Das Erbe der Azteken / Fargo Adventures Bd.2
Ein Fargo-Roman. Deutsche Erstausgabe
Ein Schatzjäger-Duo wird gejagt: Nicht jeder Fund bringt Glück und Reichtum.
Die Schatzjäger Sam und Remi Fargo entdecken bei einem Tauchgang Teile eines aztekischen Artefakts - und befinden sich plötzlich im Visier...
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Produktinformationen zu „Das Erbe der Azteken / Fargo Adventures Bd.2 “
Ein Schatzjäger-Duo wird gejagt: Nicht jeder Fund bringt Glück und Reichtum.
Die Schatzjäger Sam und Remi Fargo entdecken bei einem Tauchgang Teile eines aztekischen Artefakts - und befinden sich plötzlich im Visier der ultranationalistischen und skrupellosen mexikanischen Partei Mexica Tenochca. Denn hinter dem Fund verbirgt sich ein Geheimnis, das diese völlig ruinieren würde. Eine gnadenlose Hetzjagd rund um die Welt beginnt. Sam und Remi Fargo wissen, dass nur einer das Rennen gewinnen kann - und dass ihr Versagen nichts als den Tod bringen würde!
Lese-Probe zu „Das Erbe der Azteken / Fargo Adventures Bd.2 “
Das Erbe der Azteken von Clive Cussler und Grant BlackwoodProlog
London, England, 1864
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Der Mann, den alle nur als Jotun kannten, schritt zielstrebig durch den morgendlichen Nebel, den Kragen seiner Kapitänsjacke hochgeschlagen und einen Schal locker um Hals und Mund geschlungen. Sein Atem bildete eine weiße Wolke in der kalten Luft.
Plötzlich blieb er stehen und lauschte. Hatte er Schritte gehört? Er drehte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Irgendwo vor ihm erklang ein gedämpftes Klicken. Ein Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster. Obwohl schwer und hochgewachsen, zog sich Jotun schnell und leichtfüßig in den Schatten eines gewölbten Toreingangs zurück. In der Tasche seiner Jacke schloss sich seine Faust um den Griff eines mit Bleischrot gefüllten Totschlägers aus Leder. Die Seitenstraßen und Gassen von Tilbury waren niemals ein freundlicher Ort und erst recht nicht zwischen Sonnenuntergang und -aufgang.
»Verdammte Stadt«, knurrte Jotun. »Dunkel, feucht, kalt. Lieber Gott, hilf.«
Ihm fehlte seine Frau, ihm fehlte sein Land. Aber hier wurde er gebraucht, jedenfalls meinten das jene, die ganz oben saßen. Er vertraute natürlich ihrem Urteil, doch es gab Zeiten, da hätte er seinen augenblicklichen Dienst bereitwillig gegen ein offenes Schlachtfeld eingetauscht. Dort würde er seinen Gegner wenigstens sehen und kennen - und wüsste, was er mit ihm zu tun hätte: Er würde ihn töten oder selbst getötet werden. Ganz einfach. Andererseits gefiel seiner Frau, obgleich weit entfernt von ihr, sein augenblicklicher Einsatzort viel besser als seine früheren. »Lieber in der Ferne und am Leben als in der Nähe und tot«, hatte sie zu ihm gesagt, nachdem er seine Befehle erhalten hatte.
Jotun wartete einige Minuten, hörte jedoch keine weiteren Geräusche. Er sah auf seine Uhr: halb vier. In einer Stunde würde es auf den Straßen lebendig werden. Wenn sich sein Jagdwild aus dem Staub machen wollte, dann müsste es vorher geschehen.
Er kehrte auf die Straße zurück und ging weiter nach Norden, bis er zur Malta Road kam und die Richtung nach Süden zu den Docks einschlug. In der Ferne konnte er das einsame Scheppern einer Boje hören, außerdem drang ihm der Gestank der Themse in die Nase. Ein Stück voraus, im Nebel, konnte er eine einsame Gestalt erkennen. Sie stand am südöstlichen Ende der Dock Road und rauchte eine Zigarette. Auf Katzenpfoten überquerte Jotun die Straße und ging weiter, bis er die Straßenecke deutlicher ausmachen konnte. Der Mann war tatsächlich allein. Jotun zog sich in die Gasse zurück, dann stieß er einen einzigen leisen Pfiff aus. Der Mann wandte sich um. Jotun zündete mit dem Daumennagel ein Streichholz an, ließ es kurz auflodern und löschte die Flamme sofort wieder mit Daumen und Zeigefinger. Der Mann kam auf Jotun zu.
»Guten Morgen, Sir.«
»Darüber lässt sich streiten, Fancy.«
»Das stimmt, Sir.« Fancy ließ den Blick über die Straße schweifen.
»Nervös?«, fragte Jotun.
»Was, ich? Weshalb sollte ich nervös sein? Ein kleiner Mann wie ich, der bei Nacht durch diese Gassen schleicht? Was könnte daran nicht in Ordnung sein?«
»Dann lass mal hören.«
»Es ist dort, Sir. Vertäut am Pier, und das schon seit vier Tagen. Allerdings nur noch mit je einer Leine an Heck und Bug. Ich habe mit einem Kumpel gesprochen, der unten im Hafen gelegentlich Handlangerdienste übernimmt. Es heißt, das Schiff werde flussaufwärts fahren.«
»Wohin?«
»Zu den Millwall Docks.«
»Die Millwall Docks sind noch nicht fertig, Fancy. Warum belügst du mich?«
»Nein, Sir, das ist das, was ich gehört habe. Millwall. Am späten Morgen.«
»Ich hab schon jemanden in Millwall, Fancy. Er sagt, der Hafen sei für mindestens eine weitere Woche geschlossen.« »Tut mir leid, Sir.«
Jotun hörte das typische Scharren von Leder auf Stein hinter sich in der Gasse und begriff sofort, dass Fancy etwas ganz anderes leidtat. Jotun tröstete sich ein wenig mit dem Wissen, dass ihn dieses kleine Wiesel von einem Mann wahrscheinlich nicht aus Tücke, sondern eher aus Habgier verraten hatte.
»Nimm die Beine in die Hand, Fancy. Renn weit weg. Ganz aus London raus. Wenn ich dich noch einmal sehe, schlitz ich dir den Bauch auf und stopf dir deine eigenen Eingeweide ins Maul.«
»Sie werden mich nie wiedersehen, Sir.«
»Das wäre auch besser, wenn dir dein Leben lieb ist.« »Noch einmal, es tut mir leid. Ich habe Sie immer ...« »Noch ein Wort, und es wird dein letztes sein. Geh.« Fancy rannte los und verschwand im Nebel. Jotun ging seine Möglichkeiten schnell durch. Dass Fancy ihn mit den Millwall Docks belogen hatte, bedeutete, dass er auch beim Schiff gelogen hatte, was wiederum bedeutete, dass es flussabwärts fuhr und nicht flussaufwärts. Das konnte er unmöglich zulassen. Daraus ergab sich die Frage: War es klüger, vor den Männern zu fliehen, die hinter ihm her waren, oder sich auf einen Kampf mit ihnen einzulassen? Wenn er flüchtete, würden sie ihn jagen, und das Letzte, was er jetzt brauchte, war ein Krawall so nahe am Hafen. Die Schiffsmannschaft war sicherlich längst nervös geworden und entsprechend wachsam - dabei brauchte er sie vollkommen ruhig und ahnungslos, um sie unvorbereitet zu überrumpeln.
Jotun wandte sich zur Gasse um.
Sie waren zu dritt, einer ein wenig kleiner als er, zwei sehr viel kleiner, aber alle hatten breite, runde Schultern und darauf kantige, bullige Köpfe. Straßenräuber. Halsabschneider. Hätte das Licht ausgereicht, um ihre Gesichter deutlicher zu erkennen, nahm Jotun an, dass sie nur noch wenige Zähne, zahlreiche Narben und kleine, bösartige Augen gehabt hätten.
»Guten Morgen, Gentlemen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Mach das Ganze nicht schlimmer, als es sein muss«, erwiderte der Größere des Trios.
»Messer oder Fäuste oder beides?«, fragte Jotun. »Was?«
»Egal. Es ist eure Wahl. Nun kommt schon, fangen wir endlich an.«
Jotun zog die Hände aus den Taschen.
Der Große stürmte los. Jotun sah das Messer an der Hüfte des Mannes hochschnellen, ein präzise berechneter Stoß, um eine Arterie im Oberschenkel zu durchtrennen oder den Unterleib aufzuschlitzen. Jotun war jedoch nicht nur fünf Zentimeter größer als der Mann, sondern hatte auch zehn Zentimeter mehr Armeslänge, und die benutzte er, indem er mit einem Uppercut reagierte. In der letzten Sekunde öffnete er die Hand und ließ den Totschläger herausschießen. Das in Leder eingenähte Bleischrot traf den Mann genau unterm Kinn. Sein Kopf wurde hochgerissen, er stolperte rückwärts gegen seine Partner und landete dann hart auf dem Hintern. Das Messer rutschte klirrend über das Pflaster. Jotun machte einen langen Schritt vorwärts, zog ein Knie bis zur Hüfte hoch und rammte den Absatz seines Stiefels auf den Knöchel des großen Mannes und zertrümmerte den Knochen. Der Mann schrie vor Schmerzen auf.
Die beiden anderen zögerten zwar, aber nur für einen kurzen Augenblick. In Situationen wie diesen zerstreut sich ein solches Wolfsrudel gewöhnlich, sobald der Leitwolf ausgeschaltet wurde, aber diese Männer waren daran gewöhnt, leichtes Spiel zu haben.
Der auf der rechten Seite wich seinem gefallenen Partner aus, duckte sich und stampfte los wie ein Stier. Der Angriff war natürlich eine Finte. In einer der Hände hielt er ein Messer versteckt; in dem Moment, in dem Jotun den Mann packte, würde das Messer hochkommen. Jotun machte mit dem linken Bein einen Schritt rückwärts, beugte es und vollführte dann einen Satz vorwärts, während er gleichzeitig mit dem rechten Fuß ausholte und ihn nach vorn schwang. Der Tritt erwischte den Mann mitten im Gesicht. Jotun hörte das gedämpfte Knirschen brechender Knochen. Der Mann sackte auf die Knie, schwankte für einen kurzen Moment hin und her und stürzte dann mit dem Gesicht zuerst auf die Straße.
Der letzte Mann dachte nicht daran zu zögern, und Jotun erkannte, auf was er wartete: auf jenen entscheidenden Moment, in dem jemand erkennt, dass er sterben wird, wenn er nicht die richtige Entscheidung trifft.
»Die beiden leben noch«, sagte Jotun. »Wenn du nicht kehrtmachst und abhaust, töte ich dich.«
Der Mann stand wie festgewurzelt da, das Messer stoßbereit in der Hand.
»Nun komm schon, mein Sohn, haben sie dir wirklich genug dafür gezahlt?«
Der Mann ließ das Messer sinken. Er schluckte krampfhaft, schüttelte dann ruckartig den Kopf, machte kehrt und rannte los.
Jotun rannte ebenfalls. Und zwar so schnell er konnte die Straße hinunter, in die Dock Road, dann quer durch einige Zierhecken und an der St. Andrews Church vorbei. Durch eine kurze Gasse erreichte er ein Paar Lagerhäuser. Er eilte zwischen ihnen hindurch, setzte über einen Zaun hinweg, landete hart und rollte sich über die Schulter ab, kam wieder auf die Füße und rannte weiter, bis unter seinen Stiefeln das dumpfe Dröhnen von Holz erklang. Der Hafenkai. Er blickte nach links, dann nach rechts, sah jedoch nichts als Nebel.
Wohin?
Er drehte sich um, las die Hausnummer über seinem Kopf, dann machte er auf dem Absatz kehrt und spurtete fünfzig Meter weiter nach Süden. Zu seiner Rechten hörte er Wasser plätschern, steuerte darauf zu. Ein dunkler Schatten ragte vor ihm auf. Er bremste, prallte gegen einen Kistenstapel, stolperte zur Seite und gewann sein Gleichgewicht zurück. Dann sprang er auf die kleinste Kiste und kletterte schließlich eine Etage höher. Etwa zwanzig Meter unter seinem Standplatz konnte er eine Wasserfläche erkennen. Er schaute flussaufwärts, erkannte dort aber nichts. Dann blickte er den Fluss hinab.
In zwanzig Metern Entfernung gewahrte er den matten Schein eines gelben Lichts hinter einem zweiflügeligen Fenster; darüber, hinter der Deckreling, befand sich das Ruderhaus eines Schiffes.
»Verdammt!«, schimpfte Jotun lauthals. »Gottverdammter Mist!«
Das Schiff verschmolz gerade mit dem Nebel und verschwand.
1
Chumbe Island, Sansibar
Tansania
Die Haie schossen am Rand ihres Gesichtsfeldes hin und her, schlanke graue Schatten, die Sam und Remi immer nur kurze Blicke auf messerscharfe Finnen und zuckende Schwanzflossen erlaubten, ehe sie hinter dem Vorhang wirbelnder Sandkörner verschwanden. Wie üblich hatte sich Remi diese Gelegenheit zum Fotografieren nicht entgehen lassen, und wie üblich hatte sie Sam gebeten, als Größenmaßstab herzuhalten, während sie ihre Hochgeschwindigkeits-Unterwasserkamera an ihm vorbei auf das Fressgelage richtete. Was Sam betraf, so machte er sich weniger Sorgen wegen der Haie als wegen des Abgrunds, der sich hinter ihm befand, einem fünfzig Meter tiefen Steilabfall der Sandbank, der sich in den unergründlichen Tiefen des Sansibar-Kanals verlor.
Remi ließ die Kamera sinken, lächelte mit den Augen hinter ihrer Tauchermaske und machte mit der Hand das Okay-Zeichen. Erleichtert schwebte Sam mit einem Flossenschlag zu ihr hinüber. Zusammen knieten sie im Sand und verfolgten das Schauspiel. Es war Juli, also Monsun-Zeit. Der warme Ostafrikanische Küstenstrom aus Südosten traf auf die südlichste Spitze von Sansibar und teilte sich in einen landwärts gerichteten und einen ablandigen Strom. Die Haie erhielten auf diese Weise einen Nahrungstrichter in der rund fünfunddreißig Kilometer breiten Lücke zwischen Sansibar und dem afrikanischen Festland, speziell der Küste Tansanias, da dort Schwärme von Beutefischen nach Norden wanderten. Remi nannte es ein unwiderstehliches Lebendbüfett.
Sam und Remi achteten darauf, innerhalb dessen zu bleiben, was sie die Sicherheitszone nannten. Es war der etwa fünfzig Meter breite Streifen glasklaren Wassers vor Chumbe Island. Dahinter brach der Festlandsockel ab und bildete eine Wand des Sansibar-Kanals. Die Grenze der Zone war nicht zu übersehen. Die Strömung, nirgendwo schwächer als sechs Knoten, schrammte an der Sandbank der Insel entlang und wirbelte einen dichten Sandvorhang auf. Diesen Bereich bezeichneten Sam und Remi als Goodbye-Zone; ein Schritt in diese reißende Strömung ohne Sicherheitsleine, und man begab sich unfreiwillig auf einen Trip ohne Wiederkehr an der afrikanischen Ostküste entlang.
Trotz der Gefahr - oder vielleicht sogar gerade wegen ihr - war dieser alljährliche Ausflug nach Sansibar einer ihrer liebsten. Neben Haien, Beutefischen, reißenden Strömungen und Unterwassersandstürmen, die häufig monatelang andauerten, hielt der Ostafrikanische Küstenstrom stets Schätze bereit. Allerdings waren es gewöhnlich nur kleine und unbedeutende Fundstücke, die abgesehen von ihrer Seltenheit und ihrem Fundort nichts weiter auszeichnete. Aber das reichte Sam und Remi völlig. Im Laufe der Jahrhunderte hatten ganze Schiffsflotten die afrikanische Ostküste von Mombasa bis Daressalam befahren, viele beladen mit Gold, Edelsteinen und Elfenbein für die Städte der Kolonialreiche. Unzählige Schiffe waren im Sansibar-Kanal und seiner Umgebung gesunken, wobei sich der Inhalt ihrer Frachträume auf dem Meeresboden verteilt hatte, wo er darauf wartete, von der richtigen Strömung freigelegt oder in Reichweite von neugierigen Tauchern wie den Fargos transportiert zu werden. Während ihrer alljährlichen Reisen hatten sie Gold-und Silbermünzen römischen wie spanischen Ursprungs gefunden, außerdem chinesisches Porzellan, Jade aus Sri Lanka, Tafelsilber ... Ob faszinierend oder alltäglich, sie hatten es immer sorgfältig geborgen. Auf dieser Reise hatten sie bisher nur ein einziges bemerkenswertes Stück entdeckt: eine rautenförmige Goldmünze, die derart mit Muschelkalk verkrustet war, dass sie keine Einzelheiten darauf erkennen konnten.
Sam und Remi sahen den Haien noch für ein paar weitere Minuten bei ihrer Mahlzeit zu, dann, nachdem sie sich durch ein Kopfnicken miteinander verständigt hatten, kehrten sie um und glitten dicht über dem Meeresgrund nach Süden. Dabei hielten sie gelegentlich an und fächerten mit einem Pingpongschläger Sand beiseite, nämlich in der Hoffnung, dass sich der jeweilige Klumpen, der ihnen aufgefallen war, als bedeutendes Zeugnis der Geschichte entpuppte.
Chumbe Island, etwa neun Kilometer lang und drei Kilometer breit, besitzt in etwa die Form eines Damenstiefels, wobei Schienbein, Knöchel und Vorderfuß dem Kanal zugewandt sind und Wade, Bleistiftabsatz und Sohle der Insel Sansibar selbst. Dicht oberhalb des Knöchels klaffte in der Sandbank eine Lücke. Es war ein Einlass, der zu der Lagune führte, die durch den Pfennigabsatz gebildet wurde.
Nachdem sie eine Viertelstunde lang über den Sandboden gepaddelt waren, erreichten Sam und Remi diese Lücke, wandten sich nach Westen, bis sie nur noch zehn Meter vom Strand entfernt waren, und gingen dann auf nördlichen Kurs, um ihre Suche fortzusetzen. Nun wurden sie ein wenig wachsamer. An diesem Teil der Sandbank schob sich der Hauptkanal gefährlich dicht an den Strand herab. Es war eine blasenförmige Ausbuchtung, die ihre Sicherheitszone auf wenig mehr als zehn Meter schrumpfen ließ. Remi schwamm in Richtung Land und befand sich dabei ein kurzes Stück vor Sam, während sich beide immer wieder vergewisserten, dass der andere nicht zu nahe an den Abgrund geriet.
Aus dem Augenwinkel gewahrte Sams rechtes Auge ein Glitzern. Es war nicht mehr als ein flüchtiges goldenes Aufblitzen. Er stoppte seine Schwimmbewegungen, ließ sich mit den Knien zuerst auf den Sand sinken und klopfte dann mit dem Tauchermesser gegen seine Luftflasche, um Remi auf sich aufmerksam zu machen. Sie hielt ebenfalls an, drehte sich und kam mit einigen Flossenschlägen zu ihm zurück. Er deutete auf den Punkt. Sie nickte und folgte Sam zum Ufer, bis die Sandbänke in Sicht kamen. Als Sandmauer von fast vier Metern Höhe bildeten diese Sandbänke eine Art Abhang, wo die Wassertiefe schlagartig von Brusthöhe auf sechs bis sieben Meter absackte. Sie hielten vor dem Sandwall an und sahen sich um.
Remi deutete mit den Händen die Frage Wo? an.
Sam zuckte die Achseln und ließ den Blick an der Sandbank entlang wandern. Dort. Gut fünf Meter rechts von sich gewahrte er es abermals, ein goldenes Blinken. Sie schwammen darauf zu und hielten erneut an. Hier war die Goodbye-Zone noch näher gerückt und begann keine drei Meter hinter ihnen. Selbst in dieser Entfernung konnten sie die Strömung spüren. Sie war wie ein Strudel, der sie in die Tiefe ziehen wollte.
In Taillenhöhe ragte etwas aus dem Sandwall, das wie das fünfzehn bis zwanzig Zentimeter große Stück eines Fassreifens aussah. Obgleich angelaufen, blind und mit Seepocken besetzt, war der Ring von der Meeresströmung regelrecht sandgestrahlt worden, so dass glänzendes Metall zutage trat.
Sam streckte die Hand aus und wedelte den Bereich um den Reifen mit dem Pingpongschläger frei. Der freigelegte Abschnitt vergrößerte sich auf zwanzig Zentimeter, dann auf fünfundzwanzig, ehe die Krümmung wieder in die Sandbank eintauchte. Sam bewegte den Schläger nach oben und hoffte, einige der Fassdauben freizulegen, falls das Holz nicht völlig verrottet war.
Dann unterbrach er seine Bemühungen und sah zu Remi hinüber. Die Augen hinter ihrer Maske waren vor Staunen geweitet. Über dem Ring erschien kein verfaultes Holz, sondern eine metallene Wölbung, stellenweise mit grüner Patina bedeckt. Sam ließ sich auf die Knie sinken und rutschte vorwärts, bis seine Brust beinahe den Sandwall berührte. Dann legte er den Kopf in den Nacken und wedelte mit dem Schläger unter dem Ring hin und her. Nach etwa einer halben Minute erschien eine Höhle. Behutsam schob er eine Hand in die dunkle Öffnung und erforschte sie mit gespreizten Fingern.
Er zog den Arm heraus, entfernte sich von dem Objekt und kam zu Remi zurück. Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Er nickte als Antwort auf ihre stumme Frage. Ein Zweifel war ausgeschlossen. Ihr Fass war kein Fass, sondern eine Schiffsglocke.
»Also, das kam unerwartet«, stellte Remi ein paar Minuten später fest, nachdem sie aufgetaucht waren.
»Du sagst es«, erwiderte Sam, nachdem er das Mundstück des Atemschlauchs herausgenommen hatte. Bisher war das größte Artefakt, das sie je gefunden hatten, ein Silberteller von einem torpedierten Libertyschiff aus dem Zweiten Weltkrieg gewesen.
Sie streifte die Schwimmflossen ab und warf sie über das Dillbord aufs Achterdeck ihres Mietbootes, einer auch vielfach als Wassertaxi eingesetzten Andreyale-Joubert-NiveltExpress-Motoryacht, komplett mit lackierter Teakholztäfelung und antiken Eisenbahnfenstern. Dann kletterte sie die Leiter hinauf. Sam folgte ihr. Sobald sie die restliche Taucherausrüstung abgelegt und in der Kajüte der Andreyale-Yacht verstaut hatten, angelte Remi zwei Flaschen Mineralwasser aus der Kühlbox und warf Sam eine davon zu. Nun machten sie es sich in den Deckstühlen gemütlich.
»Was meinst du, seit wann liegt sie schon da unten?«, fragte Remi.
»Schwer zu sagen. Es dauert meist nicht allzu lange, bis die erste Patina entsteht. Wir müssten uns ansehen, wie dick die Schicht auf dem restlichen Teil ist. Das Innere fühlte sich ziemlich glatt an.«
»Und der Klöppel?«
»Den habe ich nicht gefunden.«
»Sieht so aus, als müssten wir eine Entscheidung treffen.« »Das werden wir auch.«
Die Regierung von Tansania hatte nicht nur einige sehr unorthodoxe Gesetze, was die Bergung von Meeresfunden betraf, sondern Chumbe Island trug die offizielle Bezeichnung Chumbe Island Coral Park. Darüber hinaus waren große Teile als Riff-Schutzzone und als Waldreservat abgetrennt und für die Öffentlichkeit gesperrt worden. Ehe Sam und Remi überhaupt etwas unternehmen konnten, mussten sie zuerst feststellen, ob die Glocke innerhalb eines dieser geschützten Bereiche lag. Wenn sie diese Hürde überwanden, dann konnten sie auch guten Gewissens den nächsten Schritt in Angriff nehmen: die Herkunft und die Geschichte der Glocke bestimmen, was eine Vorbedingung war, wenn sie einen gesetzlichen Anspruch auf ihren Fund anmelden wollten, ehe einheimische Amtsträger auf seine Existenz aufmerksam würden. Sie bewegten sich auf einem schmalen Grat. Wenn sie ihn überwanden, konnten sie sich vielleicht über einen bedeutenden historischen Fund freuen, aber auf beiden Seiten des Grates lauerten Gesetze, auf Grund derer ihnen bestenfalls ihre Beute weggenommen wurde oder sie schlimmstenfalls mit einem Gerichtsverfahren rechnen mussten. Laut Gesetz durften sie sämtliche gefundenen, von Menschenhand hergestellten Objekte, deren Bergung »keine umfangreichen Ausgrabungsarbeiten« erforderte, als ihr Eigentum betrachten. Gegenstände wie Remis rautenförmige Münze waren unproblematisch; eine Schiffsglocke wäre jedoch etwas völlig anderes.
Das alles war den Fargos nicht neu. Gemeinsam und jeder für sich, privat wie professionell, hatten Sam und Remi beinahe von Kindesbeinen an Schätze, Artefakte und verborgene historische Zeugnisse gesucht.
Dem Beispiel ihres Vaters folgend, hatte Remi das Boston College besucht und dort Master-Grade in Anthropologie und Geschichte erworben. Dabei hatte sie sich vor allem auf die Handelsrouten des Altertums spezialisiert.
Sams Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, hatte als Ingenieur zum Leitungsstab der NASA-Raumfahrtprogramme gehört, und Sams Mutter, eine temperamentvolle Lady, betrieb ein Tauchboot, das für ausgedehnte Ausflüge gemietet werden konnte.
Sam erwarb ein Ingenieursdiplom am California Institute of Technology und heimste beim Lacrosse und beim Fußball eine Handvoll Trophäen ein.
Während seiner letzten Monate am Caltech war Sam von einem Mann angesprochen worden, der, wie sich später herausstellte, von der DARPA - der Defense Advanced Research Projects Agency - kam, jener Regierungsbehörde, die Forschungsprojekte für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten durchführen ließ. Die Verlockung, an der Entwicklung technischer Neuerungen mitzuarbeiten und gleichzeitig seinem Vaterland einen Dienst zu erweisen, machte Sam die Entscheidung leicht.
Nach sieben Jahren bei der DARPA kehrte er nach Kalifornien zurück, wo Sam und Remi sich im Lighthouse Cafe, einem Jazzclub in Hermosa Beach, kennenlernten. Sam hatte den Club aufgesucht, um sich ein kühles Bier zu genehmigen, und Remi feierte dort gerade den erfolgreichen Abschluss eines Forschungsprojekts, in dessen Verlauf sie den Gerüchten über ein vor Abalone Cove gesunkenes spanisches Schiff auf den Grund gegangen war.
Auch wenn keiner von ihnen ihr erstes Treffen als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen würde, waren sie sich doch darin einig, dass sie sich »vom ersten Moment an verdammt sicher« gewesen seien. Sechs Monate später heirateten sie im Rahmen einer bescheidenen Zeremonie im Lighthouse Cafe, da sie sich dort zum ersten Mal begegnet waren.
Auf Remis Anregung hin stürzte sich Sam kopfüber in sein eigenes Unternehmen, und nach einem Jahr stießen sie auf eine Goldader, indem sie einen Argonlaser-Scanner entwickelten, der auf größere Entfernung edelmetallhaltige Vorkommen und Verbindungen von Gold über Silber und Platin bis hin zu Palladium aufspüren und identifizieren konnte. Schatzsucher, Universitäten, Staatsbetriebe und Bergbaufirmen bewarben sich um Lizenzen für Sams Erfindung, und innerhalb von zwei Jahren konnte die Fargo Group einen jährlichen Reingewinn von drei Millionen Dollar verbuchen. Schon nach vier Jahren traten multinationale Konzerne an sie heran. Sam und Remi entschieden sich für das höchste Gebot, verkauften die Firma für genug Geld, um den Rest ihres Lebens komfortabel abzusichern, und frönten von da ab nur noch ihrer wahren Leidenschaft: der Schatzsuche.
Für Sam und Remi war das Geld nicht der Motor ihres Lebens, sondern das Abenteuer und die Genugtuung, beobachten zu können, wie die Fargo Foundation aufblühte. Die Stiftung, die ihre Spenden unter unterprivilegierten und missbrauchten Kindern sowie dem Tier- und Naturschutz aufteilte, war während des vorangegangenen Jahrzehnts sprunghaft gewachsen und hatte im vorangegangenen Jahr verschiedenen Organisationen fast zwanzig Millionen Dollar an Unterstützung zukommen lassen. Ein wesentlicher Teil stammte aus Sams und Remis Privatvermögen, der Rest aus privaten Spenden. Wohl oder übel erregten ihre Aktivitäten die Aufmerksamkeit der Medien, wodurch wiederum weitere reiche Spender angelockt wurden.
Die Frage, die sich ihnen jetzt stellte, war, ob diese Schiffsglocke vielleicht etwas war, das der Finanzierung weiterer wohltätiger Bemühungen dienen konnte, oder ob es sich nur um ein historisches Kuriosum handelte. Nicht dass dies von großer Bedeutung war. Historische Geheimnisse zu enthüllen, hatte einen ganz besonderen Reiz für sie. Ganz gleich wie oder was, sie wussten genau, wo sie anfangen mussten.
»Es ist Zeit, Selma anzurufen«, entschied Remi.
»Ja, jetzt ist Selma gefragt«, pflichtete Sam ihr bei.
Eine Stunde später befanden sie sich wieder in ihrem im Plantagenstil erbauten Mietbungalow in Kendwa Beach an der Nordspitze Sansibars. Während Remi einen frischen Obstsalat zu Schinken und Mozzarella zubereitete und Eistee in Gläser einschenkte, wählte Sam Selmas Nummer. Über ihren Köpfen brachte ein anderthalb Meter großer Deckenventilator die Luft in Wallung, und eine kühle Brise bauschte die Gazevorhänge vor den Fenstern.
Obgleich es in San Diego erst vier Uhr morgens war, nahm Selma Wondrash den Hörer schon nach dem ersten Klingeln ab. Sam und Remi überraschte das nicht, nachdem sie zu der Überzeugung gelangt waren, dass Selma pro Nacht nur vier Stunden lang schlief, außer sonntags, wenn sie sich eine fünfte Stunde Schlaf gönnte.
»Sie rufen mich aus dem Urlaub immer nur dann an, wenn Sie in Schwierigkeiten oder im Begriff sind, in Schwierigkeiten zu geraten«, drang Selmas Stimme ohne Einleitung aus dem Telefonlautsprecher.
»Das stimmt nicht«, protestierte Sam. »Als wir vergangenes Jahr von den Seychellen aus anriefen ...«
»War eine Pavianherde in Ihr Strandhaus eingefallen, hatte die Inneneinrichtung zerlegt und sich mit Ihrem gesamten weltlichen Besitz aus dem Staub gemacht. Und die Polizei hat Sie für Einbrecher und Diebe gehalten.«
Sie hat recht, bestätigte Remi mit einer stummen Geste über die Kücheninsel hinweg. Mit der Messerspitze warf sie Sam ein Stück frischer Ananas hinüber. Er fing es mit dem Mund auf, und sie applaudierte ihm lautlos.
»Okay, das ist wahr«, gab sich Sam geschlagen.
Selma Wondrash stammte aus Ungarn, was man ihrem Akzent immer noch anhören konnte, und war die strenge, aber auch durchaus weichherzige Chefin von Sams und Remis dreiköpfigem Recherche-Team hinter der Fargo Foundation. Selma war Witwe, seit sie ihren Mann, zu Lebzeiten Testpilot der Air Force, bei einem Flugzeugabsturz zehn Jahre zuvor verloren hatte.
Nachdem sie ihr Studium der Bibliothekswissenschaften in Georgetown mit einem Diplom abgeschlossen hatte, leitete Selma die Spezial-Sammlung der Kongress-Bibliothek, bis Sam und Remi sie von dort weglockten. Außer als hervorragende Rechercheurin hatte sich Selma schon bald als begnadete Reiseagentin und Logistik-Spezialistin erwiesen, indem sie mit geradezu militärischer Effizienz Sams und Remis Transport an ihre jeweiligen Zielorte organisierte. Selmas einzige Leidenschaft schien die Recherche zu sein, für die sie aß, trank und lebte. Sie fand ihre Glücksmomente darin, Geheimnissen, die sich standhaft jeder Aufklärung verweigerten, und Legenden mit einem winzigen Funken Wahrheit auf den Grund zu gehen.
»Was ist es diesmal?«, fragte Selma.
»Eine Schiffsglocke«, rief Remi.
Sie konnte das Rascheln von Papier hören, als Selma sich einen Notizblock angelte. »Lassen Sie hören«, sagte sie.
»Die Westküste von Chumbe Island«, sagte Sam und nannte dann die Koordinaten, die er in seinem GPS-Gerät gespeichert hatte, ehe er zum Boot zurückgeschwommen war. »Sie müssen zuerst ...«
»Den Grenzverlauf und die Ausdehnung des Reservats und der Naturschutzzonen überprüfen, ich weiß«, sagte Selma, wobei ihr Bleistift über das Papier flog. »Wendy wird sich mal die tansanischen Seerechtsbestimmungen vornehmen. Sonst noch etwas?«
»Eine Münze. Rautenförmig, etwa so groß wie eine amerikanische Halbdollarmünze. Wir haben sie etwa einhundertzwanzig Meter nördlich der Glocke gefunden ...« Sam schaute fragend zu Remi, die seine Aussage mit einem Kopfnicken bestätigte. »Wir werden versuchen, sie zu säubern, aber zurzeit ist nichts darauf zu erkennen.«
»Hab's notiert. Was als Nächstes?«
»Es gibt nichts mehr. Das war's. So schnell wie möglich, Selma. Je eher wir diese Glocke an den Haken nehmen können, desto besser. Die Sandbank sah nicht sehr stabil aus.«
»Ich melde mich«, erwiderte Selma und unterbrach die Verbindung.
...
Übersetzung: Michael Kubiak
© August 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Der Mann, den alle nur als Jotun kannten, schritt zielstrebig durch den morgendlichen Nebel, den Kragen seiner Kapitänsjacke hochgeschlagen und einen Schal locker um Hals und Mund geschlungen. Sein Atem bildete eine weiße Wolke in der kalten Luft.
Plötzlich blieb er stehen und lauschte. Hatte er Schritte gehört? Er drehte den Kopf erst nach links, dann nach rechts. Irgendwo vor ihm erklang ein gedämpftes Klicken. Ein Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster. Obwohl schwer und hochgewachsen, zog sich Jotun schnell und leichtfüßig in den Schatten eines gewölbten Toreingangs zurück. In der Tasche seiner Jacke schloss sich seine Faust um den Griff eines mit Bleischrot gefüllten Totschlägers aus Leder. Die Seitenstraßen und Gassen von Tilbury waren niemals ein freundlicher Ort und erst recht nicht zwischen Sonnenuntergang und -aufgang.
»Verdammte Stadt«, knurrte Jotun. »Dunkel, feucht, kalt. Lieber Gott, hilf.«
Ihm fehlte seine Frau, ihm fehlte sein Land. Aber hier wurde er gebraucht, jedenfalls meinten das jene, die ganz oben saßen. Er vertraute natürlich ihrem Urteil, doch es gab Zeiten, da hätte er seinen augenblicklichen Dienst bereitwillig gegen ein offenes Schlachtfeld eingetauscht. Dort würde er seinen Gegner wenigstens sehen und kennen - und wüsste, was er mit ihm zu tun hätte: Er würde ihn töten oder selbst getötet werden. Ganz einfach. Andererseits gefiel seiner Frau, obgleich weit entfernt von ihr, sein augenblicklicher Einsatzort viel besser als seine früheren. »Lieber in der Ferne und am Leben als in der Nähe und tot«, hatte sie zu ihm gesagt, nachdem er seine Befehle erhalten hatte.
Jotun wartete einige Minuten, hörte jedoch keine weiteren Geräusche. Er sah auf seine Uhr: halb vier. In einer Stunde würde es auf den Straßen lebendig werden. Wenn sich sein Jagdwild aus dem Staub machen wollte, dann müsste es vorher geschehen.
Er kehrte auf die Straße zurück und ging weiter nach Norden, bis er zur Malta Road kam und die Richtung nach Süden zu den Docks einschlug. In der Ferne konnte er das einsame Scheppern einer Boje hören, außerdem drang ihm der Gestank der Themse in die Nase. Ein Stück voraus, im Nebel, konnte er eine einsame Gestalt erkennen. Sie stand am südöstlichen Ende der Dock Road und rauchte eine Zigarette. Auf Katzenpfoten überquerte Jotun die Straße und ging weiter, bis er die Straßenecke deutlicher ausmachen konnte. Der Mann war tatsächlich allein. Jotun zog sich in die Gasse zurück, dann stieß er einen einzigen leisen Pfiff aus. Der Mann wandte sich um. Jotun zündete mit dem Daumennagel ein Streichholz an, ließ es kurz auflodern und löschte die Flamme sofort wieder mit Daumen und Zeigefinger. Der Mann kam auf Jotun zu.
»Guten Morgen, Sir.«
»Darüber lässt sich streiten, Fancy.«
»Das stimmt, Sir.« Fancy ließ den Blick über die Straße schweifen.
»Nervös?«, fragte Jotun.
»Was, ich? Weshalb sollte ich nervös sein? Ein kleiner Mann wie ich, der bei Nacht durch diese Gassen schleicht? Was könnte daran nicht in Ordnung sein?«
»Dann lass mal hören.«
»Es ist dort, Sir. Vertäut am Pier, und das schon seit vier Tagen. Allerdings nur noch mit je einer Leine an Heck und Bug. Ich habe mit einem Kumpel gesprochen, der unten im Hafen gelegentlich Handlangerdienste übernimmt. Es heißt, das Schiff werde flussaufwärts fahren.«
»Wohin?«
»Zu den Millwall Docks.«
»Die Millwall Docks sind noch nicht fertig, Fancy. Warum belügst du mich?«
»Nein, Sir, das ist das, was ich gehört habe. Millwall. Am späten Morgen.«
»Ich hab schon jemanden in Millwall, Fancy. Er sagt, der Hafen sei für mindestens eine weitere Woche geschlossen.« »Tut mir leid, Sir.«
Jotun hörte das typische Scharren von Leder auf Stein hinter sich in der Gasse und begriff sofort, dass Fancy etwas ganz anderes leidtat. Jotun tröstete sich ein wenig mit dem Wissen, dass ihn dieses kleine Wiesel von einem Mann wahrscheinlich nicht aus Tücke, sondern eher aus Habgier verraten hatte.
»Nimm die Beine in die Hand, Fancy. Renn weit weg. Ganz aus London raus. Wenn ich dich noch einmal sehe, schlitz ich dir den Bauch auf und stopf dir deine eigenen Eingeweide ins Maul.«
»Sie werden mich nie wiedersehen, Sir.«
»Das wäre auch besser, wenn dir dein Leben lieb ist.« »Noch einmal, es tut mir leid. Ich habe Sie immer ...« »Noch ein Wort, und es wird dein letztes sein. Geh.« Fancy rannte los und verschwand im Nebel. Jotun ging seine Möglichkeiten schnell durch. Dass Fancy ihn mit den Millwall Docks belogen hatte, bedeutete, dass er auch beim Schiff gelogen hatte, was wiederum bedeutete, dass es flussabwärts fuhr und nicht flussaufwärts. Das konnte er unmöglich zulassen. Daraus ergab sich die Frage: War es klüger, vor den Männern zu fliehen, die hinter ihm her waren, oder sich auf einen Kampf mit ihnen einzulassen? Wenn er flüchtete, würden sie ihn jagen, und das Letzte, was er jetzt brauchte, war ein Krawall so nahe am Hafen. Die Schiffsmannschaft war sicherlich längst nervös geworden und entsprechend wachsam - dabei brauchte er sie vollkommen ruhig und ahnungslos, um sie unvorbereitet zu überrumpeln.
Jotun wandte sich zur Gasse um.
Sie waren zu dritt, einer ein wenig kleiner als er, zwei sehr viel kleiner, aber alle hatten breite, runde Schultern und darauf kantige, bullige Köpfe. Straßenräuber. Halsabschneider. Hätte das Licht ausgereicht, um ihre Gesichter deutlicher zu erkennen, nahm Jotun an, dass sie nur noch wenige Zähne, zahlreiche Narben und kleine, bösartige Augen gehabt hätten.
»Guten Morgen, Gentlemen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Mach das Ganze nicht schlimmer, als es sein muss«, erwiderte der Größere des Trios.
»Messer oder Fäuste oder beides?«, fragte Jotun. »Was?«
»Egal. Es ist eure Wahl. Nun kommt schon, fangen wir endlich an.«
Jotun zog die Hände aus den Taschen.
Der Große stürmte los. Jotun sah das Messer an der Hüfte des Mannes hochschnellen, ein präzise berechneter Stoß, um eine Arterie im Oberschenkel zu durchtrennen oder den Unterleib aufzuschlitzen. Jotun war jedoch nicht nur fünf Zentimeter größer als der Mann, sondern hatte auch zehn Zentimeter mehr Armeslänge, und die benutzte er, indem er mit einem Uppercut reagierte. In der letzten Sekunde öffnete er die Hand und ließ den Totschläger herausschießen. Das in Leder eingenähte Bleischrot traf den Mann genau unterm Kinn. Sein Kopf wurde hochgerissen, er stolperte rückwärts gegen seine Partner und landete dann hart auf dem Hintern. Das Messer rutschte klirrend über das Pflaster. Jotun machte einen langen Schritt vorwärts, zog ein Knie bis zur Hüfte hoch und rammte den Absatz seines Stiefels auf den Knöchel des großen Mannes und zertrümmerte den Knochen. Der Mann schrie vor Schmerzen auf.
Die beiden anderen zögerten zwar, aber nur für einen kurzen Augenblick. In Situationen wie diesen zerstreut sich ein solches Wolfsrudel gewöhnlich, sobald der Leitwolf ausgeschaltet wurde, aber diese Männer waren daran gewöhnt, leichtes Spiel zu haben.
Der auf der rechten Seite wich seinem gefallenen Partner aus, duckte sich und stampfte los wie ein Stier. Der Angriff war natürlich eine Finte. In einer der Hände hielt er ein Messer versteckt; in dem Moment, in dem Jotun den Mann packte, würde das Messer hochkommen. Jotun machte mit dem linken Bein einen Schritt rückwärts, beugte es und vollführte dann einen Satz vorwärts, während er gleichzeitig mit dem rechten Fuß ausholte und ihn nach vorn schwang. Der Tritt erwischte den Mann mitten im Gesicht. Jotun hörte das gedämpfte Knirschen brechender Knochen. Der Mann sackte auf die Knie, schwankte für einen kurzen Moment hin und her und stürzte dann mit dem Gesicht zuerst auf die Straße.
Der letzte Mann dachte nicht daran zu zögern, und Jotun erkannte, auf was er wartete: auf jenen entscheidenden Moment, in dem jemand erkennt, dass er sterben wird, wenn er nicht die richtige Entscheidung trifft.
»Die beiden leben noch«, sagte Jotun. »Wenn du nicht kehrtmachst und abhaust, töte ich dich.«
Der Mann stand wie festgewurzelt da, das Messer stoßbereit in der Hand.
»Nun komm schon, mein Sohn, haben sie dir wirklich genug dafür gezahlt?«
Der Mann ließ das Messer sinken. Er schluckte krampfhaft, schüttelte dann ruckartig den Kopf, machte kehrt und rannte los.
Jotun rannte ebenfalls. Und zwar so schnell er konnte die Straße hinunter, in die Dock Road, dann quer durch einige Zierhecken und an der St. Andrews Church vorbei. Durch eine kurze Gasse erreichte er ein Paar Lagerhäuser. Er eilte zwischen ihnen hindurch, setzte über einen Zaun hinweg, landete hart und rollte sich über die Schulter ab, kam wieder auf die Füße und rannte weiter, bis unter seinen Stiefeln das dumpfe Dröhnen von Holz erklang. Der Hafenkai. Er blickte nach links, dann nach rechts, sah jedoch nichts als Nebel.
Wohin?
Er drehte sich um, las die Hausnummer über seinem Kopf, dann machte er auf dem Absatz kehrt und spurtete fünfzig Meter weiter nach Süden. Zu seiner Rechten hörte er Wasser plätschern, steuerte darauf zu. Ein dunkler Schatten ragte vor ihm auf. Er bremste, prallte gegen einen Kistenstapel, stolperte zur Seite und gewann sein Gleichgewicht zurück. Dann sprang er auf die kleinste Kiste und kletterte schließlich eine Etage höher. Etwa zwanzig Meter unter seinem Standplatz konnte er eine Wasserfläche erkennen. Er schaute flussaufwärts, erkannte dort aber nichts. Dann blickte er den Fluss hinab.
In zwanzig Metern Entfernung gewahrte er den matten Schein eines gelben Lichts hinter einem zweiflügeligen Fenster; darüber, hinter der Deckreling, befand sich das Ruderhaus eines Schiffes.
»Verdammt!«, schimpfte Jotun lauthals. »Gottverdammter Mist!«
Das Schiff verschmolz gerade mit dem Nebel und verschwand.
1
Chumbe Island, Sansibar
Tansania
Die Haie schossen am Rand ihres Gesichtsfeldes hin und her, schlanke graue Schatten, die Sam und Remi immer nur kurze Blicke auf messerscharfe Finnen und zuckende Schwanzflossen erlaubten, ehe sie hinter dem Vorhang wirbelnder Sandkörner verschwanden. Wie üblich hatte sich Remi diese Gelegenheit zum Fotografieren nicht entgehen lassen, und wie üblich hatte sie Sam gebeten, als Größenmaßstab herzuhalten, während sie ihre Hochgeschwindigkeits-Unterwasserkamera an ihm vorbei auf das Fressgelage richtete. Was Sam betraf, so machte er sich weniger Sorgen wegen der Haie als wegen des Abgrunds, der sich hinter ihm befand, einem fünfzig Meter tiefen Steilabfall der Sandbank, der sich in den unergründlichen Tiefen des Sansibar-Kanals verlor.
Remi ließ die Kamera sinken, lächelte mit den Augen hinter ihrer Tauchermaske und machte mit der Hand das Okay-Zeichen. Erleichtert schwebte Sam mit einem Flossenschlag zu ihr hinüber. Zusammen knieten sie im Sand und verfolgten das Schauspiel. Es war Juli, also Monsun-Zeit. Der warme Ostafrikanische Küstenstrom aus Südosten traf auf die südlichste Spitze von Sansibar und teilte sich in einen landwärts gerichteten und einen ablandigen Strom. Die Haie erhielten auf diese Weise einen Nahrungstrichter in der rund fünfunddreißig Kilometer breiten Lücke zwischen Sansibar und dem afrikanischen Festland, speziell der Küste Tansanias, da dort Schwärme von Beutefischen nach Norden wanderten. Remi nannte es ein unwiderstehliches Lebendbüfett.
Sam und Remi achteten darauf, innerhalb dessen zu bleiben, was sie die Sicherheitszone nannten. Es war der etwa fünfzig Meter breite Streifen glasklaren Wassers vor Chumbe Island. Dahinter brach der Festlandsockel ab und bildete eine Wand des Sansibar-Kanals. Die Grenze der Zone war nicht zu übersehen. Die Strömung, nirgendwo schwächer als sechs Knoten, schrammte an der Sandbank der Insel entlang und wirbelte einen dichten Sandvorhang auf. Diesen Bereich bezeichneten Sam und Remi als Goodbye-Zone; ein Schritt in diese reißende Strömung ohne Sicherheitsleine, und man begab sich unfreiwillig auf einen Trip ohne Wiederkehr an der afrikanischen Ostküste entlang.
Trotz der Gefahr - oder vielleicht sogar gerade wegen ihr - war dieser alljährliche Ausflug nach Sansibar einer ihrer liebsten. Neben Haien, Beutefischen, reißenden Strömungen und Unterwassersandstürmen, die häufig monatelang andauerten, hielt der Ostafrikanische Küstenstrom stets Schätze bereit. Allerdings waren es gewöhnlich nur kleine und unbedeutende Fundstücke, die abgesehen von ihrer Seltenheit und ihrem Fundort nichts weiter auszeichnete. Aber das reichte Sam und Remi völlig. Im Laufe der Jahrhunderte hatten ganze Schiffsflotten die afrikanische Ostküste von Mombasa bis Daressalam befahren, viele beladen mit Gold, Edelsteinen und Elfenbein für die Städte der Kolonialreiche. Unzählige Schiffe waren im Sansibar-Kanal und seiner Umgebung gesunken, wobei sich der Inhalt ihrer Frachträume auf dem Meeresboden verteilt hatte, wo er darauf wartete, von der richtigen Strömung freigelegt oder in Reichweite von neugierigen Tauchern wie den Fargos transportiert zu werden. Während ihrer alljährlichen Reisen hatten sie Gold-und Silbermünzen römischen wie spanischen Ursprungs gefunden, außerdem chinesisches Porzellan, Jade aus Sri Lanka, Tafelsilber ... Ob faszinierend oder alltäglich, sie hatten es immer sorgfältig geborgen. Auf dieser Reise hatten sie bisher nur ein einziges bemerkenswertes Stück entdeckt: eine rautenförmige Goldmünze, die derart mit Muschelkalk verkrustet war, dass sie keine Einzelheiten darauf erkennen konnten.
Sam und Remi sahen den Haien noch für ein paar weitere Minuten bei ihrer Mahlzeit zu, dann, nachdem sie sich durch ein Kopfnicken miteinander verständigt hatten, kehrten sie um und glitten dicht über dem Meeresgrund nach Süden. Dabei hielten sie gelegentlich an und fächerten mit einem Pingpongschläger Sand beiseite, nämlich in der Hoffnung, dass sich der jeweilige Klumpen, der ihnen aufgefallen war, als bedeutendes Zeugnis der Geschichte entpuppte.
Chumbe Island, etwa neun Kilometer lang und drei Kilometer breit, besitzt in etwa die Form eines Damenstiefels, wobei Schienbein, Knöchel und Vorderfuß dem Kanal zugewandt sind und Wade, Bleistiftabsatz und Sohle der Insel Sansibar selbst. Dicht oberhalb des Knöchels klaffte in der Sandbank eine Lücke. Es war ein Einlass, der zu der Lagune führte, die durch den Pfennigabsatz gebildet wurde.
Nachdem sie eine Viertelstunde lang über den Sandboden gepaddelt waren, erreichten Sam und Remi diese Lücke, wandten sich nach Westen, bis sie nur noch zehn Meter vom Strand entfernt waren, und gingen dann auf nördlichen Kurs, um ihre Suche fortzusetzen. Nun wurden sie ein wenig wachsamer. An diesem Teil der Sandbank schob sich der Hauptkanal gefährlich dicht an den Strand herab. Es war eine blasenförmige Ausbuchtung, die ihre Sicherheitszone auf wenig mehr als zehn Meter schrumpfen ließ. Remi schwamm in Richtung Land und befand sich dabei ein kurzes Stück vor Sam, während sich beide immer wieder vergewisserten, dass der andere nicht zu nahe an den Abgrund geriet.
Aus dem Augenwinkel gewahrte Sams rechtes Auge ein Glitzern. Es war nicht mehr als ein flüchtiges goldenes Aufblitzen. Er stoppte seine Schwimmbewegungen, ließ sich mit den Knien zuerst auf den Sand sinken und klopfte dann mit dem Tauchermesser gegen seine Luftflasche, um Remi auf sich aufmerksam zu machen. Sie hielt ebenfalls an, drehte sich und kam mit einigen Flossenschlägen zu ihm zurück. Er deutete auf den Punkt. Sie nickte und folgte Sam zum Ufer, bis die Sandbänke in Sicht kamen. Als Sandmauer von fast vier Metern Höhe bildeten diese Sandbänke eine Art Abhang, wo die Wassertiefe schlagartig von Brusthöhe auf sechs bis sieben Meter absackte. Sie hielten vor dem Sandwall an und sahen sich um.
Remi deutete mit den Händen die Frage Wo? an.
Sam zuckte die Achseln und ließ den Blick an der Sandbank entlang wandern. Dort. Gut fünf Meter rechts von sich gewahrte er es abermals, ein goldenes Blinken. Sie schwammen darauf zu und hielten erneut an. Hier war die Goodbye-Zone noch näher gerückt und begann keine drei Meter hinter ihnen. Selbst in dieser Entfernung konnten sie die Strömung spüren. Sie war wie ein Strudel, der sie in die Tiefe ziehen wollte.
In Taillenhöhe ragte etwas aus dem Sandwall, das wie das fünfzehn bis zwanzig Zentimeter große Stück eines Fassreifens aussah. Obgleich angelaufen, blind und mit Seepocken besetzt, war der Ring von der Meeresströmung regelrecht sandgestrahlt worden, so dass glänzendes Metall zutage trat.
Sam streckte die Hand aus und wedelte den Bereich um den Reifen mit dem Pingpongschläger frei. Der freigelegte Abschnitt vergrößerte sich auf zwanzig Zentimeter, dann auf fünfundzwanzig, ehe die Krümmung wieder in die Sandbank eintauchte. Sam bewegte den Schläger nach oben und hoffte, einige der Fassdauben freizulegen, falls das Holz nicht völlig verrottet war.
Dann unterbrach er seine Bemühungen und sah zu Remi hinüber. Die Augen hinter ihrer Maske waren vor Staunen geweitet. Über dem Ring erschien kein verfaultes Holz, sondern eine metallene Wölbung, stellenweise mit grüner Patina bedeckt. Sam ließ sich auf die Knie sinken und rutschte vorwärts, bis seine Brust beinahe den Sandwall berührte. Dann legte er den Kopf in den Nacken und wedelte mit dem Schläger unter dem Ring hin und her. Nach etwa einer halben Minute erschien eine Höhle. Behutsam schob er eine Hand in die dunkle Öffnung und erforschte sie mit gespreizten Fingern.
Er zog den Arm heraus, entfernte sich von dem Objekt und kam zu Remi zurück. Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Er nickte als Antwort auf ihre stumme Frage. Ein Zweifel war ausgeschlossen. Ihr Fass war kein Fass, sondern eine Schiffsglocke.
»Also, das kam unerwartet«, stellte Remi ein paar Minuten später fest, nachdem sie aufgetaucht waren.
»Du sagst es«, erwiderte Sam, nachdem er das Mundstück des Atemschlauchs herausgenommen hatte. Bisher war das größte Artefakt, das sie je gefunden hatten, ein Silberteller von einem torpedierten Libertyschiff aus dem Zweiten Weltkrieg gewesen.
Sie streifte die Schwimmflossen ab und warf sie über das Dillbord aufs Achterdeck ihres Mietbootes, einer auch vielfach als Wassertaxi eingesetzten Andreyale-Joubert-NiveltExpress-Motoryacht, komplett mit lackierter Teakholztäfelung und antiken Eisenbahnfenstern. Dann kletterte sie die Leiter hinauf. Sam folgte ihr. Sobald sie die restliche Taucherausrüstung abgelegt und in der Kajüte der Andreyale-Yacht verstaut hatten, angelte Remi zwei Flaschen Mineralwasser aus der Kühlbox und warf Sam eine davon zu. Nun machten sie es sich in den Deckstühlen gemütlich.
»Was meinst du, seit wann liegt sie schon da unten?«, fragte Remi.
»Schwer zu sagen. Es dauert meist nicht allzu lange, bis die erste Patina entsteht. Wir müssten uns ansehen, wie dick die Schicht auf dem restlichen Teil ist. Das Innere fühlte sich ziemlich glatt an.«
»Und der Klöppel?«
»Den habe ich nicht gefunden.«
»Sieht so aus, als müssten wir eine Entscheidung treffen.« »Das werden wir auch.«
Die Regierung von Tansania hatte nicht nur einige sehr unorthodoxe Gesetze, was die Bergung von Meeresfunden betraf, sondern Chumbe Island trug die offizielle Bezeichnung Chumbe Island Coral Park. Darüber hinaus waren große Teile als Riff-Schutzzone und als Waldreservat abgetrennt und für die Öffentlichkeit gesperrt worden. Ehe Sam und Remi überhaupt etwas unternehmen konnten, mussten sie zuerst feststellen, ob die Glocke innerhalb eines dieser geschützten Bereiche lag. Wenn sie diese Hürde überwanden, dann konnten sie auch guten Gewissens den nächsten Schritt in Angriff nehmen: die Herkunft und die Geschichte der Glocke bestimmen, was eine Vorbedingung war, wenn sie einen gesetzlichen Anspruch auf ihren Fund anmelden wollten, ehe einheimische Amtsträger auf seine Existenz aufmerksam würden. Sie bewegten sich auf einem schmalen Grat. Wenn sie ihn überwanden, konnten sie sich vielleicht über einen bedeutenden historischen Fund freuen, aber auf beiden Seiten des Grates lauerten Gesetze, auf Grund derer ihnen bestenfalls ihre Beute weggenommen wurde oder sie schlimmstenfalls mit einem Gerichtsverfahren rechnen mussten. Laut Gesetz durften sie sämtliche gefundenen, von Menschenhand hergestellten Objekte, deren Bergung »keine umfangreichen Ausgrabungsarbeiten« erforderte, als ihr Eigentum betrachten. Gegenstände wie Remis rautenförmige Münze waren unproblematisch; eine Schiffsglocke wäre jedoch etwas völlig anderes.
Das alles war den Fargos nicht neu. Gemeinsam und jeder für sich, privat wie professionell, hatten Sam und Remi beinahe von Kindesbeinen an Schätze, Artefakte und verborgene historische Zeugnisse gesucht.
Dem Beispiel ihres Vaters folgend, hatte Remi das Boston College besucht und dort Master-Grade in Anthropologie und Geschichte erworben. Dabei hatte sie sich vor allem auf die Handelsrouten des Altertums spezialisiert.
Sams Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, hatte als Ingenieur zum Leitungsstab der NASA-Raumfahrtprogramme gehört, und Sams Mutter, eine temperamentvolle Lady, betrieb ein Tauchboot, das für ausgedehnte Ausflüge gemietet werden konnte.
Sam erwarb ein Ingenieursdiplom am California Institute of Technology und heimste beim Lacrosse und beim Fußball eine Handvoll Trophäen ein.
Während seiner letzten Monate am Caltech war Sam von einem Mann angesprochen worden, der, wie sich später herausstellte, von der DARPA - der Defense Advanced Research Projects Agency - kam, jener Regierungsbehörde, die Forschungsprojekte für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten durchführen ließ. Die Verlockung, an der Entwicklung technischer Neuerungen mitzuarbeiten und gleichzeitig seinem Vaterland einen Dienst zu erweisen, machte Sam die Entscheidung leicht.
Nach sieben Jahren bei der DARPA kehrte er nach Kalifornien zurück, wo Sam und Remi sich im Lighthouse Cafe, einem Jazzclub in Hermosa Beach, kennenlernten. Sam hatte den Club aufgesucht, um sich ein kühles Bier zu genehmigen, und Remi feierte dort gerade den erfolgreichen Abschluss eines Forschungsprojekts, in dessen Verlauf sie den Gerüchten über ein vor Abalone Cove gesunkenes spanisches Schiff auf den Grund gegangen war.
Auch wenn keiner von ihnen ihr erstes Treffen als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen würde, waren sie sich doch darin einig, dass sie sich »vom ersten Moment an verdammt sicher« gewesen seien. Sechs Monate später heirateten sie im Rahmen einer bescheidenen Zeremonie im Lighthouse Cafe, da sie sich dort zum ersten Mal begegnet waren.
Auf Remis Anregung hin stürzte sich Sam kopfüber in sein eigenes Unternehmen, und nach einem Jahr stießen sie auf eine Goldader, indem sie einen Argonlaser-Scanner entwickelten, der auf größere Entfernung edelmetallhaltige Vorkommen und Verbindungen von Gold über Silber und Platin bis hin zu Palladium aufspüren und identifizieren konnte. Schatzsucher, Universitäten, Staatsbetriebe und Bergbaufirmen bewarben sich um Lizenzen für Sams Erfindung, und innerhalb von zwei Jahren konnte die Fargo Group einen jährlichen Reingewinn von drei Millionen Dollar verbuchen. Schon nach vier Jahren traten multinationale Konzerne an sie heran. Sam und Remi entschieden sich für das höchste Gebot, verkauften die Firma für genug Geld, um den Rest ihres Lebens komfortabel abzusichern, und frönten von da ab nur noch ihrer wahren Leidenschaft: der Schatzsuche.
Für Sam und Remi war das Geld nicht der Motor ihres Lebens, sondern das Abenteuer und die Genugtuung, beobachten zu können, wie die Fargo Foundation aufblühte. Die Stiftung, die ihre Spenden unter unterprivilegierten und missbrauchten Kindern sowie dem Tier- und Naturschutz aufteilte, war während des vorangegangenen Jahrzehnts sprunghaft gewachsen und hatte im vorangegangenen Jahr verschiedenen Organisationen fast zwanzig Millionen Dollar an Unterstützung zukommen lassen. Ein wesentlicher Teil stammte aus Sams und Remis Privatvermögen, der Rest aus privaten Spenden. Wohl oder übel erregten ihre Aktivitäten die Aufmerksamkeit der Medien, wodurch wiederum weitere reiche Spender angelockt wurden.
Die Frage, die sich ihnen jetzt stellte, war, ob diese Schiffsglocke vielleicht etwas war, das der Finanzierung weiterer wohltätiger Bemühungen dienen konnte, oder ob es sich nur um ein historisches Kuriosum handelte. Nicht dass dies von großer Bedeutung war. Historische Geheimnisse zu enthüllen, hatte einen ganz besonderen Reiz für sie. Ganz gleich wie oder was, sie wussten genau, wo sie anfangen mussten.
»Es ist Zeit, Selma anzurufen«, entschied Remi.
»Ja, jetzt ist Selma gefragt«, pflichtete Sam ihr bei.
Eine Stunde später befanden sie sich wieder in ihrem im Plantagenstil erbauten Mietbungalow in Kendwa Beach an der Nordspitze Sansibars. Während Remi einen frischen Obstsalat zu Schinken und Mozzarella zubereitete und Eistee in Gläser einschenkte, wählte Sam Selmas Nummer. Über ihren Köpfen brachte ein anderthalb Meter großer Deckenventilator die Luft in Wallung, und eine kühle Brise bauschte die Gazevorhänge vor den Fenstern.
Obgleich es in San Diego erst vier Uhr morgens war, nahm Selma Wondrash den Hörer schon nach dem ersten Klingeln ab. Sam und Remi überraschte das nicht, nachdem sie zu der Überzeugung gelangt waren, dass Selma pro Nacht nur vier Stunden lang schlief, außer sonntags, wenn sie sich eine fünfte Stunde Schlaf gönnte.
»Sie rufen mich aus dem Urlaub immer nur dann an, wenn Sie in Schwierigkeiten oder im Begriff sind, in Schwierigkeiten zu geraten«, drang Selmas Stimme ohne Einleitung aus dem Telefonlautsprecher.
»Das stimmt nicht«, protestierte Sam. »Als wir vergangenes Jahr von den Seychellen aus anriefen ...«
»War eine Pavianherde in Ihr Strandhaus eingefallen, hatte die Inneneinrichtung zerlegt und sich mit Ihrem gesamten weltlichen Besitz aus dem Staub gemacht. Und die Polizei hat Sie für Einbrecher und Diebe gehalten.«
Sie hat recht, bestätigte Remi mit einer stummen Geste über die Kücheninsel hinweg. Mit der Messerspitze warf sie Sam ein Stück frischer Ananas hinüber. Er fing es mit dem Mund auf, und sie applaudierte ihm lautlos.
»Okay, das ist wahr«, gab sich Sam geschlagen.
Selma Wondrash stammte aus Ungarn, was man ihrem Akzent immer noch anhören konnte, und war die strenge, aber auch durchaus weichherzige Chefin von Sams und Remis dreiköpfigem Recherche-Team hinter der Fargo Foundation. Selma war Witwe, seit sie ihren Mann, zu Lebzeiten Testpilot der Air Force, bei einem Flugzeugabsturz zehn Jahre zuvor verloren hatte.
Nachdem sie ihr Studium der Bibliothekswissenschaften in Georgetown mit einem Diplom abgeschlossen hatte, leitete Selma die Spezial-Sammlung der Kongress-Bibliothek, bis Sam und Remi sie von dort weglockten. Außer als hervorragende Rechercheurin hatte sich Selma schon bald als begnadete Reiseagentin und Logistik-Spezialistin erwiesen, indem sie mit geradezu militärischer Effizienz Sams und Remis Transport an ihre jeweiligen Zielorte organisierte. Selmas einzige Leidenschaft schien die Recherche zu sein, für die sie aß, trank und lebte. Sie fand ihre Glücksmomente darin, Geheimnissen, die sich standhaft jeder Aufklärung verweigerten, und Legenden mit einem winzigen Funken Wahrheit auf den Grund zu gehen.
»Was ist es diesmal?«, fragte Selma.
»Eine Schiffsglocke«, rief Remi.
Sie konnte das Rascheln von Papier hören, als Selma sich einen Notizblock angelte. »Lassen Sie hören«, sagte sie.
»Die Westküste von Chumbe Island«, sagte Sam und nannte dann die Koordinaten, die er in seinem GPS-Gerät gespeichert hatte, ehe er zum Boot zurückgeschwommen war. »Sie müssen zuerst ...«
»Den Grenzverlauf und die Ausdehnung des Reservats und der Naturschutzzonen überprüfen, ich weiß«, sagte Selma, wobei ihr Bleistift über das Papier flog. »Wendy wird sich mal die tansanischen Seerechtsbestimmungen vornehmen. Sonst noch etwas?«
»Eine Münze. Rautenförmig, etwa so groß wie eine amerikanische Halbdollarmünze. Wir haben sie etwa einhundertzwanzig Meter nördlich der Glocke gefunden ...« Sam schaute fragend zu Remi, die seine Aussage mit einem Kopfnicken bestätigte. »Wir werden versuchen, sie zu säubern, aber zurzeit ist nichts darauf zu erkennen.«
»Hab's notiert. Was als Nächstes?«
»Es gibt nichts mehr. Das war's. So schnell wie möglich, Selma. Je eher wir diese Glocke an den Haken nehmen können, desto besser. Die Sandbank sah nicht sehr stabil aus.«
»Ich melde mich«, erwiderte Selma und unterbrach die Verbindung.
...
Übersetzung: Michael Kubiak
© August 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
... weniger
Autoren-Porträt von Clive Cussler, Grant Blackwood
Seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, ist jeder Roman von Clive Cussler ein New-York-Times-Bestseller. Auch auf der deutschen SPIEGEL-Bestsellerliste ist jeder seiner Romane vertreten. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.Grant Blackwood ist ein Veteran der U.S. Navy, wo er an Bord einer Fregatte als Chefoperator und Rettungsschwimmer Dienst tat. Er lebt in Colorado. Blackwood, GrantGrant Blackwood ist ein Veteran der U.S. Navy, wo er an Bord einer Fregatte als Chefoperator und Rettungsschwimmer Dienst tat. Er lebt in Colorado.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Clive Cussler , Grant Blackwood
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 508 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Kubiak, Michael
- Übersetzer: Michael Kubiak
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442379490
- ISBN-13: 9783442379491
- Erscheinungsdatum: 11.07.2012
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