Engelskrieger / Gilde der Jäger Bd.4
Roman. Deutsche Erstausgabe
Als ein abgetrennter Kopf mit einer Tätowierung auf der Wange gefunden wird, nimmt die Jägerin Honor die Ermittlungen auf. Dabei begegnet ihr der verführerische Vampir Dmitri, der die rechte Hand eines Erzengels ist. Dmitris gefährliche Sinnlichkeit weckt...
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Produktinformationen zu „Engelskrieger / Gilde der Jäger Bd.4 “
Klappentext zu „Engelskrieger / Gilde der Jäger Bd.4 “
Als ein abgetrennter Kopf mit einer Tätowierung auf der Wange gefunden wird, nimmt die Jägerin Honor die Ermittlungen auf. Dabei begegnet ihr der verführerische Vampir Dmitri, der die rechte Hand eines Erzengels ist. Dmitris gefährliche Sinnlichkeit weckt ungeahnte Gefühle in Honor. Doch dann wird sie von den Schrecken ihrer Vergangenheit eingeholt ...
Lese-Probe zu „Engelskrieger / Gilde der Jäger Bd.4 “
Engelskrieger von Nalini Singh2
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Der lichtdurchflutete Turm dominierte die Skyline von Manhattan. Das Gebäude, von dem aus Raphael über sein Territorium herrschte, durchbohrte die Wolkendecke. Nachdem Honor den Taxifahrer bezahlt hatte, schulterte sie ihre Laptoptasche und blickte nach oben. Ein Engel nach dem anderen setzte zur Landung an, andere flogen los, ihre Flügel zeichneten sich vor dem mit Diamanten übersäten Nachthimmel ab. Sie konnte nichts weiter erkennen als die unvergessliche Schönheit ihrer Konturen, doch aus der Nähe betrachtet waren sie ebenso unmenschlich wie atemberaubend - obwohl es in der Gilde hieß, man habe keine Unmenschlichkeit gesehen, solange man nicht Raphael Auge in Auge gegenübergestanden habe.
Da ihnen aufgrund ihrer grundverschiedenen Begabungen stets unterschiedliche Aufgaben zugewiesen worden waren, hatte Honor Elena nur wenig kennengelernt und konnte sich nicht vorstellen, wie diese Jägerin damit umging, einen Erzengel als Liebhaber zu haben. In diesem Augenblick allerdings hätte sie es natürlich viel lieber mit Raphael aufgenommen als mit dem Mann, dem sie hier begegnen sollte ... dem Mann, der zugleich ein Albtraum und eine dunkle, verführerische Fantasie war.
Sie zwang sich, den Blick vom Himmel abzuwenden, der die Illusion eines Auswegs vermittelte, biss die Zähne zusammen und richtete die Augen starr geradeaus. Dann folgte sie dem Weg zum Eingang des Turms, wo ein Vampir in einem messerscharf geschnittenen schwarzen Anzug und mit breiter Sonnenbrille Wache stand. Als sie vor ihm stehen blieb, wurde ihre Kehle trocken, ihr Innerstes zog sich zusammen, und für einen Augenblick füllten schwarze Flecken ihr Blickfeld aus.
Nein. Nein. Sie würde nicht vor einem Vampir in Ohnmacht fallen.
Sie biss sich so fest auf die Zunge, dass ihr die Tränen in die Augen traten, zog den Träger der Laptoptasche zurecht und blickte in diese Sonnenbrille, in der sie die Spiegelung ihres Gesichts sah. »Ich habe einen Termin bei Dmitri.« Ihre Stimme war matt, doch sie zitterte nicht, und das allein war schon ein Sieg.
Der Vampir streckte den Arm aus, um mit starker Hand die Tür zu öffnen. »Folgen Sie mir!«
Sie hatte gewusst, dass sie von dem Moment an, in dem sie den Sicherheitsbereich des Turms betrat, von Beinahe-Unsterblichen umgeben sein würde, doch solange sie sie nicht hatte sehen können, war es leichter gewesen, sich das Gegenteil vorzumachen. Diese Möglichkeit bestand nun nicht mehr. Der Mann vor ihr, dessen Schultern in einem perfekt sitzenden Jackett steckten und dessen zimtfarbene Haut auf den indischen Subkontinent hindeutete, war nur derjenige, der ihr am nächsten war. Andere standen in den Ecken des Foyers, das mit goldgeädertem grauem Marmor ausgekleidet war - wachsame, geschmeidige Raubtiere. Und dann war da diese hübsche Frau, die trotz der späten Stunde am Empfang saß.
Die Empfangsdame lächelte Honor an, ihre mandelförmigen braunen Augen hießen sie willkommen. Honor versuchte zurückzulächeln, denn der rationale Teil in ihr wusste, dass nicht alle Vampire gleich waren, doch ihr Gesicht fühlte sich wie festgefroren an. Anstatt es zu erzwingen, konzentrierte sie sich darauf, nicht die Fassung zu verlieren.
» Sie ist nicht ansprechbar. Katatonisch. «
»Prognose?«
»Unmöglich einzuschätzen. Ich weiß, ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber ein Teil von mir glaubt, dass sie tot besser dran wäre.«
Während Honor wach gelegen und vergeblich versucht hatte, gegen das widerwärtige Entsetzen anzukämpfen, das sie in ihren Träumen heimsuchte, hatte sie oft gedacht, der gesichtslose Arzt habe recht gehabt.
Doch an diesem Abend löste die Erinnerung ein anderes Gefühl aus.
Wut.
Ein stumpfes, pochendes Etwas, das sie völlig überraschte. Ich lebe. Ich habe es geschafft, verdammt! Niemand hat das Recht, mir das zu nehmen.
Die Verwunderung über ihren eigenen Zorn war so groß, dass sie ihr über die Fahrt im Aufzug hinweghalf - gefangen in einem kleinen Käfig, zusammen mit einem Vampir in einen Armani-Anzug und umgeben von einer Aura unterdrückter Macht, die ihr sagte, dass er kein normaler Wachmann war.
Sie hielt den Atem an, als die Türen sich öffneten, um sie in den Flur mit seinen dicken schwarzen Teppichen und den schimmernden Wänden in derselben Mitternachtsfarbe zu entlassen. Dieser Ort barg ein erotisches Pulsieren, das dicht unter der Oberfläche summte - die Rosen in ihren Kristallvasen auf kleinen, eleganten Tischen in sattem Schwarz hoben sich verschwenderisch und blutrot vor der Mitternacht ab. Der Teppich war so üppig, dass er kaum noch zweckdienlich war, und in der Wandfarbe schimmerten Goldsplitter.
Das Kunstwerk an der Wand, ein Wutausbruch in Rot, zog sie mit seiner unbarmherzigen Wildheit an.
Sinnlich.
Wunderschön.
Gefährlich.
»Hier entlang.«
Sie wusste, dass die Art, wie ihr das Blut durch die Adern rauschte, im Beisein von Erschaffenen gefährlich war. Sie folgte dem Mann mit zwei Schritten Abstand - damit sie rechtzeitig ausweichen konnte, wenn er sich umdrehte und sich auf ihre Kehle stürzte. Ihre Waffe trug sie in einem Schulterholster, verborgen unter dem verblassten grauen Stoff ihres Lieblingssweatshirts, ihr Messer steckte offen in einer Scheide an ihrem Oberschenkel, doch sie hatte zwei weitere gut versteckt um ihre Arme geschnallt. Es würde nicht reichen, nicht gegen einen Vampir, der über zweihundert Jahre alt sein musste, wie Instinkt und Erfahrung ihr sagten, aber zumindest würde sie nicht kampflos untergehen.
Er blieb vor einer offenen Tür stehen und bat sie mit einer Geste einzutreten, bevor er sich wieder zum Aufzug umwandte. Sie machte einen Schritt hinein - und erstarrte.
Dmitri stand hinter einem schweren Glastisch, in seinem Rücken glitzerte die Skyline von Manhattan. Er hatte den Kopf geneigt, und Strähnen seines seidig schwarzen Haares fielen ihm sanft in die Stirn, während er ein Blatt Papier überflog, das er in der Hand hielt. Vorher ... vorher ... war sie von diesem Vampir fasziniert gewesen, obwohl sie ihn nur aus der Ferne oder im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatte sogar ein Scrapbook über seine Aktivitäten angelegt - bis sie angefangen hatte, sich wie eine geistig gestörte Stalkerin zu fühlen, und das ganze Ding verbrannt hatte.
Es hatte sie nicht von diesem seltsamen, irrationalen Drang befreien können, nichts hatte das vermocht, bis auf den dunklen, schmutzigen Keller und das Grauen. Das hatte alles betäubt. Doch jetzt fragte sie sich, ob sie nicht schon immer ein bisschen irre gewesen war, so besessen war sie von diesem Fremden, dem man eine Vorliebe für sinnliche Grausamkeit nachsagte, für Lust, die mit Schmerzen durchsetzt war.
Dann hob er den Blick. Und sie hörte auf zu atmen.
Dmitri sah die Frau in der Tür in einem Kaleidoskop von Bildern. Weiches, ebenholzfarbenes Haar, das im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurde, aber eine wilde Lockenpracht verhieß. Unvergessliche Augen - Augen, die nicht vergessen konnten - in tiefstem Grün, deren äußere Winkel leicht nach oben zeigten. Ihre blassbraune Haut würde sich im Sonnenlicht zu Honig färben. »Sie sind auf Hawaii geboren?«, fragte er. Eine ungewöhnliche Frage an eine Jägerin, die zu einer Beratung erschienen war.
Sie blinzelte, und für einen Moment verschwanden ihre Augen, die von fernen Wäldern und verborgenen Edelsteinen erzählten, hinter langen Wimpern. »Nein. In einer Stadt mitten im Nirgendwo, weit weg vom Meer.«
Er umrundete seinen Schreibtisch aus Glas und Stahl und ging auf sie zu. Ganz kurz glaubte er, sie würde zurückweichen und in den Flur hinausstolpern, doch dann straffte sie sich und blieb stehen. Er spürte die Angst - scharf und sauer -, die hinter ihren Augen dahinjagte, dennoch drängte er sich an ihr vorbei, um die Tür zu schließen.
Er konnte nicht zulassen, dass sie wieder ging.
Als er zurücktrat, um sie noch einmal anzusehen, hatte sie die Aufwallung von Angst energisch bekämpft, doch ihr Atem ging stoßweise, und ihr Blick huschte davon, wenn er versuchte, ihn einzufangen. »Wie heißen Sie?«
»Honor.«
Honor. Er kostete den Namen und beschloss, dass er passte. »Geborene Jägerin?«
Ein Kopfschütteln.
Das überraschte ihn nicht. Wahrscheinlich hatte Elena die Gildedirektorin vor seiner Fähigkeit gewarnt. Er konnte alle Jägerinnen, die mit der bluthundartigen Gabe geboren wurden, die Witterung von Vampiren aufzunehmen, mit den Ranken seines exquisiten Duftes anlocken und verführen. Sara würde ihm wohl kaum frische Beute schicken. Aber diese Frau, diese Honor ... er wollte seine sinnlichen Duftranken auf sie wirken lassen, bis sie errötete und willenlos wurde und sich der unverkennbare Moschusduft ihrer Erregung auf seine Sinne legte.
Instinktiv vergewisserte er sich, dass sie ihn nicht anlog - er sandte einen betörenden Hauch von Champagner und flüssigem Verlangen aus, Gold, Orchideen im Mondlicht und in Schokolade getauchte Beeren auf der Haut einer Frau. Honor schüttelte leicht den Kopf, eine kaum wahrnehmbare Bewegung, die sich auf ihrer gerunzelten Stirn widerspiegelte.
Also nicht stark genug, als dass sie sich selbst als geborene Jägerin erkannt hätte oder von der Gilde als solche anerkannt worden wäre, aber doch so stark, dass sie eine leichte Empfänglichkeit für die Duftverführung aufwies. Diese Entdeckung überraschte ihn nicht, da er im Laufe der Jahrhunderte, seit er diese Fähigkeit entwickelt hatte, schon einigen ihrer Art begegnet war. Die Gilde schien sie förmlich anzuziehen, selbst wenn sie nur die leisesten Anzeichen der Jäger-Blutlinie trugen. Das bedeutete allerdings, dass er Honor nicht so leicht würde verführen können, wie es ihm bei einer wahren geborenen Jägerin möglich gewesen wäre ... aber wenn es um Sex ging, war Duft nicht die einzige Waffe in seinem Arsenal.
Als er seinen Blick erneut über sie wandern ließ, registrierte er den rasenden Puls an ihrem Hals; was jedoch seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Haut, die diese Stelle bedeckte. »Wer auch immer es war, dem Sie gestattet haben, von sich zu trinken«, sagte er in einem sanften Raunen, in dem, wie er sehr wohl wusste, ein zärtlicher Hauch von Gefahr lag, »war nicht besonders geschickt.« Ihre Narben zeugten von einem Vampir, der ihre Haut aufgerissen und verwüstet hatte.
Ihre Hand krampfte sich um den Träger ihrer Laptoptasche, die sie von der Schulter genommen hatte. »Das geht Sie nichts an.«
Dass sie trotz der Angst, die roh und blutig in ihr wogte, den Mumm gehabt hatte, ihm das zu sagen, ließ ihn überrascht eine Augenbraue hochziehen. »Doch, das tut es.« Er hatte schon so manch schöne Frau im Bett gehabt, einige hatten vor Lust geschluchzt, andere aufgrund seiner sinnlichen Verderbtheit, die sie lehren sollte, ihn niemals wieder herauszufordern. Honor war nicht schön. Sie hatte zu viel Angst in sich. Dmitri mochte vielleicht ein bisschen Schmerz im Bett, aber in den meisten Fällen zog er es vor, dass seine Partnerinnen auch Freude daran hatten.
Diese gebrochene Jägerin, deren Furcht beißend in der Luft hing, würde bei der ersten Berührung seiner Lippen anfangen zu zittern und in Stücke zerspringen. Und dennoch wollte er über diese blasse Haut streichen, die eigentlich von der Sonne vergoldet sein sollte, wollte die üppigen Kurven ihrer Lippen nachfahren, die lange Linie ihres Halses ... der Drang war so stark, dass er ihn als Mahnung empfand. Als er das letzte Mal zugelassen hatte, dass sein Schwanz statt seines Kopfes die Kontrolle übernahm, wäre er fast das Meuchelmörder-Schoßtier eines Erzengels geworden.
Er wandte sich um, trat hinter seinen großen, eleganten Schreibtisch und hob einen Müllsack vom Boden auf. »Ich gehe davon aus, dass Sie einige Erfahrung mit Tätowierungen haben?«
Ihre Stirn kräuselte sich. Verwirrung wischte die weitaus unangenehmere Emotion beiseite, die er zuvor wahrgenommen hatte. »Nein. Meine Spezialitäten sind alte Sprachen und Geschichte.«
Klug von der Gildedirektorin. »Dann sagen Sie mir bitte alles, was Sie über diese Tinte wissen.« Dieses Mal trug er Handschuhe, als er den Kopf herausnahm und auf der Tüte absetzte. Der Stumpf klebte mit einem schmatzenden Geräusch am Plastik fest.
Die Jägerin stolperte zurück, ihre Augen auf das grausame Beweisstück der Gewalttat fixiert. Mit einem Ruck richtete sie den Blick wieder auf ihn, und er las eine grimmige Wut in ihrem Gesicht. Ein Gesicht, das sich als so ausdrucksstark erwies, dass er sich fragte, ob sie jemals in ihrem Leben eine Partie Poker gewonnen hatte. »Finden Sie das lustig?«
»Nein.« Die Wahrheit. »Es erschien mir sinnlos, ihn in die Kühlung zu legen, da Sie schon unterwegs waren.«
Was er sagte, war so unmenschlich, dass Honor einige Zeit brauchte, um wieder einen Gedanken fassen zu können. Um sich klarzumachen, dass seine dunkle, maskuline Schönheit und seine moderne Sprechweise nichts daran änderten, dass ihr kein Mensch gegenüberstand. Nicht einmal annähernd. »Wie alt sind Sie?« Die Spekulationen in den Medien reichten von vier- bis sechshundert Jahren, doch in diesem Augenblick wusste sie plötzlich, dass sie falschlagen. Völlig falsch.
Ein schwaches Lächeln, bei dem sich ihre Nackenhärchen aufstellten. »Alt genug, um Ihnen Angst zu machen.«
Ja. Sie war von Vampiren gefangen gehalten worden, die sie nur verletzen wollten, selbst jetzt trug sie noch die Spuren dieses Missbrauchs, aber sie hatte noch nie jemanden getroffen, der ihr Blut durch seine bloße Anwesenheit gefrieren ließ. Doch obwohl er als gewaltiger Mistkerl bekannt war, erbarmungslos wie eine blanke Klinge, kam Dmitri in der Menschenwelt gut zurecht. Was bedeutete, dass er die tödliche Wahrheit verbergen konnte, wenn er es wollte, doch hier war er so, wie er unter dem zivilisierten Schwarz seines Anzugs wirkte - ein Mann, der einen abgetrennten Kopf mit der gleichen Miene betrachtete, mit der er eine Bowlingkugel ansehen würde.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf legte sie ihre Laptoptasche, da es auf dieser Seite keine Stühle gab, auf die Glasplatte des Tisches und zwang sich dazu, sich tiefer über den abgeschlagenen Kopf zu beugen. »Er hat im Wasser gelegen?« Die Haut war aufgeweicht und matschig, weiß und schrumpelig wie eine obszöne Erinnerung an fröhliche Stunden in einer Badewanne.
»Hudson.«
»Er muss von einem richtigen gerichtsmedizinischen Team untersucht werden«, murmelte sie, während sie versuchte, die Tätowierung vollständig zu erkennen. »Ich brauche eine Laborausrüstung, um ... «
Die behandschuhten Hände in ihrem Blickfeld schoben den Kopf zurück in den Müllsack. »Kommen Sie mit, kleines Karnickel.«
Hitze brannte in ihren Eingeweiden, versengte ihr Blut und überflutete ihr Gesicht, doch sie griff nach ihrer Laptoptasche und folgte ihm. Sein Rücken war fest und stark, sein Haar glänzte im Licht in einem satten, samtigen Schwarz. Als sie nicht zu ihm aufschloss, um neben ihm zu gehen, warf er ihr über die Schulter einen amüsierten Blick zu - doch das Lachen reichte nicht bis zu seinen wachsamen Augen, die von längst vergangenen Zeiten flüsterten. »Oh, eine altmodische Frau!«
»Was?« Es kostete sie ihre gesamte Konzentration zu atmen, ihr Körper stand kurz vor einer Überdosis Adrenalin.
»Sie halten es offenbar für richtig, drei Schritte hinter einem Mann zu gehen.«
Fast unwiderstehlich war die Versuchung, nach ihrem Messer zu greifen. Oder vielleicht nach der Pistole.
Mit einem Lächeln, als hätte er ihre Gedanken gelesen, ging er zu einem Aufzug - einem anderen als dem, in dem sie hinaufgefahren war - und legte, nachdem er einen Handschuh abgestreift hatte, die Hand auf den Scanner. Das Feld leuchtete eine Sekunde lang grün auf, dann öffneten sich die Türen, und er winkte sie hindurch. Sie weigerte sich einzutreten. Vermutlich war er so alt, dass sie nicht den Hauch einer Chance gegen ihn hatte, wenn er auf sie losging - doch Logik kam nicht gegen den Instinkt an, der wusste, dass Monster einen leichter verwunden konnten, wenn man sie nicht kommen sah.
»Und jetzt wollte ich höflich sein«, sagte er gedehnt, trat in das Stahlgehäuse und wartete, bis sie eingetreten war, bevor er auf der Schaltfläche an der Seite etwas eingab.
Der Aufzug fiel mit einer Geschwindigkeit in die Tiefe, bei der ihr der Magen in die Kehle sprang, doch das bereitete ihr keine Angst. Es war die Kreatur, die sich mit ihr im Aufzug befand, vor der sie Angst hatte. »Hören Sie auf damit«, sagte sie, als er sie weiterhin aus diesen tiefdunkelbraunen Augen anstarrte. Ja, früher hatte er eine Faszination auf sie ausgeübt, aber nur aus der Ferne.
Aus der Nähe besehen war ihr deutlich bewusst, dass es gefährlich war, mit ihm allein zu sein. Er war imstande, dachte sie, sie mit nichts als seiner exquisiten, seidenen Stimme in Stücke zu reißen, nur zu seinem Vergnügen ... bevor er wirklich anfing, ihr wehzutun.
»Ihr Freund«, sagte er halblaut, als sein Blick wieder zu ihrem Hals hinabwanderte, »hat Sie offensichtlich nicht so vorsichtig behandelt, wie er sollte.«
Ein hysterisches Lachen drohte aus ihr hervorzubrechen, doch sie unterdrückte es mit eisernem Willen. Ihre Angst musste er geschmeckt haben, aber mehr wollte sie nicht von sich preisgeben. »Haben Sie selbst noch nie Spuren hinterlassen, Dmitri?«
Er lehnte sich an die Wand. »Alle Spuren, die ich zurücklasse, sind vollkommen beabsichtigt.« Ein sinnlicher Tonfall, provozierende Worte, doch in seinem Blick lag etwas Hartes, während er unverwandt auf die übel zugerichtete Stelle an ihrem Hals starrte.
Die Narbe war nicht so schlimm - sie sah aus, als hätte ein Vampir beim Trinken einfach ein wenig die Kontrolle verloren. Das war gegen Ende gewesen. Zu Beginn hatten sie versucht, sie so wenig wie möglich zu beschädigen, damit sie ihnen weiterhin Vergnügen bereiten konnte. Am schrecklichsten waren die anderen, die »zivilisierten« Vampire gewesen, die beim Trinken fast schon zart zu Werke gegangen waren, ihre Brüste und ihre Schenkel gestreichelt hatten, während sie nackt gewesen war und man ihr die Augen verbunden hatte. Und sie waren noch immer da draußen.
Ein Schwall kühlerer Luft, die Türen öffneten sich.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, selbst als ihre Erinnerungen sie fortzureißen drohten, trat sie neben ihm hinaus. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Glaswände zu beiden Seiten, hinter denen sich Büros und Computer befanden ... und Labore auf dem neusten Stand der Technik. »Ich wusste gar nicht, dass es das alles hier unten gibt.«
Dmitri ging ihr voran in ein Labor. »Neu eingerichtet. Verlieren Sie kein Wort darüber, sonst muss ich Ihnen einen Besuch abstatten, mitten in einer ruhigen Nacht, wenn Sie hübsch zusammengerollt in Ihrem Bett liegen.«
Bei dieser beinahe lässigen Bemerkung verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. »Tratschen gehört nicht zu meinen Gewohnheiten.«
»Hier.« Er setzte den Müllsack mitsamt Inhalt auf einem Stahltisch ab. Die Entsetzlichkeit seines Tuns hätte die sexuelle Verlockung, die ihn wie eine zweite Haut umgab - wenn man Sex mit einem Hauch von Blut und Schmerzen mochte -, im Keim ersticken müssen. Doch das war nicht der Fall. Er blieb kultiviert und sexy und ziemlich genau das Wesen, das sie zu keiner Tages- oder Nachtzeit in ihrem Schlafzimmer haben wollte.
Seine Lippen - die untere war gerade voll genug, um Frauen zu sündigen Fantasien zu verleiten - kräuselten sich, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Brauchen Sie Hilfe beim Abziehen der Haut?«
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Der lichtdurchflutete Turm dominierte die Skyline von Manhattan. Das Gebäude, von dem aus Raphael über sein Territorium herrschte, durchbohrte die Wolkendecke. Nachdem Honor den Taxifahrer bezahlt hatte, schulterte sie ihre Laptoptasche und blickte nach oben. Ein Engel nach dem anderen setzte zur Landung an, andere flogen los, ihre Flügel zeichneten sich vor dem mit Diamanten übersäten Nachthimmel ab. Sie konnte nichts weiter erkennen als die unvergessliche Schönheit ihrer Konturen, doch aus der Nähe betrachtet waren sie ebenso unmenschlich wie atemberaubend - obwohl es in der Gilde hieß, man habe keine Unmenschlichkeit gesehen, solange man nicht Raphael Auge in Auge gegenübergestanden habe.
Da ihnen aufgrund ihrer grundverschiedenen Begabungen stets unterschiedliche Aufgaben zugewiesen worden waren, hatte Honor Elena nur wenig kennengelernt und konnte sich nicht vorstellen, wie diese Jägerin damit umging, einen Erzengel als Liebhaber zu haben. In diesem Augenblick allerdings hätte sie es natürlich viel lieber mit Raphael aufgenommen als mit dem Mann, dem sie hier begegnen sollte ... dem Mann, der zugleich ein Albtraum und eine dunkle, verführerische Fantasie war.
Sie zwang sich, den Blick vom Himmel abzuwenden, der die Illusion eines Auswegs vermittelte, biss die Zähne zusammen und richtete die Augen starr geradeaus. Dann folgte sie dem Weg zum Eingang des Turms, wo ein Vampir in einem messerscharf geschnittenen schwarzen Anzug und mit breiter Sonnenbrille Wache stand. Als sie vor ihm stehen blieb, wurde ihre Kehle trocken, ihr Innerstes zog sich zusammen, und für einen Augenblick füllten schwarze Flecken ihr Blickfeld aus.
Nein. Nein. Sie würde nicht vor einem Vampir in Ohnmacht fallen.
Sie biss sich so fest auf die Zunge, dass ihr die Tränen in die Augen traten, zog den Träger der Laptoptasche zurecht und blickte in diese Sonnenbrille, in der sie die Spiegelung ihres Gesichts sah. »Ich habe einen Termin bei Dmitri.« Ihre Stimme war matt, doch sie zitterte nicht, und das allein war schon ein Sieg.
Der Vampir streckte den Arm aus, um mit starker Hand die Tür zu öffnen. »Folgen Sie mir!«
Sie hatte gewusst, dass sie von dem Moment an, in dem sie den Sicherheitsbereich des Turms betrat, von Beinahe-Unsterblichen umgeben sein würde, doch solange sie sie nicht hatte sehen können, war es leichter gewesen, sich das Gegenteil vorzumachen. Diese Möglichkeit bestand nun nicht mehr. Der Mann vor ihr, dessen Schultern in einem perfekt sitzenden Jackett steckten und dessen zimtfarbene Haut auf den indischen Subkontinent hindeutete, war nur derjenige, der ihr am nächsten war. Andere standen in den Ecken des Foyers, das mit goldgeädertem grauem Marmor ausgekleidet war - wachsame, geschmeidige Raubtiere. Und dann war da diese hübsche Frau, die trotz der späten Stunde am Empfang saß.
Die Empfangsdame lächelte Honor an, ihre mandelförmigen braunen Augen hießen sie willkommen. Honor versuchte zurückzulächeln, denn der rationale Teil in ihr wusste, dass nicht alle Vampire gleich waren, doch ihr Gesicht fühlte sich wie festgefroren an. Anstatt es zu erzwingen, konzentrierte sie sich darauf, nicht die Fassung zu verlieren.
» Sie ist nicht ansprechbar. Katatonisch. «
»Prognose?«
»Unmöglich einzuschätzen. Ich weiß, ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber ein Teil von mir glaubt, dass sie tot besser dran wäre.«
Während Honor wach gelegen und vergeblich versucht hatte, gegen das widerwärtige Entsetzen anzukämpfen, das sie in ihren Träumen heimsuchte, hatte sie oft gedacht, der gesichtslose Arzt habe recht gehabt.
Doch an diesem Abend löste die Erinnerung ein anderes Gefühl aus.
Wut.
Ein stumpfes, pochendes Etwas, das sie völlig überraschte. Ich lebe. Ich habe es geschafft, verdammt! Niemand hat das Recht, mir das zu nehmen.
Die Verwunderung über ihren eigenen Zorn war so groß, dass sie ihr über die Fahrt im Aufzug hinweghalf - gefangen in einem kleinen Käfig, zusammen mit einem Vampir in einen Armani-Anzug und umgeben von einer Aura unterdrückter Macht, die ihr sagte, dass er kein normaler Wachmann war.
Sie hielt den Atem an, als die Türen sich öffneten, um sie in den Flur mit seinen dicken schwarzen Teppichen und den schimmernden Wänden in derselben Mitternachtsfarbe zu entlassen. Dieser Ort barg ein erotisches Pulsieren, das dicht unter der Oberfläche summte - die Rosen in ihren Kristallvasen auf kleinen, eleganten Tischen in sattem Schwarz hoben sich verschwenderisch und blutrot vor der Mitternacht ab. Der Teppich war so üppig, dass er kaum noch zweckdienlich war, und in der Wandfarbe schimmerten Goldsplitter.
Das Kunstwerk an der Wand, ein Wutausbruch in Rot, zog sie mit seiner unbarmherzigen Wildheit an.
Sinnlich.
Wunderschön.
Gefährlich.
»Hier entlang.«
Sie wusste, dass die Art, wie ihr das Blut durch die Adern rauschte, im Beisein von Erschaffenen gefährlich war. Sie folgte dem Mann mit zwei Schritten Abstand - damit sie rechtzeitig ausweichen konnte, wenn er sich umdrehte und sich auf ihre Kehle stürzte. Ihre Waffe trug sie in einem Schulterholster, verborgen unter dem verblassten grauen Stoff ihres Lieblingssweatshirts, ihr Messer steckte offen in einer Scheide an ihrem Oberschenkel, doch sie hatte zwei weitere gut versteckt um ihre Arme geschnallt. Es würde nicht reichen, nicht gegen einen Vampir, der über zweihundert Jahre alt sein musste, wie Instinkt und Erfahrung ihr sagten, aber zumindest würde sie nicht kampflos untergehen.
Er blieb vor einer offenen Tür stehen und bat sie mit einer Geste einzutreten, bevor er sich wieder zum Aufzug umwandte. Sie machte einen Schritt hinein - und erstarrte.
Dmitri stand hinter einem schweren Glastisch, in seinem Rücken glitzerte die Skyline von Manhattan. Er hatte den Kopf geneigt, und Strähnen seines seidig schwarzen Haares fielen ihm sanft in die Stirn, während er ein Blatt Papier überflog, das er in der Hand hielt. Vorher ... vorher ... war sie von diesem Vampir fasziniert gewesen, obwohl sie ihn nur aus der Ferne oder im Fernsehen gesehen hatte. Sie hatte sogar ein Scrapbook über seine Aktivitäten angelegt - bis sie angefangen hatte, sich wie eine geistig gestörte Stalkerin zu fühlen, und das ganze Ding verbrannt hatte.
Es hatte sie nicht von diesem seltsamen, irrationalen Drang befreien können, nichts hatte das vermocht, bis auf den dunklen, schmutzigen Keller und das Grauen. Das hatte alles betäubt. Doch jetzt fragte sie sich, ob sie nicht schon immer ein bisschen irre gewesen war, so besessen war sie von diesem Fremden, dem man eine Vorliebe für sinnliche Grausamkeit nachsagte, für Lust, die mit Schmerzen durchsetzt war.
Dann hob er den Blick. Und sie hörte auf zu atmen.
Dmitri sah die Frau in der Tür in einem Kaleidoskop von Bildern. Weiches, ebenholzfarbenes Haar, das im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurde, aber eine wilde Lockenpracht verhieß. Unvergessliche Augen - Augen, die nicht vergessen konnten - in tiefstem Grün, deren äußere Winkel leicht nach oben zeigten. Ihre blassbraune Haut würde sich im Sonnenlicht zu Honig färben. »Sie sind auf Hawaii geboren?«, fragte er. Eine ungewöhnliche Frage an eine Jägerin, die zu einer Beratung erschienen war.
Sie blinzelte, und für einen Moment verschwanden ihre Augen, die von fernen Wäldern und verborgenen Edelsteinen erzählten, hinter langen Wimpern. »Nein. In einer Stadt mitten im Nirgendwo, weit weg vom Meer.«
Er umrundete seinen Schreibtisch aus Glas und Stahl und ging auf sie zu. Ganz kurz glaubte er, sie würde zurückweichen und in den Flur hinausstolpern, doch dann straffte sie sich und blieb stehen. Er spürte die Angst - scharf und sauer -, die hinter ihren Augen dahinjagte, dennoch drängte er sich an ihr vorbei, um die Tür zu schließen.
Er konnte nicht zulassen, dass sie wieder ging.
Als er zurücktrat, um sie noch einmal anzusehen, hatte sie die Aufwallung von Angst energisch bekämpft, doch ihr Atem ging stoßweise, und ihr Blick huschte davon, wenn er versuchte, ihn einzufangen. »Wie heißen Sie?«
»Honor.«
Honor. Er kostete den Namen und beschloss, dass er passte. »Geborene Jägerin?«
Ein Kopfschütteln.
Das überraschte ihn nicht. Wahrscheinlich hatte Elena die Gildedirektorin vor seiner Fähigkeit gewarnt. Er konnte alle Jägerinnen, die mit der bluthundartigen Gabe geboren wurden, die Witterung von Vampiren aufzunehmen, mit den Ranken seines exquisiten Duftes anlocken und verführen. Sara würde ihm wohl kaum frische Beute schicken. Aber diese Frau, diese Honor ... er wollte seine sinnlichen Duftranken auf sie wirken lassen, bis sie errötete und willenlos wurde und sich der unverkennbare Moschusduft ihrer Erregung auf seine Sinne legte.
Instinktiv vergewisserte er sich, dass sie ihn nicht anlog - er sandte einen betörenden Hauch von Champagner und flüssigem Verlangen aus, Gold, Orchideen im Mondlicht und in Schokolade getauchte Beeren auf der Haut einer Frau. Honor schüttelte leicht den Kopf, eine kaum wahrnehmbare Bewegung, die sich auf ihrer gerunzelten Stirn widerspiegelte.
Also nicht stark genug, als dass sie sich selbst als geborene Jägerin erkannt hätte oder von der Gilde als solche anerkannt worden wäre, aber doch so stark, dass sie eine leichte Empfänglichkeit für die Duftverführung aufwies. Diese Entdeckung überraschte ihn nicht, da er im Laufe der Jahrhunderte, seit er diese Fähigkeit entwickelt hatte, schon einigen ihrer Art begegnet war. Die Gilde schien sie förmlich anzuziehen, selbst wenn sie nur die leisesten Anzeichen der Jäger-Blutlinie trugen. Das bedeutete allerdings, dass er Honor nicht so leicht würde verführen können, wie es ihm bei einer wahren geborenen Jägerin möglich gewesen wäre ... aber wenn es um Sex ging, war Duft nicht die einzige Waffe in seinem Arsenal.
Als er seinen Blick erneut über sie wandern ließ, registrierte er den rasenden Puls an ihrem Hals; was jedoch seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Haut, die diese Stelle bedeckte. »Wer auch immer es war, dem Sie gestattet haben, von sich zu trinken«, sagte er in einem sanften Raunen, in dem, wie er sehr wohl wusste, ein zärtlicher Hauch von Gefahr lag, »war nicht besonders geschickt.« Ihre Narben zeugten von einem Vampir, der ihre Haut aufgerissen und verwüstet hatte.
Ihre Hand krampfte sich um den Träger ihrer Laptoptasche, die sie von der Schulter genommen hatte. »Das geht Sie nichts an.«
Dass sie trotz der Angst, die roh und blutig in ihr wogte, den Mumm gehabt hatte, ihm das zu sagen, ließ ihn überrascht eine Augenbraue hochziehen. »Doch, das tut es.« Er hatte schon so manch schöne Frau im Bett gehabt, einige hatten vor Lust geschluchzt, andere aufgrund seiner sinnlichen Verderbtheit, die sie lehren sollte, ihn niemals wieder herauszufordern. Honor war nicht schön. Sie hatte zu viel Angst in sich. Dmitri mochte vielleicht ein bisschen Schmerz im Bett, aber in den meisten Fällen zog er es vor, dass seine Partnerinnen auch Freude daran hatten.
Diese gebrochene Jägerin, deren Furcht beißend in der Luft hing, würde bei der ersten Berührung seiner Lippen anfangen zu zittern und in Stücke zerspringen. Und dennoch wollte er über diese blasse Haut streichen, die eigentlich von der Sonne vergoldet sein sollte, wollte die üppigen Kurven ihrer Lippen nachfahren, die lange Linie ihres Halses ... der Drang war so stark, dass er ihn als Mahnung empfand. Als er das letzte Mal zugelassen hatte, dass sein Schwanz statt seines Kopfes die Kontrolle übernahm, wäre er fast das Meuchelmörder-Schoßtier eines Erzengels geworden.
Er wandte sich um, trat hinter seinen großen, eleganten Schreibtisch und hob einen Müllsack vom Boden auf. »Ich gehe davon aus, dass Sie einige Erfahrung mit Tätowierungen haben?«
Ihre Stirn kräuselte sich. Verwirrung wischte die weitaus unangenehmere Emotion beiseite, die er zuvor wahrgenommen hatte. »Nein. Meine Spezialitäten sind alte Sprachen und Geschichte.«
Klug von der Gildedirektorin. »Dann sagen Sie mir bitte alles, was Sie über diese Tinte wissen.« Dieses Mal trug er Handschuhe, als er den Kopf herausnahm und auf der Tüte absetzte. Der Stumpf klebte mit einem schmatzenden Geräusch am Plastik fest.
Die Jägerin stolperte zurück, ihre Augen auf das grausame Beweisstück der Gewalttat fixiert. Mit einem Ruck richtete sie den Blick wieder auf ihn, und er las eine grimmige Wut in ihrem Gesicht. Ein Gesicht, das sich als so ausdrucksstark erwies, dass er sich fragte, ob sie jemals in ihrem Leben eine Partie Poker gewonnen hatte. »Finden Sie das lustig?«
»Nein.« Die Wahrheit. »Es erschien mir sinnlos, ihn in die Kühlung zu legen, da Sie schon unterwegs waren.«
Was er sagte, war so unmenschlich, dass Honor einige Zeit brauchte, um wieder einen Gedanken fassen zu können. Um sich klarzumachen, dass seine dunkle, maskuline Schönheit und seine moderne Sprechweise nichts daran änderten, dass ihr kein Mensch gegenüberstand. Nicht einmal annähernd. »Wie alt sind Sie?« Die Spekulationen in den Medien reichten von vier- bis sechshundert Jahren, doch in diesem Augenblick wusste sie plötzlich, dass sie falschlagen. Völlig falsch.
Ein schwaches Lächeln, bei dem sich ihre Nackenhärchen aufstellten. »Alt genug, um Ihnen Angst zu machen.«
Ja. Sie war von Vampiren gefangen gehalten worden, die sie nur verletzen wollten, selbst jetzt trug sie noch die Spuren dieses Missbrauchs, aber sie hatte noch nie jemanden getroffen, der ihr Blut durch seine bloße Anwesenheit gefrieren ließ. Doch obwohl er als gewaltiger Mistkerl bekannt war, erbarmungslos wie eine blanke Klinge, kam Dmitri in der Menschenwelt gut zurecht. Was bedeutete, dass er die tödliche Wahrheit verbergen konnte, wenn er es wollte, doch hier war er so, wie er unter dem zivilisierten Schwarz seines Anzugs wirkte - ein Mann, der einen abgetrennten Kopf mit der gleichen Miene betrachtete, mit der er eine Bowlingkugel ansehen würde.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf legte sie ihre Laptoptasche, da es auf dieser Seite keine Stühle gab, auf die Glasplatte des Tisches und zwang sich dazu, sich tiefer über den abgeschlagenen Kopf zu beugen. »Er hat im Wasser gelegen?« Die Haut war aufgeweicht und matschig, weiß und schrumpelig wie eine obszöne Erinnerung an fröhliche Stunden in einer Badewanne.
»Hudson.«
»Er muss von einem richtigen gerichtsmedizinischen Team untersucht werden«, murmelte sie, während sie versuchte, die Tätowierung vollständig zu erkennen. »Ich brauche eine Laborausrüstung, um ... «
Die behandschuhten Hände in ihrem Blickfeld schoben den Kopf zurück in den Müllsack. »Kommen Sie mit, kleines Karnickel.«
Hitze brannte in ihren Eingeweiden, versengte ihr Blut und überflutete ihr Gesicht, doch sie griff nach ihrer Laptoptasche und folgte ihm. Sein Rücken war fest und stark, sein Haar glänzte im Licht in einem satten, samtigen Schwarz. Als sie nicht zu ihm aufschloss, um neben ihm zu gehen, warf er ihr über die Schulter einen amüsierten Blick zu - doch das Lachen reichte nicht bis zu seinen wachsamen Augen, die von längst vergangenen Zeiten flüsterten. »Oh, eine altmodische Frau!«
»Was?« Es kostete sie ihre gesamte Konzentration zu atmen, ihr Körper stand kurz vor einer Überdosis Adrenalin.
»Sie halten es offenbar für richtig, drei Schritte hinter einem Mann zu gehen.«
Fast unwiderstehlich war die Versuchung, nach ihrem Messer zu greifen. Oder vielleicht nach der Pistole.
Mit einem Lächeln, als hätte er ihre Gedanken gelesen, ging er zu einem Aufzug - einem anderen als dem, in dem sie hinaufgefahren war - und legte, nachdem er einen Handschuh abgestreift hatte, die Hand auf den Scanner. Das Feld leuchtete eine Sekunde lang grün auf, dann öffneten sich die Türen, und er winkte sie hindurch. Sie weigerte sich einzutreten. Vermutlich war er so alt, dass sie nicht den Hauch einer Chance gegen ihn hatte, wenn er auf sie losging - doch Logik kam nicht gegen den Instinkt an, der wusste, dass Monster einen leichter verwunden konnten, wenn man sie nicht kommen sah.
»Und jetzt wollte ich höflich sein«, sagte er gedehnt, trat in das Stahlgehäuse und wartete, bis sie eingetreten war, bevor er auf der Schaltfläche an der Seite etwas eingab.
Der Aufzug fiel mit einer Geschwindigkeit in die Tiefe, bei der ihr der Magen in die Kehle sprang, doch das bereitete ihr keine Angst. Es war die Kreatur, die sich mit ihr im Aufzug befand, vor der sie Angst hatte. »Hören Sie auf damit«, sagte sie, als er sie weiterhin aus diesen tiefdunkelbraunen Augen anstarrte. Ja, früher hatte er eine Faszination auf sie ausgeübt, aber nur aus der Ferne.
Aus der Nähe besehen war ihr deutlich bewusst, dass es gefährlich war, mit ihm allein zu sein. Er war imstande, dachte sie, sie mit nichts als seiner exquisiten, seidenen Stimme in Stücke zu reißen, nur zu seinem Vergnügen ... bevor er wirklich anfing, ihr wehzutun.
»Ihr Freund«, sagte er halblaut, als sein Blick wieder zu ihrem Hals hinabwanderte, »hat Sie offensichtlich nicht so vorsichtig behandelt, wie er sollte.«
Ein hysterisches Lachen drohte aus ihr hervorzubrechen, doch sie unterdrückte es mit eisernem Willen. Ihre Angst musste er geschmeckt haben, aber mehr wollte sie nicht von sich preisgeben. »Haben Sie selbst noch nie Spuren hinterlassen, Dmitri?«
Er lehnte sich an die Wand. »Alle Spuren, die ich zurücklasse, sind vollkommen beabsichtigt.« Ein sinnlicher Tonfall, provozierende Worte, doch in seinem Blick lag etwas Hartes, während er unverwandt auf die übel zugerichtete Stelle an ihrem Hals starrte.
Die Narbe war nicht so schlimm - sie sah aus, als hätte ein Vampir beim Trinken einfach ein wenig die Kontrolle verloren. Das war gegen Ende gewesen. Zu Beginn hatten sie versucht, sie so wenig wie möglich zu beschädigen, damit sie ihnen weiterhin Vergnügen bereiten konnte. Am schrecklichsten waren die anderen, die »zivilisierten« Vampire gewesen, die beim Trinken fast schon zart zu Werke gegangen waren, ihre Brüste und ihre Schenkel gestreichelt hatten, während sie nackt gewesen war und man ihr die Augen verbunden hatte. Und sie waren noch immer da draußen.
Ein Schwall kühlerer Luft, die Türen öffneten sich.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, selbst als ihre Erinnerungen sie fortzureißen drohten, trat sie neben ihm hinaus. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Glaswände zu beiden Seiten, hinter denen sich Büros und Computer befanden ... und Labore auf dem neusten Stand der Technik. »Ich wusste gar nicht, dass es das alles hier unten gibt.«
Dmitri ging ihr voran in ein Labor. »Neu eingerichtet. Verlieren Sie kein Wort darüber, sonst muss ich Ihnen einen Besuch abstatten, mitten in einer ruhigen Nacht, wenn Sie hübsch zusammengerollt in Ihrem Bett liegen.«
Bei dieser beinahe lässigen Bemerkung verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in ihrem Körper. »Tratschen gehört nicht zu meinen Gewohnheiten.«
»Hier.« Er setzte den Müllsack mitsamt Inhalt auf einem Stahltisch ab. Die Entsetzlichkeit seines Tuns hätte die sexuelle Verlockung, die ihn wie eine zweite Haut umgab - wenn man Sex mit einem Hauch von Blut und Schmerzen mochte -, im Keim ersticken müssen. Doch das war nicht der Fall. Er blieb kultiviert und sexy und ziemlich genau das Wesen, das sie zu keiner Tages- oder Nachtzeit in ihrem Schlafzimmer haben wollte.
Seine Lippen - die untere war gerade voll genug, um Frauen zu sündigen Fantasien zu verleiten - kräuselten sich, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Brauchen Sie Hilfe beim Abziehen der Haut?«
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Nalini Singh
Nalini Singh wurde auf den Fidschi-Inseln geboren und ist in Neuseeland aufgewachsen. Nach verschiedenen Tätigkeiten begann sie 2003 eine Karriere als Autorin von Liebesromanen. Mit ihrer Gestaltwandlerserie und der Gilde der Jäger feiert sie international große Erfolge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nalini Singh
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2012, 3. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Cornelia Röser
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802585968
- ISBN-13: 9783802585968
- Erscheinungsdatum: 09.05.2012
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