Familienfest
Bei den Leondouris wird oft und gern gefeiert. Und immer, wenn alle um den reich gedeckten Tisch versammelt sind, erzählt die Hausherrin Edna mitreißende Episoden aus der ereignisreichen Familiengeschichte. Ihre Erzählungen verweben sich mit den...
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Bei den Leondouris wird oft und gern gefeiert. Und immer, wenn alle um den reich gedeckten Tisch versammelt sind, erzählt die Hausherrin Edna mitreißende Episoden aus der ereignisreichen Familiengeschichte. Ihre Erzählungen verweben sich mit den Biografien der um den Tisch Versammelten zu einer kraftvollen Familiensaga vor dem Hintergrund der Hafenstadt Boston.
Bei den Leondouris wird oft und ausgelassen gefeiert. Und immer, wenn alle Familienmitglieder um den reich gedeckten Tisch versammelt sind, erzählt die Hausherrin Edna mitreißende Episoden aus der wilden, ereignisreichen Familiengeschichte. Diese verweben sich mit den Biografien der um den Tisch versammelten zu einer kraftvollen Familiensaga, die vor dem Hintergrund der zur Metropole wachsenden Hafenstadt Boston spielt.
Familienfestvon Anna Mitgutsch
LESEPROBE
In den Schlafzimmern waren schon die Kisten für dieÜbersiedlung gepackt, und dazwischen türmten sich Kartons voller Dinge, diesich trotz Ednas Freude am Wegwerfen angesammelt hatten und die ihr nun am Endeauch überflüssig erschienen: Hadassa hatte sie mit ihren flüchtigen, schrägenSchriftzügen daraufgeschrieben, Heilsarmee, Caritas. Sie umstanden die Bettenwie ungeduldige Gerichtsvollzieher, die zum Aufbruch drängten und die Zimmernoch vor dem Auszug unbewohnbar machten. Der Mangel an Licht hatte Edna schonimmer gegen diese Räume aufgebracht. Vor allem das große Schlafzimmer mit dembegehbaren Kleiderschrank, in dem Morris' Anzüge seit fünf Jahren ungelüftethingen, deprimierte sie. Die Glastüren mit den halbkreisförmigen Balkonen ausschwarzem Schmiedeeisen schienen der gegenüberliegenden Hausmauer so nah - kaumzu glauben, daß eine Straße dazwischen lag.
Am Ende ihres Lebens waren sie und Morris in diesem exklusiven Bezirk Bostonsangekommen, hatten die Enklave alter protestantischer Mayflower-Familieninfiltriert - in zwei Generationen von Ellis Island nach Beacon Hill, dieErfüllung kühnster Einwandererträume. Aber es hatte ihnen nicht den Triumph gebracht,den sie erwartet hatten. Edna war nie heimisch geworden in den Räumen deszweistöckigen viktorianischen Backsteinhauses in der abschüssigen PinckneyStreet, das sich wie ein nicht ganz legitimer Eindringling mit zwei seiner dreiFenster auf die Schmalseite des Louisburg Square drängte. Zwanzig Jahre früherhätte es ihr Genugtuung verschafft, in der vornehmen Stille der Mount VernonStreet ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster zu hören, als ginge sie durchdie hallenden Flure eines alten Hauses. Jetzt im Alter sehnte sie sich nachfreien Ausblicken und nach Menschen, die mit ihrem Alltag beschäftigt waren,wenn sie auf die Straße ging; die Stille unter den Ahornbäumen, selbst dieSchönheit der in der Dämmerung leuchtenden Schlehdornbüsche, die dunkleFeuchtigkeit all der an den Hauswänden wuchernden Ranken, die im Sommer dieRäume vollends verdunkelten, bedrückten sie. Es würde ihr leichtfallen, diesesHaus zu verlassen, es hatte nicht ihnen gehört, ein Enkel ihres Onkels Paulhatte es an sie vermietet, und es hatte noch niemandem in der Familie Glückgebracht. Es war die Gegenleistung für sechs Jahre Gefängnis gewesen, die Paulfür einen anderen abgesessen hatte, Teil des Schweigegeldes, mit dem einGouverneur von Massachusetts, dessen Vorfahren seit Generationen auf BeaconHill residierten, sich die Schande, als Betrüger entlarvt zu werden, von Paulhatte abnehmen lassen. Wie einen Fluch hatte er das Haus für alle Zeiten derFamilie vermacht, unverkäuflich, an niemanden zu vermieten als an die Mitgliederder Familien Lewis und Leondouri, zur unauslöschlichen Erinnerung an den Preis,den ein Einwanderer aus einem podolischen Stetl zu zahlen hatte, um unterBostons Brahminen, selbst wenn sie Ganoven waren, leben zu dürfen.
Edna hatte ihren Onkel Paul kaum gekannt, niemand hatte ihn gekannt, er war diegraue Eminenz, zu der man ging, wenn man aus eigener Kraft nicht mehrweiterwußte; wenn es galt, einen Sohn vor dem Vietnamkrieg zu bewahren, einenSpitalsplatz für eine Sterbende zu ergattern, dann ging man zu Paul, und manbesuchte ihn nicht in seinem Haus auf Beacon Hill, sondern kam in sein Büro undtrug über den großen Schreibtisch hinweg sein Anliegen vor. Bei Hochzeiten, BarMitzwahs und bei Begräbnissen stand er unter den Gästen, und in der Erinnerungkam es den Familienmitgliedern vor, als hätte ihn seine Unnahbarkeit wie einRaum umgeben, in dem die Luft anders war, Gefängnisluft, vergiftet und schwerzu atmen - über diesen Abstand hinweg schien es nur möglich, ihm die Hand zuschütteln, nicht jedoch ihn zu umarmen. Die Jahre im Staatsgefängnis vonWalpole hatten seine unnahbar aufrechte Gestalt gezeichnet und ihn derVorstellungswelt selbst seiner Familie entrückt, ihn zu einem Fremden gemacht,dem man sich mit banger Achtung und mißtrauischer Furcht näherte. Nur Edna undihre Geschwister kannten sein Geheimnis, die anderen Verwandten mußtenannehmen, er sei zu Recht verurteilt worden, schämten sich seiner undschwiegen. Er war der häßliche Fleck auf der Ehre der Leondouris und der mitihnen Verschwägerten, er verminderte die Respektabilität ihrer heiratsfähigenTöchter, aber er besaß Macht in den höchsten Kreisen, und seine Macht war zurLegende geworden. In Ednas Familie betete man erst dann zu Gott, wenn OnkelPaul nicht mehr helfen konnte. Wie die frommen Juden Zettel mit ihren Bitten indie Ritzen der Westmauer in Jerusalem steckten, wie die Italiener des BostonerNorth End, wohin Paul vor dem erstickend vornehmen und schweigsamen Beacon Hillfloh, Kerzen vor ihren Heiligenstatuen anzündeten, so kamen die Sorgenbeladenenseiner über die Generationen zu einem Clan angewachsenen Familie zu Paul.
An der Stelle, an der jetzt ihr Bett stand, mußte Paul an einem Apriltag in densechziger Jahren gestorben sein, so einsam, wie er jahrzehntelang gelebt hatte,und die jungen Blätter der schmiedeeisenumfriedeten Platane mochten in derlastenden Stille so wie jetzt gegen das Fenster gewischt haben. Hier hatteMorris zwei Jahre lang mit dem Tod gekämpft. Edna empfand kein Bedauernangesichts der gepackten Kisten, auch das Geschirr, das für Pessach nichtkoscher war, hatte sie schon in Seiden- und Kreppapier gewickelt und dieKartons mit großen Aufklebern als zerbrechlich gekennzeichnet.
In den unteren Räumen war an dem ersten Abend des Pessachfestes von Aufbruchsstimmungnoch nichts zu spüren. Der große Kristalluster warf einen matten Glanz aufsParkett des Eßzimmers, und der Tisch war zu seiner vollen Länge ausgezogen undverstellte den Zugang zum Glasschrank, und Edna stand an der Breitseite der mitweißem Damast gedeckten Tafel und zählte zum zweiten Mal in der letzten halbenStunde die Gedecke, sagte halblaut, mehr zu sich als zu Carol, die in derTüröffnung zur Küche lehnte, die Kinder glänzen wieder durch Abwesenheit, Leakommt sicher nicht, und Jerome sowieso nicht, mein einziger Enkel Joshua ist inIsrael und seine Mutter Estelle auch, womit die Abwesenheitsliste der FamilieSchatz vollständig wäre. Irving ist noch in Europa oder sonstwo, nur ihr seidvollzählig. Jonathan setze ich neben dich, und Marvin leitet den Seder, ob erwill oder nicht. Da drüben soll Daniel sitzen, neben ihm Adina, auf deinerlinken Seite sitzt ihre Mutter, damit du ihnen erklären kannst, was vorgeht.Warum habe ich neun Gedecke? Dann fielen ihr die beiden alleinstehenden Witwenaus dem Altersheim in Revere wieder ein, in das sie selber in zwei Wochenziehen würde: Sie hatten wegen des schlechten Wetters vor zwei Stundenabgesagt. (...)
© btb Verlag
- Autor: Anna Mitgutsch
- 2005, 412 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442733499
- ISBN-13: 9783442733491
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