Er nannte mich Fräulein Gaga
Macken, Ticks und meine Versuche, sie in 111 Tagen loszuwerden
»Ich mag meine Macken eigentlich - mein Freund anscheinend nicht ...«Manche Menschen haben spezielle Ticks: In David Beckhams Kühlschrank steht immer eine gerade Anzahl an Getränkedosen, Jessica Alba bekommt Kurzschlusspanik, sobald sich ein Elektrogerät im...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Er nannte mich Fräulein Gaga “
Klappentext zu „Er nannte mich Fräulein Gaga “
»Ich mag meine Macken eigentlich - mein Freund anscheinend nicht ...«Manche Menschen haben spezielle Ticks: In David Beckhams Kühlschrank steht immer eine gerade Anzahl an Getränkedosen, Jessica Alba bekommt Kurzschlusspanik, sobald sich ein Elektrogerät im selben Raum befindet - und Sandra Winkler prüft täglich, ob die Fußmatten der Nachbarn im rechten Winkel liegen. Beim Autofahren denkt sie ständig, sie könnte jemanden totfahren, sie muss immer die Knöpfe herumliegender Hosen schließen und kann's kaum ertragen, wenn Schuhe auf den Schnürsenkeln stehen. Von Macken aller Art, und ob man sie unter anderem durch Coaching oder Hypnose wieder los wird, erzählt Sandra Winkler wunderbar selbstironisch, höchst sympathisch und unterhaltsam in ihrem Buch.
Lese-Probe zu „Er nannte mich Fräulein Gaga “
Er nannte mich Fräulein Gaga von Sandra WinklerDas Ultimatum
Die Nachricht, die auf mein Handy gesprungen kam, konnte nur von Martin stammen. Um sieben Uhr früh schickte mir wohl sonst niemand eine SMS.
Die Stadt flog in schummerigem Grau vorbei. Ich saß noch im Bus und wusste: Der Inhalt dieser Mitteilung konnte nichts Gutes bedeuten. Kein »Ich vermisse dich jetzt schon« oder »Freu mich so auf unser Wiedersehen«. Ich schaute also lieber erst gar nicht auf mein Telefon, sondern dachte darüber nach, was an diesem Morgen passiert war.
Mein Freund Martin und ich hatten unbedingt noch einmal zusammen frühstücken wollen, morgens um vier Uhr. Draußen war es stockfinster, drinnen brannten Kerzen, Blumen standen auf dem Tisch, Servietten lagen neben den Tellern. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, als wäre dieses Frühstück Heiratsantrag und Henkersmahlzeit in einem. Es sollte so romantisch wie möglich werden und immerhin fast vier Monate vorhalten. Martin goss sich ein zweites Glas Sekt ein. Sprudelnder Alkohol ist ein hervorragender Stimmungsbeschleuniger, auch um diese Uhrzeit.
»Danach werde ich im Flugzeug gut schlafen. Du auch eins?«, fragte Martin.
»Für mich nur Orangensaft! Ich muss ja noch fahren ...«
Ich grinste. Diese Worte - »ich muss ja noch fahren« - aus meinem Mund. Super.
»Bist du dir wirklich sicher?« Martin war nicht nur vom Szenario auf dem Tisch beeindruckt.
... mehr
»Klar, wozu hast du denn ein Auto, wenn dich deine Freundin damit nicht mal zum Flughafen chauffiert?«, fragte ich und spürte nur ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Ich biss noch einmal kräftig in den Toast mit Marmelade. Doch das flaue Gefühl hatte leider nichts mit Hunger zu tun. Es blieb auch nach einer weiteren Scheibe.
Als wir vor die Tür traten, hoffte ich bereits, dass der Wagen auf mysteriöse Weise verschwunden wäre, vielleicht einfach geklaut, abgeschleppt oder angezündet. Möglicherweise könnten wir ihn auch einfach nicht finden. Doch da sah ich schon das Nummernschild des schwarzen Saab hinter einem Dixi-Klo.
»Den hast du aber eng eingeparkt.«
»Soll ich ihn rausfahren?«
»Nein, das schaff ich schon.« Mein Lächeln war nicht das eines Siegers. Martin hievte seinen Koffer, der so groß war wie die Hundehütte einer dänischen Dogge - immerhin waren da Kleidung und Arbeitsmaterial für knapp vier Monate drin -, in den Wagen. Nur ein Band, das das Ungetüm umspannte, schien es davon abzuhalten, auseinanderzuplatzen. Inzwischen war das flaue Gefühl in meinem Magen zu einer leichten Übelkeit angewachsen. Ich setzte mich trotzdem hinters Steuer. Martin wollte das Radio anstellen. Das »Nein!« aus meinem Mund klang so heftig wie ein Bauchplatscher vom Zehnmeterbrett.
»Ich muss doch den Motor hören.«
»Oookay«, sagte Martin und zog dabei das »O« und das »kay« beschwichtigend in die Länge. Auch seine Hände - Handflächen nach vorne - signalisierten Verteidigungshaltung.
»Du weißt: Einfach die Kupplung kommen lassen und leicht Gas geben.«
»Martin, ich kann Auto fahren!«, sagte ich mit einem Blick, der ihn töten wollte. Ich rutschte mit dem Sitz so weit nach vorn, wie es sonst nur ältere Damen tun, bei denen allein der Hut über das Lenkrad schaut. Ein Blick nach unten versicherte mir: Gas, Bremse, Kupplung - alles da. Und ich wusste auch, wie man sie benutzt. Schließlich kann ich Auto fahren.
Trotzdem hörte ich meinen Herzschlag laut in den Ohren pochen. Als ich den Zündschlüssel ins Loch steckte, wurde mein Atem immer schneller. Dann passierte, was immer passierte, wenn ich mich hinters Steuer setzen sollte: Ich wurde panisch, weil ich mir vorstellte, wie ich beim Ausparken einen vorbeirauschenden Radfahrer übersehe oder ein Kind, das nichts Besseres zu tun hat, als gerade jetzt hinter dem Auto vorbeizulaufen, oder eine Katze, die unter dem Wagen ein Schläfchen hält. Ich spürte, wie sich meine böse Falte, also die, die sich senkrecht in die Stirn gräbt, zusammenzog. Langsam stiegen mir Tränen in die Augen. Das war blöd, denn dadurch wurde die Sicht ja nun wirklich nicht besser.
Martin suchte derweil etwas im Handschuhfach. Ich hatte damit zu tun, mir abwechselnd die Tränen von den Wangen zu wischen und den Kopf zu schütteln. Martin schaute mich furchtbar mitleidig an und reichte mir ein Taschentuch, das er aus dem Handschuhfach geholt hatte.
»Das bringt doch so nichts«, sagte er. »Komm wir steigen aus. Das ist albern.«
Natürlich war das albern. Immer wenn ich Auto fahren soll, komme ich mir albern vor. Und ich beneide die Menschen, die bei offenem Fenster Fahrtwind und Freiheit genießen, während ich nur Abgase auf dem Fahrrad oder nasses Hundefell, Urin und Bierfahnen in der S-Bahn riechen muss.
Martin kennt meine Totalausfälle am Steuer und hat sich irgendwann wohl damit abgefunden, dass seine Freundin eben kein Auto fährt. Nur manchmal nörgelt er, wenn er auf einer Party deswegen nicht trinken kann. Seine anfänglichen Therapie-Versuche (»Ach, du fährst jetzt einfach mal los«) bis zu Spontanangriffen auf Raststätten (»So, jetzt bist du aber mal dran«) haben mich nicht zur Autofahrerin gemacht. Auch die Fahrstunden, die Martin mir mal zum Geburtstag geschenkt hatte, halfen nicht nachhaltig gegen meine Lenkrad-Phobie. Während der dreimal 45 Minuten im Fahrschulauto war zwar alles fabelhaft gelaufen. Nun fehlte uns nur noch ein Wagen, der komplett mit Bremspedal für den Beifahrer und einem enormes Sicherheitsgefühl versprühenden Fahrlehrer geliefert wurde.
»Ich will dich fahren. Wirklich.« Ich wischte mir mit einem Taschentuch das Gesicht betont entschlossen trocken und schnäuzte meine Nase - obwohl mir eigentlich schon klar war, dass ich in diesem Auto und in diesem Zustand keine Kreuzung mehr überqueren würde. Weshalb mir auch Martins Angebot »Soll ich dich vielleicht rauswinken?« eher ungelegen kam.
»Nein. Fahr du!«
»Ich darf nicht mehr fahren«, erwiderte Martin.
»Wieso denn nicht?«
»Na, weil ich drei Sekt hatte und Marmeladenbrötchen keine gute Trinkbasis sind.« Tatsächlich ging Martin das Wort »Marmeladenbrötchen« schon nicht mehr ganz so locker über die Lippen. Trotzdem.
»Pah, das hat dich doch noch nie vom Autofahren abgehalten. « Natürlich finde ich Sekt am Steuer prinzipiell nicht in Ordnung, in dieser Situation hätte ich aber ein Auge zugedrückt.
»Außerdem will ich nicht, dass der Wagen monatelang am Flughafen steht. Du wirst ihn ja dann wahrscheinlich auch nicht zurück nach Hause fahren, oder?« Verdammt, er hatte recht.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Das schaffen wir schon. Ich habe genug Zeit eingeplant. 90 Minuten vorher einchecken, 30 Minuten Weg, 30 Minuten Puffer. Der Flieger geht erst um 6.45 Uhr«, antwortete Martin.
»Du bist super!« Ich drückte ihm meine feuchte Wange auf die Schulter. »Wie soll ich nur die Zeit ohne dich überstehen? «
»Das frage ich mich auch.« Martin strich mir über den Scheitel. »Wir rufen jetzt einfach ein Taxi«, entschied er. Martin zog den Koffer wieder aus dem Wagen, nahm sein Handy und wählte.
»Ist besetzt. Sag mal eine andere Nummer.«
»Ich kenne nur dreimal die 66.« Er wählte.
»Auch besetzt. Was ist um halb fünf Uhr morgens nur los in dieser Stadt?« Wahrscheinlich hielt mal wieder irgendeine Modewoche oder ein Filmfest die Leute bis zum Morgengrauen wach. Nach zehn Minuten Warteschleifen- Gedudel und drei Wut-Tritten gegen den rechten hinteren Autoreifen gab Martin auf.
»Komm, wir laufen jetzt zum Bus.« Die nächste Haltestelle, das wusste ich, war nur zwei Straßen entfernt. Die Hundehütte auf Rädern holperte hinter uns her. Wenigstens hatte ich für den Autofahrversuch Turnschuhe angezogen, und es regnete nicht. Der Bus zum Flughafen fuhr uns um 4.45 Uhr vor der Nase weg. Der nächste sollte erst in 20 Minuten kommen.
»Fährt denn kein anderer Bus zum Flughafen?«, rief ich Martin zu, der an der Haltestelle den Fahrplan studierte. In dem Moment bog der 245 um die Ecke und hielt vor uns. Die Tür ging auf.
»Fahren Sie in Richtung Flughafen?«, fragte ich den Fahrer, der mich so verschlafen ansah, als hätte er an der letzten Ampel noch schnell ein kurzes Nickerchen gemacht.
»Grob«, murmelte er. Sicherlich, es war gewagt sich in einen Bus zu setzen, der nur »grob« in die gewünschte Richtung fuhr. Aber Martin war sektbenebelt und ich verzweifelt.
»Der wird schon an irgendeiner U-Bahn vorbeikommen «, sagte ich halb zum Fahrer und halb zu Martin, hoffte das Beste und zog den Koffer in Richtung Bustür.
»Sie können am Kurt-Schumacher-Platz aussteigen und den 128er zum Flughafen nehmen«, avancierte der Fahrer von einer Schlafmütze zum Lebensretter.
»Siehst du, alles wird gut«, sagte ich zu Martin, der zu meiner Beruhigung wenigstens ein bisschen lächelte. An der Haltestelle Schliemannplatz hievten wir das Koffer- Monstrum wieder aus dem Bus. Martin schaute auf den Fahrplanaushang.
»Hier fährt kein 128er«, bemerkte er gereizt.
»Vielleicht meinte der Fahrer eine Haltestelle in der Nähe«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Martin lief auf die andere Straßenseite, wo natürlich nur die Buslinien angezeigt waren, die auch auf unserer Seite haltmachten - nur eben in die andere Richtung. Und auch in den Seitenstraßen, die vom Platz abgingen, gab es keinen 128er.
»Nichts. Keine weitere Bushaltestelle. Wir halten jetzt einfach irgendwie irgendwo ein Taxi an. Hier müssen doch welche fahren. Da vorne ist eine Hauptstraße.« Martin schnappte sich entschlossen den Koffer und zog an ihm wie an einem störrischen Esel. Der Koffer holperte über die unregelmäßigen Gehwegplatten hinweg. »Immerhin regnet es nicht«, versuchte ich beiläufig zu erwähnen und Schritt zu halten. In diesem Moment ertönte ein lautes Knacken, der Koffer kippte nach vorn zu Boden, als hätte man ihm in den Rücken geschossen. Martin schrie: »Verdammter Mist!« und hielt den abgebrochenen Griff in der Hand. Ich fasste das Ungetüm kurzerhand an den Rollen, Martin dort, wo vorher der Griff gesessen hatte. Wir hatten keine 50 Meter Erfahrung als Gepäckträger gesammelt, da ließ er den Koffer plötzlich wieder los. Der Koffer krachte auf den Weg.
»Taxi!« Martin rannte bereits mit dem ausgestreckten Arm zur Straße, da entdeckte ich es auch. Ein kleines gelbes Leuchtschild. Ein Hoffungsschimmer auf einem Wagendach. Und tatsächlich: Das Taxi hielt. Als er den Koffer sah, begann auch der Fahrer zu schimpfen, freundlicherweise tat er es leise. Er fasste sich betont auffällig an seinen Rücken, was dem Bauch auf der anderen Körperseite noch mehr Volumen verlieh. Martin verlud also das Ungetüm in den Kofferraum. Aus dem geöffneten Wagenfenster drang für die Uhrzeit viel zu aufgekratzte Jazzmusik. Drinnen roch es nach Zwiebelmett, Duftbäumchen und schlechter Laune. Eine tödliche Mischung, morgens um 5.55 Uhr.
Nicht mal mehr eine Stunde bis zum Abflug.
Ich atmete durch den Mund, damit mir vom fleischigen Tannennadel-Zwiebel-Gemisch nicht der Marmeladentoast wieder hoch kam. Martin hatte sich in seine Ecke der Rückbank zurückgezogen, Arme verschränkt. Er schmollte. Ein Anblick, den ich weder kannte noch mochte. Das war nicht seine Rolle. Wenn sich in unserer Beziehung einer wie eine beleidigte Leberwurst benehmen durfte, dann war ich das. Martin hatte sich anscheinend eine Auszeit vom Dasein als Fels in der Brandung genommen.
»Und WIR haben ein Auto vor der Tür stehen«, maulte er.
»DU hast ein Auto vor der Tür stehen. ICH fahre nun mal kein Auto.«
»Obwohl du es versprochen hattest«, machte er weiter.
»Ja, obwohl ich es versprochen hatte. Hör auf!« Meine Stimme übertönte fast die Jazz-Trompete, die sich gerade bei einem Solo verausgabte. Den Rest der Fahrt schmollten wir beide. Am Flughafen angekommen, gab auch der Taxifahrer dann noch eine Sondervorstellung seiner schlechten Laune. Er fluchte »verdammtes Scheißding«, als das Karten-Lesegerät auch beim dritten Mal Durchziehen den Vorgang abbrach. »Zehneurofuffzig, hab ich gesacht«, drängelte er, als wir hektisch, aber wohl trotzdem nicht schnell genug, in unseren Portemonnaies nach passenden Geldstücken kramten und ich ihm wie eine alte Dame an der Supermarktkasse Münze für Münze den Betrag rüberreichte. Er blaffte »kein Trinkgeld?«, als ich ihm den letzten Euro für die »zehneurofuffzig« aus meiner Handtasche fischte, deren Inhalt ich bis auf den letzten Tampon auf seiner Rückbank ausgeleert hatte.
Nachdem Martin seinen Koffer wieder aus dem Wagen gehievt hatte, rannte er los. Diesmal, um einen Gepäckwagen zu holen. Er stemmte das grifflose Ungetüm darauf und eilte dem Schalter entgegen, über dem ein im Dreieck springendes Känguru angezeigt wurde. Auf den elektronischen Schildern blinkte bereits »Boarding«. Martin eilte durch das Labyrinth aus Absperrungen. Ich wartete am Rand. Eine Frau vom Qantas-Bodenpersonal war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken.
»O nein, bitte, bitte, lass ihn noch mitfliegen«, betete ich leise. Und tatsächlich: Martin hob seinen Koffer aufs Band. Das war knapp gewesen, aber die Freude über unseren Sieg über alle Unwägbarkeiten hielt sich bei Martin in Grenzen.
»Fast hätte ich wegen deiner blöden Macken noch den Flug verpasst!« Er warf mir einen sehr bösen Blick zu. An der Sicherheitskontrolle verabschiedeten wir uns so, wie es Männer und Frauen tun, die nach dem ersten Date noch nicht genau wissen, wie weit sie gehen sollen: Erst eine Umarmung, dann ein kurzer Kuss, Lippen geschlossen.
»Nicht gerade eine Casablanca-Szene.« Ich versuchte, so gut es ging zu lächeln. »Nein, der Weg hierher war aber auch nicht gerade was für einen Liebesfilm.«
»Eher eine Episode von Laurel and Hardy. Wobei du für Hardy viel zu gut gebaut bist.« Martins Mund scheiterte leider beim Versuch zu lächeln.
»Ich ... ich liebe dich«, sagte ich. Er murmelte etwas Unverständliches.
»Letzter Aufruf für Passagier Brückner, gebucht nach Sydney. Bitte kommen Sie umgehend zum Flugsteig A02!«, hallte es aus einem Lautsprecher.
»Wir telefonieren, wenn ich angekommen bin.« Ich hatte die Hand schon zum Winken erhoben, doch er schaute nicht noch einmal zurück. Also rieb ich mir verlegen das Ohr.
Dann saß ich im Bus auf dem Weg nach Hause, während Martin nach Australien flog. Dort würde er knapp vier Monate bleiben, um im Rahmen eines Stipendiums beim »Sydney Morning Herald« zu arbeiten. Ich sah auf mein Handy. Da stand seine SMS: »Du musst deine Macken bis zu meiner Rückkehr in den Griff bekommen. So kann es nicht weitergehen.«
Macken?, überlegte ich. Aber welche meiner Macken meinte er denn genau? Da musste er schon ein bisschen spezifischer werden. Ich soll mich also bessern, dachte ich. Und wie? In nur vier Monaten. So einfach sollte er mir nicht davonkommen. Ich brauchte mehr Details. Ich wählte Martins Nummer. Ein pausbäckiger Junge, schätzungsweise zwei Jahre alt, stellte sich währenddessen auf den Sitz vor mir und starrte mich an. Ich wiederum starrte seine Mutter an. Die sah aus dem Fenster. Nicht mal in Ruhe telefonieren kann man in einem Bus.
Mailbox.
Er war natürlich schon in der Luft.
»Scheiße!«, platzte es aus mir heraus. Das Kind vor meinem Sitz schrie vor lauter Begeisterung ebenfalls »Scheiße! «. Die Mutter sah nicht mehr aus dem Fenster, sondern strafte mich mit einem verächtlichen Blick.
Nun würde ich Martin in den nächsten 25 Stunden nicht mehr erreichen können.
An der nächsten Bushaltestelle stieg ich aus und lief zwei Straßen weiter bis zu unserer Wohnung. Ich begann meinen Aufstieg in den vierten Stock. Was tut man nicht alles dafür, dass einem keiner auf dem Kopf herumtrampelt und der Blick auf den Fernsehturm fällt. Ich nahm die Stufen bis zum ersten Absatz. Pause. Nein, ich hatte keine Atemprobleme. Ich musste nur die Fußmatten der Nachbarn auf der Etage - Mahler, Kopitziak und Spörl - parallel zu den Türrahmen richten. Hach, das Modell der Spörls mit dem verschnörkelten »Welcome« liegt schon wieder komplett schief. Na ja, bei zwei Kindern kein Wunder. Und die Schuhe der Spörl-Kinder! Sie standen auf den Schnürsenkeln! Da hätte man sie ja gleich umgekippt im Hausflur liegen lassen können.
Ich hatte schon wieder viel zu tun.
Die Sache mit den Fußmatten gehörte bestimmt zu den Macken, die Martin nervten. Anfangs hatte ich versucht, das zeitraubende Geraderücken vor ihm geheim zu halten. Bei unseren gemeinsamen Aufstiegen zu meiner Wohnung habe ich mich zunächst noch zurückgehalten und die Augen zeitweise zusammengekniffen. Dann habe ich immer öfter begonnen, mich auf den Stufen zurückfallen zu lassen (Martin muss mich in der Zeit für sehr unsportlich gehalten haben), um die Abtreter möglichst schnell und unauffällig mit dem Fuß verschieben zu können. Doch nach ein paar Wochen geheimem Aufräumkommando ging ich dazu über, Martin weiszumachen, dass es besser für die Nachbarn und ihre Besucher wäre, wenn ich die Fußabtreter näher und ordentlicher an die Wohnungstüren rückte. Schließlich wäre die Gefahr, auf ihnen auszurutschen und die Treppe hinabzustürzen, nicht zu unterschätzen. Ob oder wie weit er mir das abgekauft hat? Keine Ahnung.
Irgendwann habe ich ihm dann offen gestanden, wie dringend ich die Matten verrücken will. Und angenommen, er fände das - und meine anderen Marotten - bis zu einem gewissen Grad sogar liebenswert. Liebenswert wie Körnermüsli ohne Zucker, an dessen Geschmack man sich nach einer Phase der Überwindung irgendwie gewöhnt - und schließlich meint, ohne es nicht mehr leben zu können.
Doch nach dieser SMS konnte ich wohl davon ausgehen, dass dem nicht so war.
Endlich in der Wohnung angekommen, blieben mir noch zweieinhalb Stunden und ein bisschen Zeit zum Nachdenken, bevor ich zur Arbeit musste. Hatte ich wirklich so viele Macken? Und musste ich sie alle loswerden, damit Martin weiter mit mir leben konnte und wollte? Wo sollte ich bloß anfangen? Ich brauchte dringend Rat.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Klar, wozu hast du denn ein Auto, wenn dich deine Freundin damit nicht mal zum Flughafen chauffiert?«, fragte ich und spürte nur ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Ich biss noch einmal kräftig in den Toast mit Marmelade. Doch das flaue Gefühl hatte leider nichts mit Hunger zu tun. Es blieb auch nach einer weiteren Scheibe.
Als wir vor die Tür traten, hoffte ich bereits, dass der Wagen auf mysteriöse Weise verschwunden wäre, vielleicht einfach geklaut, abgeschleppt oder angezündet. Möglicherweise könnten wir ihn auch einfach nicht finden. Doch da sah ich schon das Nummernschild des schwarzen Saab hinter einem Dixi-Klo.
»Den hast du aber eng eingeparkt.«
»Soll ich ihn rausfahren?«
»Nein, das schaff ich schon.« Mein Lächeln war nicht das eines Siegers. Martin hievte seinen Koffer, der so groß war wie die Hundehütte einer dänischen Dogge - immerhin waren da Kleidung und Arbeitsmaterial für knapp vier Monate drin -, in den Wagen. Nur ein Band, das das Ungetüm umspannte, schien es davon abzuhalten, auseinanderzuplatzen. Inzwischen war das flaue Gefühl in meinem Magen zu einer leichten Übelkeit angewachsen. Ich setzte mich trotzdem hinters Steuer. Martin wollte das Radio anstellen. Das »Nein!« aus meinem Mund klang so heftig wie ein Bauchplatscher vom Zehnmeterbrett.
»Ich muss doch den Motor hören.«
»Oookay«, sagte Martin und zog dabei das »O« und das »kay« beschwichtigend in die Länge. Auch seine Hände - Handflächen nach vorne - signalisierten Verteidigungshaltung.
»Du weißt: Einfach die Kupplung kommen lassen und leicht Gas geben.«
»Martin, ich kann Auto fahren!«, sagte ich mit einem Blick, der ihn töten wollte. Ich rutschte mit dem Sitz so weit nach vorn, wie es sonst nur ältere Damen tun, bei denen allein der Hut über das Lenkrad schaut. Ein Blick nach unten versicherte mir: Gas, Bremse, Kupplung - alles da. Und ich wusste auch, wie man sie benutzt. Schließlich kann ich Auto fahren.
Trotzdem hörte ich meinen Herzschlag laut in den Ohren pochen. Als ich den Zündschlüssel ins Loch steckte, wurde mein Atem immer schneller. Dann passierte, was immer passierte, wenn ich mich hinters Steuer setzen sollte: Ich wurde panisch, weil ich mir vorstellte, wie ich beim Ausparken einen vorbeirauschenden Radfahrer übersehe oder ein Kind, das nichts Besseres zu tun hat, als gerade jetzt hinter dem Auto vorbeizulaufen, oder eine Katze, die unter dem Wagen ein Schläfchen hält. Ich spürte, wie sich meine böse Falte, also die, die sich senkrecht in die Stirn gräbt, zusammenzog. Langsam stiegen mir Tränen in die Augen. Das war blöd, denn dadurch wurde die Sicht ja nun wirklich nicht besser.
Martin suchte derweil etwas im Handschuhfach. Ich hatte damit zu tun, mir abwechselnd die Tränen von den Wangen zu wischen und den Kopf zu schütteln. Martin schaute mich furchtbar mitleidig an und reichte mir ein Taschentuch, das er aus dem Handschuhfach geholt hatte.
»Das bringt doch so nichts«, sagte er. »Komm wir steigen aus. Das ist albern.«
Natürlich war das albern. Immer wenn ich Auto fahren soll, komme ich mir albern vor. Und ich beneide die Menschen, die bei offenem Fenster Fahrtwind und Freiheit genießen, während ich nur Abgase auf dem Fahrrad oder nasses Hundefell, Urin und Bierfahnen in der S-Bahn riechen muss.
Martin kennt meine Totalausfälle am Steuer und hat sich irgendwann wohl damit abgefunden, dass seine Freundin eben kein Auto fährt. Nur manchmal nörgelt er, wenn er auf einer Party deswegen nicht trinken kann. Seine anfänglichen Therapie-Versuche (»Ach, du fährst jetzt einfach mal los«) bis zu Spontanangriffen auf Raststätten (»So, jetzt bist du aber mal dran«) haben mich nicht zur Autofahrerin gemacht. Auch die Fahrstunden, die Martin mir mal zum Geburtstag geschenkt hatte, halfen nicht nachhaltig gegen meine Lenkrad-Phobie. Während der dreimal 45 Minuten im Fahrschulauto war zwar alles fabelhaft gelaufen. Nun fehlte uns nur noch ein Wagen, der komplett mit Bremspedal für den Beifahrer und einem enormes Sicherheitsgefühl versprühenden Fahrlehrer geliefert wurde.
»Ich will dich fahren. Wirklich.« Ich wischte mir mit einem Taschentuch das Gesicht betont entschlossen trocken und schnäuzte meine Nase - obwohl mir eigentlich schon klar war, dass ich in diesem Auto und in diesem Zustand keine Kreuzung mehr überqueren würde. Weshalb mir auch Martins Angebot »Soll ich dich vielleicht rauswinken?« eher ungelegen kam.
»Nein. Fahr du!«
»Ich darf nicht mehr fahren«, erwiderte Martin.
»Wieso denn nicht?«
»Na, weil ich drei Sekt hatte und Marmeladenbrötchen keine gute Trinkbasis sind.« Tatsächlich ging Martin das Wort »Marmeladenbrötchen« schon nicht mehr ganz so locker über die Lippen. Trotzdem.
»Pah, das hat dich doch noch nie vom Autofahren abgehalten. « Natürlich finde ich Sekt am Steuer prinzipiell nicht in Ordnung, in dieser Situation hätte ich aber ein Auge zugedrückt.
»Außerdem will ich nicht, dass der Wagen monatelang am Flughafen steht. Du wirst ihn ja dann wahrscheinlich auch nicht zurück nach Hause fahren, oder?« Verdammt, er hatte recht.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Das schaffen wir schon. Ich habe genug Zeit eingeplant. 90 Minuten vorher einchecken, 30 Minuten Weg, 30 Minuten Puffer. Der Flieger geht erst um 6.45 Uhr«, antwortete Martin.
»Du bist super!« Ich drückte ihm meine feuchte Wange auf die Schulter. »Wie soll ich nur die Zeit ohne dich überstehen? «
»Das frage ich mich auch.« Martin strich mir über den Scheitel. »Wir rufen jetzt einfach ein Taxi«, entschied er. Martin zog den Koffer wieder aus dem Wagen, nahm sein Handy und wählte.
»Ist besetzt. Sag mal eine andere Nummer.«
»Ich kenne nur dreimal die 66.« Er wählte.
»Auch besetzt. Was ist um halb fünf Uhr morgens nur los in dieser Stadt?« Wahrscheinlich hielt mal wieder irgendeine Modewoche oder ein Filmfest die Leute bis zum Morgengrauen wach. Nach zehn Minuten Warteschleifen- Gedudel und drei Wut-Tritten gegen den rechten hinteren Autoreifen gab Martin auf.
»Komm, wir laufen jetzt zum Bus.« Die nächste Haltestelle, das wusste ich, war nur zwei Straßen entfernt. Die Hundehütte auf Rädern holperte hinter uns her. Wenigstens hatte ich für den Autofahrversuch Turnschuhe angezogen, und es regnete nicht. Der Bus zum Flughafen fuhr uns um 4.45 Uhr vor der Nase weg. Der nächste sollte erst in 20 Minuten kommen.
»Fährt denn kein anderer Bus zum Flughafen?«, rief ich Martin zu, der an der Haltestelle den Fahrplan studierte. In dem Moment bog der 245 um die Ecke und hielt vor uns. Die Tür ging auf.
»Fahren Sie in Richtung Flughafen?«, fragte ich den Fahrer, der mich so verschlafen ansah, als hätte er an der letzten Ampel noch schnell ein kurzes Nickerchen gemacht.
»Grob«, murmelte er. Sicherlich, es war gewagt sich in einen Bus zu setzen, der nur »grob« in die gewünschte Richtung fuhr. Aber Martin war sektbenebelt und ich verzweifelt.
»Der wird schon an irgendeiner U-Bahn vorbeikommen «, sagte ich halb zum Fahrer und halb zu Martin, hoffte das Beste und zog den Koffer in Richtung Bustür.
»Sie können am Kurt-Schumacher-Platz aussteigen und den 128er zum Flughafen nehmen«, avancierte der Fahrer von einer Schlafmütze zum Lebensretter.
»Siehst du, alles wird gut«, sagte ich zu Martin, der zu meiner Beruhigung wenigstens ein bisschen lächelte. An der Haltestelle Schliemannplatz hievten wir das Koffer- Monstrum wieder aus dem Bus. Martin schaute auf den Fahrplanaushang.
»Hier fährt kein 128er«, bemerkte er gereizt.
»Vielleicht meinte der Fahrer eine Haltestelle in der Nähe«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Martin lief auf die andere Straßenseite, wo natürlich nur die Buslinien angezeigt waren, die auch auf unserer Seite haltmachten - nur eben in die andere Richtung. Und auch in den Seitenstraßen, die vom Platz abgingen, gab es keinen 128er.
»Nichts. Keine weitere Bushaltestelle. Wir halten jetzt einfach irgendwie irgendwo ein Taxi an. Hier müssen doch welche fahren. Da vorne ist eine Hauptstraße.« Martin schnappte sich entschlossen den Koffer und zog an ihm wie an einem störrischen Esel. Der Koffer holperte über die unregelmäßigen Gehwegplatten hinweg. »Immerhin regnet es nicht«, versuchte ich beiläufig zu erwähnen und Schritt zu halten. In diesem Moment ertönte ein lautes Knacken, der Koffer kippte nach vorn zu Boden, als hätte man ihm in den Rücken geschossen. Martin schrie: »Verdammter Mist!« und hielt den abgebrochenen Griff in der Hand. Ich fasste das Ungetüm kurzerhand an den Rollen, Martin dort, wo vorher der Griff gesessen hatte. Wir hatten keine 50 Meter Erfahrung als Gepäckträger gesammelt, da ließ er den Koffer plötzlich wieder los. Der Koffer krachte auf den Weg.
»Taxi!« Martin rannte bereits mit dem ausgestreckten Arm zur Straße, da entdeckte ich es auch. Ein kleines gelbes Leuchtschild. Ein Hoffungsschimmer auf einem Wagendach. Und tatsächlich: Das Taxi hielt. Als er den Koffer sah, begann auch der Fahrer zu schimpfen, freundlicherweise tat er es leise. Er fasste sich betont auffällig an seinen Rücken, was dem Bauch auf der anderen Körperseite noch mehr Volumen verlieh. Martin verlud also das Ungetüm in den Kofferraum. Aus dem geöffneten Wagenfenster drang für die Uhrzeit viel zu aufgekratzte Jazzmusik. Drinnen roch es nach Zwiebelmett, Duftbäumchen und schlechter Laune. Eine tödliche Mischung, morgens um 5.55 Uhr.
Nicht mal mehr eine Stunde bis zum Abflug.
Ich atmete durch den Mund, damit mir vom fleischigen Tannennadel-Zwiebel-Gemisch nicht der Marmeladentoast wieder hoch kam. Martin hatte sich in seine Ecke der Rückbank zurückgezogen, Arme verschränkt. Er schmollte. Ein Anblick, den ich weder kannte noch mochte. Das war nicht seine Rolle. Wenn sich in unserer Beziehung einer wie eine beleidigte Leberwurst benehmen durfte, dann war ich das. Martin hatte sich anscheinend eine Auszeit vom Dasein als Fels in der Brandung genommen.
»Und WIR haben ein Auto vor der Tür stehen«, maulte er.
»DU hast ein Auto vor der Tür stehen. ICH fahre nun mal kein Auto.«
»Obwohl du es versprochen hattest«, machte er weiter.
»Ja, obwohl ich es versprochen hatte. Hör auf!« Meine Stimme übertönte fast die Jazz-Trompete, die sich gerade bei einem Solo verausgabte. Den Rest der Fahrt schmollten wir beide. Am Flughafen angekommen, gab auch der Taxifahrer dann noch eine Sondervorstellung seiner schlechten Laune. Er fluchte »verdammtes Scheißding«, als das Karten-Lesegerät auch beim dritten Mal Durchziehen den Vorgang abbrach. »Zehneurofuffzig, hab ich gesacht«, drängelte er, als wir hektisch, aber wohl trotzdem nicht schnell genug, in unseren Portemonnaies nach passenden Geldstücken kramten und ich ihm wie eine alte Dame an der Supermarktkasse Münze für Münze den Betrag rüberreichte. Er blaffte »kein Trinkgeld?«, als ich ihm den letzten Euro für die »zehneurofuffzig« aus meiner Handtasche fischte, deren Inhalt ich bis auf den letzten Tampon auf seiner Rückbank ausgeleert hatte.
Nachdem Martin seinen Koffer wieder aus dem Wagen gehievt hatte, rannte er los. Diesmal, um einen Gepäckwagen zu holen. Er stemmte das grifflose Ungetüm darauf und eilte dem Schalter entgegen, über dem ein im Dreieck springendes Känguru angezeigt wurde. Auf den elektronischen Schildern blinkte bereits »Boarding«. Martin eilte durch das Labyrinth aus Absperrungen. Ich wartete am Rand. Eine Frau vom Qantas-Bodenpersonal war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken.
»O nein, bitte, bitte, lass ihn noch mitfliegen«, betete ich leise. Und tatsächlich: Martin hob seinen Koffer aufs Band. Das war knapp gewesen, aber die Freude über unseren Sieg über alle Unwägbarkeiten hielt sich bei Martin in Grenzen.
»Fast hätte ich wegen deiner blöden Macken noch den Flug verpasst!« Er warf mir einen sehr bösen Blick zu. An der Sicherheitskontrolle verabschiedeten wir uns so, wie es Männer und Frauen tun, die nach dem ersten Date noch nicht genau wissen, wie weit sie gehen sollen: Erst eine Umarmung, dann ein kurzer Kuss, Lippen geschlossen.
»Nicht gerade eine Casablanca-Szene.« Ich versuchte, so gut es ging zu lächeln. »Nein, der Weg hierher war aber auch nicht gerade was für einen Liebesfilm.«
»Eher eine Episode von Laurel and Hardy. Wobei du für Hardy viel zu gut gebaut bist.« Martins Mund scheiterte leider beim Versuch zu lächeln.
»Ich ... ich liebe dich«, sagte ich. Er murmelte etwas Unverständliches.
»Letzter Aufruf für Passagier Brückner, gebucht nach Sydney. Bitte kommen Sie umgehend zum Flugsteig A02!«, hallte es aus einem Lautsprecher.
»Wir telefonieren, wenn ich angekommen bin.« Ich hatte die Hand schon zum Winken erhoben, doch er schaute nicht noch einmal zurück. Also rieb ich mir verlegen das Ohr.
Dann saß ich im Bus auf dem Weg nach Hause, während Martin nach Australien flog. Dort würde er knapp vier Monate bleiben, um im Rahmen eines Stipendiums beim »Sydney Morning Herald« zu arbeiten. Ich sah auf mein Handy. Da stand seine SMS: »Du musst deine Macken bis zu meiner Rückkehr in den Griff bekommen. So kann es nicht weitergehen.«
Macken?, überlegte ich. Aber welche meiner Macken meinte er denn genau? Da musste er schon ein bisschen spezifischer werden. Ich soll mich also bessern, dachte ich. Und wie? In nur vier Monaten. So einfach sollte er mir nicht davonkommen. Ich brauchte mehr Details. Ich wählte Martins Nummer. Ein pausbäckiger Junge, schätzungsweise zwei Jahre alt, stellte sich währenddessen auf den Sitz vor mir und starrte mich an. Ich wiederum starrte seine Mutter an. Die sah aus dem Fenster. Nicht mal in Ruhe telefonieren kann man in einem Bus.
Mailbox.
Er war natürlich schon in der Luft.
»Scheiße!«, platzte es aus mir heraus. Das Kind vor meinem Sitz schrie vor lauter Begeisterung ebenfalls »Scheiße! «. Die Mutter sah nicht mehr aus dem Fenster, sondern strafte mich mit einem verächtlichen Blick.
Nun würde ich Martin in den nächsten 25 Stunden nicht mehr erreichen können.
An der nächsten Bushaltestelle stieg ich aus und lief zwei Straßen weiter bis zu unserer Wohnung. Ich begann meinen Aufstieg in den vierten Stock. Was tut man nicht alles dafür, dass einem keiner auf dem Kopf herumtrampelt und der Blick auf den Fernsehturm fällt. Ich nahm die Stufen bis zum ersten Absatz. Pause. Nein, ich hatte keine Atemprobleme. Ich musste nur die Fußmatten der Nachbarn auf der Etage - Mahler, Kopitziak und Spörl - parallel zu den Türrahmen richten. Hach, das Modell der Spörls mit dem verschnörkelten »Welcome« liegt schon wieder komplett schief. Na ja, bei zwei Kindern kein Wunder. Und die Schuhe der Spörl-Kinder! Sie standen auf den Schnürsenkeln! Da hätte man sie ja gleich umgekippt im Hausflur liegen lassen können.
Ich hatte schon wieder viel zu tun.
Die Sache mit den Fußmatten gehörte bestimmt zu den Macken, die Martin nervten. Anfangs hatte ich versucht, das zeitraubende Geraderücken vor ihm geheim zu halten. Bei unseren gemeinsamen Aufstiegen zu meiner Wohnung habe ich mich zunächst noch zurückgehalten und die Augen zeitweise zusammengekniffen. Dann habe ich immer öfter begonnen, mich auf den Stufen zurückfallen zu lassen (Martin muss mich in der Zeit für sehr unsportlich gehalten haben), um die Abtreter möglichst schnell und unauffällig mit dem Fuß verschieben zu können. Doch nach ein paar Wochen geheimem Aufräumkommando ging ich dazu über, Martin weiszumachen, dass es besser für die Nachbarn und ihre Besucher wäre, wenn ich die Fußabtreter näher und ordentlicher an die Wohnungstüren rückte. Schließlich wäre die Gefahr, auf ihnen auszurutschen und die Treppe hinabzustürzen, nicht zu unterschätzen. Ob oder wie weit er mir das abgekauft hat? Keine Ahnung.
Irgendwann habe ich ihm dann offen gestanden, wie dringend ich die Matten verrücken will. Und angenommen, er fände das - und meine anderen Marotten - bis zu einem gewissen Grad sogar liebenswert. Liebenswert wie Körnermüsli ohne Zucker, an dessen Geschmack man sich nach einer Phase der Überwindung irgendwie gewöhnt - und schließlich meint, ohne es nicht mehr leben zu können.
Doch nach dieser SMS konnte ich wohl davon ausgehen, dass dem nicht so war.
Endlich in der Wohnung angekommen, blieben mir noch zweieinhalb Stunden und ein bisschen Zeit zum Nachdenken, bevor ich zur Arbeit musste. Hatte ich wirklich so viele Macken? Und musste ich sie alle loswerden, damit Martin weiter mit mir leben konnte und wollte? Wo sollte ich bloß anfangen? Ich brauchte dringend Rat.
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Autoren-Porträt von Sandra Winkler
Winkler, SandraSandra Winkler wurde 1973 geboren und arbeitet heute als Journalistin in Berlin. Ihre Texte sind u. a. in Welt am Sonntag, Vanity Fair, Stern und Zeit erschienen. Während ihr erstes Buch »Männerpolitur« von den Marotten der Männer handelt, beschäftigt sie sich in ihrem aktuellen Buch mit den eigenen Macken und wie sie sie wieder loswird.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Winkler
- 2013, 240 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596196612
- ISBN-13: 9783596196616
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Rezension zu „Er nannte mich Fräulein Gaga “
Warum macht es uns glücklich? Weil wir uns in [diesem] Buch so herrlich selbst entdecken können. Schließlich hat jeder von uns die eine oder andere Macke. freundin.de 20131016
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