Familienleben
Hamburg, 1967: Fania Schiefer, 13 Jahre alt, wohnt mit ihrer Familie in einer alten, abbruchreifen Villa. Der Vater ist Vertreter und viel unterwegs. Währenddessen wacht die Mutter liebevoll-unerbittlich über das Leben ihrer Töchter.
"Familienleben"...
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Hamburg, 1967: Fania Schiefer, 13 Jahre alt, wohnt mit ihrer Familie in einer alten, abbruchreifen Villa. Der Vater ist Vertreter und viel unterwegs. Währenddessen wacht die Mutter liebevoll-unerbittlich über das Leben ihrer Töchter.
"Familienleben" ist der erste Roman der Publizistin Viola Roggenkamp. Ein sensibles Zeitbild, in dem - hierzulande zum erstenmal - gezeigt wird, wie in der deutschen Nachkriegsgeschichte jüdisches Familienleben, unbemerkt von der Außenwelt, weiterlebt. Ein großer Roman, sinnlich-soghaft und mit jüdischem Witz erzählt.
"Ein großer, schöner Familienroman. Wenn man dieses Buch liest, ist man ganz glücklich."
Elke Heidenreich
»Von den Schwierigkeiten, ein Trauma zu begreifen, handelt mit Witz, Bildkraft und Wärme dieser deutsch-jüdische Familienroman.«
DIE ZEIT
Familienleben von Viola Roggenkamp
LESEPROBE
Vera undihre Freundinnen fingen an, über Zungenküsse zu sprechen, ihre Augen flackertenbegierig, und ihre Lippen wurden feucht. Ich saß dabei und spielte die kleineSchwester, die keine Ahnung hatte, ich mochte ihre schwellenden Körper. So häßlich, wie Vera sie mir beschrieben hatte, waren sie garnicht. Mit Küssen und küssen kenne ich mich aus, ich kenne Küsse aller Art, siekursieren bei uns zu Hause als tägliche Währung. Wir fangen gleich morgens nachdem Aufstehen damit an, noch vor dem Frühstück, es gibt Küsse, die werden durchdie Luft geworfen, zur Beschwichtigung, zur Beruhigung, zum Zeichen desEinverständnisses und zum Wiederfinden aus der Verlorenheit,meine Eltern füttern uns mit Küssen, und wir füttern sie, wir lecken ihnen ihreUnruhe aus dem Gesicht. Küsse meiner Mutter finde ich als Lippenstiftabdruck aufdem Butterbrotpapier, in das sie mein Schulbrot einwickelt, ohne Küsse kann niemandvon uns die Wohnung verlassen, sie sind der Stempel auf einem gültigenPassierschein, komm her, du hast mir noch gar keinen Kußgegeben, und bereits in der geöffneten Haustür fällt einem alles aus der Hand,Schultasche, Einkaufskorb, Regenschirm, Handtasche, Autoschlüssel, wir liegenuns in den Armen, und aus dem einen Kuß werden vieleKüsse, ein Regenschauer von Küssen, ungeachtet dessen, daßman sich in einer guten Stunde wiedersehen wird. Waskann man wissen und was weiß man, gerade ein rasch hingehauchterKuß könnte Unheil provozieren, darum muß der Kuß präzise sitzen undfest sein. Du sollst mich richtig küssen, auf den Mund, so, und jetzt kannst dugehen. Wenn mein Vater von der Reise zurückkommt, wenn er in die Einfahrtbiegt, hören wir im Haus seine Autohupe, er gibt uns sein Signal, wir wissen,er kommt, denn es ist Freitag, und außerdem hat meine Mutter seit zwei Stunden soeine Ahnung, daß er noch früher zurückkehren wird,als er am Abend zuvor am Telefon angekündigt hat, da kommt er, er fährt in den Hintergartenhinein, die Pforte haben wir für ihn geöffnet, ausschließlich zu seinerRückkehr steht sie offen, meine Mutter fliegt ihm entgegen, er steigt ausseinem Wagen, sie ruft seinen Namen, er steht neben der offenen Autotür mitausgebreiteten Armen, und da hängt sie an seinem Hals, sie küssen einander, undauf der Terrasse stehen meine Schwester, meine Großmutter und ich, wir sehen dasHappy-End der Woche. Danach laufen wir auf ihn zu,Vera und ich laufen um die Wette, und ich gewinne, meine Schwester fürchtetsich vor der Eisentreppe, ich kann die Stufen in großen Sätzen hinunterspringen, ich tue es nicht mehr. Inzwischen bleibeich zurück, Vera ist deutlich sichtbar die nächste Frau nach meiner Muttergeworden, sie schreitet meinem Vater entgegen, lächelnd, ruhig, nicht sostürmisch wie seine Frau, sie zeigt ihm die andere Frau, die Frau, die seineLangsamkeit in sich trägt. Ich gehe um sein Auto herum, bis sie fertig sind.Zuletzt kommt meine Großmutter, denn was glaubst du wohl, wen von uns beiden erzuerst sehen möchte, hat meine Mutter zu ihrer Mutter gesagt. Meine Großmutterund ich heben seine Musterkoffer aus dem Auto, meine Schwester nimmt seinenMantel und trägt ihn, als würde sie von ihm getragen, ich nehme seineAktentasche, darin sind seine Auftragsformulare, seine Warenprospekte und dieVerkaufsabschlüsse, die er hoffentlich hat machen können. Vor uns gehen meinVater und meine Mutter eng umschlungen die Terrassentreppe hinauf ins Haus. Binich froh, daß ich wieder bei euch bin, er schütteltmit dem Staub von draußen die fremde Witterung ab. Meine Mutter wendet sich nachmir um, mach die Gartenpforte zu, Fania. Den Gartendurch die Pforte wirklich verlassen kann nur mein Vater in seinem Auto. Für ihnöffnen wir das Tor, und hinter ihm schließen wir es, um es nach fünf Tagen undvier Nächten für ihn wieder zu öffnen. Ich schiebe die beiden Flügel der Gartenpfortezusammen, zwei angefaulte Holzrahmen, bespannt mit verrostetem Maschendraht.Die Pforte hängt im oberen Scharnier, der untere Zapfen ist abgebrochen, beimAuf- und Zuschieben schürft der Balken einen zirkelgenauen Viertelkreis in den graugelbenSand, ein kleiner Graben, darin der Regen versickern wird, um von dort intiefere Quellen zu sinken, unter dem Zaun hindurch in die Welt. Beim Umgrabender Rosenbeete im Vordergarten traf ich in das Nest einer Ameisengroßfamilie undstocherte darin herum, sie rannten und blieben abrupt stehen, sie küßten sich und rannten weiter, sie signalisierteneinander, daß sie überlebt hatten. Genau wie wir.Tief beugte ich mich zu ihnen hinunter und nickte ihnen zu, tut mir leid, ich wolltenur mal sehen, wie das aussieht.
© ArcheVerlag AG
Autoren-Porträt von Viola Roggenkamp
Viola Roggenkamp, 1948 in Hamburg geboren, gehört nicht zuden prominentesten, wohl aber zu den renommiertesten deutschen Publizistinnen.Aus einer deutsch-jüdischen Familie stammend, studierte sie Psychologie,Philosophie und Musik. Später reiste sie mehrere Jahre durch Israel und andereasiatische Länder. Regelmäßig schreibt sie für "DIE ZEIT", "taz" und"Allgemeine Jüdische Zeitung". Sie ist Mitglied des Kuratoriums desFeministischen Instituts der Heinrich-Böll-Stiftung.
Schwerpunkte ihrer publizistischen Arbeit sind Feminismusund Psychoanalyse sowie Themen deutsch-jüdischen Lebens. Einzelveröffentlichungensind u.a. "Von mir soll sie das haben?", "Frau ohne Kind" und "Meine Mamme" -hier spricht sie mit 26 jüdischen Töchtern und Söhnen über ihre Mütter, so z.B.mit Stefan Heym, Wladimir Kaminer, Rachel Salamander, Stefanie Zweig undMichael Wolffsohn.
2005 legte Viola Roggenkamp mit "Familienleben" ihr spätesliterarisches Debüt vor. Viele Verlage lehnten das Manuskript ab, das dannspäter in kürzester Zeit zum Bestseller wurde, von Kritikern euphorischgefeiert. Erzählt wird die Geschichte der 13-jährigen Fania, die Ende der 60erJahre in einer verfallenen Villa in Hamburg-Harvestehude aufwächst - einsensibel geschriebener Roman vor dem Hintergrund elterlicher Holocausterfahrungund der Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Viola Roggenkamplebt und arbeitet in Hamburg.
Interview mit Viola Roggenkamp
Es gibt einen bekannten Roman über das jüdische Leben inHamburg "Die Bertinis" von Ralph Giordano, der die Zeit der Nazi-Diktaturbeschreibt. Sie hingegen haben das Jahr 1967 gewählt. Warum die Entscheidungfür genau diese Zeit?
Ich bin 1948 geboren, meine Eltern haben während derNazi-Zeit Haft und Verfolgung überlebt, sie gehören zur ersten Generation, zuder auch Ralph Giordano gehört. Ich gehöre nicht zur Generation derÜberlebenden, sondern zu den Nachgeborenen, und eben gerade den Nachgeborenenaus jüdisch-deutscher Familie habe ich mit meinem Roman "Familienleben" eineStimme geben wollen. Diese Stimme repäsentiert im Buch die 13-jährigeProtagonistin Fania Schiefer.
Der Schah-Besuch, Studentenproteste und die "Kulturrevolution"der 68er bilden die Begleitmusik zu Ihrem Roman. Es war eine wichtige Zeit,eine Zäsur, auch für das nicht-jüdische Deutschland, ein Bruch mit derunmittelbaren Nachkriegszeit und dem Verdrängen der Vergangenheit. Was machtdie spezifisch jüdische Perspektive auf diese Jahre aus?
Der Zeitraum des Romans ist das Jahr 1967. Am 5. Junibegann Israel den Sechs-Tage-Krieg, nachdem zuvor die Bedrohung durch diearabische Allianz (Ägypten, Jordanien, Irak, Syrien und Libanon) dadurcheskaliert war, dass Israel der Zugang zum Meer abgeschnitten wurde. Im Romanbleibt der Sieg der Juden nicht ohne Wirkung auf die jüdisch-deutsche FamilieSchiefer in Hamburg.
Das Leben der 13-jährigen Fania Schiefer und ihrer Schwesterist ganz auf den Mikrokosmos einer verfallenden Villa im vornehmen StadtteilHarvestehude konzentriert. Die Mutter scheint sie aus Liebe wegschließen undvor der Außenwelt bewahren zu wollen. Fania sucht ihre Identität zwischenJüdisch-, Nicht-Jüdisch- und Deutschsein. Wofür davon ist Platz in dem engenKokon?
Jüdisch zu sein und deutsch, das kann es nach der Shoaeigentlich gar nicht geben: So war nach 1945 bis weit in die 90er Jahre hineindas Lebensgefühl in jüdisch-deutschen Familien. Es dennoch zu sein, jüdisch undauch deutsch, diesen Zwiespalt, diese Zerrissenheit als ihren eigenen Ortanzuerkennen, sowohl im Gegenüber zu den Deutschen als auch und gerade imGegenüber zu nichtdeutschen Juden: Darum geht es im Leben jüdisch-deutscherNachgeborener, und darum geht es im Roman für die beiden Schwestern Fania undVera Schiefer als Töchter einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen, alsogojischen Vaters.
Die Schiefers in "Familienleben" leben unter einem Dach miteiner Täterin, einer Denunziantin aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sieselbst haben diese Erfahrung auch machen müssen. Blieb es für Sie ein Leben im"Land der Täter"?
"Land der Täter", diese Formulierung gab es in meinerFamilie nicht. Wie hätte man denn als jüdischer Mensch atmen können in so einemLand? Aber das Bewusstsein, unter Mitläufern und Mitwissern zu leben, die nurihr eigenes Leid erinnerten und das Wort "Jude" nicht aussprechen konnten,dieses Bewusstsein - ja.
Sie selbst meinten, Sie vermissen das literarischeVerarbeiten der jüdischen Nachgeborenen-Generation in Deutschland. Wie sehr wardieser "missing link" für Sie Motivation, diesen Roman zu verfassen?
Wie so oft in der Literatur ist auch mein erster Romanstark autobiografisch. Ich brauchte es für mich als Schriftstellerin, dieseFamiliengeschichte erst einmal aus mir herauszuschreiben, um in mir Raum zuschaffen für andere Geschichten.
Sie hatten es erstaunlicherweise nicht leicht, einen Verlagfür Ihr literarisches Debüt zu finden, das später so euphorisch aufgenommenwurde. Fühlt man da Genugtuung, oder überwiegt der Ärger über die ablehnendenProgrammleiter?
Mein Roman "Familienleben" ist zu meiner Freude beiLeserinnen und Lesern ein Erfolg. Das Buch ist in Holland und Italienerschienen und hat inzwischen einen englischen Verlag gefunden. Dass zweirenommierte deutsche Verlag es nicht wollten? Man kann sich ja auch mal irren.Die beiden Arche-Verlegerinnen jedenfalls hatten offenbar die richtige Nase.
Die Fragen stellte Henrik Flor, Literaturtest.
- Autor: Viola Roggenkamp
- 2005, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596165911
- ISBN-13: 9783596165919
- Erscheinungsdatum: 16.11.2005
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