Erika
''Es war, als hätte ich zu leben vergessen'' - eine traurige Bilanz, die Betty vor den Weihnachtsfeiertagen zieht. Als da ein alter Freund anruft und sie für das Wochenende einlädt, fliegt sie kurz entschlossen nach Mailand. Als Mitbringsel kauft sie...
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''Es war, als hätte ich zu leben vergessen'' - eine traurige Bilanz, die Betty vor den Weihnachtsfeiertagen zieht. Als da ein alter Freund anruft und sie für das Wochenende einlädt, fliegt sie kurz entschlossen nach Mailand. Als Mitbringsel kauft sie Erika, ein lebensgroßes rosa Plüschschwein. Mit ihr im Arm erregt sie ganz schön Aufsehen, und alle Menschen, die ihr begegnen, werden freundlich.
Eine der schönsten Geschichten von Elke Heidenreich - warmherzig und philosophisch.
Erika von Elke Heidenreich
LESEPROBE
Ich hatte das ganze Jahr hindurch gearbeitet wie eineVerrückte und fühlte mich kurz vor Weihnachten völlig leer, ausgebrannt undzerschlagen. Es war ein schreckliches Jahr gewesen, obwohl ich sehr viel Geldverdient hatte. Es war, als hätte ich zu leben vergessen. Ich hatte meineFreunde kaum gesehen und war nicht in Urlaub gefahren, meine Mahlzeiten hatteich irgendwo zwischen Tür und Angel im Stehen eingenommen - Gyros undKrautsalat, ein Stück Pizza, ein paar Tortillas und dazu zwei, drei Margaritas-, oder ich hatte zu Hause ein paar Rühreier aus der Pfanne gegessen, vor demFernseher, und an vielen Tagen hatte ich auch gar nichts gegessen und nur Wein,Kaffee und Gin getrunken und war wie ein Stück Blei ins Bett gefallen, ohne diePost zu öffnen oder den Anrufbeantworter abzuhören, traumlos, leblos. Ein paarTage vor Weihnachten - ich war gerade nach Hause gekommen und hatte mich vorErschöpfung nach einem Sechzehn-Stunden-Tag einfach in Mantel und Stiefeln derLänge nach auf den Teppich gelegt und nur noch ganz flach geatmet - klingeltedas Telefon. Beim ersten Ton schon griff ich danach wie nach einem allerletztenLebenszeichen von da draußen. "Ja!", Sagte ich, und ich hätte auchgenauso tonlos "Hilfe!" sagen können.
Es war Franz, und er rief mich aus Lugano an. Franz und ichhatten vor Jahren mal eine Weile zusammengelebt, uns dann aber einigermaßenfriedlich getrennt und beide geheiratet. Inzwischen waren wir auch beide wiedergeschieden, und er lebte in Lugano und ich in Berlin.
Franz arbeitete in Lugano bei einem Architekten, und ab undzu schrieben wir uns alberne Karten. Manchmal traf ich seine Mutter, die sogern gesehen hätte, dass wir zusammengeblieben wären und die in Berlin langsamvermoderte, wie so viele alte Leute. Sie erzählte mir dann ein bisschen vonihm, aber Mütter wissen ja nichts von ihren Kindern, und ich erfuhr nur, dasses Franz gut gehe, und er verdiene viel, sie sei allerdings noch nie in Luganogewesen.
"Hallo, Betty", sagte Franz am Telefon. Er ist derEinzige, der mich Betty nennt. Ich heiße Elisabeth, aber das sagt nur meineMutter zu mir. Mein Vater nannte mich Lisa, in der Schule hieß ich Elli, undmein Mann hatte Lili zu mir gesagt. Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wieich eigentlich heiße, und nenne mich bei meinem zweiten Namen: Veronika. Nurfür Franz war ich Betty gewesen, und ich holte tief Luft, streifte mir dieStiefel von den Füßen und sagte: "Ach, Franz."
"Hört sich nicht gut an, ach, Franz", sagte er."Ist was los?"
"Ich glaube, ich bin tot", sagte ich. "Kneif michmal."
"Dazu müsstest du etwas näher kommen", sagteFranz, "und das ist es, weshalb ich anrufe."
Ich machte die Augen zu und dachte an die komischeDachwohnung, in der wir zusammen gewohnt hatten. Franz hatte Bühnenbilder inverkleinertem Maßstab gebaut, und im Szenenbild von "Don Giovanni"hatten unsere beiden Hamster Kain und Abel gewohnt. Sie waren auf den kleinenBalkönchen erschienen und hatten sich geputzt, und vom Tonband spielten wirdazu Donna Annas Arie aus dem Ende des zweiten Aktes, "or sai chi l'onorerapire a me volse", und zu der Zeit haben wir furchtbar viel getrunken.Wir arbeiteten auch - er an seinen Bühnenbildern, ich für meine Zeitung, aberwir tranken Gin und Weißwein und Tequila in solchen Mengen, dass ich heutenicht mehr weiß, wie wir überhaupt morgens aus dem Bett kamen, wer all dieleeren Flaschen wegbrachte und wann wir eigentlich die Katze versorgten. Einerder beiden Hamster wurde später in dem dicken Lesesessel totgedrückt - er warzwischen Sitzpolster und Lehne gekrochen -, und wir fanden ihn erst, als er zuriechen begann, und brauchten - es war bei einem Frühstück - an dem Tag denersten Gin schon morgens, obwohl im Grunde so eine letzte Regel galt: Wein ab16 Uhr, Gin ab 10 Uhr und Tequila erst nach zehn. Was soll's. lange her.
"Warum kommst du nicht über Weihnachten zu mir nachLugano?", fragte Franz.
"Warum sollte ich", sagte ich und freute michirrsinnig, aber ich ließ meine Stimme ganz unten. "Kannst du ohne mich aufeinmal nicht mehr leben?"
"Ich kann wunderbar leben ohne dich", sagte Franz,"und was glaubst du, wie ich das genießen werde, wenn du nach Neujahrwieder abfährst."
Ich war noch nie in Lugano gewesen. "Wie istLugano", fragte ich, "grässlich?"
"Grauenhaft", sagte Franz. "Alte Häuser mitPalmen davor und mit Glyzinien bewachsen, die so ekelhaft lila blühen, überallOleander mit diesem scheußlichen Duft und ein grässlicher See inmittenscheußlicher Berge. Und sie trinken hier diesen widerwärtigen Fendant, bei demman schon nach vier Flaschen betrunken ist. Überleg's dir." -"Versprichst du mir, dass wir uns die ganze Zeit streiten?", fragteich, und Franz sagte: "Ehrenwort."
"Fabelhaft", sagte ich, "aber du vergisst,dass ich schon tot bin. Ich glaube nicht, dass ich es noch bis nach Luganoschaffe, ich schaff's ja nicht mal mehr bis in die Küche, Franz."
"Du fliegst", sagte Franz, "bis Mailand, unddann fährst du eine Stunde mit dem Zug nach Lugano, und ich hole dich ab."
"Hol mich nicht ab", sagte ich, "vielleichthab ich ja Glück und das Flugzeug fällt runter, und dann wartest duumsonst."
"Gute Idee", sagte Franz, "ich könnte auchbei Chiasso einen Baumstamm quer über die Schienen legen, dann würde dein Zugentgleisen, was hältst du davon?"
"Großartig", sagte ich und fing plötzlich an zuweinen und dachte an unsere Katze, die eines Tages vom Dach gefallen war,einfach so, und wir hatten gedacht, das würde nie passieren. Sie war gewöhntdaran, über die Dächer zu gehen, und von unserm kleinen Balkon aus sah ich sieoft in der Sonne sitzen und sich putzen, hoch neben dem Schornstein, vor derFernsehantenne, auf der die dicken Tauben gurrten. Eines Tages war siegerutscht, ins Strudeln gekommen, hatte sich vor Verwirrung nicht mehr haltenkönnen und an allen Vorsprüngen und Balkons vorbei einen geraden Sturz in dieTiefe gemacht, fünf Stockwerke, und ich sah sie bewegungslos unten liegen undwar unfähig, ihr nachzulaufen.
Schließlich war Franz die Treppen runtergerannt und langenicht wiedergekommen. Wir haben nie mehr über die Katze gesprochen, und in demJahr lebten wir uns auseinander, wie man wohl so sagt. Wir konnten einfach übernichts mehr ernsthaft reden, wir waren zynisch und ironisch und unehrlichmiteinander, und wir litten beide darunter, aber ändern ließ es sich auch nichtmehr.
"Du wirst mich gar nicht mehr erkennen, wenn ichkomme", sagte ich. "Ich bin ganz alt geworden und schlohweiß undpotthässlich." Ich zog die Nase tüchtig hoch, stand auf und warf mich ineinen Sessel, um Haltung anzunehmen. "Du warst immer schon potthässlich",antwortete Franz, "ich wollte es dir nur nie sagen. Ich bin übrigensstrahlend schön wie immer."
"Gut", sagte ich, "das sehe ich mir an, ichkomm Heiligabend, falls da was fliegt." Ich hatte das Gefühl, er freutesich wirklich und ich wäre irgendwie gerettet.
Ich schloss die Augen und blieb vielleicht noch eine halbeoder eine volle Stunde im Sessel liegen. Ich hörte die Geräusche im Haus,zuklappende Türen, eine Männerstimme, schnelle Schritte, und von der Straßeklang Berlins böses Brummen hoch, ein brodelnder Dauerton wie kurz vor derExplosion eines Kessels, und ich stellte mir Lugano vor wie eine kleine Oasemit roten Dächern in einer Schneekugel.
Am 24. warf ich am frühen Morgen ein paar Pullover undJeans, meine Brille, meinen Muff, ein bisschen Wäsche, Waschzeug, meine Ballerinas,ein paar feste Schuhe, das alte schwarze Seidenkleid mit dem verblasstenRosenmuster, ein paar Bücher und meinen Reisewecker in eine Tasche und gingnoch mal kurz ins KaDeWe, um elsässischen Senf für Franz zu kaufen. Es gibtdort eine Abteilung mit achtzig oder hundert verschiedenen Sorten Senf, inGläsern und Tuben und Tontöpfen, scharf und süß und süßsauer, cremig undkörnig, hellgelb bis dunkelbraun, und die ganze Perversität des Westens, dieganze unerträgliche Angeberei dieser aufgeblähten, maroden, verlogenen StadtBerlin fließt für mich zusammen in der Unglaublichkeit dieser Senfabteilung -die Welt steht in Flammen, es ist Krieg, Menschen verhungern und schlachtensich ab, Millionen sind auf der Flucht und haben kein Zuhause, Kinder sterbenauf den Straßen, und Berlin wählt unter hundert Sorten Senf, denn nichts istschlimmer als der falsche Senf auf dem gepflegten Abendbrottisch. Aber ichhätte auch das noch geschafft, ich wäre mit dem Fahrstuhl hochgefahren undhätte für Franz, den Zyniker, Franz, den trostlosen Intellektuellen, Franz, denSpötter mit den tiefen Falten rechts und links der Nase, ich hätte für Franz,mit dem ich so verzweifelte Nächte und so verlogene Tage verbracht habe, dengrobkörnigen, dunkelgelben, süßscharfen elsässischen Senf im Tontopf mitKorkverschluss gekauft, wenn ich nicht im Parterre das Schwein gesehen hätte.Erika.
Es sah aus wie ein Mensch, und ich weiß nicht, wieso ich auf"Erika" kam, aber es war wirklich mein erster Gedanke. Das Schweinsah aus wie eine Person, die Erika hieß und aussah wie ein Schwein. Erika warfast lebensgroß, fast so groß wie ein ausgewachsenes Schwein. Sie war aushellrosa Plüschfell, hatte vier stramme dunkelrosa Beine, einen dicken Kopf mitleicht geöffneter Schweineschnauze, weichen Ohren und etwa markstückgroßenhimmelblauen Glasaugen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck - vertrauensvoll,gutmütig, neugierig und mit einer Art gelassener Pfiffigkeit, die zu sagenschien: Was soll all die Aufregung, nimm es, wie es kommt, sieh mich an, ichbin nur ein rosa Plüschschwein mitten im KaDeWe, aber ich bin ganz sicher, dassdas Leben einen wenn auch verborgenen Sinn hat.
© by Rowohlt Verlag
Ob Bilderbücher, Alltagsgeschichten,Kolumnen oder Erzählungen: Elke Heidenreich ist eine vielseitige Schreiberin - ihreHörbücher spricht sie selbstverständlich selbst. Für die Hörbuchedition "StarkeStimmen" der "Brigitte", hat sie die "New Yorker Geschichten" von DorothyParker gelesen. Darüber sprachen wir mit ihr im Interview.
Interview mit Elke Heidenreich
Wie kam es zu der Idee für die"Brigitte"-Hörbuchedition? Und wer ist für die Auswahl sounterschiedlicher Autorinnen wie Elizabeth George und Christa Wolfverantwortlich?
Das müssen Sie die "Brigitte" fragen. Ich binnur eine der Sprecherinnen und an der Auswahl nicht beteiligt.
Ihre Lesung der Geschichten vonDorothy Parker ist nicht nur eine symbolische Rückkehr zur"Brigitte", für die Sie lange Zeit Kolumnen schrieben. Auch dieAutorin scheint Ihnen besonders am Herzen zu liegen. Können Sie uns kurzerzählen, wer diese Frau war und was den Reiz Ihrer Geschichten ausmacht?
Sie wareine New Yorker Kritikerin und Autorin, für ihren Sarkasmus und Spottgefürchtet, aber auch geliebt wegen ihres Engagements für Schwache und Arme.Ich mag ihre kurzen, pointierten Geschichten sehr, habe 2003 ein Vorwort zurNeuausgabe ihrer Erzählungen bei "Kein&Aber" geschrieben. Da lag es nahe,dass ich diese Geschichten, die mir im Ton sehr liegen, auch spreche. Und die"Brigitte" hat das nun in die Reihe mit aufgenommen.
Die, die indieser verlogenen und bigotten Welt aufrecht und ehrlich sind, sterben ofteinsam. Wer sich nicht anpasst, wird bestraft. Ich würde auch immer dieEinsamkeit der Unterordnung vorziehen. Wer darüber hämisch lästern will, solldas tun.
Die Buchbranche ist uneins über Sinnund Unsinn von Editionen der "Süddeutschen Zeitung" oder der"Bild", die hochklassige oder populäre Bücher in relativ hochwertigerAusstattung zu einem vergleichsweise niedrigen Preis liefern. Nun hat die"Brigitte" mit der Hörbuch-Edition nachgezogen. Welche Meinung habensie grundsätzlich zu dieser Entwicklung?
Ich findenicht, dass man die sorgfältige Hörbuch-Edition, auf zwölf Frauenstimmenreduziert, mit den Billigbuchreihen vergleichen kann.
Können Sie uns noch einen Ausblickauf Ihre nächsten Pläne - neben der Sendung "Lesen!", für die Siemehr Sendeplatz gefordert haben - geben? Sind neue (Hör-)Bücher in Arbeit?
Ja, ich habegerade die Gedichte der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko aufgenommen und meineeigene Geschichte von "Nurejews Hund" erweitert, verlängert und mit Musikangereichert.
Die Fragen stellte Mathias Voigt,Literaturtest.
- Autoren: Elke Heidenreich , Michael Sowa
- 2016, 24. Aufl., 64 Seiten, 10 farbige Abbildungen, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499235137
- ISBN-13: 9783499235139
- Erscheinungsdatum: 21.09.2004
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