen hatte,
versuchte ich erst gar nicht, mich zu beschweren. Trotzdem
fand ich unsere enge Kabine ebenso grässlich wie
Orlando.
Sie hatte kein Fenster, sondern ein winziges Bullauge,
das sich zu einem Drittel unter Wasser befand. Bei stärkerem
Wellengang verschwand es gänzlich.
Ich kam mir vor wie in einem Aquarium. Nur, dass Fische
jetzt uns begafften.
Das Wiedersehen mit meinem Onkel Sandor an diesem
Abend verlief relativ unsentimental.
Ich war erstaunt, dass er sich in all den Jahren, in denen
wir uns nicht gesehen hatten, kaum verändert hatte.
Er sah blendend aus, hatte weder einen Wohlstandsbauch
noch Haarausfall. Im Gegenteil, er trug sein graues, dichtes
Haar nach wie vor schulterlang. Seine kantigen, sonnengegerbten
Züge und vor allem seine großen, grünen
Augen brachten bestimmt auch heute noch einige Frauen
um ihren Verstand.
Ich rechnete in Gedanken kurz nach, wie alt er war.
Sandor war der jüngste Bruder meiner Mutter. Sie hatte
ihn praktisch aufgezogen. Meine Mutter wäre heuer siebzig
geworden, wenn diese Psychopathen sie nicht umgebracht
hätten. Also musste mein Onkel ungefähr Sechzig
sein.
Orlando und ich plauderten eine Weile mit ihm. Ich
schilderte ihm noch einmal in Kurzfassung unseren abenteuerlichen
USA-Trip. Als ich beschrieb, wie der Mörder
meiner Mutter zu Tode gekommen war, wirkte er sehr befriedigt
und gab eine Runde aus. Danach zog er sich bald
in seine Kabine zurück. Ein alter Mann wie er brauche
seinen Schlaf, behauptete er. Ich verdächtigte den alten
Womanizer noch ein Rendezvous zu haben.
Orlando schaute nach der Arbeit auf einen Sprung ins
örtliche Casino. Ich war zu kaputt, um ihn zu begleiten.
Machte mir jedoch ernsthaft Sorgen um ihn.
Orlando war ein leidenschaftlicher Spieler. Letztes
Frühjahr in Las Vegas war es mir nur mit Müh und Not
gelungen, ihn von den Roulettetischen fernzuhalten. Doch
an diesem Abend in Tulcea konnte ich ihn nicht davon
abbringen, wenigstens einen Blick in das örtliche Casino
zu werfen. Da er zwei Stunden später in unserer Kabine
aufkreuzte und beteuerte, umgerechnet etwa hundert
Euro beim Pokern an einem Automaten gewonnen zu
haben, verzichtete ich auf jeden Kommentar.
„Unser Käpt’n war auch dort. Aber er hat mich nicht
gesehen. War zu sehr in seine Karten vertieft. Er hat übrigens
Black Jack gespielt.“
Es war zwei Uhr früh, als ich endlich einschlief.
© Studienverlag GmbH
1. Wien
Wien. Mexikoplatz. Kurz vor vier Uhr morgens. Kein Mond,
keine Sterne. Selbst die Straßenbeleuchtung im zweiten
Wiener Gemeindebezirk ließ zu wünschen übrig.
Zwei dunkel gekleidete Gestalten schleppten einen
prall gefüllten Leinensack durch den verwahrlosten Park
am Donauufer.
Ein eisiger Wind pfiff durch die Bäume. Es war viel zu
kalt für diese Jahreszeit. Der Sommer hatte sich gerade
erst verabschiedet. Trotz der niedrigen Temperaturen
standen den Männern Schweißperlen auf der Stirn. Fluchend
setzten sie den Sack auf dem Rasen ab.
„Scheiße! Mach nicht solchen Krach, Toni“, flüsterte
der Kleinere der beiden. Ein stämmiger Mann Anfang
dreißig. Er hatte pechschwarzes Haar und ein auffallend
unproportioniertes Gesicht: niedrige Stirn, schiefer Mund
und fliehendes Kinn.
„Beruhig dich, Marko. Hier ist kein Mensch.“
„Bist du blind, Mann?“ Marko deutete auf eine Parkbank.
Unter einem Berg von Zeitungen sah man ein bärtiges
Gesicht.
„Der ist so betrunken, dass er nichts mehr mitkriegt.“
Toni nahm ein Zigarettenpäckchen aus seiner Hosentasche.
Steckte sich eine an. Reichte das Päckchen dann seinem
Freund. „Warum müssen wir bloß immer die Drecksarbeit
machen?“
„Weil wir noch auf Probe sind.“
„Du meinst, die trauen uns nicht?“
„Endlich geschnallt, Mann?“
Das monotone Rauschen des Flusses war um diese
frühe Stunde das einzig vernehmbare Geräusch. Nur ab
und an drang Motorenlärm von der sechsspurigen Auffahrt
zur Reichsbrücke zu ihnen hinunter. Pendler auf dem
Weg zur Arbeit? Oder Nachtschwärmer auf dem Nachhauseweg?
Die Glocke der Franz-von-Assisi-Kirche schlug viermal.
Marko zuckte zusammen.
„Die Stunde des Todes“, flüsterte er.
„Sag bloß, du bist abergläubisch?“
„Meine Großmutter hat behauptet, dass der Tod
die meisten Menschen um diese Stunde holt.“
„Und meine hat behauptet, dass die Donau blau sei.
Schau dir das Wasser an. Dabei haben die überall Kanalisation.
Trotzdem könnte man glauben, dass der ganze
Dreck der Stadt hier vorbeischwimmt.“
„Wieso? Ich sehe nur schwarz.“
„Das weiß ich.“
Marko, völlig unempfänglich für Ironie, wollte weiter
über die Farbe der Donau diskutieren Toni brachte ihn
mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen.
„Sei still. Da ist jemand.“
„Ratten! Wenn ich eine Scheiß-Knarre dabei hätte,
würde ich diese Scheiß-Viecher sofort abknallen.“
„Musst du dauernd solche Kraftausdrücke verwenden?“
Marko antwortete nicht, sondern gab komische Geräusche
von sich, die entfernt nach dem Knattern eines
Maschinengewehrs klangen.
Er war ein Fan von amerikanischen Kriminalfilmen.
Sein Wortschatz in Deutsch stammte von synchronisierten
B-Movies der achtziger und neunziger Jahre.
„Ich krieg bald eine Knarre, hat Vladimir gesagt.“
„Keine Schusswaffen, habe ich gesagt!“
„Bleib cool, Mann. Du brauchst ja keine. Es genügt,
wenn ich eine hab.“
Toni hatte seinem Freund schon mehrmals zu verstehen
gegeben, dass er Waffen prinzipiell ablehnte. Dieser
schießwütige kleine Kerl wollte das einfach nicht kapieren.
Mittlerweile waren sie unter der Reichsbrücke angekommen.
Dieses Mal legten sie den Sack behutsam auf den Boden.
Ein leises Klirren war trotzdem zu hören.
„Wir sind zu früh“, sagte Marko.
„Nein, vier Uhr war abgemacht. Sie sind zu spät.“
2. Tulcea, Rumänien
Es war zu spät, um umzukehren. Ich bereute längst, mich
auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Was für ein
reizloser, schmuddeliger Hafen, dachte ich beim Anblick
der heruntergekommenen Lagerhäuser und verrosteten
Kräne, die in den strahlend blauen Himmel ragten.
Ich saß mit meinem Freund Orlando in einem Gastgarten
in der rumänischen Stadt Tulcea. Unser Tisch stand
nahe am Donauufer, eine alte Linde spendete dürftigen
Schatten. Es war Mitte September und hatte um die dreißig
Grad.
„Tulcea ist sozusagen das Nadelöhr zum Donaudelta“,
sagte ich zu Orlando. „Du wirst sehen, das Delta wird dir
gefallen.“
Seit wir in Bukarest den Flieger verlassen hatten,
schmollte er. Es war sein erster Besuch in einem ehemals
sozialistischen Land.
Ich hatte ihm von der grandiosen Landschaft und der
beeindruckenden Weite Rumäniens vorgeschwärmt. Er
interessierte sich jedoch nur für Graf Dracula. Seit er kapiert
hatte, dass Transsylvanien von der Donau weit entfernt
ist und sich ein Abstecher dorthin nicht ausgehen
würde, ließ er mich seine Enttäuschung spüren.
Ich war an seine Launen gewöhnt. Orlando war eben
eine Zicke. Dennoch versuchte ich ihn aufzuheitern, in
dem ich den tollen Kaviar erwähnte, den wir hier kriegen
würden. Mein Freund gebärdete sich gern als Gourmet,
obwohl Pizza Margherita seine Lieblingsspeise war.
„Kaviar?“
„Ja, den unbefruchteten Rogen von Stören.“
„Hier gibt’s bald keinen Kaviar mehr. Hab gerade erst
gelesen, dass die Störe vom Aussterben bedroht sind.
Durch den Bau der Wasserkraftwerke und Staudämme
haben sie ihre Laichgründe verloren. Außerdem werden
sie wegen ihrer Eier schlicht und einfach abgeschlachtet …“
„Quatsch! Der Stör ist der Fisch der Donau! Er wird sogar
‚der König der Donau‘ genannt.“
„Du bist wieder mal nicht am Laufenden, Kafka. In
dem Artikel stand, dass durch die hemmungslose Wildfischerei
und den illegalen Kaviarhandel die Störe beinahe
ausgerottet wurden. Obwohl die bulgarischen und rumänischen
Behörden ein vierjähriges Fangverbot für Störe
in der Donau und im Schwarzen Meer verhängt haben,
werden diese armen Fische wegen ihrer heißbegehrten
Eier zu tausenden umgebracht.“
„Störe gab es schon vor zweihundertfünfzig Millionen
Jahren und wird es immer geben. Mag sein, dass einige
Arten wegen der Überfischung bedroht sind, aber sicher
nicht alle.“
„Ich habe noch nie einen Stör gesehen.“
„Kein Wunder. Sie schwimmen ja auch am Grund des
Flusses. Angeblich sind sie genauso alt wie Dinosaurier.
Haben aber im Gegensatz zu denen überlebt.“
„Sie sehen den Dinos wirklich ähnlich.“ Orlando zeigte
mir ein Foto, das er im Internet gefunden hatte.
„Du weißt, dass die Roaming-Gebühren irrsinnig hoch
sind? An deiner Stelle würde ich nicht ständig im Internet
surfen.“
„Ich schalte es gleich aus.“
Missmutig starrten wir beide auf den langen, alten
Kahn, der direkt vor dem Lokal angelegt hatte.
Die „MS Kaiserin Sisi“ war nicht gerade das neueste
Schiff der rumänischen Kreuzfahrt-Flotte. Obwohl es vor
ein paar Jahren generalsaniert worden war, mangelte es
ihm an Schick und vor allem an Komfort. Die Kabinen,
selbst die Doppelkabinen auf Deck 1, waren sehr klein. In
den Toiletten und Duschen konnte man sich kaum umdrehen.
Die Klimaanlage funktionierte nur hin und wieder
und bei über dreißig Grad Außentemperatur gab sie
vollends den Geist auf.
Als ich Orlando erzählt hatte, dass das Schiff, auf dem
wir die nächsten fünf Wochen verbringen würden, nach
seiner geliebten österreichischen Kaiserin benannt war,
konnte er sich vor Begeisterung kaum einkriegen.
Orlando hatte einen Sisi-Tick. Als wir uns kennenlernten,
machte er des Nachts in langen Sisi-Roben die
Straßen Wiens unsicher. All meine Überredungskünste
waren vonnöten gewesen, ja ich hatte ihn sogar regelrecht
erpressen müssen, hatte gedroht, ihm die Freundschaft
zu kündigen, wenn er diese idiotische Verkleidung
nicht ablegte. Ich habe kein Problem damit, dass er Transvestit
ist, aber dieser Sisi-Wahn überstieg meine Toleranzgrenze.
„Kreuzfahrt – dass ich nicht lache! Sieh dir dieses
Prachtstück an. Alles verrostet und schnell überstrichen“,
meckerte er.
„Das sieht dein Malerauge sofort.“
Orlando war ein begabter Maler, aber leider ein faules
Aas. Vom Verkauf seiner Bilder konnte er ebenso wenig
leben wie ich von den zeitgeschichtlichen Projekten über
Roma und Sinti, an denen ich hin und wieder mitarbeitete.
„Spotte ruhig. Du wirst noch beten, dass wir heil nachhause
kommen.“
„Was soll uns auf einem Schiff passieren? Noch dazu
auf einem Fluss? Wenn es untergehen sollte, schwimmt
man halt an Land.“
„Da spuckt mal wieder jemand große Töne. Gestern
hast du fast geflennt, als es ein paar harmlose Turbulenzen
gegeben hat.“
„Ich habe Flugangst. Das ist ganz was anderes.“
„Und ich habe Angst vorm Wasser. Ertrinken ist bestimmt
ein sehr qualvoller Tod.“
„Quatsch, im Gegenteil, ich stelle mir vor, dass das eine
sehr angenehme Todesart sein könnte.“
„Du bist morbid, Kafka!“
„Und du bist ein Angsthase.“
„Jeder hat eben seine Ängste.“
Ich hatte keine Lust auf eine Fortführung dieses idiotischen
Gesprächs und zündete mir eine Zigarette an.
Orlando setzte an, mich zum hundertsten Mal zu ermahnen,
dass mich die Zigaretten noch eines Tages ins
Grab bringen würden. Mit einem heftigen „Halt den Mund“
gebot ich ihm zu schweigen. Als ich seinen verletzten Blick
bemerkte, bereute ich es sogleich, ihn derart angefahren
zu haben.
„Glaubst du nicht auch, dass diese rumänische Airline
TAROM bis heute die alten, längst schrottreifen, sowjetischen
Tupolews einsetzt?“
„Wir sind mit einer stinknormalen McDonnell Douglas
geflogen, meine Liebe.“
„Sind die nicht ebenfalls steinalt?“
„Mag sein. Wir sind heil angekommen und nur das
zählt, oder?“
Vor nunmehr etwa zehn Tagen rief mich überraschender
Weise mein Onkel Sandor an. Letztes Frühjahr hatte ich
mit Orlandos Hilfe den zweiten Mörder meiner Eltern in
den USA überführt. Daraufhin hatte ich meinen Patenonkel,
den Bruder meiner Mutter, per Internet gesucht. Wir
Roma haben überall auf der Welt Verwandte. Schließlich
hat einer meiner Cousins Sandor wirklich in einer Bar in
Marseille entdeckt. Die Bar gehörte seiner aktuellen Lebensgefährtin,
und er geigte dort an den Wochenenden auf.
In Wien hatte er den Ruf gehabt, ein Teufelsgeiger zu
sein. Seine Fans hatten ihn für fast so begnadet gehalten
wie Paganini. Ich war damals sehr stolz auf meinen berühmten
Onkel.
Nachdem ich die Telefonnummer der Bar herausgefunden
hatte, telefonierten wir ein paar Mal miteinander. Es
hatte ihn schwer beeindruckt, dass ich den Mörder seiner
geliebten Schwester zur Strecke gebracht hatte. Nach ein
paar Wochen war der Kontakt aber wieder eingeschlafen.
Sandor war kein großer Telefonierer. Deshalb freute ich
mich letztens auch sehr über seinen Anruf.
Er fragte mich, ob ich nicht Lust auf eine kostenlose
Kreuzfahrt hätte. Und meinen kleinen, tapferen Freund
sollte ich gleich mitbringen.
Ich bin studierte Historikerin, verdiene mir jedoch meinen
Lebensunterhalt seit Jahren als Barkeeperin. Da ich
gerade ohne Job war und Orlando sowieso seine Arbeitsplätze
wechselte wie seine Unterwäsche, fragte ich, welche
Gegenleistung ich dafür bringen müsste.
„Die Bar übernehmen“, sagte Sandor. „Du wärst Chef
de Bar.“
Als er mir vorrechnete, wie viel ich auf drei Donaukreuzfahrten
in fünf Wochen verdienen würde, sagte ich,
ohne Orlando zu fragen, für uns beide zu.
Ich hätte mir denken können, dass diese Geschichte
einen Haken hatte.
Sandor hatte, was den angeblich so tollen Lohn betraf,
das durchschnittliche Trinkgeld miteingerechnet und
auch verschwiegen, dass wir einen 16-Stunden-Tag haben
würden. Gestern bei meinem Vorstellungsgespräch
mit dem rumänischen Kapitän begriff ich zudem, dass auf
dem Schiff ein permanenter Personalwechsel herrschte.
Kein gutes Zeichen, das wusste ich aus Erfahrung.
Der Kapitän war nicht unsympathisch und sah auch
nicht übel aus. War groß, breitschultrig und hatte dunkelblondes,
dichtes Haar. Aber seine hohe Stimme, die
so gar nicht zu seinem kräftigen Körper passte, missfiel
mir ebenso wie die ersten Worte, die er an mich richtete.
„Ah, du bist die kleine Zigeunerin.“
„Mein Name ist Katharina Kafka. Magistra Kafka.“
Normalerweise erwähne ich meinen akademischen
Titel nie. Es ärgerte mich nur, dass er mich duzte. Ich bin
vierzig Jahre alt und einen Meter fünfundsiebzig groß –
von wegen kleine Zigeunerin!
„Einen studierten Chef de Bar hatten wir meines Wissens
noch nie.“ Falls er beeindruckt war, ließ er es sich
nicht anmerken.
„Wenigstens wird sie rechnen können“, sagte er zum
Ersten Offizier, der uns keinerlei Beachtung geschenkt
hatte und auch jetzt nicht vom Bildschirm seines Laptops
aufblickte.
„Das ist korrekt“, hörte ich ihn nach ein paar Sekunden
leise sagen.
„Uniformen habt ihr euch besorgt?“ Der Kapitän musterte
Orlando, der ein schickes, rosafarbenes Etuikleid
trug, abschätzig von Kopf bis Fuß.
Ich hatte uns in Wien blaue Uniformen gekauft. Orlando
hatte beteuert, dass er so eine Scheußlichkeit nicht
anziehen würde, während ich es eher als Zumutung empfand,
dass wir unsere Arbeitskleidung selbst bezahlen
mussten.
„Ja, haben wir“, sagte ich, da Orlando es vorzog zu
schweigen.
In diesem Augenblick schneite der Kreuzfahrtdirektor
herein. Er begrüßte uns freundlich lächelnd und wandte
sich dann mit einer Frage an den Kapitän.
Ich betrachtete unser Vorstellungsgespräch als beendet,
wünschte allen einen guten Tag und verließ mit
Orlando im Schlepptau die Kommandobrücke.
Der Kreuzfahrtdirektor schien okay zu sein. Er war
Deutscher und hieß Bernhard.
Gestern Abend an der Bar, als noch keine Gäste an Bord
waren, hatte er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit
anvertraut, dass die MS Kaiserin Sisi vor kurzem in
einer Werft in Belgrad technisch überholt werden hatte
müssen. Sie hatten auf der Fahrt von Wien ins Donaudelta
kurz nach Belgrad einen Maschinenschaden gehabt. Die
Passagiere hatten von Belgrad aus den Heimflug antreten
müssen und die Hälfte der Mannschaft hatte das Schiff
mit ihnen verlassen. Deshalb hätten sie so rasch neues
Personal für Bar, Küche und Service gebraucht.
Er deutete an, dass mein Onkel, der vom rumänischen
Reiseveranstalter als Alleinunterhalter engagiert worden
war, eine anständige Provision kassiert hätte, weil er ihnen
so schnell Ersatz verschafft hatte.
Das konnte ich mir gut vorstellen. Obwohl ich meinen
Patenonkel liebe, halte ich ihn für einen Gauner. Von
meinen nahen Verwandten sind mir aber nur Sandor und
mein Großvater väterlicherseits geblieben. Wahrscheinlich
hatte ich hunderte Verwandte in aller Welt. Doch die
kannte ich nicht näher.
Leider war Orlando dabei gewesen, als Bernhard von
den technischen Problemen gesprochen hatte. Seither
nervte er mich mit seinen Untergangsphantasien.
„Diese alte Fregatte ist total marod“, fing Orlando
wieder zu meckern an als wir zurück aufs Schiff gingen.
„Mit ‚alte Fregatte‘ meinst du wohl die Kaiserin Elisabeth?“
„Hör auf, Kafka! Mir schwant Übles. Diese Reise steht
unter keinem guten Stern! Spürst du das denn nicht? Was
ist bloß los mit dir?“
Früher hatte Orlando oft behauptet, ich würde wegen
meiner Roma-Vorfahren über den sechsten Sinn verfügen
und hellsehen können. Mittlerweile bildete er sich
ein, selbst diese Fähigkeit zu besitzen.
„Du weißt, ich halte nicht viel von Intuitionen.“
„Ich schon. Vor allem von deinen und meinen eigenen.“
„Nun gut. Wir werden es mindestens mit zwei oder
sogar drei mysteriösen Todesfällen zu tun kriegen. Darauf
wette ich, wenn ich an das Alter unserer Passagiere
denke.“ Lachend legte ich den Arm um Orlandos Taille und
schubste ihn mehr oder weniger über die Gangway an Bord.
Unser Dienst begann um achtzehn Uhr.
„Du fällst in deiner Heimat ganz schön auf mit deinen roten
Haaren“, sagte Orlando, als er in einem eleganten, weißen
Sommerkleid und perfekt geschminkt die Bar betrat.
„Rumänien ist nicht meine Heimat. Ich bin genauso
Wienerin wie du.“
Orlando kicherte.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Anscheinend hast du endlich kapiert, dass ich auch
eine ‚in‘ bin.
„Idiot.“
„Warum wirst du immer gleich ausfallend? Im Ernst,
die Leute in Tulcea haben uns beide angestarrt, als hätten
sie noch nie Rothaarige gesehen.“
unserer Abreise in Wien eine rote Meche in seine kinnlangen,
dunkelblonden Haare machen lassen. Man hielt uns
nun tatsächlich für Schwestern. Seit ich ihm abgewöhnt
hatte, in langen, wallenden Kleidern herumzulaufen, hatte
er sich auf Vintage-Klamotten verlegt und bemühte sich,
wie die berühmte, leider viel zu früh verstorbene Sisi-
Darstellerin Romy Schneider auszusehen.
„Außerdem habe ich die roten Haare von meinem österreichischen
Vater geerbt. Meine Mutter war dunkelhaarig,
wie oft soll ich dir das noch erzählen? Und sie stammte
weder aus Rumänien noch aus Ungarn, sondern war eine
österreichische Romni.“
„Aber du sprichst ungarisch.“
„Ja, weil meine Großmutter eine ungarische Romni
war. Könnten wir das Thema bitte beenden? Ich denke,
du solltest dich schleunigst umziehen.“
„Muss ich wirklich diese grauenhafte blaue Uniform
anziehen? Blau steht mir überhaupt nicht. Vor allem dieses
langweilige Marineblau …“
„Orlando, du kannst sofort wieder heimfliegen …“
„Ich bin schon unterwegs. Mach mir inzwischen einen
Capuccino, Baby“, zwitscherte er und eilte nach unten.
Wir bewohnten zu zweit eine Viererkabine. Nachdem
ich mir die Unterkunft der Matrosen kurz angesehen hatte,
versuchte ich erst gar nicht, mich zu beschweren. Trotzdem
fand ich unsere enge Kabine ebenso grässlich wie
Orlando.
Sie hatte kein Fenster, sondern ein winziges Bullauge,
das sich zu einem Drittel unter Wasser befand. Bei stärkerem
Wellengang verschwand es gänzlich.
Ich kam mir vor wie in einem Aquarium. Nur, dass Fische
jetzt uns begafften.
Das Wiedersehen mit meinem Onkel Sandor an diesem
Abend verlief relativ unsentimental.
Ich war erstaunt, dass er sich in all den Jahren, in denen
wir uns nicht gesehen hatten, kaum verändert hatte.
Er sah blendend aus, hatte weder einen Wohlstandsbauch
noch Haarausfall. Im Gegenteil, er trug sein graues, dichtes
Haar nach wie vor schulterlang. Seine kantigen, sonnengegerbten
Züge und vor allem seine großen, grünen
Augen brachten bestimmt auch heute noch einige Frauen
um ihren Verstand.
Ich rechnete in Gedanken kurz nach, wie alt er war.
Sandor war der jüngste Bruder meiner Mutter. Sie hatte
ihn praktisch aufgezogen. Meine Mutter wäre heuer siebzig
geworden, wenn diese Psychopathen sie nicht umgebracht
hätten. Also musste mein Onkel ungefähr Sechzig
sein.
Orlando und ich plauderten eine Weile mit ihm. Ich
schilderte ihm noch einmal in Kurzfassung unseren abenteuerlichen
USA-Trip. Als ich beschrieb, wie der Mörder
meiner Mutter zu Tode gekommen war, wirkte er sehr befriedigt
und gab eine Runde aus. Danach zog er sich bald
in seine Kabine zurück. Ein alter Mann wie er brauche
seinen Schlaf, behauptete er. Ich verdächtigte den alten
Womanizer noch ein Rendezvous zu haben.
Orlando schaute nach der Arbeit auf einen Sprung ins
örtliche Casino. Ich war zu kaputt, um ihn zu begleiten.
Machte mir jedoch ernsthaft Sorgen um ihn.
Orlando war ein leidenschaftlicher Spieler. Letztes
Frühjahr in Las Vegas war es mir nur mit Müh und Not
gelungen, ihn von den Roulettetischen fernzuhalten. Doch
an diesem Abend in Tulcea konnte ich ihn nicht davon
abbringen, wenigstens einen Blick in das örtliche Casino
zu werfen. Da er zwei Stunden später in unserer Kabine
aufkreuzte und beteuerte, umgerechnet etwa hundert
Euro beim Pokern an einem Automaten gewonnen zu
haben, verzichtete ich auf jeden Kommentar.
„Unser Käpt’n war auch dort. Aber er hat mich nicht
gesehen. War zu sehr in seine Karten vertieft. Er hat übrigens
Black Jack gespielt.“
Es war zwei Uhr früh, als ich endlich einschlief.
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Autoren-Porträt von Edith Kneifl
Edith Kneifl, geboren 1954 in Wels, lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Psychoanalytikerin in Wien. Endstation Donau ist ihr zwanzigster Kriminalroman. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Bei Haymon sind bisher u.a. die ersten drei Teile ihrer Krimi-Serie rund um die Wienerin Katharina Kafka erschienen, zuletzt Blutiger Sand. Kriminalroman (2012). Zuletzt bei HAYMONtb: Satansbraut. Ein Waldviertel-Krimi (gemeinsam mit Stefan Gergely, 2013). www.kneifl.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Edith Kneifl
- 2014, 264 Seiten, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709971578
- ISBN-13: 9783709971574
- Erscheinungsdatum: 30.09.2014
Pressezitat
"Ich kann diesen Krimi allen Krimifreunden wärmstens empfehlen, ein Pageturner." Bettina Schnuch, Amazon-Leserstimme
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