Englische Liebschaften
"Eine Ikone der englischen Literatur ist zurück." Felicitas von Lovenberg, FAZ
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Produktinformationen zu „Englische Liebschaften “
"Eine Ikone der englischen Literatur ist zurück." Felicitas von Lovenberg, FAZ
Klappentext zu „Englische Liebschaften “
Nancy Mitfords schönster Roman, mit dem sie ein paar unvergessliche Prototypen der britischen Upper-Class schuf: Allen voran den exzentrischen Onkel Matthew, dessen reales Vorbild niemand anderes als Nancys eigener Vater war. Im Mittelpunkt der Geschichte steht jedoch die junge, unkonventionelle Linda Radlett, die in politisch bewegter Zeit von Liebe und Abenteuer, kurz: dem wahren Leben träumt - jenseits von Fuchstreibjagden und Five-O'Clock-Tea.
Lese-Probe zu „Englische Liebschaften “
Englische Liebschaften von Nancy Mitford1
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Es gibt eine Fotografie von Tante Sadie und ihren sechs Kindern, wie sie alle zusammen um den Teetisch in Alconleigh sitzen. Der Tisch steht da, wo er immer gestanden hat, wo er heute steht und immer stehen wird, in der Halle, vor einem gewaltigen Kamin, in dem ein Feuer prasselt. Über dem Kaminsims hängt, auf der Fotografie deutlich sichtbar, ein Schanzspaten, mit dem Onkel Matthew 1915 acht Deutsche totgeschlagen hat, einen nach dem anderen, so wie sie aus irgendeinem Unterstand hervorgekrochen waren. Noch immer kleben Blut und Haare an diesem Werkzeug, das wir Kinder stets nur mit fasziniertem Schauder betrachteten. Auf der Fotografie wirkt Tante Sadies Gesicht, das immer sehr schön war, merkwürdig rund, ihr Haar merkwürdig flaumig und ihre Kleidung merkwürdig nachlässig, aber sie ist es, ganz unverkennbar, und auf ihrem Schoß hat sich in einem Meer von Spitzen der kleine Robin breitgemacht. Sie scheint nicht recht zu wissen, wie sie seinen Kopf halten soll, und dass Nanny in der Nähe ist, um ihr den Kleinen gleich wieder abzunehmen, spürt man, obwohl man sie nicht sieht. Die anderen Kinder, von der elfjährigen Louisa bis hinunter zu dem zweijährigen Matt, sitzen im Sonntagsstaat oder mit umgebundenem Lätzchen am Tisch. Je nach Alter halten sie Tassen oder Becher in den Händen, starren mit großen, vom Blitzlicht geweiteten Augen in den Fotoapparat und sehen allesamt so aus, als könnten sie nicht bis drei zählen. Da sind sie, wie kleine Fliegen eingeschlossen in den Bernstein dieses Augenblicks - klick macht die Kamera, und weiter geht das Leben; die Minuten, die Tage, die Jahre, die Jahrzehnte, die sie vom Glück und von den Verheißungen der Jugend fortreißen, von den Hoffnungen, die Tante Sadie für sie gehegt haben muss, und von den Träumen, die sie selbst träumten. Oft denke ich, es gibt nichts Traurigeres als alte Familienfotos.
Als Kind brachte ich meine Weihnachtsferien regelmäßig in Alconleigh zu, sie waren ein fester Bestandteil meines Lebens, und während manche ohne irgendwelche besonderen Vorfälle einfach vorübergingen, zeichneten sich andere durch dramatische Verwicklungen aus und hatten ihren ganz eigenen Charakter. Einmal zum Beispiel brach im Dienstbotenflügel Feuer aus, ein andermal fiel ich von meinem Pony in den Bach, das Pony stürzte auf mich, und fast wäre ich ertrunken (aber nur fast, denn es wurde gleich weggezerrt, doch wollen einige vorher immerhin schon Luftblasen beobachtet haben). Dann das Drama, als die zehnjährige Linda einen Selbstmordversuch unternahm, um ihren alten, muffigen Border Terrier wiederzusehen, den Onkel Matthew hatte einschläfern lassen. Sie sammelte einen Korb Eibensamen und aß sie, aber Nanny entdeckte sie und flößte ihr Senf und Wasser ein, bis sie sich erbrach. Nachher sprach Tante Sadie »ein ernstes Wort« mit ihr, Onkel Matthew gab ihr eins hinter die Ohren, sie musste ein paar Tage das Bett hüten und bekam dann einen jungen Labrador geschenkt, der bald den Platz des alten Border in ihrem Herzen einnahm. Noch viel schlimmer war das Drama, als Linda mit zwölf Jahren den Nachbarstöchtern, die zum Tee herübergekommen waren, die Tatsachen des Lebens auseinandersetzte, so wie sie sie verstand. Lindas Darstellung dieser »Tatsachen« fiel derart grausig aus, dass die Kinder mit nachhaltig zerrütteten Nerven und erheblich eingeschränkten Aussichten auf ein gesundes und glückliches Geschlechtsleben Alconleigh unter schrecklichem Geheul verließen. Der Vorfall zog eine Reihe furchtbarer Bestrafungen nach sich, zunächst eine wirkliche Tracht Prügel, verabreicht von Onkel Matthew, und dann musste Linda eine Woche lang allein oben essen. Schließlich die unvergesslichen Ferien, als Onkel Matthew und Tante Sadie nach Kanada reisten. Jeden Morgen machten sich die Radlett-Kinder über die Zeitungen her, in der Hoffnung, dort die Nachricht zu finden, das Schiff ihrer Eltern sei mit Mann und Maus untergegangen; sie sehnten sich danach, Vollwaisen zu werden - vor allem Linda, die sich schon vorkam wie Katy in What Katy Did und die Zügel des Haushalts fest in ihre kleinen, aber tüchtigen Hände nehmen wollte. Das Schiff stieß nicht mit einem Eisberg zusammen und trotzte auch allen atlantischen Stürmen, aber wir verlebten unterdessen wunderbare Ferien, in denen wir tun und lassen konnten, was wir wollten.
Doch am deutlichsten ist mir das Weihnachten in Erinnerung geblieben, als ich vierzehn war und Tante Emily sich verlobte. Tante Emily war die Schwester von Tante Sadie, und sie hat mich großgezogen, denn meine Mutter, ihre jüngste Schwester, hatte gemeint, sie sei zu schön und zu lebenslustig, um sich schon im Alter von neunzehn Jahren mit einem Kind zu belasten. Sie verließ meinen Vater, als ich einen Monat alt war, und lief danach so oft und mit so vielen verschiedenen Leuten davon, dass die Familie und die Freunde sie nur noch die »Hopse« nannten; andererseits hatte auch die zweite Frau meines Vaters verständlicherweise keine große Lust, sich um mich zu kümmern, ebenso wenig wie später die dritte, die vierte und die fünfte. Gelegentlich erschien einer dieser stürmischen Elternteile wie eine Rakete an meinem Horizont und tauchte ihn in eine unnatürliche Glut. Sie verbreiteten großen Glanz, und ich sehnte mich danach, in ihrem Feuerschweif mit fortgerissen zu werden, obgleich ich tief im Inneren wusste, dass ich froh sein konnte, Tante Emily zu haben. Als ich älter wurde, verloren sie nach und nach jeden Reiz für mich; die ausgeglühten grauen Raketengehäuse verrotteten, wo sie zufällig niedergegangen waren, meine Mutter bei einem Major in Südfrankreich und mein Vater, der seine Güter verkauft hatte, um seine Schulden zu bezahlen, bei einer alten rumänischen Gräfin auf den Bahamas. Noch bevor ich erwachsen war, hatte der Glanz, der sie früher umgab, erheblich nachgelassen, und schließlich war nichts mehr da, woran sich kindliche Erinnerungen hätten heften können; in nichts unterschieden sie sich von anderen Leuten mittleren Alters. Tante Emily verbreitete nie Glanz um sich, aber sie war immer meine Mutter, und ich liebte sie.
Zu der Zeit aber, über die ich hier schreibe, war ich in einem Alter, in dem sich auch das fantasieloseste Kind für ein untergeschobenes oder vertauschtes Kind hält, für eine Prinzessin mit indianischem Blut in den Adern, für Johanna von Orléans oder die künftige Kaiserin von Russland. Ich sehnte mich nach meinen Eltern, machte ein idiotisches Gesicht, das eine Mischung aus Wehmut und Stolz zum Ausdruck bringen sollte, wenn im Gespräch ihre Namen fielen, und malte mir aus, wie sie lebten, tief in romantische, tödliche Sünde verstrickt.
Linda und ich, wir beschäftigten uns sehr intensiv mit der Sünde, und unser großer Held war Oscar Wilde.
»Aber was hat er denn nun wirklich getan?«
»Einmal habe ich Pa danach gefragt, aber er hat mich nur angebrüllt - lieber Himmel, es war furchtbar! ›Wenn du den Namen von diesem Gulli noch einmal in diesem Hause erwähnst‹, schrie er, ›dann gibt es Dresche, verstanden, du verflixtes Gör?‹ Also fragte ich Tante Sadie, aber sie sah bloß schrecklich geistesabwesend vor sich hin und sagte: ›Ach, Schatz, ich habe es nie ganz verstanden, aber was es auch war, es war schlimmer als Mord, furchtbar schlimm. Und bitte, Liebes, sprich nicht bei den Mahlzeiten über ihn, ja?‹«
»Wir müssen es herausbekommen.«
»Bob sagt, er schafft es, wenn er nach Eton geht.«
»Oh, toll! Glaubst du, er war schlimmer als Mammi und Daddy?«
»Das geht doch gar nicht! Ach, du hast ein Glück mit deinen verruchten Eltern!«
An diesem Weihnachtsfest, als ich vierzehn war, taumelte ich in die Halle von Alconleigh. Das Licht blendete mich nach den sechs Meilen im Wagen von der Bahnstation Merlinford bis hierher. Es war jedes Jahr das Gleiche, immer kam ich mit dem gleichen Zug, traf zur Teezeit ein, und immer fand ich Tante Sadie und die Kinder um den Tisch unter dem Schanzspaten versammelt, genau wie auf der Fotografie. Es waren immer derselbe Tisch und dasselbe Teegeschirr; das Porzellan mit den großen Rosen, der Teekessel und der Silberteller für das Gebäck, die von kleinen Lichtern warm gehalten wurden - die Menschen wurden natürlich unmerklich älter, aus Babys wurden Kinder, die Kinder wuchsen heran, und es war in Gestalt der inzwischen zwei Jahre alten Victoria ein Zuwachs zu verzeichnen. Mit einem Schokoladenplätzchen in der geschlossenen Faust watschelte sie herum, das Gesicht über und über mit Schokolade bekleckert, ein schrecklicher Anblick, aber unter der klebrigen Maske strahlte das unverkennbare Blau zweier unverwandt dreinblickender Radlett-Augen.
Es gab ein gewaltiges Stühlerücken, als ich eintrat, und ein Rudel Radletts fiel so unbändig und fast so unerbittlich über mich her, wie sich ein Rudel Hunde über einen Fuchs hermacht. Alle außer Linda. Sie freute sich am meisten, mich zu sehen, aber sie wollte es auf keinen Fall zeigen. Als sich der Lärm gelegt hatte und ich mit Gebäck und einer Tasse Tee versorgt war, fragte sie: »Wo ist Brenda?« Brenda war meine weiße Maus.
»Sie hat einen Ausschlag am Rücken bekommen und ist gestorben«, sagte ich.
Tante Sadie sah besorgt zu Linda hinüber.
»Bist du auf ihr geritten?«, meinte Louisa spitz.
Matt, der kürzlich in die Obhut einer französischen Gouvernante gekommen war, erklärte, indem er deren affektierte, fistelnde Sprechweise imitierte: »C'était, comme d'habitude, les voies urinaires.«
»Aber Liebes«, meinte Tante Sadie leise im Flüsterton.
Gewaltige Tränen kullerten auf Lindas Teller. Niemand weinte so viel und so oft wie sie; alles, aber besonders alles Traurige, das mit Tieren zusammenhing, konnte sie zum Weinen bringen, und wenn sie einmal angefangen hatte, war es ziemlich schwierig, sie wieder zu beruhigen. Sie war ein feinfühliges, aber auch ein äußerst nervöses Kind, und selbst Tante Sadie, die sich wegen der Gesundheit ihrer Kinder sonst überhaupt keine Gedanken machte, war sich darüber im Klaren, dass das viele Weinen Linda nachts den Schlaf raubte, ihr den Appetit nahm und ihr durchaus nicht zuträglich war. Die übrigen Kinder, vor allem Louisa und Bob, die gerne andere hänselten, gingen bei ihr so weit, wie sie sich getrauten, und wurden von Zeit zu Zeit bestraft, weil sie sie zum Weinen gebracht hatten. Bücher wie Black Beauty, Owd Bob, The Story of a Red Deer und alle Werke von Thompson Seton standen im Kinderzimmer auf dem Index - wegen Linda, die von ihnen irgendwann einmal zutiefst erschüttert worden war. Man musste sie verstecken, denn wenn sie herumlagen, war Linda nicht zu trauen, und es konnte geschehen, dass sie sich einer Orgie von Selbstquälerei überließ.
Die freche Louisa hatte sich ein Gedicht ausgedacht, das jedes Mal unweigerlich Tränenfluten auslöste:
Ein Streichholz, obdachlos und schwach,
hat weder Haus noch Fach,
es liegt allein, ganz still und klein,
das Streichholz, obdachlos und schwach.
Wenn Tante Sadie nicht in der Nähe war, stimmten die Kinder dieses Liedchen zuweilen in einem düsteren Chorgesang an. Je nachdem, in welcher Stimmung Linda war, brauchte man eine Streichholzschachtel nur anzusehen, und schon begann die Arme sich zu verflüssigen; fühlte sie sich aber kräftiger und dem Leben eher gewachsen, dann lösten solche Scherze bei ihr ein unwillkürliches Lachen aus, das sich seinen Weg direkt aus ihrem Bauch nach außen bahnte. Linda war nicht nur meine Lieblingscousine, sondern damals und noch viele Jahre lang der Mensch, den ich überhaupt am liebsten hatte. Ich bewunderte alle meine Cousinen, aber in Linda waren geistig wie körperlich alle Vorzüge und das ganze Wesen der Familie Radlett vereinigt. Ihre klaren Züge, ihr glattes braunes Haar und die großen blauen Augen bildeten ein Thema, zu dem die Gesichter der anderen eine Variation lieferten; hübsch waren sie alle, aber keines so ganz und gar unverwechselbar wie das ihre. Dabei hatte sie etwas Wütendes an sich, auch wenn sie lachte, und sie lachte viel, allerdings immer so, als werde sie gegen ihren Willen dazu gezwungen. Irgendetwas an ihr erinnerte an Bilder des jugendlichen Napoleon, eine Art von grollendem Ungestüm.
Ich spürte, dass ihr die Sache mit Brenda viel näher ging als mir. In Wirklichkeit waren meine Flitterwochen mit der Maus längst vorüber; unsere Beziehung hatte ihren Reiz verloren und kümmerte dahin wie eine alte Ehe, und als sie den ekelhaften Ausschlag auf dem Rücken bekommen hatte, gelang es mir eben noch, den Anstand zu wahren und sie mit der gebotenen Menschenfreundlichkeit zu behandeln. Abgesehen von dem Schock, der einen immer trifft, wenn man morgens jemanden steif und kalt im Käfig findet, war ich im Grunde sehr erleichtert, als Brendas Leiden endlich ein Ende hatten.
Copyright © List Verlag.
Es gibt eine Fotografie von Tante Sadie und ihren sechs Kindern, wie sie alle zusammen um den Teetisch in Alconleigh sitzen. Der Tisch steht da, wo er immer gestanden hat, wo er heute steht und immer stehen wird, in der Halle, vor einem gewaltigen Kamin, in dem ein Feuer prasselt. Über dem Kaminsims hängt, auf der Fotografie deutlich sichtbar, ein Schanzspaten, mit dem Onkel Matthew 1915 acht Deutsche totgeschlagen hat, einen nach dem anderen, so wie sie aus irgendeinem Unterstand hervorgekrochen waren. Noch immer kleben Blut und Haare an diesem Werkzeug, das wir Kinder stets nur mit fasziniertem Schauder betrachteten. Auf der Fotografie wirkt Tante Sadies Gesicht, das immer sehr schön war, merkwürdig rund, ihr Haar merkwürdig flaumig und ihre Kleidung merkwürdig nachlässig, aber sie ist es, ganz unverkennbar, und auf ihrem Schoß hat sich in einem Meer von Spitzen der kleine Robin breitgemacht. Sie scheint nicht recht zu wissen, wie sie seinen Kopf halten soll, und dass Nanny in der Nähe ist, um ihr den Kleinen gleich wieder abzunehmen, spürt man, obwohl man sie nicht sieht. Die anderen Kinder, von der elfjährigen Louisa bis hinunter zu dem zweijährigen Matt, sitzen im Sonntagsstaat oder mit umgebundenem Lätzchen am Tisch. Je nach Alter halten sie Tassen oder Becher in den Händen, starren mit großen, vom Blitzlicht geweiteten Augen in den Fotoapparat und sehen allesamt so aus, als könnten sie nicht bis drei zählen. Da sind sie, wie kleine Fliegen eingeschlossen in den Bernstein dieses Augenblicks - klick macht die Kamera, und weiter geht das Leben; die Minuten, die Tage, die Jahre, die Jahrzehnte, die sie vom Glück und von den Verheißungen der Jugend fortreißen, von den Hoffnungen, die Tante Sadie für sie gehegt haben muss, und von den Träumen, die sie selbst träumten. Oft denke ich, es gibt nichts Traurigeres als alte Familienfotos.
Als Kind brachte ich meine Weihnachtsferien regelmäßig in Alconleigh zu, sie waren ein fester Bestandteil meines Lebens, und während manche ohne irgendwelche besonderen Vorfälle einfach vorübergingen, zeichneten sich andere durch dramatische Verwicklungen aus und hatten ihren ganz eigenen Charakter. Einmal zum Beispiel brach im Dienstbotenflügel Feuer aus, ein andermal fiel ich von meinem Pony in den Bach, das Pony stürzte auf mich, und fast wäre ich ertrunken (aber nur fast, denn es wurde gleich weggezerrt, doch wollen einige vorher immerhin schon Luftblasen beobachtet haben). Dann das Drama, als die zehnjährige Linda einen Selbstmordversuch unternahm, um ihren alten, muffigen Border Terrier wiederzusehen, den Onkel Matthew hatte einschläfern lassen. Sie sammelte einen Korb Eibensamen und aß sie, aber Nanny entdeckte sie und flößte ihr Senf und Wasser ein, bis sie sich erbrach. Nachher sprach Tante Sadie »ein ernstes Wort« mit ihr, Onkel Matthew gab ihr eins hinter die Ohren, sie musste ein paar Tage das Bett hüten und bekam dann einen jungen Labrador geschenkt, der bald den Platz des alten Border in ihrem Herzen einnahm. Noch viel schlimmer war das Drama, als Linda mit zwölf Jahren den Nachbarstöchtern, die zum Tee herübergekommen waren, die Tatsachen des Lebens auseinandersetzte, so wie sie sie verstand. Lindas Darstellung dieser »Tatsachen« fiel derart grausig aus, dass die Kinder mit nachhaltig zerrütteten Nerven und erheblich eingeschränkten Aussichten auf ein gesundes und glückliches Geschlechtsleben Alconleigh unter schrecklichem Geheul verließen. Der Vorfall zog eine Reihe furchtbarer Bestrafungen nach sich, zunächst eine wirkliche Tracht Prügel, verabreicht von Onkel Matthew, und dann musste Linda eine Woche lang allein oben essen. Schließlich die unvergesslichen Ferien, als Onkel Matthew und Tante Sadie nach Kanada reisten. Jeden Morgen machten sich die Radlett-Kinder über die Zeitungen her, in der Hoffnung, dort die Nachricht zu finden, das Schiff ihrer Eltern sei mit Mann und Maus untergegangen; sie sehnten sich danach, Vollwaisen zu werden - vor allem Linda, die sich schon vorkam wie Katy in What Katy Did und die Zügel des Haushalts fest in ihre kleinen, aber tüchtigen Hände nehmen wollte. Das Schiff stieß nicht mit einem Eisberg zusammen und trotzte auch allen atlantischen Stürmen, aber wir verlebten unterdessen wunderbare Ferien, in denen wir tun und lassen konnten, was wir wollten.
Doch am deutlichsten ist mir das Weihnachten in Erinnerung geblieben, als ich vierzehn war und Tante Emily sich verlobte. Tante Emily war die Schwester von Tante Sadie, und sie hat mich großgezogen, denn meine Mutter, ihre jüngste Schwester, hatte gemeint, sie sei zu schön und zu lebenslustig, um sich schon im Alter von neunzehn Jahren mit einem Kind zu belasten. Sie verließ meinen Vater, als ich einen Monat alt war, und lief danach so oft und mit so vielen verschiedenen Leuten davon, dass die Familie und die Freunde sie nur noch die »Hopse« nannten; andererseits hatte auch die zweite Frau meines Vaters verständlicherweise keine große Lust, sich um mich zu kümmern, ebenso wenig wie später die dritte, die vierte und die fünfte. Gelegentlich erschien einer dieser stürmischen Elternteile wie eine Rakete an meinem Horizont und tauchte ihn in eine unnatürliche Glut. Sie verbreiteten großen Glanz, und ich sehnte mich danach, in ihrem Feuerschweif mit fortgerissen zu werden, obgleich ich tief im Inneren wusste, dass ich froh sein konnte, Tante Emily zu haben. Als ich älter wurde, verloren sie nach und nach jeden Reiz für mich; die ausgeglühten grauen Raketengehäuse verrotteten, wo sie zufällig niedergegangen waren, meine Mutter bei einem Major in Südfrankreich und mein Vater, der seine Güter verkauft hatte, um seine Schulden zu bezahlen, bei einer alten rumänischen Gräfin auf den Bahamas. Noch bevor ich erwachsen war, hatte der Glanz, der sie früher umgab, erheblich nachgelassen, und schließlich war nichts mehr da, woran sich kindliche Erinnerungen hätten heften können; in nichts unterschieden sie sich von anderen Leuten mittleren Alters. Tante Emily verbreitete nie Glanz um sich, aber sie war immer meine Mutter, und ich liebte sie.
Zu der Zeit aber, über die ich hier schreibe, war ich in einem Alter, in dem sich auch das fantasieloseste Kind für ein untergeschobenes oder vertauschtes Kind hält, für eine Prinzessin mit indianischem Blut in den Adern, für Johanna von Orléans oder die künftige Kaiserin von Russland. Ich sehnte mich nach meinen Eltern, machte ein idiotisches Gesicht, das eine Mischung aus Wehmut und Stolz zum Ausdruck bringen sollte, wenn im Gespräch ihre Namen fielen, und malte mir aus, wie sie lebten, tief in romantische, tödliche Sünde verstrickt.
Linda und ich, wir beschäftigten uns sehr intensiv mit der Sünde, und unser großer Held war Oscar Wilde.
»Aber was hat er denn nun wirklich getan?«
»Einmal habe ich Pa danach gefragt, aber er hat mich nur angebrüllt - lieber Himmel, es war furchtbar! ›Wenn du den Namen von diesem Gulli noch einmal in diesem Hause erwähnst‹, schrie er, ›dann gibt es Dresche, verstanden, du verflixtes Gör?‹ Also fragte ich Tante Sadie, aber sie sah bloß schrecklich geistesabwesend vor sich hin und sagte: ›Ach, Schatz, ich habe es nie ganz verstanden, aber was es auch war, es war schlimmer als Mord, furchtbar schlimm. Und bitte, Liebes, sprich nicht bei den Mahlzeiten über ihn, ja?‹«
»Wir müssen es herausbekommen.«
»Bob sagt, er schafft es, wenn er nach Eton geht.«
»Oh, toll! Glaubst du, er war schlimmer als Mammi und Daddy?«
»Das geht doch gar nicht! Ach, du hast ein Glück mit deinen verruchten Eltern!«
An diesem Weihnachtsfest, als ich vierzehn war, taumelte ich in die Halle von Alconleigh. Das Licht blendete mich nach den sechs Meilen im Wagen von der Bahnstation Merlinford bis hierher. Es war jedes Jahr das Gleiche, immer kam ich mit dem gleichen Zug, traf zur Teezeit ein, und immer fand ich Tante Sadie und die Kinder um den Tisch unter dem Schanzspaten versammelt, genau wie auf der Fotografie. Es waren immer derselbe Tisch und dasselbe Teegeschirr; das Porzellan mit den großen Rosen, der Teekessel und der Silberteller für das Gebäck, die von kleinen Lichtern warm gehalten wurden - die Menschen wurden natürlich unmerklich älter, aus Babys wurden Kinder, die Kinder wuchsen heran, und es war in Gestalt der inzwischen zwei Jahre alten Victoria ein Zuwachs zu verzeichnen. Mit einem Schokoladenplätzchen in der geschlossenen Faust watschelte sie herum, das Gesicht über und über mit Schokolade bekleckert, ein schrecklicher Anblick, aber unter der klebrigen Maske strahlte das unverkennbare Blau zweier unverwandt dreinblickender Radlett-Augen.
Es gab ein gewaltiges Stühlerücken, als ich eintrat, und ein Rudel Radletts fiel so unbändig und fast so unerbittlich über mich her, wie sich ein Rudel Hunde über einen Fuchs hermacht. Alle außer Linda. Sie freute sich am meisten, mich zu sehen, aber sie wollte es auf keinen Fall zeigen. Als sich der Lärm gelegt hatte und ich mit Gebäck und einer Tasse Tee versorgt war, fragte sie: »Wo ist Brenda?« Brenda war meine weiße Maus.
»Sie hat einen Ausschlag am Rücken bekommen und ist gestorben«, sagte ich.
Tante Sadie sah besorgt zu Linda hinüber.
»Bist du auf ihr geritten?«, meinte Louisa spitz.
Matt, der kürzlich in die Obhut einer französischen Gouvernante gekommen war, erklärte, indem er deren affektierte, fistelnde Sprechweise imitierte: »C'était, comme d'habitude, les voies urinaires.«
»Aber Liebes«, meinte Tante Sadie leise im Flüsterton.
Gewaltige Tränen kullerten auf Lindas Teller. Niemand weinte so viel und so oft wie sie; alles, aber besonders alles Traurige, das mit Tieren zusammenhing, konnte sie zum Weinen bringen, und wenn sie einmal angefangen hatte, war es ziemlich schwierig, sie wieder zu beruhigen. Sie war ein feinfühliges, aber auch ein äußerst nervöses Kind, und selbst Tante Sadie, die sich wegen der Gesundheit ihrer Kinder sonst überhaupt keine Gedanken machte, war sich darüber im Klaren, dass das viele Weinen Linda nachts den Schlaf raubte, ihr den Appetit nahm und ihr durchaus nicht zuträglich war. Die übrigen Kinder, vor allem Louisa und Bob, die gerne andere hänselten, gingen bei ihr so weit, wie sie sich getrauten, und wurden von Zeit zu Zeit bestraft, weil sie sie zum Weinen gebracht hatten. Bücher wie Black Beauty, Owd Bob, The Story of a Red Deer und alle Werke von Thompson Seton standen im Kinderzimmer auf dem Index - wegen Linda, die von ihnen irgendwann einmal zutiefst erschüttert worden war. Man musste sie verstecken, denn wenn sie herumlagen, war Linda nicht zu trauen, und es konnte geschehen, dass sie sich einer Orgie von Selbstquälerei überließ.
Die freche Louisa hatte sich ein Gedicht ausgedacht, das jedes Mal unweigerlich Tränenfluten auslöste:
Ein Streichholz, obdachlos und schwach,
hat weder Haus noch Fach,
es liegt allein, ganz still und klein,
das Streichholz, obdachlos und schwach.
Wenn Tante Sadie nicht in der Nähe war, stimmten die Kinder dieses Liedchen zuweilen in einem düsteren Chorgesang an. Je nachdem, in welcher Stimmung Linda war, brauchte man eine Streichholzschachtel nur anzusehen, und schon begann die Arme sich zu verflüssigen; fühlte sie sich aber kräftiger und dem Leben eher gewachsen, dann lösten solche Scherze bei ihr ein unwillkürliches Lachen aus, das sich seinen Weg direkt aus ihrem Bauch nach außen bahnte. Linda war nicht nur meine Lieblingscousine, sondern damals und noch viele Jahre lang der Mensch, den ich überhaupt am liebsten hatte. Ich bewunderte alle meine Cousinen, aber in Linda waren geistig wie körperlich alle Vorzüge und das ganze Wesen der Familie Radlett vereinigt. Ihre klaren Züge, ihr glattes braunes Haar und die großen blauen Augen bildeten ein Thema, zu dem die Gesichter der anderen eine Variation lieferten; hübsch waren sie alle, aber keines so ganz und gar unverwechselbar wie das ihre. Dabei hatte sie etwas Wütendes an sich, auch wenn sie lachte, und sie lachte viel, allerdings immer so, als werde sie gegen ihren Willen dazu gezwungen. Irgendetwas an ihr erinnerte an Bilder des jugendlichen Napoleon, eine Art von grollendem Ungestüm.
Ich spürte, dass ihr die Sache mit Brenda viel näher ging als mir. In Wirklichkeit waren meine Flitterwochen mit der Maus längst vorüber; unsere Beziehung hatte ihren Reiz verloren und kümmerte dahin wie eine alte Ehe, und als sie den ekelhaften Ausschlag auf dem Rücken bekommen hatte, gelang es mir eben noch, den Anstand zu wahren und sie mit der gebotenen Menschenfreundlichkeit zu behandeln. Abgesehen von dem Schock, der einen immer trifft, wenn man morgens jemanden steif und kalt im Käfig findet, war ich im Grunde sehr erleichtert, als Brendas Leiden endlich ein Ende hatten.
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Autoren-Porträt von Nancy Mitford
Mitford, NancyNancy Mitford wurde am 28. November 1904 als Tochter David Mitfords, des zweiten Baron Redesdale, in London geboren. Sie war das älteste seiner sieben Kinder und eine der berühmt-berüchtigten Mitford-Sisters. Schon früh machte sich Nancy einen Namen als geistreiche und scharfsinnige Beobachterin der Aristokratie und des Zeitgeschehens. 1946 ging sie aus Liebe zu Gaston Palewski, einem engen Mitarbeiter de Gaulles nach Paris. Dort entstanden ihre berühmtesten Romane: "Englische Liebschaften" (The Pursuit of Love, 1945) und "Liebe unter kaltem Himmel" (Love in a Cold Climate, 1949). Nancy Mitford starb am 30. Juni 1972 in Versailles.
Kaiser, Reinhard
Reinhard Kaiser, geboren 1950, lebt als Übersetzer und Schriftsteller in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nancy Mitford
- 2013, Maße: 11,9 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Kaiser, Reinhard
- Übersetzer: Reinhard Kaiser
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611931
- ISBN-13: 9783548611938
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
Rezension zu „Englische Liebschaften “
"Ein herrlicher Schmöker, mindestens so unterhaltsam wie ein Folge 'Downton Abbey'.", ELLE, 01.12.2012
Kommentar zu "Englische Liebschaften"
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