Zirkel / Engelsfors Trilogie Bd.1
Sechs Mädchen, die sich eigentlich nicht ausstehen können. Doch dann werden sie eines Nachts im Wald zusammengeführt und erfahren: Sie sind die Auserwählten, die das Böse in der Stadt bekämpfen sollen. Werden sie es schaffen,...
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Produktinformationen zu „Zirkel / Engelsfors Trilogie Bd.1 “
Sechs Mädchen, die sich eigentlich nicht ausstehen können. Doch dann werden sie eines Nachts im Wald zusammengeführt und erfahren: Sie sind die Auserwählten, die das Böse in der Stadt bekämpfen sollen. Werden sie es schaffen, mit vereinten Kräften gegen das Dunkle zu kämpfen?
Klappentext zu „Zirkel / Engelsfors Trilogie Bd.1 “
Düstere Spannung, dunkle Magie: die Engelsfors-Trilogie. Die sechs Mädchen könnten nicht verschiedener sein. Abgesehen davon, dass sie in der schwedischen Kleinstadt Engelsfors leben, auf dieselbe Schule gehen und sich nicht mögen, haben sie nichts gemeinsam. Glauben sie. Doch eines Nachts werden sie im Wald zusammengeführt. Sie sind auserwählt, das Böse, das in der Stadt lauert, zu bekämpfen. Schaffen sie es, miteinander auszukommen? Denn nur mit vereinten Kräften können sie die dunklen Mächte besiegen. Reinster Nervenkitzel aus Schweden, dem Land der Krimi-Meister. "Zirkel" ist der grandiose Auftakt der Engelsfors-Trilogie. Auch als E-Book erhältlich www.zirkel-trilogie.de www.facebook.com/ZirkelFeuerSchluessel
Lese-Probe zu „Zirkel / Engelsfors Trilogie Bd.1 “
Zirkel von Sara B. Elfgren und Mats StrandbergIM HAUS DER DUNKLEN MACHT
... mehr
Adriana Lopez' Haus liegt zehn Minuten zu Fuß von der Schule entfernt, in einem Wohngebiet, das »Kleine Ruhe« genannt wird. Minoo fragt sich, ob es irgendwo auch noch eine »Große Ruhe« gibt. Jedenfalls wäre das der Ort, den sie jetzt dringend aufsuchen müsste, so, wie das Adrenalin durch ihren Körper rauscht.
Die Abstände zwischen den Villen werden immer größer und es gibt mehr unbebaute Grundstücke. Die schwarzverkohlten Reste eines abgebrannten Hauses warten darauf, abgerissen zu werden. Jetzt im Mondlicht sieht es richtig unheimlich aus.
Man erzählt sich, im Keller dieses Hauses hätte sich ein Swingerclub befunden. Mehrere verheiratete Paare haben sich angeblich nachts dort getroffen und untereinander Partner und Körperflüssigkeiten getauscht. Eine eifersüchtige Frau, heißt es, hat das Haus dann angesteckt. Den Gerüchten zufolge sind Menschen in den Flammen umgekommen, deren Seelen man in gewissen Nächten immer noch hören kann, ein leises Jammern und Seufzen, gleichermaßen schmerz- wie lustvoll.
Minoo schaudert und zieht den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn. Als sie an dem ausgebrannten Haus vorbeigeht, ertappt sie sich selbst dabei, wie sie die Ohren spitzt, aber sie kann keine lüsternen Geister hören.
Als sich eine schwarz gekleidete Gestalt aus den Schatten an der Grundstücksgrenze löst, bleibt ihr fast das Herz stehen. Sie will schon losrennen, da winkt ihr die Gestalt zu. Es ist Linnéa.
Gemeinsam gehen sie die Straße hinunter. Jedes Fenster, an dem sie vorbeikommen, nimmt Minoo wahr, ihr ist jedes neugierige Auge, dem sie auffallen könnten, quälend bewusst. Langsam bereut sie, dass sie damit einverstanden war, mit der unsichtbaren Vanessa ins Haus zu gehen. Alle waren der Meinung, dass Minoo Vanessa begleiten sollte, weil sie die »Cleverste« sei. Und ihre Eitelkeit hat über die Angst gesiegt.
Kann man verzweifelter nach Bestätigung suchen?, denkt sie. Ihr fällt auf, dass Linnéa lächelt.
»Was ist denn so witzig?«, flüstert Minoo.
»Ich dachte nur gerade, dass du deine Freizeit sonst garantiert anders verbringst.«
Minoo weiß selbst, dass sie brav ist, aber sie hasst es, wenn andere darauf herumreiten.
»Aber du nicht, oder wie?«
»Entspann dich. Wir wissen, dass sie nicht vor morgen zurückkommt«, flüstert Linnéa. Sie wirkt aufgekratzt. Als wäre das alles ein großes Abenteuer.
Sie biegen in eine Seitenstraße ein und entdecken Ida, die im Gestrüpp hockt und Ausschau hält. Der Plan sieht vor, dass Ida Anna-Karin, die näher am Haus postiert ist, warnt, sobald jemand kommt. Anna-Karin ist wichtig, sie kann Passanten in eine andere Richtung lenken. Aber sie wagen es nicht, sich hundertprozentig auf Ida zu verlassen, und deshalb erfüllt Ida als Einzige eine Funktion, auf die sie im Notfall verzichten könnten. Minoo erkennt Idas Gesicht im Dunkeln nicht und ist nicht traurig darüber. Seit dem Telefongespräch kann sie ihr nicht mehr in die Augen sehen.
»Muss die unbedingt dabei sein?«, murmelt Linnéa.
»Wir ziehen das zusammen durch«, sagt Minoo und fühlt sich wie die größte Heuchlerin der Welt.
Die Straße ist schmal, die Häuser sind älter und stehen nicht so dicht wie die anderen. Auf einem kleinen unbebauten Grundstück zwischen zwei hohen Bäumen hält Anna-Karin Wache. Nervös sieht sie zu Minoo und Linnéa, als die beiden an ihr vorbeigehen.
»Schau mal da«, flüstert Linnéa und nickt zu Nicolaus' Auto, das versteckt im Schatten eines großen Baumes parkt. Er wartet dort, falls sie schnell abhauen müssen. Nicolaus ist alles andere als begeistert von ihrem Plan, aber auch er musste einsehen, dass sie keine andere Wahl haben.
Minoo und Linnéa gehen noch zehn Meter und dann sind sie da. Am Ende der Straße steht das Haus der Rektorin. Ein frisch gestrichener weißer Zaun, der im Dunkeln zu leuchten scheint, umgibt das Grundstück. Der Garten ist auf eine Art verwildert, die sehr gewollt aussieht. Ein gewundener, mit Steinplatten gepflasterter Weg führt vom Gartentor an einer hohen Birke vorbei zur Eingangstür. Das weiße Holzhaus hat zwei Stockwerke und ist mit Schnitzwerk verziert.
Zwei Fenster im Obergeschoss sind mit einem abstrakten Bleiglasmosaik geschmückt, sie sehen aus wie Kirchenfenster. Der Griff des Gartentors bewegt sich plötzlich nach unten und wie von Geisterhand gleitet es auf. Minoo bleibt fast das Herz stehen, dann kapiert sie, dass die unsichtbare Vanessa das Tor geöffnet hat.
»Könnt ihr mich hören?«, flüstert Vanessa, die zur Vorbereitung hart dafür trainiert hat, unsichtbar und trotzdem hörbar zu sein.
Sie gehen weiter bis zur Haustür. Minoo zieht ein paar dünne Schutzhandschuhe über, die sie vom Arbeitsplatz ihrer Mutter hat mitgehen lassen.
»Und was, wenn sie eine Alarmanlage hat?«, flüstert Minoo und zieht ihre Taschenlampe hervor.
»Das werden wir gleich wissen«, sagt Linnéa feixend mit dem Schlüssel in der Hand.
Minoo bewundert Anna-Karins Mut. Sie hat den Schlüssel der Rektorin gestohlen, ist ein paar Straßen weiter zu einem Schlüsseldienst gerannt, hat eine Kopie anfertigen lassen und das Original zurückgelegt, ohne dabei erwischt worden zu sein.
Linnéa dreht den Schlüssel und mit einem leisen Klicken öffnet sich das Schloss. Sie drückt die Klinke nach unten und macht eine ironisch einladende Geste.
»Tretet ein in das Haus des Grauens«, sagt sie. »Ich bleibe hier und passe auf«, fügt sie ernster hinzu, als sie Minoos Blick begegnet.
Für einen Moment wird Vanessa neben Minoo sichtbar und nickt ihr aufmunternd zu. Dann verschwindet sie wieder und schlüpft gleichzeitig in das unbeleuchtete Haus. Minoo denkt an Rebecka und folgt ihr.
Minoo knipst die kleine Taschenlampe an und richtet sie auf den Boden, um das Risiko, dass jemand den Lichtstrahl durchs Fenster sieht, so gering wie möglich zu halten.
In der Diele hängen in einer geräumigen Nische Jacken und Mäntel, ordentlich aufgereiht auf Kleiderbügeln. Sie schleichen über die knarrenden Bodendielen, und Minoo betet, dass sie keine Fußspuren hinterlassen.
»Wohnt die hier?«, flüstert Vanessa, als sie ins Wohnzimmer kommen.
Minoo versteht sofort, was sie meint.
Es ist zu perfekt. Die Möbel sind dunkel und schwer und sehen aus, als würden sie eigentlich in ein Schloss gehören. An den Wänden hängen alte Porträts und Landschaftsbilder in düsteren Farben. Der offene Kamin wirkt vollkommen unbenutzt, daran ändert auch der Korb mit dem sorgfältig gestapelten Feuerholz in exakt einheitlicher Größe nichts. Nirgendwo liegen Bücher herum. Keine Zeitungen. Es riecht vollkommen sauber. Zu sauber.
Als wäre die Luft hier drinnen noch nie von menschlicher Gegenwart besudelt worden.
Sie gehen weiter durch einen Flur, werfen einen Blick in die Küche, ein Badezimmer und ein Gästezimmer. Alles im selben Stil eingerichtet. Gegenüber der Treppe, die in den oberen Stock führt, befindet sich ein kleines Zimmer, das als Büro dient. In den Regalen stehen nur gewöhnliche
Bücher - Unterhaltungsromane, Biografien und Gedichte. Keine Spur von uralten Pergamenten oder lateinischen Schriften, so weit das Auge reicht.
»Wir gehen hoch«, wispert Minoo.
Keine Antwort.
»Vanessa?«, zischt sie, plötzlich voller Panik, alleine in dem großen, dunklen Haus zu sein.
»Entschuldige, ich habe vergessen, dass du mich nicht sehen kannst, und genickt«, flüstert Vanessa dicht neben ihr. Sie schleichen die Treppe hoch. Die Stufen knarren unter ihren Füßen. Minoo wird bewusst, dass sie im Obergeschoss festsitzen, sollte die Rektorin wider Erwarten früher nach Hause kommen. Und im Unterschied zu Vanessa würde Minoo niemals ungesehen die Treppe hinuntergelangen. Als sie oben sind, lässt sie den Blick schweifen. Durch ein Dachfenster fällt Mondlicht in die obere Diele und Minoo macht die Taschenlampe aus. Schatten hängen in allen Ecken. »Wollen wir mit dem Zimmer da rechts anfangen?«, flüstert Minoo.
Wieder bleibt es still.
»Vanessa?«
»Entschuldige. Ja.«
Ein langer Teppich dämpft ihre Schritte. Minoo öffnet die Tür am Ende des Flurs, dort, wo die Schatten am dichtesten sind. Sie betritt den Raum und schaltet die Taschenlampe wieder ein.
Im Zimmer stehen ein ordentlich gemachtes Bett und eine schlichte Bodenlampe. Ein Einbauschrank nimmt eine ganze Wand ein. Aber es gibt nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass hier auch jemand schläft.
»Sie muss eine Psychopathin sein«, flüstert Vanessa.
Eine der Schranktüren öffnet sich. Etwas Schwarzes, Unförmiges schwebt in die Luft wie ein verzweifelter Vogel, der aus seinem Käfig befreit wird. Minoo schreit leise auf. Erst als sich das schwarze Etwas nicht mehr bewegt, sieht sie, dass es ein elegantes Abendkleid ist, das von unsichtbaren Händen gehalten wird.
»Eine reiche Psychopathin«, ächzt Vanessa und hängt das Kleid zurück. »Das ist von Prada.«
Minoo öffnet die Tür zum angrenzenden Badezimmer. Flauschige Handtücher hängen ordentlich gefaltet über einer Stange aus gebürstetem Stahl. In den Regalen und Schränken stehen perfekte Reihen exklusiver Produkte, alle mit dem Etikett nach vorne.
»Shit, hat die viel Make-up. Glaubst du, sie merkt, wenn was fehlt?«, sagt Vanessa.
Der aufgeregte Unterton in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Erschrocken schüttelt Minoo den Kopf.
»War nur ein Witz«, sagt Vanessa.
Trotzdem kann Minoo den Impuls nicht unterdrücken, sich vor die Regale zu stellen und zu warten, bis Vanessa aus dem Badezimmer gegangen ist.
Die Tür neben dem Schlafzimmer führt in einen vollkommen leeren Raum.
Die nächste Tür auch.
Und die dritte ist verschlossen.
Minoo rüttelt an der Klinke. Sollte es in diesem Haus irgendetwas Interessantes geben, dann garantiert in dem einzigen Zimmer, das abgeschlossen ist.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Minoo.
Sie hört ein merkwürdiges Geräusch. Ein leises metallisches Schaben an der Tür. Als würden winzige Krallen daran kratzen. Minoo macht einen Schritt zurück. Wenn die Rektorin so etwas wie eine böse Königin ist, hat sie vielleicht auch kleine Untertanen, die sich in ihrem Palast verstecken, leise lauernd, bereit, ihr Geheimnis zu verteidigen.
Die Klinke bewegt sich nach unten und die Tür öffnet sich einen Spaltbreit.
In ihrem Augenwinkel nimmt etwas Gestalt an und Minoo dreht sich hastig um.
Vanessa grinst sie an.
»Hast du gehört ...«, setzt Minoo an, aber dann sieht sie die Haarnadel, die Vanessa in der Hand hält.
Und Minoo kapiert, dass keine lauernden Untertanen die Tür geöffnet haben, sondern Vanessa, die wunderbare Vanessa, die Schlösser knacken kann. Minoo würde sie am liebsten umarmen, aber Vanessa wird schon wieder unsichtbar.
Sie gehen hinein. Minoo wagt kaum zu atmen. Mondlicht fällt durch die Bleiglasfenster und verleiht allem ein traumähnliches Aussehen. Durch die bunten Scheiben entstehen unregelmäßige Muster auf dem Boden. Im Unterschied zum Rest des Hauses riecht es hier schwach nach Leben, nach staubigem Papier und altem Leder. Daneben liegt ein Hauch von verbranntem Holz in der Luft und ein stechender Geruch, den Minoo nicht identifizieren kann. Das Zimmer ist der größte Raum im oberen Stock. Auch hier gibt es einen Kamin, der aber, dem rußgeschwärzten Mauerwerk nach zu urteilen, eifrig genutzt zu werden scheint. Entlang der Wand stehen Bücherregale, von denen drei ausgestopfte Vögel auf sie herunterstarren. Zwei unterschiedliche Eulen und ein kohlschwarzer Rabe mit messerscharfem Schnabel. Der Inhalt der Regale ist durch große Glastüren geschützt, die wiederum mit mächtigen Vorhängeschlössern versehen sind.
Die meisten Buchrücken sind so abgewetzt, dass man die Titel nicht mehr entziffern kann, aber an einem bleibt Minoos Blick hängen - Unaussprechlichen Kulten - und sofort fährt ein Schauer durch ihren Körper, als hätte sie etwas Uraltes und durch und durch Böses gestreift.
»Wo bist du?«, flüstert Minoo.
»Am Schreibtisch. Schau mal«, flüstert Vanessa und macht eine Hand sichtbar, um Minoo etwas zu zeigen.
Unter einem Stapel von Büchern in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls liegt eine alte Karte von Engelsfors, daneben ein seltsamer Gegenstand aus Eisen mit einer großen Schraube in der Mitte und zwei Fotografien. Vergrößerungen aus dem Schülerjahrbuch der neunten Klasse. Eine von Elias. Und eine von Rebecka.
»Ich mache ein Foto, damit die anderen das auch sehen können«, flüstert Vanessa angespannt.
Minoo geht zum Regal neben dem Kamin. Es ist mit Gefäßen aus braunem Glas vollgestellt. Die Etiketten sind mit lateinischen Zahlen durchnummeriert. Sie nimmt aufs Geratewohl das Gefäß mit der XI herunter und schraubt den Deckel auf.
Erst erkennt sie die kleinen vertrockneten Klumpen nicht. Augen.
Eilig schraubt sie das Glas wieder fest zu und stellt es an seinen Platz zurück.
Schwache Blitze durchzucken den Raum, als Vanessa den Schreibtisch mit ihrer Handykamera fotografiert. Plötzlich glaubt Minoo, eine Bewegung unter der Decke wahrzunehmen.
Ihr Blick fällt auf die toten Vögel, sie bleibt reglos stehen und starrt sie an. Wartet darauf, dass sich ein Schnabel öffnet, ein Flügel zuckt. Aber die Tiere rühren sich nicht. Natürlich nicht.
Minoo zwingt sich, Anhaltspunkte zu finden, Beweise, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie darf nicht zulassen, dass die Angst die Oberhand gewinnt. Sie muss an Rebecka denken und an Elias. Ihretwegen ist sie hier.
Sie geht zu einem kleinen Holztisch, der neben einem zerschlissenen Ledersessel steht. Darauf liegt eine kreisrunde, dunkelrote Dose aus Holz. Minoo leuchtet sie mit der Taschenlampe an.
Eine vertikale Linie teilt den Deckel in zwei Hälften.
Auf der einen Seite ist eine kunstvoll geschnitzte Stadt zu erkennen, eine seltsame Architektur, die keinerlei Ähnlichkeit hat mit allem, was Minoo je gesehen hat. Auf der anderen Seite sind wirbelnde Galaxien und verschlungene, undefinierbare Formen abgebildet. Dazwischen steht ein Mann und breitet seine Arme aus, als wollte er eine Brücke bilden. Die Linie spaltet seinen Körper in der Mitte. Seine Augen sind geschlossen.
»Minoo ...«
Vanessas Stimme ist ganz dicht hinter ihr. Minoo dreht sich um.
Vanessa ist wieder sichtbar.
»Schau mal nach unten«, sagt sie.
Kann es wirklich sein, dass sie die Linien übersehen hat, als sie das Zimmer betreten haben? Oder sind sie erst aufgetaucht, nachdem Vanessa und sie hereingekommen waren?
Auf dem Boden ist ein großer weißer Zirkel gezogen. In seiner Mitte befindet sich ein kleinerer Zirkel von ungefähr einem halben Meter Durchmesser und in dessen Zentrum wiederum ein fremdes Symbol. Minoo und Vanessa stehen innerhalb des größeren der beiden Kreise.
Minoo beugt sich nach unten und berührt die äußere Linie vorsichtig mit dem Zeigefinger. Sie fühlt sich fettig und zäh an.
Und warm. Erschrocken zieht sie die Hand zurück. »Wir müssen hier weg«, sagt Vanessa.
Die Luft über dem kleineren Zirkel beginnt zu flirren wie
die Luft über Asphalt an einem heißen Spätsommertag.
Minoo versucht zu rennen, aber sie kann sich nicht bewegen. Sie ahnt einen dumpfen, pulsierenden Laut über ihnen.
Hitze rollt wie eine Welle durch den Raum. Sie macht ihnen das Atmen schwer. Das dumpfe Wummern wird lauter, ihr Brustkorb vibriert wie von dröhnenden Bässen. »Ich kann mich nicht bewegen«, sagt Vanessa.
Auch Minoo kämpft. Es ist, als wären ihre Füße am Boden festgeklebt.
In der Hitze rinnt ihr der Schweiß vom Haaransatz über die Stirn. Vanessa streckt die Hand nach ihr aus.
»Ich sitze fest!«, schreit sie, um das Getöse zu übertönen. Minoo nimmt Vanessas Hand. Im selben Moment lässt der Druck, der ihre Füße an den Boden gefesselt hat, ein wenig nach. Gerade genug, um sich wieder bewegen zu können. »Lauf!«, schreit Vanessa.
Und sie rennen los, Hand in Hand. Minoo schafft es noch, einen letzten Blick in das Zimmer und auf die unfassbaren Geschehnisse darin zu werfen.
Immer lauter wird das Dröhnen und sie rennen den Flur entlang, die Treppe hinunter, durch die Räume im Erdgeschoss. Fensterscheiben klirren und im Wohnzimmer fällt ein Bild von der Wand.
Vanessa reißt die Haustür auf. Minoo ist dicht hinter ihr, folgt ihr durch die Dunkelheit zum offenen Gartentor. Aus den Augenwinkeln nimmt sie Linnéa wahr, die sich ihnen sofort anschließt, ohne Fragen zu stellen.
Sie stolpern fast übereinander, als sie alle drei in Nicolaus' Auto springen.
»Hast du das auch gesehen? In dem Licht?«, sagt Vanessa atemlos zu Minoo, als sie nebeneinander auf dem Rücksitz sitzen.
Minoo nickt. Sie weiß, was Vanessa meint. Den Umriss eines Menschen, der in einer Säule aus Licht Gestalt angenommen hat.
...
Übersetzung: Friederike Buchinger
© Cecilie Dressler Verlag GmbH, Hamburg, 2012
Adriana Lopez' Haus liegt zehn Minuten zu Fuß von der Schule entfernt, in einem Wohngebiet, das »Kleine Ruhe« genannt wird. Minoo fragt sich, ob es irgendwo auch noch eine »Große Ruhe« gibt. Jedenfalls wäre das der Ort, den sie jetzt dringend aufsuchen müsste, so, wie das Adrenalin durch ihren Körper rauscht.
Die Abstände zwischen den Villen werden immer größer und es gibt mehr unbebaute Grundstücke. Die schwarzverkohlten Reste eines abgebrannten Hauses warten darauf, abgerissen zu werden. Jetzt im Mondlicht sieht es richtig unheimlich aus.
Man erzählt sich, im Keller dieses Hauses hätte sich ein Swingerclub befunden. Mehrere verheiratete Paare haben sich angeblich nachts dort getroffen und untereinander Partner und Körperflüssigkeiten getauscht. Eine eifersüchtige Frau, heißt es, hat das Haus dann angesteckt. Den Gerüchten zufolge sind Menschen in den Flammen umgekommen, deren Seelen man in gewissen Nächten immer noch hören kann, ein leises Jammern und Seufzen, gleichermaßen schmerz- wie lustvoll.
Minoo schaudert und zieht den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn. Als sie an dem ausgebrannten Haus vorbeigeht, ertappt sie sich selbst dabei, wie sie die Ohren spitzt, aber sie kann keine lüsternen Geister hören.
Als sich eine schwarz gekleidete Gestalt aus den Schatten an der Grundstücksgrenze löst, bleibt ihr fast das Herz stehen. Sie will schon losrennen, da winkt ihr die Gestalt zu. Es ist Linnéa.
Gemeinsam gehen sie die Straße hinunter. Jedes Fenster, an dem sie vorbeikommen, nimmt Minoo wahr, ihr ist jedes neugierige Auge, dem sie auffallen könnten, quälend bewusst. Langsam bereut sie, dass sie damit einverstanden war, mit der unsichtbaren Vanessa ins Haus zu gehen. Alle waren der Meinung, dass Minoo Vanessa begleiten sollte, weil sie die »Cleverste« sei. Und ihre Eitelkeit hat über die Angst gesiegt.
Kann man verzweifelter nach Bestätigung suchen?, denkt sie. Ihr fällt auf, dass Linnéa lächelt.
»Was ist denn so witzig?«, flüstert Minoo.
»Ich dachte nur gerade, dass du deine Freizeit sonst garantiert anders verbringst.«
Minoo weiß selbst, dass sie brav ist, aber sie hasst es, wenn andere darauf herumreiten.
»Aber du nicht, oder wie?«
»Entspann dich. Wir wissen, dass sie nicht vor morgen zurückkommt«, flüstert Linnéa. Sie wirkt aufgekratzt. Als wäre das alles ein großes Abenteuer.
Sie biegen in eine Seitenstraße ein und entdecken Ida, die im Gestrüpp hockt und Ausschau hält. Der Plan sieht vor, dass Ida Anna-Karin, die näher am Haus postiert ist, warnt, sobald jemand kommt. Anna-Karin ist wichtig, sie kann Passanten in eine andere Richtung lenken. Aber sie wagen es nicht, sich hundertprozentig auf Ida zu verlassen, und deshalb erfüllt Ida als Einzige eine Funktion, auf die sie im Notfall verzichten könnten. Minoo erkennt Idas Gesicht im Dunkeln nicht und ist nicht traurig darüber. Seit dem Telefongespräch kann sie ihr nicht mehr in die Augen sehen.
»Muss die unbedingt dabei sein?«, murmelt Linnéa.
»Wir ziehen das zusammen durch«, sagt Minoo und fühlt sich wie die größte Heuchlerin der Welt.
Die Straße ist schmal, die Häuser sind älter und stehen nicht so dicht wie die anderen. Auf einem kleinen unbebauten Grundstück zwischen zwei hohen Bäumen hält Anna-Karin Wache. Nervös sieht sie zu Minoo und Linnéa, als die beiden an ihr vorbeigehen.
»Schau mal da«, flüstert Linnéa und nickt zu Nicolaus' Auto, das versteckt im Schatten eines großen Baumes parkt. Er wartet dort, falls sie schnell abhauen müssen. Nicolaus ist alles andere als begeistert von ihrem Plan, aber auch er musste einsehen, dass sie keine andere Wahl haben.
Minoo und Linnéa gehen noch zehn Meter und dann sind sie da. Am Ende der Straße steht das Haus der Rektorin. Ein frisch gestrichener weißer Zaun, der im Dunkeln zu leuchten scheint, umgibt das Grundstück. Der Garten ist auf eine Art verwildert, die sehr gewollt aussieht. Ein gewundener, mit Steinplatten gepflasterter Weg führt vom Gartentor an einer hohen Birke vorbei zur Eingangstür. Das weiße Holzhaus hat zwei Stockwerke und ist mit Schnitzwerk verziert.
Zwei Fenster im Obergeschoss sind mit einem abstrakten Bleiglasmosaik geschmückt, sie sehen aus wie Kirchenfenster. Der Griff des Gartentors bewegt sich plötzlich nach unten und wie von Geisterhand gleitet es auf. Minoo bleibt fast das Herz stehen, dann kapiert sie, dass die unsichtbare Vanessa das Tor geöffnet hat.
»Könnt ihr mich hören?«, flüstert Vanessa, die zur Vorbereitung hart dafür trainiert hat, unsichtbar und trotzdem hörbar zu sein.
Sie gehen weiter bis zur Haustür. Minoo zieht ein paar dünne Schutzhandschuhe über, die sie vom Arbeitsplatz ihrer Mutter hat mitgehen lassen.
»Und was, wenn sie eine Alarmanlage hat?«, flüstert Minoo und zieht ihre Taschenlampe hervor.
»Das werden wir gleich wissen«, sagt Linnéa feixend mit dem Schlüssel in der Hand.
Minoo bewundert Anna-Karins Mut. Sie hat den Schlüssel der Rektorin gestohlen, ist ein paar Straßen weiter zu einem Schlüsseldienst gerannt, hat eine Kopie anfertigen lassen und das Original zurückgelegt, ohne dabei erwischt worden zu sein.
Linnéa dreht den Schlüssel und mit einem leisen Klicken öffnet sich das Schloss. Sie drückt die Klinke nach unten und macht eine ironisch einladende Geste.
»Tretet ein in das Haus des Grauens«, sagt sie. »Ich bleibe hier und passe auf«, fügt sie ernster hinzu, als sie Minoos Blick begegnet.
Für einen Moment wird Vanessa neben Minoo sichtbar und nickt ihr aufmunternd zu. Dann verschwindet sie wieder und schlüpft gleichzeitig in das unbeleuchtete Haus. Minoo denkt an Rebecka und folgt ihr.
Minoo knipst die kleine Taschenlampe an und richtet sie auf den Boden, um das Risiko, dass jemand den Lichtstrahl durchs Fenster sieht, so gering wie möglich zu halten.
In der Diele hängen in einer geräumigen Nische Jacken und Mäntel, ordentlich aufgereiht auf Kleiderbügeln. Sie schleichen über die knarrenden Bodendielen, und Minoo betet, dass sie keine Fußspuren hinterlassen.
»Wohnt die hier?«, flüstert Vanessa, als sie ins Wohnzimmer kommen.
Minoo versteht sofort, was sie meint.
Es ist zu perfekt. Die Möbel sind dunkel und schwer und sehen aus, als würden sie eigentlich in ein Schloss gehören. An den Wänden hängen alte Porträts und Landschaftsbilder in düsteren Farben. Der offene Kamin wirkt vollkommen unbenutzt, daran ändert auch der Korb mit dem sorgfältig gestapelten Feuerholz in exakt einheitlicher Größe nichts. Nirgendwo liegen Bücher herum. Keine Zeitungen. Es riecht vollkommen sauber. Zu sauber.
Als wäre die Luft hier drinnen noch nie von menschlicher Gegenwart besudelt worden.
Sie gehen weiter durch einen Flur, werfen einen Blick in die Küche, ein Badezimmer und ein Gästezimmer. Alles im selben Stil eingerichtet. Gegenüber der Treppe, die in den oberen Stock führt, befindet sich ein kleines Zimmer, das als Büro dient. In den Regalen stehen nur gewöhnliche
Bücher - Unterhaltungsromane, Biografien und Gedichte. Keine Spur von uralten Pergamenten oder lateinischen Schriften, so weit das Auge reicht.
»Wir gehen hoch«, wispert Minoo.
Keine Antwort.
»Vanessa?«, zischt sie, plötzlich voller Panik, alleine in dem großen, dunklen Haus zu sein.
»Entschuldige, ich habe vergessen, dass du mich nicht sehen kannst, und genickt«, flüstert Vanessa dicht neben ihr. Sie schleichen die Treppe hoch. Die Stufen knarren unter ihren Füßen. Minoo wird bewusst, dass sie im Obergeschoss festsitzen, sollte die Rektorin wider Erwarten früher nach Hause kommen. Und im Unterschied zu Vanessa würde Minoo niemals ungesehen die Treppe hinuntergelangen. Als sie oben sind, lässt sie den Blick schweifen. Durch ein Dachfenster fällt Mondlicht in die obere Diele und Minoo macht die Taschenlampe aus. Schatten hängen in allen Ecken. »Wollen wir mit dem Zimmer da rechts anfangen?«, flüstert Minoo.
Wieder bleibt es still.
»Vanessa?«
»Entschuldige. Ja.«
Ein langer Teppich dämpft ihre Schritte. Minoo öffnet die Tür am Ende des Flurs, dort, wo die Schatten am dichtesten sind. Sie betritt den Raum und schaltet die Taschenlampe wieder ein.
Im Zimmer stehen ein ordentlich gemachtes Bett und eine schlichte Bodenlampe. Ein Einbauschrank nimmt eine ganze Wand ein. Aber es gibt nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass hier auch jemand schläft.
»Sie muss eine Psychopathin sein«, flüstert Vanessa.
Eine der Schranktüren öffnet sich. Etwas Schwarzes, Unförmiges schwebt in die Luft wie ein verzweifelter Vogel, der aus seinem Käfig befreit wird. Minoo schreit leise auf. Erst als sich das schwarze Etwas nicht mehr bewegt, sieht sie, dass es ein elegantes Abendkleid ist, das von unsichtbaren Händen gehalten wird.
»Eine reiche Psychopathin«, ächzt Vanessa und hängt das Kleid zurück. »Das ist von Prada.«
Minoo öffnet die Tür zum angrenzenden Badezimmer. Flauschige Handtücher hängen ordentlich gefaltet über einer Stange aus gebürstetem Stahl. In den Regalen und Schränken stehen perfekte Reihen exklusiver Produkte, alle mit dem Etikett nach vorne.
»Shit, hat die viel Make-up. Glaubst du, sie merkt, wenn was fehlt?«, sagt Vanessa.
Der aufgeregte Unterton in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Erschrocken schüttelt Minoo den Kopf.
»War nur ein Witz«, sagt Vanessa.
Trotzdem kann Minoo den Impuls nicht unterdrücken, sich vor die Regale zu stellen und zu warten, bis Vanessa aus dem Badezimmer gegangen ist.
Die Tür neben dem Schlafzimmer führt in einen vollkommen leeren Raum.
Die nächste Tür auch.
Und die dritte ist verschlossen.
Minoo rüttelt an der Klinke. Sollte es in diesem Haus irgendetwas Interessantes geben, dann garantiert in dem einzigen Zimmer, das abgeschlossen ist.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Minoo.
Sie hört ein merkwürdiges Geräusch. Ein leises metallisches Schaben an der Tür. Als würden winzige Krallen daran kratzen. Minoo macht einen Schritt zurück. Wenn die Rektorin so etwas wie eine böse Königin ist, hat sie vielleicht auch kleine Untertanen, die sich in ihrem Palast verstecken, leise lauernd, bereit, ihr Geheimnis zu verteidigen.
Die Klinke bewegt sich nach unten und die Tür öffnet sich einen Spaltbreit.
In ihrem Augenwinkel nimmt etwas Gestalt an und Minoo dreht sich hastig um.
Vanessa grinst sie an.
»Hast du gehört ...«, setzt Minoo an, aber dann sieht sie die Haarnadel, die Vanessa in der Hand hält.
Und Minoo kapiert, dass keine lauernden Untertanen die Tür geöffnet haben, sondern Vanessa, die wunderbare Vanessa, die Schlösser knacken kann. Minoo würde sie am liebsten umarmen, aber Vanessa wird schon wieder unsichtbar.
Sie gehen hinein. Minoo wagt kaum zu atmen. Mondlicht fällt durch die Bleiglasfenster und verleiht allem ein traumähnliches Aussehen. Durch die bunten Scheiben entstehen unregelmäßige Muster auf dem Boden. Im Unterschied zum Rest des Hauses riecht es hier schwach nach Leben, nach staubigem Papier und altem Leder. Daneben liegt ein Hauch von verbranntem Holz in der Luft und ein stechender Geruch, den Minoo nicht identifizieren kann. Das Zimmer ist der größte Raum im oberen Stock. Auch hier gibt es einen Kamin, der aber, dem rußgeschwärzten Mauerwerk nach zu urteilen, eifrig genutzt zu werden scheint. Entlang der Wand stehen Bücherregale, von denen drei ausgestopfte Vögel auf sie herunterstarren. Zwei unterschiedliche Eulen und ein kohlschwarzer Rabe mit messerscharfem Schnabel. Der Inhalt der Regale ist durch große Glastüren geschützt, die wiederum mit mächtigen Vorhängeschlössern versehen sind.
Die meisten Buchrücken sind so abgewetzt, dass man die Titel nicht mehr entziffern kann, aber an einem bleibt Minoos Blick hängen - Unaussprechlichen Kulten - und sofort fährt ein Schauer durch ihren Körper, als hätte sie etwas Uraltes und durch und durch Böses gestreift.
»Wo bist du?«, flüstert Minoo.
»Am Schreibtisch. Schau mal«, flüstert Vanessa und macht eine Hand sichtbar, um Minoo etwas zu zeigen.
Unter einem Stapel von Büchern in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls liegt eine alte Karte von Engelsfors, daneben ein seltsamer Gegenstand aus Eisen mit einer großen Schraube in der Mitte und zwei Fotografien. Vergrößerungen aus dem Schülerjahrbuch der neunten Klasse. Eine von Elias. Und eine von Rebecka.
»Ich mache ein Foto, damit die anderen das auch sehen können«, flüstert Vanessa angespannt.
Minoo geht zum Regal neben dem Kamin. Es ist mit Gefäßen aus braunem Glas vollgestellt. Die Etiketten sind mit lateinischen Zahlen durchnummeriert. Sie nimmt aufs Geratewohl das Gefäß mit der XI herunter und schraubt den Deckel auf.
Erst erkennt sie die kleinen vertrockneten Klumpen nicht. Augen.
Eilig schraubt sie das Glas wieder fest zu und stellt es an seinen Platz zurück.
Schwache Blitze durchzucken den Raum, als Vanessa den Schreibtisch mit ihrer Handykamera fotografiert. Plötzlich glaubt Minoo, eine Bewegung unter der Decke wahrzunehmen.
Ihr Blick fällt auf die toten Vögel, sie bleibt reglos stehen und starrt sie an. Wartet darauf, dass sich ein Schnabel öffnet, ein Flügel zuckt. Aber die Tiere rühren sich nicht. Natürlich nicht.
Minoo zwingt sich, Anhaltspunkte zu finden, Beweise, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie darf nicht zulassen, dass die Angst die Oberhand gewinnt. Sie muss an Rebecka denken und an Elias. Ihretwegen ist sie hier.
Sie geht zu einem kleinen Holztisch, der neben einem zerschlissenen Ledersessel steht. Darauf liegt eine kreisrunde, dunkelrote Dose aus Holz. Minoo leuchtet sie mit der Taschenlampe an.
Eine vertikale Linie teilt den Deckel in zwei Hälften.
Auf der einen Seite ist eine kunstvoll geschnitzte Stadt zu erkennen, eine seltsame Architektur, die keinerlei Ähnlichkeit hat mit allem, was Minoo je gesehen hat. Auf der anderen Seite sind wirbelnde Galaxien und verschlungene, undefinierbare Formen abgebildet. Dazwischen steht ein Mann und breitet seine Arme aus, als wollte er eine Brücke bilden. Die Linie spaltet seinen Körper in der Mitte. Seine Augen sind geschlossen.
»Minoo ...«
Vanessas Stimme ist ganz dicht hinter ihr. Minoo dreht sich um.
Vanessa ist wieder sichtbar.
»Schau mal nach unten«, sagt sie.
Kann es wirklich sein, dass sie die Linien übersehen hat, als sie das Zimmer betreten haben? Oder sind sie erst aufgetaucht, nachdem Vanessa und sie hereingekommen waren?
Auf dem Boden ist ein großer weißer Zirkel gezogen. In seiner Mitte befindet sich ein kleinerer Zirkel von ungefähr einem halben Meter Durchmesser und in dessen Zentrum wiederum ein fremdes Symbol. Minoo und Vanessa stehen innerhalb des größeren der beiden Kreise.
Minoo beugt sich nach unten und berührt die äußere Linie vorsichtig mit dem Zeigefinger. Sie fühlt sich fettig und zäh an.
Und warm. Erschrocken zieht sie die Hand zurück. »Wir müssen hier weg«, sagt Vanessa.
Die Luft über dem kleineren Zirkel beginnt zu flirren wie
die Luft über Asphalt an einem heißen Spätsommertag.
Minoo versucht zu rennen, aber sie kann sich nicht bewegen. Sie ahnt einen dumpfen, pulsierenden Laut über ihnen.
Hitze rollt wie eine Welle durch den Raum. Sie macht ihnen das Atmen schwer. Das dumpfe Wummern wird lauter, ihr Brustkorb vibriert wie von dröhnenden Bässen. »Ich kann mich nicht bewegen«, sagt Vanessa.
Auch Minoo kämpft. Es ist, als wären ihre Füße am Boden festgeklebt.
In der Hitze rinnt ihr der Schweiß vom Haaransatz über die Stirn. Vanessa streckt die Hand nach ihr aus.
»Ich sitze fest!«, schreit sie, um das Getöse zu übertönen. Minoo nimmt Vanessas Hand. Im selben Moment lässt der Druck, der ihre Füße an den Boden gefesselt hat, ein wenig nach. Gerade genug, um sich wieder bewegen zu können. »Lauf!«, schreit Vanessa.
Und sie rennen los, Hand in Hand. Minoo schafft es noch, einen letzten Blick in das Zimmer und auf die unfassbaren Geschehnisse darin zu werfen.
Immer lauter wird das Dröhnen und sie rennen den Flur entlang, die Treppe hinunter, durch die Räume im Erdgeschoss. Fensterscheiben klirren und im Wohnzimmer fällt ein Bild von der Wand.
Vanessa reißt die Haustür auf. Minoo ist dicht hinter ihr, folgt ihr durch die Dunkelheit zum offenen Gartentor. Aus den Augenwinkeln nimmt sie Linnéa wahr, die sich ihnen sofort anschließt, ohne Fragen zu stellen.
Sie stolpern fast übereinander, als sie alle drei in Nicolaus' Auto springen.
»Hast du das auch gesehen? In dem Licht?«, sagt Vanessa atemlos zu Minoo, als sie nebeneinander auf dem Rücksitz sitzen.
Minoo nickt. Sie weiß, was Vanessa meint. Den Umriss eines Menschen, der in einer Säule aus Licht Gestalt angenommen hat.
...
Übersetzung: Friederike Buchinger
© Cecilie Dressler Verlag GmbH, Hamburg, 2012
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Autoren-Porträt von Sara B. Elfgren, Mats Strandberg
Mats Strandberg, geboren 1976, zog als 16-Jähriger aus dem kleinen Fagersta in Västmanland nach Stockholm. Heute ist er freier Journalist und schreibt unter anderem Kolumnen für QX und Aftonbladet. Im Jahr 2004 wurde er von Sveriges Tidskrifter dem Verband schwedischer Zeitschriftenverlage zum Kolumnist des Jahres gewählt.Sara B. Elfgren arbeitet als Drehbuchautorin und Dramaturgin und feiert mit ihren Film- und TV-Produktionen in Schweden große Erfolge. Als sie zum ersten Mal auf den erfolgreichen Autor und Journalisten Mats Strandberg traf, entdeckten sie ihre gemeinsame Leidenschaft für Bücher mit übersinnlichen Elementen. Die Idee, zusammen an einem Buch für junge Leser zu arbeiten, war schnell geboren. ZIRKEL ist der grandiose Auftakt einer Trilogie.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Sara B. Elfgren , Mats Strandberg
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2012, 605 Seiten, Maße: 16 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Buchinger, Friederike
- Übersetzer: Friederike Buchinger
- Verlag: Dressler Verlag GmbH
- ISBN-10: 3791528548
- ISBN-13: 9783791528540
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