Familienbande
Roman
Ein Leben im Schatten des Zauberers - Michael Degens opulenter Roman über Michael Mann, den jüngsten Sohn der Familie Mann.
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Produktinformationen zu „Familienbande “
Ein Leben im Schatten des Zauberers - Michael Degens opulenter Roman über Michael Mann, den jüngsten Sohn der Familie Mann.
Klappentext zu „Familienbande “
Er wütete und tobte, trank und frönte dem Exzess - doch vom übermächtigen Vater vermochte sich Michael Mann, genannt Bibi, sein Leben lang nicht zu befreien. Meisterhaft erzählt Michael Degen das Leben des ebenso exzentrischen wie hochbegabten jüngsten Sohnes von Thomas Mann: seine Kindheit im lieblosen Elternhaus, im kalten Zauber des Großschriftstellers, die Jugendjahre im Schweizer Exil, wo er seiner zukünftigen Frau Gret Moser begegnet, seine internationale Karriere als Bratschist. Dann ein plötzlicher Bruch - Michael Mann wird Professor für Germanistik in Berkeley und widmet sich bald dem Werk seines Vaters, um dessen Zuneigung er stets vergeblich gebuhlt hatte. Mit nur siebenundfünfzig Jahren stirbt er an einer fatalen Mischung von Alkohol und Schlafmitteln. Als die greise Mutter Katia von seinem mutmaßlichen Freitod erfährt, meint sie nur: "Er hat ja eigentlich nicht alt werden wollen." Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Michael Mann konnte nie aus dem Schatten seines Vaters treten. "Familienbande" erzählt sein Leben als Geschichte eines stillen Machtkampfes, eines Daseins, das im Bann allzu großer Talente und Einflüsse zerstört wird. Ein starker, opulenter und anrührender Roman über die Familie Mann - von Bestsellerautor Michael Degen.
Er wütete und tobte, trank und frönte dem Exzess - doch vom übermächtigen Vater vermochte sich Michael Mann, genannt Bibi, sein Leben lang nicht zu befreien. Meisterhaft erzählt Michael Degen das Leben des ebenso exzentrischen wie hochbegabten jüngsten Sohnes von Thomas Mann: seine Kindheit im lieblosen Elternhaus, im kalten Zauber des Großschriftstellers, seine internationale Karriere als Bratschist. Dann der plötzliche Bruch - Michael Mann wird Professor für Germanistik in Berkeley und widmet sich bald dem Werk seines Vaters, um dessen Zuneigung er stets vergeblich gebuhlt hatte. Mit nur achtundfünfzig Jahren stirbt er an einer fatalen Mischung von Alkohol und Schlafmitteln. Als die greise Mutter Katia von seinem mutmaßlichen Freitod erfährt, meint sie nur: "Er hat ja eigentlich nicht alt werden wollen." Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Michael Mann konnte nie aus dem Schatten seines Vaters treten. "Familienbande" erzählt Bibis Leben als Geschichte eines stillen Machtkampfes, eines Daseins, das im Bann allzu großer Talente und Einfl üsse zerstört wird. Ein starker, opulenter und anrührender Roman über die Familie Mann - von Bestsellerautor Michael Degen.
Lese-Probe zu „Familienbande “
Familienbande von Michael DegenDer Kruzifixus
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Er war von Beginn an nicht sehr erbaut darüber, dass man ihn in diese Welt geworfen hatte. Unter Beihilfe eines Vaters, damals schon fast weltberühmt, und einer Mutter, deren ausschließlicher Lebensinhalt ebendieser Vater war.
Misstrauisch beäugte er seine Eltern und verbrüllte fast sein ganzes Babydasein. Dieser wütende Protest mochte vielleicht auch daher kommen, dass er sich mit der Lieblosigkeit seiner Umgebung nicht abfinden wollte. Sobald das unbewegte, kühläugige Gesicht seines Erzeugers über ihm auftauchte, schrie er vor Schreck auf. Diese ausdruckslose Miene versetzte ihn in Wut und Angst. Schon bald versuchte er, mit seinen strampelnden Beinchen das Gesicht über sich zu erreichen. Vergebens. Dafür schrie er. Und wie! Der Vater äußerte einmal, dass der Junge ihn ebenso wenig leiden könne wie er ihn. Am liebsten hätte er sich wohl zum Söhnchen ins Bett gelegt und auf ähnliche Weise gestrampelt. Aber das mochte er überhaupt nicht aussprechen. Schon gar nicht der Mutter gegenüber.
Das widerliche Geschöpf brüllte mit Lust und Energie über Zeiträume hinweg, die erstaunlich waren. Mutter Mielein tastete ihr Kind von oben bis unten ab, betrachtete immer wieder sein ausgeprägtes Geschlecht und betonte wiederholt, dass Buben, im Gegensatz zu kleinen Mädchen, eigentlich viel stiller und gelassener wären. Langsam kam ihr der Gedanke, dass er bei der Geburt innere Verletzungen davongetragen haben könnte. Hatte der Bub sie doch nach dem Platzen der Fruchtblase und den einsetzenden Eröffnungswehen beinahe zerrissen, sodass er mit der Zange herausgezogen werden musste. Doktor Amman, den sie umgehend konsultierte, und auch die Köckenberg, eine sehr brauchbare Amme, konnten sie nur mit Mühe beruhigen. Es sei alles im Lot, versicherte man ihr nach eingehender Untersuchung. Der Junge sei nun einmal mit einem enormen Temperament gesegnet. Das werde sich später noch sehr positiv niederschlagen. «Oder auch nicht», sagte Vater Pielein, dem die geradezu groteske Hässlichkeit des Sohnes sehr zu schaffen machte.
Einige Tage später fand er ihn schon ein wenig anziehender, denn die rechteckig in die Länge gezogene Kopfform hatte sich etwas normalisiert. Doch die Augen - nun ja. Die Augen hatten zwar die bläuliche Färbung seiner um ein Jahr älteren Schwester, verwässerten aber bald zu einem langweiligen Grau und konnten nie das einmalige schwesterliche Strahlen erreichen. Pielein hatte zeitweilig den Eindruck, als wäre ihnen, Mielein und Pielein, nicht mehr als ein billiger Abklatsch der kleinen Lisa, ihrem «Medi», gelungen.
Bald verlangte der Junge äußerst geschickt nach der Brust Mieleins. Dem Vater war es ein Gräuel, Derartiges mit ansehen zu müssen. Er floh vor dem unerklärlichen Ekel, den ihm das männliche Gebaren des Säuglings einflößte. Man fing an, sich aus ordinärer Watte birnenförmige Ohrstöpsel zu drehen, doch das reichte nicht hin. Dann ging man dazu über, die damals gerade aufkommenden Damenbinden zu zerfleddern, deren Material der ältesten Schwester, Eri, undurchlässiger zu sein schien und die sie mit großer Sorgfalt zu winzigen Kügelchen verarbeitete. Es war alles umsonst. Babys Stimme wurde von Nacht zu Nacht kräftiger und ließ besonders Pielein, den kreativen Großverdiener der Familie, leiden. Wenn dieser die Beherrschung zu verlieren drohte und Anstalten machte, in Babys Zimmer zu stürzen, um es zur Ordnung zu rufen, stand immer schon Mielein mit besorgtem Blick in der Tür und bat stumm um Nachsicht. Hilflos kehrte Pielein dann in sein Zimmer zurück, während Mielein den Jungen zu sich ins Bett hinüberrettete. Das hatte stets Erfolg.
Doch die ungewohnte Stille machte es nicht einfacher. Die großen Geschwister, Klaus und Erika, waren hellwach, saßen im Flur vor ihren Zimmern auf dem Boden und warteten kichernd auf den nächsten Anfall ihres kleinen Bruders. Der kam prompt, sobald Mielein den Schlafenden in sein Bett zurückzutragen versuchte. Dann vergrub Aissi, wie man den ältesten Sohn nannte, seinen spitz zulaufenden Nasenerker im Schoß seiner Schwester, um sein hemmungsloses Gelächter zu ersticken. Er wusste, dass Eri sich besser in der Gewalt hatte als er sich. War sie doch weit eher nach Mielein geraten. Zwar sah man auch ihrer Nase die Lübecker Herkunft an, auch übte sie sich schon früh in der undurchsichtigen Mimik väterlicher Tradition, aber die dunklen Augen der Mutter machten ihr Gesicht weicher, morgenländischer. Hier kam die mütterliche Herkunft ans Licht, veredelt durch eine alttestamentarische Melancholie, die sich im Gesicht des jungen Mädchens widerspiegelte.
Wie auch immer. Während sie ihren Jüngsten erneut zu beruhigen suchte, dachte Mielein darüber nach, was es wohl war, das ihn so permanent aus der Fassung brachte. Sie sah sich im Kinderzimmer um und schob das Bettchen mitsamt dem kleinen Michael an die Längswand des Raumes, denn sie hatte irgendwann einmal gehört, dass Schlafstätten häufig ungünstig zu unterirdischen Quellen oder Flussläufen standen, die es allerorten geben sollte. Pielein hielt das zwar für abergläubischen Blödsinn, konnte sie aber nicht davon abbringen und ließ sie ihr Geschiebe fortsetzen, an dem der Kleine offensichtlich Spaß hatte - und obendrein noch zusätzlichen Grund zum Protest, wenn die Bettfahrten aufhörten. Mielein wusste am Ende gar nicht mehr, wogegen er eigentlich anbrüllte. Pielein setzte sich wochenlang zu Freund Richter nach Feldafing ab, um wieder seine streng eingeteilten Tagesabläufe - Kreationsschübe, Spaziergänge, Musikanimationen, Lesestunden und Nachmittagsruhe - aufnehmen zu können, während die Kinder, vor allem die beiden ältesten, sich bemühten, ihrer Mutter unter die Arme zu greifen und den kleinen Brüller zu beschäftigen. Sie beobachteten ihn, lasen in seinem Mienenspiel, wann er wieder in die Windeln machte, und schlossen Wetten darüber ab, ob es Pipi oder A-A wäre, bei dem er sich gerade abmühte. Das darauffolgende «Pipi»- und «A-A»-Geschrei der beiden machte Eindruck auf den Kleinen. Weiß der Himmel, warum er sich eines Tages ausgerechnet «Pipi» zum Einstieg in die sprachliche Verständigung wählte. Das explosive «P» schien ihm allerdings einige Schwierigkeiten zu bereiten, denn er ersetzte es durch ein weiches «B» und schrie sein triumphierendes «Bibi» heraus, um wenig später in höllisches Greinen auszubrechen, weil ihn die kalt werdende Nässe zu quälen begann. Dabei hatte seine Schwester Medi doch gerade jubelnd die Arme hochgeworfen.
Bibi, so wurde er fortan von allen fünf Geschwistern genannt, und allmählich übernahmen das auch die Eltern, schrie - trotz ständig wechselnder Bettstellungen - weiterhin die Nächte durch, wenn Mielein ihn nicht zu sich ins Bett nahm, was ihren eigenen Schlaf erheblich störte. In heller Verzweiflung schob sie schließlich das Gitterbettchen Bibis in ihr Zimmer, und siehe da, er schlief gleich darauf friedlich ein. In seinem Bett, gegen das er doch eben noch so wütend mit den Beinchen angestrampelt hatte. «Es muss sich demnach etwas in seinem Zimmer befinden, das ihn so sehr irritiert», sagte sich Mielein, verließ ihr Schlafzimmer mit dem schlummernden Bibi darin und betrat das seine. Immer horchend, ob der Jüngste drüben nicht aufwachte und sein Brüllen wieder aufnähme, schaute sie sich um. Fest entschlossen, jeden Gegenstand im Raum einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, stellte sie den Stuhl, den Pielein irgendwann einmal hereingebracht hatte, um den Jungen in der Nacht zu beobachten, mitten ins Zimmer und setzte sich darauf.
Ohne das Bett wirkte das Zimmer größer, übersichtlicher. Wickelkommode, Cremedosen, die kleine emaillierte Badewanne - nichts schien ihr, auch aus dem Blickwinkel des Kleinen, anstößig oder gar angsteinflößend zu sein. Die Kronleuchterimitation an der hohen, mit Stuck verzierten Zimmerdecke glitzerte hell und freundlich. Sicher eher ein anziehender Anblick für Kinderaugen. Konnte der Stuhl, auf dem sie saß, ihn beunruhigen? Identifizierte er ihn mit dem unduldsamen und gestrengen Vater? Aber nein, der Stuhl war ja überhaupt erst auf Grund des lautstarken Babyprotests hineingestellt worden. Schließlich blieb ihr Blick an dem bemalten Kruzifix hängen, das an der Wand, an der sein Bettchen gestanden hatte, angebracht worden war. Ein Teil der Einrichtung, den sie bislang nie bewusst wahrgenommen hatte und der wohl weniger als religiöses Mahnmal denn als allzu realistisch bemalter Kunstgegenstand gedacht war. Das schmerzverzerrte Gesicht des «Marterl», die Blutstropfen, die ihm über Wangen und Kinn liefen, mochten für das sensible Kinderauge schon eine Zumutung sein. Denn dieser mosaisch geprägte, quälend ausdrucksvolle Männerkopf jagte auch ihr einen Schrecken ein, jetzt, da sie ihn so bewusst betrachtete. Sie stand auf, war gezwungen, den Stuhl unter das Kruzifix zu stellen, um es auf Augenhöhe ansehen zu können, und nahm es kurz entschlossen herunter. «Ein Kunstgegenstand, nichts als ein Kunstgegenstand», sagte sie sich, während sie es auf dem Boden ihres Kleiderschranks verstaute. Und auch das scharrende Geräusch, das sie dabei verursachte, weckte den Kleinen nicht auf.
Am nächsten Tag schob sie das Bett des Kleinen wieder an seinen Platz im Kinderzimmer, und nicht einmal Böllerschüsse hätten Bibi in der folgenden Nacht wecken können.
Als Pielein sich nach seiner vierzehntägigen Abwesenheit wieder zu Hause sehen ließ - Mielein hatte ihm brieflich die Beruhigung Bibis mitgeteilt -, betrat er das Zimmer seines Jüngsten, um sich von dessen Tiefschlaf zu überzeugen. Doch sogleich zeigte er sich irritiert: «Irgendetwas ist hier verändert», murmelte er leise, während er sich umschaute.
«Der Stuhl», fiel Mielein ihm flüsternd ins Wort, «der Stuhl, den du hereingebracht hast. Ich habe ihn wieder an seinen Platz ins Arbeitszimmer gestellt.»
«Nein, nein», er schüttelte den Kopf, und sein Blick blieb an der leeren Wand über dem Bettchen haften. Er drehte sich zu Mielein um und sah ihr in die Augen. «Du verzeihst, aber ich vermisse eine sehr kostbare Schnitzerei, die ich auf meiner ersten Italienreise erstanden habe. Ein Kruzifix von seltsam intensivem Ausdruck und äußerst ungewöhnlicher Ausführung. Ähnlich der Arbeitsweise unseres deutschen Herrgottschnitzers, des Tilman Riemenschneider. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, doch eine Spur zu italienisch, zu leichtfertig in der Farbgebung. Wie gesagt, ich vermisse es. Es war gewissermaßen als Gabe für den Neugeborenen gedacht, zum Eintritt ins Leben und in einen bestimmten Kulturkreis, meine Liebe.» Er ließ den Blick nicht von ihr.
Sie eröffnete ihm daraufhin, dass sie es herabgenommen habe, weil es als eindeutig erwiesen gelte, dass dieses bluttriefende Männlein am Kreuz die Ursache für die schlimmen Irritationen Bibis gewesen sei. «Du siehst ja», sie deutete mit der Hand auf den schlafenden Knaben, «wie friedlich er ist.»
Pielein ließ sich auf dem Stuhl nieder und betrachtete seinen Jüngsten ohne Sympathie. Seine sonst so kühlen grauen Augen hatten eine dunkle Färbung angenommen, und seine Finger zupften an seinem makellos gepflegten Schnurrbart. Mielein stand schweigend hinter ihm und blickte über seine Schulter hinweg in den Raum. Merkte er denn gar nicht, wie müde sie war? Wie sehr ihr schon wieder die geschwollenen Beine zu schaffen machten? Nachdenklich ergriff er ihre Hand, mit der sie sich vorsichtig auf die Stuhllehne stützte. «Das halte ich doch für sehr unüberlegt, meine Liebe», begann er flüsternd, ohne sich ihr zuzuwenden. «Du solltest bedenken, dass der Junge in unseren abendländischen Kulturkreis hineingeboren und unter Berücksichtigung dieser Tatsache erzogen werden sollte. Nachsicht gegenüber kindlichen, um nicht zu sagen, kindischen Aversionen wäre völlig unangebracht. Auf die Dauer würde er nur Schaden daran nehmen.»
«Auf welche Weise würde er denn Schaden nehmen?», fragte Mielein mit zusammengebissenen Zähnen, während sie das schmerzende Standbein wechselte.
«Durch schlampigen Umgang mit den religiösen, politischen oder kulturellen Werten, die sich nun einmal in diesem Umfeld hier entwickelt haben», erwiderte er. «Wir sollten gerade bei den Knaben auf konsequente Erziehung achten. Derart vernachlässigte Kinder können für Denkanstöße von falscher Seite sehr empfänglich sein. Er wird es uns später einmal danken, dass wir ihn zu einem vernünftigen Mitglied unserer europäisch-christlichen Kultur erzogen haben.»
«Du wirst mir aber doch wohl zugeben, dass die abendländische Kultur nicht nur auf der christlichen basiert», widersprach Mielein. Ihr Flüsterton hatte sich zu einem aggressiven Zischen gesteigert.
Auch Pielein wurde zusehends nervöser. Und lauter. «Ich habe nicht die Absicht ...»
Mielein hielt - «Pssst!» - flüsternd den Zeigefinger vor die Lippen.
«Ich habe nicht die Absicht», wiederholte er leiser, «eine prozentuale Aufrechnung in Bezug auf Einfluss oder Prägung religiöser und anderer Weltanschauungen zu diskutieren. Das scheint mir überdies auch nicht der passende Ort dafür zu sein. Mir geht es einzig und allein darum, was hier und jetzt in unserer Zeit den Ton angibt. Du brauchst nur am Morgen einmal den Kopf aus dem Fenster zu halten, um zu erkennen, wer das Sagen hat. Bei uns in Bayern hörst du sie sogar durch die geschlossenen Scheiben. Wer käme gegen diese Glocken an? Etwa das Geschrei der Muezzins oder der weinerliche Singsang aus einer Synagoge?»
«Mir geht es nicht um die dominante Stellung der Kirche in unserem Lande, sondern nur um den Schock, den dieses blutende, am Kreuz leidende Männlein im Kinde auslöst», widersprach sie. Unversehens nahm sie wieder einmal seinen gestelzten Sprachduktus an, dem sie sich, je länger ihre Auseinandersetzung dauerte, desto weniger entziehen konnte. «Und nebenbei bin ich erstaunt darüber, dass du ausgerechnet das christliche Element in der europäischen Kulturlandschaft so stark betonst, habe ich dich doch als kritischen Betrachter aller Religionen, ich möchte sogar meinen, als zutiefst ungläubigen Thomas kennengelernt.»
«Das tut nichts zur Sache. Ich werde mich weder heute noch morgen zu irgendeinem Glaubensbekenntnis verführen lassen. Aber wir leben nun einmal in diesem Teil der Welt, und dem haben wir Rechnung zu tragen. Ich möchte dem Jungen nur eine solide Basis für sein Leben schaffen», flüsterte Pielein versöhnlicher. Er stand auf. «Du kannst dich im Übrigen damit trösten», setzte er mit einem leicht maliziösen Lächeln hinzu, «dass der Gründer und Prophet dieser nicht nur in unserem beschaulichen Bayern verbreiteten Bewegung ein Kind deines Stammes gewesen ist. Der italienische Schnitzer hat ihm stark semitische Züge gegeben, wie ich meine. Ich bitte dich also inständig, dieses außergewöhnliche Kunstwerk wieder an seinen Platz zu hängen. Der Kleine wird und muss seiner Herkunft den nötigen Respekt zollen.» Damit schloss er leise hinter sich die Tür.
Diese mit außerordentlicher Intensität geführte Auseinandersetzung hing Mielein noch lange nach, verstörte und beschämte sie stets von neuem. Hatten sie sie doch in Gegenwart des schlafenden Bibi geführt, bei dem sie noch nach Jahren das Gefühl nicht loswurde, er habe trotz seiner geschlossenen Augen alles mit angehört und gar verstanden. «Unsinn, Unsinn», sagte sie sich dann immer wieder. Das Männlein jedenfalls hing in der nächsten Nacht wieder an seinem alten Platz, und der verzweifelte Gesang des kleinen Bibi erfüllte abermals das Haus.
Eines Tages - Klein-Bibis Stimme wurde immer schwächer und seine Augenringe immer tiefer - schlich Mielein, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Pielein gerade seinen ersten Tiefschlaf absolvierte, ins Zimmer des Jungen, kletterte auf den Stuhl, nahm das italienische Meisterwerk von der Wand und schob es unter das Kinderbett. Allerdings achtete sie sorgsam darauf, vor Pielein und den übrigen Kindern aus den Federn zu kommen, um das Männlein wieder an seinen Platz zu hängen. Erstaunt darüber, dass Bibi ruhig und ungestört weiterschlief, fing sie an, in sich hineinzukichern, und beschloss, auch in den folgenden Nächten den Tiefschlaf Pieleins abzuwarten, wobei sie sich erst mit einem Blick durch den Türspalt überzeugte, ob er auch wirklich seine Nachtlektüre aus der Hand gelegt hatte, um den kleinen, blutbeschmierten Juden wieder unter dem Kinderbett zu verstauen. Das brachte ihr mit der Zeit auch die Augenringe ein, die bei dem Kleinen gar nicht mehr verschwinden wollten. Ein paar Stunden Schlaf fand sie aber dennoch, und Bibi nahm keine Notiz von seinem Gast unterm Bett. Im Gegenteil. Er schien ihn sogar zu beruhigen. Bibi, der bisher selbst im Schlaf seine Bewegungsabläufe brauchte, die sich bis zu konvulsivischen Zuckungen steigern konnten, lag entspannt da und prustete friedlich vor sich hin.
Doch es ging nicht lange gut. Mielein hatte nicht mit den periodisch auftretenden Schlafstörungen Pieleins gerechnet. Eines Nachts drang ein diskretes Klappern und ein Rücken von Gegenständen aus dem Kinderzimmer an ihr Ohr. Sie konnte sich jedoch nicht energisch genug von ihrer Schlafschwere befreien, und als sie am nächsten Morgen zu Bibi ins Zimmer trat, hing das Männlein am gewohnten Ort. Bibi lag friedvoll im Bettchen, spielte mit seiner Rasselkette, die sich um den Bettpfosten geschlungen hatte, und machte einen sehr beschäftigten Eindruck. Hatte Pielein ihn an die Anwesenheit des «Marterl» endlich gewöhnen können? Jedenfalls blieb es nun an der Wand über ihm hängen, ohne dass er dagegen protestierte oder gar seine Kreisch- und Strampelanfälle bekam.
Ob er es von nun an akzeptierte oder einfach ignorierte, wer konnte das wissen? Mielein hatte es selbst nie herausgefunden.
Als sie Bibi viel später einmal danach fragte, starrte er sie nur verständnislos an. Konnte sich nicht mal an das Kunstwerk über seinem Bett erinnern, zumal das Männlein schon bald darauf ins Schlafzimmer Pieleins hinübergewandert war und dort eine Zeit lang an bevorzugter Stelle hing, sodass man es stets vom Bett aus betrachten konnte. Später verschwand es auf unerklärliche Weise aus dem Haus in der Poschinger Straße.
Copyright © 2011 by Rowohlt • Berlin Verlag GmbH, Berlin
Er war von Beginn an nicht sehr erbaut darüber, dass man ihn in diese Welt geworfen hatte. Unter Beihilfe eines Vaters, damals schon fast weltberühmt, und einer Mutter, deren ausschließlicher Lebensinhalt ebendieser Vater war.
Misstrauisch beäugte er seine Eltern und verbrüllte fast sein ganzes Babydasein. Dieser wütende Protest mochte vielleicht auch daher kommen, dass er sich mit der Lieblosigkeit seiner Umgebung nicht abfinden wollte. Sobald das unbewegte, kühläugige Gesicht seines Erzeugers über ihm auftauchte, schrie er vor Schreck auf. Diese ausdruckslose Miene versetzte ihn in Wut und Angst. Schon bald versuchte er, mit seinen strampelnden Beinchen das Gesicht über sich zu erreichen. Vergebens. Dafür schrie er. Und wie! Der Vater äußerte einmal, dass der Junge ihn ebenso wenig leiden könne wie er ihn. Am liebsten hätte er sich wohl zum Söhnchen ins Bett gelegt und auf ähnliche Weise gestrampelt. Aber das mochte er überhaupt nicht aussprechen. Schon gar nicht der Mutter gegenüber.
Das widerliche Geschöpf brüllte mit Lust und Energie über Zeiträume hinweg, die erstaunlich waren. Mutter Mielein tastete ihr Kind von oben bis unten ab, betrachtete immer wieder sein ausgeprägtes Geschlecht und betonte wiederholt, dass Buben, im Gegensatz zu kleinen Mädchen, eigentlich viel stiller und gelassener wären. Langsam kam ihr der Gedanke, dass er bei der Geburt innere Verletzungen davongetragen haben könnte. Hatte der Bub sie doch nach dem Platzen der Fruchtblase und den einsetzenden Eröffnungswehen beinahe zerrissen, sodass er mit der Zange herausgezogen werden musste. Doktor Amman, den sie umgehend konsultierte, und auch die Köckenberg, eine sehr brauchbare Amme, konnten sie nur mit Mühe beruhigen. Es sei alles im Lot, versicherte man ihr nach eingehender Untersuchung. Der Junge sei nun einmal mit einem enormen Temperament gesegnet. Das werde sich später noch sehr positiv niederschlagen. «Oder auch nicht», sagte Vater Pielein, dem die geradezu groteske Hässlichkeit des Sohnes sehr zu schaffen machte.
Einige Tage später fand er ihn schon ein wenig anziehender, denn die rechteckig in die Länge gezogene Kopfform hatte sich etwas normalisiert. Doch die Augen - nun ja. Die Augen hatten zwar die bläuliche Färbung seiner um ein Jahr älteren Schwester, verwässerten aber bald zu einem langweiligen Grau und konnten nie das einmalige schwesterliche Strahlen erreichen. Pielein hatte zeitweilig den Eindruck, als wäre ihnen, Mielein und Pielein, nicht mehr als ein billiger Abklatsch der kleinen Lisa, ihrem «Medi», gelungen.
Bald verlangte der Junge äußerst geschickt nach der Brust Mieleins. Dem Vater war es ein Gräuel, Derartiges mit ansehen zu müssen. Er floh vor dem unerklärlichen Ekel, den ihm das männliche Gebaren des Säuglings einflößte. Man fing an, sich aus ordinärer Watte birnenförmige Ohrstöpsel zu drehen, doch das reichte nicht hin. Dann ging man dazu über, die damals gerade aufkommenden Damenbinden zu zerfleddern, deren Material der ältesten Schwester, Eri, undurchlässiger zu sein schien und die sie mit großer Sorgfalt zu winzigen Kügelchen verarbeitete. Es war alles umsonst. Babys Stimme wurde von Nacht zu Nacht kräftiger und ließ besonders Pielein, den kreativen Großverdiener der Familie, leiden. Wenn dieser die Beherrschung zu verlieren drohte und Anstalten machte, in Babys Zimmer zu stürzen, um es zur Ordnung zu rufen, stand immer schon Mielein mit besorgtem Blick in der Tür und bat stumm um Nachsicht. Hilflos kehrte Pielein dann in sein Zimmer zurück, während Mielein den Jungen zu sich ins Bett hinüberrettete. Das hatte stets Erfolg.
Doch die ungewohnte Stille machte es nicht einfacher. Die großen Geschwister, Klaus und Erika, waren hellwach, saßen im Flur vor ihren Zimmern auf dem Boden und warteten kichernd auf den nächsten Anfall ihres kleinen Bruders. Der kam prompt, sobald Mielein den Schlafenden in sein Bett zurückzutragen versuchte. Dann vergrub Aissi, wie man den ältesten Sohn nannte, seinen spitz zulaufenden Nasenerker im Schoß seiner Schwester, um sein hemmungsloses Gelächter zu ersticken. Er wusste, dass Eri sich besser in der Gewalt hatte als er sich. War sie doch weit eher nach Mielein geraten. Zwar sah man auch ihrer Nase die Lübecker Herkunft an, auch übte sie sich schon früh in der undurchsichtigen Mimik väterlicher Tradition, aber die dunklen Augen der Mutter machten ihr Gesicht weicher, morgenländischer. Hier kam die mütterliche Herkunft ans Licht, veredelt durch eine alttestamentarische Melancholie, die sich im Gesicht des jungen Mädchens widerspiegelte.
Wie auch immer. Während sie ihren Jüngsten erneut zu beruhigen suchte, dachte Mielein darüber nach, was es wohl war, das ihn so permanent aus der Fassung brachte. Sie sah sich im Kinderzimmer um und schob das Bettchen mitsamt dem kleinen Michael an die Längswand des Raumes, denn sie hatte irgendwann einmal gehört, dass Schlafstätten häufig ungünstig zu unterirdischen Quellen oder Flussläufen standen, die es allerorten geben sollte. Pielein hielt das zwar für abergläubischen Blödsinn, konnte sie aber nicht davon abbringen und ließ sie ihr Geschiebe fortsetzen, an dem der Kleine offensichtlich Spaß hatte - und obendrein noch zusätzlichen Grund zum Protest, wenn die Bettfahrten aufhörten. Mielein wusste am Ende gar nicht mehr, wogegen er eigentlich anbrüllte. Pielein setzte sich wochenlang zu Freund Richter nach Feldafing ab, um wieder seine streng eingeteilten Tagesabläufe - Kreationsschübe, Spaziergänge, Musikanimationen, Lesestunden und Nachmittagsruhe - aufnehmen zu können, während die Kinder, vor allem die beiden ältesten, sich bemühten, ihrer Mutter unter die Arme zu greifen und den kleinen Brüller zu beschäftigen. Sie beobachteten ihn, lasen in seinem Mienenspiel, wann er wieder in die Windeln machte, und schlossen Wetten darüber ab, ob es Pipi oder A-A wäre, bei dem er sich gerade abmühte. Das darauffolgende «Pipi»- und «A-A»-Geschrei der beiden machte Eindruck auf den Kleinen. Weiß der Himmel, warum er sich eines Tages ausgerechnet «Pipi» zum Einstieg in die sprachliche Verständigung wählte. Das explosive «P» schien ihm allerdings einige Schwierigkeiten zu bereiten, denn er ersetzte es durch ein weiches «B» und schrie sein triumphierendes «Bibi» heraus, um wenig später in höllisches Greinen auszubrechen, weil ihn die kalt werdende Nässe zu quälen begann. Dabei hatte seine Schwester Medi doch gerade jubelnd die Arme hochgeworfen.
Bibi, so wurde er fortan von allen fünf Geschwistern genannt, und allmählich übernahmen das auch die Eltern, schrie - trotz ständig wechselnder Bettstellungen - weiterhin die Nächte durch, wenn Mielein ihn nicht zu sich ins Bett nahm, was ihren eigenen Schlaf erheblich störte. In heller Verzweiflung schob sie schließlich das Gitterbettchen Bibis in ihr Zimmer, und siehe da, er schlief gleich darauf friedlich ein. In seinem Bett, gegen das er doch eben noch so wütend mit den Beinchen angestrampelt hatte. «Es muss sich demnach etwas in seinem Zimmer befinden, das ihn so sehr irritiert», sagte sich Mielein, verließ ihr Schlafzimmer mit dem schlummernden Bibi darin und betrat das seine. Immer horchend, ob der Jüngste drüben nicht aufwachte und sein Brüllen wieder aufnähme, schaute sie sich um. Fest entschlossen, jeden Gegenstand im Raum einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, stellte sie den Stuhl, den Pielein irgendwann einmal hereingebracht hatte, um den Jungen in der Nacht zu beobachten, mitten ins Zimmer und setzte sich darauf.
Ohne das Bett wirkte das Zimmer größer, übersichtlicher. Wickelkommode, Cremedosen, die kleine emaillierte Badewanne - nichts schien ihr, auch aus dem Blickwinkel des Kleinen, anstößig oder gar angsteinflößend zu sein. Die Kronleuchterimitation an der hohen, mit Stuck verzierten Zimmerdecke glitzerte hell und freundlich. Sicher eher ein anziehender Anblick für Kinderaugen. Konnte der Stuhl, auf dem sie saß, ihn beunruhigen? Identifizierte er ihn mit dem unduldsamen und gestrengen Vater? Aber nein, der Stuhl war ja überhaupt erst auf Grund des lautstarken Babyprotests hineingestellt worden. Schließlich blieb ihr Blick an dem bemalten Kruzifix hängen, das an der Wand, an der sein Bettchen gestanden hatte, angebracht worden war. Ein Teil der Einrichtung, den sie bislang nie bewusst wahrgenommen hatte und der wohl weniger als religiöses Mahnmal denn als allzu realistisch bemalter Kunstgegenstand gedacht war. Das schmerzverzerrte Gesicht des «Marterl», die Blutstropfen, die ihm über Wangen und Kinn liefen, mochten für das sensible Kinderauge schon eine Zumutung sein. Denn dieser mosaisch geprägte, quälend ausdrucksvolle Männerkopf jagte auch ihr einen Schrecken ein, jetzt, da sie ihn so bewusst betrachtete. Sie stand auf, war gezwungen, den Stuhl unter das Kruzifix zu stellen, um es auf Augenhöhe ansehen zu können, und nahm es kurz entschlossen herunter. «Ein Kunstgegenstand, nichts als ein Kunstgegenstand», sagte sie sich, während sie es auf dem Boden ihres Kleiderschranks verstaute. Und auch das scharrende Geräusch, das sie dabei verursachte, weckte den Kleinen nicht auf.
Am nächsten Tag schob sie das Bett des Kleinen wieder an seinen Platz im Kinderzimmer, und nicht einmal Böllerschüsse hätten Bibi in der folgenden Nacht wecken können.
Als Pielein sich nach seiner vierzehntägigen Abwesenheit wieder zu Hause sehen ließ - Mielein hatte ihm brieflich die Beruhigung Bibis mitgeteilt -, betrat er das Zimmer seines Jüngsten, um sich von dessen Tiefschlaf zu überzeugen. Doch sogleich zeigte er sich irritiert: «Irgendetwas ist hier verändert», murmelte er leise, während er sich umschaute.
«Der Stuhl», fiel Mielein ihm flüsternd ins Wort, «der Stuhl, den du hereingebracht hast. Ich habe ihn wieder an seinen Platz ins Arbeitszimmer gestellt.»
«Nein, nein», er schüttelte den Kopf, und sein Blick blieb an der leeren Wand über dem Bettchen haften. Er drehte sich zu Mielein um und sah ihr in die Augen. «Du verzeihst, aber ich vermisse eine sehr kostbare Schnitzerei, die ich auf meiner ersten Italienreise erstanden habe. Ein Kruzifix von seltsam intensivem Ausdruck und äußerst ungewöhnlicher Ausführung. Ähnlich der Arbeitsweise unseres deutschen Herrgottschnitzers, des Tilman Riemenschneider. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, doch eine Spur zu italienisch, zu leichtfertig in der Farbgebung. Wie gesagt, ich vermisse es. Es war gewissermaßen als Gabe für den Neugeborenen gedacht, zum Eintritt ins Leben und in einen bestimmten Kulturkreis, meine Liebe.» Er ließ den Blick nicht von ihr.
Sie eröffnete ihm daraufhin, dass sie es herabgenommen habe, weil es als eindeutig erwiesen gelte, dass dieses bluttriefende Männlein am Kreuz die Ursache für die schlimmen Irritationen Bibis gewesen sei. «Du siehst ja», sie deutete mit der Hand auf den schlafenden Knaben, «wie friedlich er ist.»
Pielein ließ sich auf dem Stuhl nieder und betrachtete seinen Jüngsten ohne Sympathie. Seine sonst so kühlen grauen Augen hatten eine dunkle Färbung angenommen, und seine Finger zupften an seinem makellos gepflegten Schnurrbart. Mielein stand schweigend hinter ihm und blickte über seine Schulter hinweg in den Raum. Merkte er denn gar nicht, wie müde sie war? Wie sehr ihr schon wieder die geschwollenen Beine zu schaffen machten? Nachdenklich ergriff er ihre Hand, mit der sie sich vorsichtig auf die Stuhllehne stützte. «Das halte ich doch für sehr unüberlegt, meine Liebe», begann er flüsternd, ohne sich ihr zuzuwenden. «Du solltest bedenken, dass der Junge in unseren abendländischen Kulturkreis hineingeboren und unter Berücksichtigung dieser Tatsache erzogen werden sollte. Nachsicht gegenüber kindlichen, um nicht zu sagen, kindischen Aversionen wäre völlig unangebracht. Auf die Dauer würde er nur Schaden daran nehmen.»
«Auf welche Weise würde er denn Schaden nehmen?», fragte Mielein mit zusammengebissenen Zähnen, während sie das schmerzende Standbein wechselte.
«Durch schlampigen Umgang mit den religiösen, politischen oder kulturellen Werten, die sich nun einmal in diesem Umfeld hier entwickelt haben», erwiderte er. «Wir sollten gerade bei den Knaben auf konsequente Erziehung achten. Derart vernachlässigte Kinder können für Denkanstöße von falscher Seite sehr empfänglich sein. Er wird es uns später einmal danken, dass wir ihn zu einem vernünftigen Mitglied unserer europäisch-christlichen Kultur erzogen haben.»
«Du wirst mir aber doch wohl zugeben, dass die abendländische Kultur nicht nur auf der christlichen basiert», widersprach Mielein. Ihr Flüsterton hatte sich zu einem aggressiven Zischen gesteigert.
Auch Pielein wurde zusehends nervöser. Und lauter. «Ich habe nicht die Absicht ...»
Mielein hielt - «Pssst!» - flüsternd den Zeigefinger vor die Lippen.
«Ich habe nicht die Absicht», wiederholte er leiser, «eine prozentuale Aufrechnung in Bezug auf Einfluss oder Prägung religiöser und anderer Weltanschauungen zu diskutieren. Das scheint mir überdies auch nicht der passende Ort dafür zu sein. Mir geht es einzig und allein darum, was hier und jetzt in unserer Zeit den Ton angibt. Du brauchst nur am Morgen einmal den Kopf aus dem Fenster zu halten, um zu erkennen, wer das Sagen hat. Bei uns in Bayern hörst du sie sogar durch die geschlossenen Scheiben. Wer käme gegen diese Glocken an? Etwa das Geschrei der Muezzins oder der weinerliche Singsang aus einer Synagoge?»
«Mir geht es nicht um die dominante Stellung der Kirche in unserem Lande, sondern nur um den Schock, den dieses blutende, am Kreuz leidende Männlein im Kinde auslöst», widersprach sie. Unversehens nahm sie wieder einmal seinen gestelzten Sprachduktus an, dem sie sich, je länger ihre Auseinandersetzung dauerte, desto weniger entziehen konnte. «Und nebenbei bin ich erstaunt darüber, dass du ausgerechnet das christliche Element in der europäischen Kulturlandschaft so stark betonst, habe ich dich doch als kritischen Betrachter aller Religionen, ich möchte sogar meinen, als zutiefst ungläubigen Thomas kennengelernt.»
«Das tut nichts zur Sache. Ich werde mich weder heute noch morgen zu irgendeinem Glaubensbekenntnis verführen lassen. Aber wir leben nun einmal in diesem Teil der Welt, und dem haben wir Rechnung zu tragen. Ich möchte dem Jungen nur eine solide Basis für sein Leben schaffen», flüsterte Pielein versöhnlicher. Er stand auf. «Du kannst dich im Übrigen damit trösten», setzte er mit einem leicht maliziösen Lächeln hinzu, «dass der Gründer und Prophet dieser nicht nur in unserem beschaulichen Bayern verbreiteten Bewegung ein Kind deines Stammes gewesen ist. Der italienische Schnitzer hat ihm stark semitische Züge gegeben, wie ich meine. Ich bitte dich also inständig, dieses außergewöhnliche Kunstwerk wieder an seinen Platz zu hängen. Der Kleine wird und muss seiner Herkunft den nötigen Respekt zollen.» Damit schloss er leise hinter sich die Tür.
Diese mit außerordentlicher Intensität geführte Auseinandersetzung hing Mielein noch lange nach, verstörte und beschämte sie stets von neuem. Hatten sie sie doch in Gegenwart des schlafenden Bibi geführt, bei dem sie noch nach Jahren das Gefühl nicht loswurde, er habe trotz seiner geschlossenen Augen alles mit angehört und gar verstanden. «Unsinn, Unsinn», sagte sie sich dann immer wieder. Das Männlein jedenfalls hing in der nächsten Nacht wieder an seinem alten Platz, und der verzweifelte Gesang des kleinen Bibi erfüllte abermals das Haus.
Eines Tages - Klein-Bibis Stimme wurde immer schwächer und seine Augenringe immer tiefer - schlich Mielein, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Pielein gerade seinen ersten Tiefschlaf absolvierte, ins Zimmer des Jungen, kletterte auf den Stuhl, nahm das italienische Meisterwerk von der Wand und schob es unter das Kinderbett. Allerdings achtete sie sorgsam darauf, vor Pielein und den übrigen Kindern aus den Federn zu kommen, um das Männlein wieder an seinen Platz zu hängen. Erstaunt darüber, dass Bibi ruhig und ungestört weiterschlief, fing sie an, in sich hineinzukichern, und beschloss, auch in den folgenden Nächten den Tiefschlaf Pieleins abzuwarten, wobei sie sich erst mit einem Blick durch den Türspalt überzeugte, ob er auch wirklich seine Nachtlektüre aus der Hand gelegt hatte, um den kleinen, blutbeschmierten Juden wieder unter dem Kinderbett zu verstauen. Das brachte ihr mit der Zeit auch die Augenringe ein, die bei dem Kleinen gar nicht mehr verschwinden wollten. Ein paar Stunden Schlaf fand sie aber dennoch, und Bibi nahm keine Notiz von seinem Gast unterm Bett. Im Gegenteil. Er schien ihn sogar zu beruhigen. Bibi, der bisher selbst im Schlaf seine Bewegungsabläufe brauchte, die sich bis zu konvulsivischen Zuckungen steigern konnten, lag entspannt da und prustete friedlich vor sich hin.
Doch es ging nicht lange gut. Mielein hatte nicht mit den periodisch auftretenden Schlafstörungen Pieleins gerechnet. Eines Nachts drang ein diskretes Klappern und ein Rücken von Gegenständen aus dem Kinderzimmer an ihr Ohr. Sie konnte sich jedoch nicht energisch genug von ihrer Schlafschwere befreien, und als sie am nächsten Morgen zu Bibi ins Zimmer trat, hing das Männlein am gewohnten Ort. Bibi lag friedvoll im Bettchen, spielte mit seiner Rasselkette, die sich um den Bettpfosten geschlungen hatte, und machte einen sehr beschäftigten Eindruck. Hatte Pielein ihn an die Anwesenheit des «Marterl» endlich gewöhnen können? Jedenfalls blieb es nun an der Wand über ihm hängen, ohne dass er dagegen protestierte oder gar seine Kreisch- und Strampelanfälle bekam.
Ob er es von nun an akzeptierte oder einfach ignorierte, wer konnte das wissen? Mielein hatte es selbst nie herausgefunden.
Als sie Bibi viel später einmal danach fragte, starrte er sie nur verständnislos an. Konnte sich nicht mal an das Kunstwerk über seinem Bett erinnern, zumal das Männlein schon bald darauf ins Schlafzimmer Pieleins hinübergewandert war und dort eine Zeit lang an bevorzugter Stelle hing, sodass man es stets vom Bett aus betrachten konnte. Später verschwand es auf unerklärliche Weise aus dem Haus in der Poschinger Straße.
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Autoren-Porträt von Michael Degen
Den "Bückling" hat Michael Degen noch lange gemacht, lange nach der Befreiung und dem Kriegsende 1945. Zusammen mit seiner Mutter hat er die Nazizeit als Jude nur überlebt, weil sie in den Berliner Untergrund gingen. Zeitweise lebten sie in einer Laubenkolonie, zeitweise wurden sie von Familien versteckt. In einem dieser Verstecke gab es Fenster, und unter keinen Umständen durften sie sich davor blicken lassen, ein Nachbar hätte sie sonst sehen können. Und so bückten sie sich, immer wenn sie an den Fenstern vorbeimussten. Dass man so etwas nur schwer vergessen kann, auch wenn der Krieg schon längst vorbei ist, dass einem das in den Knochen steckt wie das ewige Gefühl, minderwertig, weniger wert zu sein, das erzählt Michael Degen, Jahrgang 1932, heute auch öffentlich.Lange hat er dafür gebraucht, lange hat er geschwiegen zu dieser schrecklichen Zeit, die seinen Vater das Leben kostete. Dieser kam zwar lebend aus dem KZ Sachsenhausen zurück, starb aber kurz danach an den Folgen der dortigen Folter. Den Bruder schickten die Eltern noch 1939 nach Palästina - dort lebte auch Michael Degen zwei Jahre, bis 1951. Dann zog es ihn, den Schauspieler und Thomas-Mann-Liebhaber, doch wieder nach Deutschland, nach Berlin. Als Stipendiat hatte er dort 1946 an der Schauspielschule des Deutschen Theaters studieren können.
Nach seiner Rückkehr 1951 wurde er gleich Mitglied des Berliner Ensembles von Bertolt Brecht - und seine Karriere als Schauspieler begann. Er arbeitete mit Zadek, Tabori und Ingmar Bergman, spielte u. a. in Wien, Salzburg, München, Köln und Hamburg. Degen war aber nicht nur in Theater- und Kinoproduktionen zu sehen, sondern auch in zahlreichen Fernsehrollen, u. a. in "Diese Drombuschs", "Derrick", "Das Traumschiff" oder "Donna Leon". Er gehört mit zu den bekanntesten und beliebtesten Schauspielern in Deutschland.
Wie Michael Degen allerdings zum Schreiben kam, ist eine
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sehr persönliche Geschichte: Er saß 1998 in der Talkshow "B. trifft" der Moderatorin Bettina Böttinger gegenüber. Wie Degen es erzählt, war mit ihm eine Frau zu Gast, die von ihrer Kindheit in der Nazizeit berichtete, Degen beteiligte sich an dem Gespräch, und er, der mehr als 50 Jahre dazu geschwiegen hatte und dachte, er erinnere sich nicht mehr - er erinnerte sich wieder. Stück für Stück. Zwei Tage später kam der Anruf eines Verlages, und Degen setzte sich hin und schrieb. Nach drei Monaten hatte er sein erstes Buch "Nicht alle waren Mörder. Eine Kindheit in Berlin" fertig - es erschien 1999 und wurde ein Bestseller. Das Schreiben hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Es folgten die Romane "Blondi" und "Der Steuerhinterzieher" und ein weiteres autobiografisches Buch: "Mein heiliges Land. Auf der Suche nach meinem verlorenen Bruder".
Nun hat sich der Autor Michael Degen wieder dem Roman zugewandt und sich als Hauptfigur den jüngsten Sohn Thomas Manns ausgewählt, Michael Mann. Degen, ein großer Thomas-Mann- Bewunderer, bekam schon als 13-Jähriger, versteckt in Berlin lebend, die "Buddenbrooks" in die Hand. Er liebte dieses Buch - und tut dies auch heute noch, obwohl ihn "Der Zauberberg" noch ein wenig mehr begeistert. Seiner Bewunderung, ja seiner Liebe für Thomas Mann tat auch das Schreiben dieses Buches keinen Abbruch - und das, obwohl der private Thomas Mann "ein Monster" gewesen sei und seinen kleinen Sohn Michael verabscheut hat. Von Liebe keine Spur, und auch Mutter Katja war ihm gegenüber sehr verhalten ... davon hat sich Michael Mann nie frei machen können.
Die Zurückweisungen, vor allem die des Vaters, den er doch so liebte, verfolgten ihn ein Leben lang. Dieses bewegte Leben des hochbegabten Musikers und späteren Literaturprofessors Michael Mann erzählt Degen so mitfühlend, komisch und spannend, dass „Familienbande" höchste Lesefreude ist. Als Degen gefragt wird, ob er sich Michael Mann, der sich ein Leben lang "falsch" und "weniger wert" fühlte, ausgesucht habe, weil er diese Gefühle auch kenne - da zögert er einen kleinen Moment und sagt dann: "Ja, vielleicht unbewusst." Auch wenn Degen sich heute nicht mehr bückt bei jedem Fenster, an dem er vorbeimuss: Was einem in den Knochen steckt, das bekommt man eben nicht so schnell wieder aus ihnen heraus, oft ein Leben lang nicht.
Nun hat sich der Autor Michael Degen wieder dem Roman zugewandt und sich als Hauptfigur den jüngsten Sohn Thomas Manns ausgewählt, Michael Mann. Degen, ein großer Thomas-Mann- Bewunderer, bekam schon als 13-Jähriger, versteckt in Berlin lebend, die "Buddenbrooks" in die Hand. Er liebte dieses Buch - und tut dies auch heute noch, obwohl ihn "Der Zauberberg" noch ein wenig mehr begeistert. Seiner Bewunderung, ja seiner Liebe für Thomas Mann tat auch das Schreiben dieses Buches keinen Abbruch - und das, obwohl der private Thomas Mann "ein Monster" gewesen sei und seinen kleinen Sohn Michael verabscheut hat. Von Liebe keine Spur, und auch Mutter Katja war ihm gegenüber sehr verhalten ... davon hat sich Michael Mann nie frei machen können.
Die Zurückweisungen, vor allem die des Vaters, den er doch so liebte, verfolgten ihn ein Leben lang. Dieses bewegte Leben des hochbegabten Musikers und späteren Literaturprofessors Michael Mann erzählt Degen so mitfühlend, komisch und spannend, dass „Familienbande" höchste Lesefreude ist. Als Degen gefragt wird, ob er sich Michael Mann, der sich ein Leben lang "falsch" und "weniger wert" fühlte, ausgesucht habe, weil er diese Gefühle auch kenne - da zögert er einen kleinen Moment und sagt dann: "Ja, vielleicht unbewusst." Auch wenn Degen sich heute nicht mehr bückt bei jedem Fenster, an dem er vorbeimuss: Was einem in den Knochen steckt, das bekommt man eben nicht so schnell wieder aus ihnen heraus, oft ein Leben lang nicht.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Degen
- 2011, 2. Aufl., 476 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3871346330
- ISBN-13: 9783871346330
- Erscheinungsdatum: 11.03.2011
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