Fever - Schatten der Vergangenheit / Pendergast Bd.10
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast
Zwölf Jahre ist es her, dass Special Agent Pendergasts Frau bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Zu seinem Entsetzen findet er jetzt heraus, dass Helen offenbar ermordet wurde. Warum musste sie damals sterben?
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Produktinformationen zu „Fever - Schatten der Vergangenheit / Pendergast Bd.10 “
Zwölf Jahre ist es her, dass Special Agent Pendergasts Frau bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Zu seinem Entsetzen findet er jetzt heraus, dass Helen offenbar ermordet wurde. Warum musste sie damals sterben?
Klappentext zu „Fever - Schatten der Vergangenheit / Pendergast Bd.10 “
Auf dem Stammsitz seiner Familie macht Pendergast eine ungeheuerliche Entdeckung: Seine Frau Helen ist vor zwölf Jahren nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen - es war ein heimtückischer Mord! Gemeinsam mit seinem Freund D'Agosta beginnt Pendergast zu ermitteln, doch in den Schatten der Vergangenheit verbirgt sich manches Geheimnis, das besser nicht gelüftet worden wäre. Pendergast muss erkennen, dass Helen ihn aus vielen Gründen geheiratet hat, nur nicht aus Liebe. Aber welche Rolle spielte ein geheimnisumwitterter Künstler aus dem 19. Jahrhundert und eine Fieberkrankheit, die stets tödlich endet?
Lese-Probe zu „Fever - Schatten der Vergangenheit / Pendergast Bd.10 “
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast von Douglas Preston und Lincoln Child1
Musalangu, Sambia
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Wie ein Waldbrand erleuchtete die untergehende, flammend gelbe Sonne den afrikanischen Busch, während sich ein drückend heißer Abend über das Camp senkte. Im Osten zeichneten sich die Hügelkuppen am Oberlauf des Makwele wie stumpfe grüne Zähne vor dem Himmel ab.
Mehrere staubbedeckte Segeltuchzelte umstanden eine festgetrampelte Fläche im Schatten alter Musasa-Bäume, deren Äste sich wie smaragdgrüne Regenschirme über das Safari-Camp spannten. Von einem Kochfeuer stieg eine Rauchfahne kräuselnd durch das Blätterdach in den Himmel und verbreitete den betörenden Duft von brennendem Mopane-Holz und gegrillter Kudu-Antilope.
Im Schatten des Baumes in der Mitte saßen sich ein Mann und eine Frau auf Camp-Stühlen an einem Tisch gegenüber und tranken Bourbon auf Eis. Ihre staubige Khakibekleidung - lange Hosen und langärmelige Hemden - bot ein wenig Schutz vor den Tsetse-Fliegen, die am Abend herumschwirrten. Beide waren Ende zwanzig. Der schlanke, hochgewachsene Mann fiel durch seine kühle, fast eisige Blässe auf, an der die Hitze abzugleiten schien. Seine Kühle schien nicht auf die Frau abzustrahlen. Träge fächelte sie sich mit einem großen Bananenblatt Luft zu, wodurch sich ihr dichtes, kastanienbraunes Haar, das sie mit einem Stück Bindfaden locker im Nacken zusammengebunden hatte, leicht bewegte. Sie war sonnengebräunt und wirkte entspannt. Das leise Gespräch, das gelegentlich vom Lachen der Frau unterbrochen wurde, war von den Geräuschen des afrikanischen Buschs kaum zu unterscheiden, von den Rufen der Grünen Meerkatzen, dem Kreischen der Frankolinen und dem Tschilpen der dunkelroten Amarante, die sich mit dem Klappern der Töpfe und Pfannen im Küchenzelt vermischten. Unterlegt wurde dieses abendliche Konzert vom gelegentlichen Brüllen eines Löwen tief im Busch.
Bei den beiden Personen handelte es sich um Aloysius X. L. Pendergast und seine Frau Helen, mit der er seit zwei Jahren verheiratet war. Sie hatten soeben eine Jagdsafari im Musalangu-Wildpark beendet, bei der sie im Rahmen eines Programms der sambischen Regierung zur Herdenreduzierung Buschbock und Ducker geschossen hatten.
»Möchtest du noch einen Sundowner?«, fragte Pendergast seine Frau und hob den Cocktail-Krug ein wenig an.
»Noch einen?«, antwortete sie lachend. »Aloysius, du planst doch wohl hoffentlich keinen Anschlag auf meine Tugendhaftigkeit.«
»Nichts läge mir ferner. Meine Hoffnung war, wir könnten den Abend mit der Diskussion über Kants kategorischen Imperativ zubringen.«
»Also, genau davor hat mich meine Mutter immer gewarnt. Da heiratest du einen Mann, weil du meinst, er kann gut mit dem Gewehr umgehen, und stellst dann fest, dass er ein Kopfmensch ist.«
Pendergast lachte, er trank einen Schluck und blickte in sein Glas. »Afrikanische Minze hat eine gewisse Schärfe.«
»Armer Aloysius, dir fehlen deine Juleps. Na, wenn du den FBI-Job annimmst, den Mike Decker dir angeboten hat, kannst du von morgens bis abends Juleps trinken.«
Wieder nippte Pendergast nachdenklich an seinem Glas und betrachtete seine Frau. Erstaunlich, wie rasch sie unter der afrikanischen Sonne braun wurde. »Ich habe mich entschlossen, das Angebot abzulehnen.«
»Und warum?«
»Weil ich mir unsicher bin, ob ich in New Orleans bleiben
möchte, mit allen Konsequenzen, die das mit sich brächte - den familiären Komplikationen, den unangenehmen Erinnerungen. Und ich habe schon genug Gewalt erlebt, meinst du nicht?« »Ich weiß nicht, findest du? Du erzählst mir so wenig aus deinem früheren Leben, dabei kennen wir uns schon so lange.« »Ich bin nicht fürs FBI geschaffen. Ich mag keine Regeln. Außerdem reist du als Mitarbeiterin dieser ›Doctors With Wings‹ ständig in der Weltgeschichte herum. Wir könnten überall wohnen, solange ein internationaler Flughafen in der Nähe ist. Die Seelen, die nur eine sind, erleiden doch keinen Bruch; sie weiten sich, wie Gold gehämmert wird zu Hauch.«
»Ich bitte dich, da schleppst du mich mit nach Afrika und zitierst John Donne. Kipling, den vielleicht.«
»Jede Frau weiß alles über alles«, zitierte er.
»Wenn ich's mir recht überlege, verschone mich auch mit Kipling. Was hast du eigentlich als Jugendlicher gemacht - Zitatensammlungen auswendig gelernt?«
»Unter anderem.« Pendergast blickte auf. Auf dem Trampelpfad näherte sich aus westlicher Richtung eine Gestalt. Der hochgewachsene Mann vom Stamm der Nyimba trug Shorts und ein schmutziges T-Shirt, hatte ein uraltes Gewehr über die Schulter gelegt und einen gegabelten Gehstock in der Hand. Kurz vor dem Camp blieb er stehen und rief etwas auf Bemba, der lokalen lingua franca, worauf aus dem Küchenzelt Willkommensgrüße ertönten. Dann ging er weiter, hinein ins Camp, und näherte sich dem Tisch, an dem das Ehepaar Pendergast saß. Beide erhoben sich. »Umú-ntú ú-mó umú-sumá á-áfíká«, begrüßte Pendergast den Mann und ergriff seine staubige, warme Hand - der sambische Stil. Der Mann hielt Pendergast seinen Stock hin; in der Gabelung steckte ein Brief.
»Für mich?«, fragte Pendergast auf Englisch.
»Vom District Commissioner.«
Pendergast warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, dann nahm er den Brief und faltete ihn auseinander.
Mein lieber Pendergast,
ich wünsche Sie umgehend über Funk zu sprechen. Im Kingazu-Camp hat sich eine hässliche Sache ereignet, eine ganz hässliche.
Alistair Woking,
DC Süd-Luangwa
P. S. Mein lieber Freund, Sie wissen ganz genau, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist, in jedem Busch-Camp eine Funkstation einzurichten. Ich finde es ausgesprochen ärgerlich, einen Boten schicken zu müssen.
Helen Pendergast blickte ihrem Mann über die Schulter. »Der Ton gefällt mir gar nicht. Worum geht's bei dieser ›hässlichen Sache‹, was meinst du?«
»Vielleicht hat ein Nashorn einem Fototouristen amouröse Avancen gemacht.«
»Ich finde das gar nicht komisch«, sagte Helen, lachte aber trotzdem.
»Es ist Brunftsaison, weißt du.« Pendergast faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Brusttasche. »Ich fürchte, dass unser kleiner Jagdausflug hiermit beendet ist.«
Er ging zum Zelt hinüber, öffnete eine Box und schraubte die krummen und schiefen Teile einer Luftantenne zusammen, mit der er in einen Musasa-Baum kletterte, wo er sie an einem der oberen Äste befestigte. Anschließend stieg er herunter, stöpselte das Funkkabel in das Ein-Band-Mobilfunkgerät, das er auf den Tisch gestellt hatte, schaltete es ein, stellte die richtige Frequenz ein und schickte einen Funkspruch ab. Unmittelbar darauf erklang die gereizte Stimme des District Commissioners, quäkend und krächzend.
»Pendergast? Um Gottes willen, wo stecken Sie bloß?« »Ich bin im Camp am Oberlauf des Makwele.«
»Verdammt. Ich hatte gehofft, Sie campierten näher an der Banta Road. Warum zum Teufel lassen Sie Ihr Funkgerät nicht eingeschaltet? Ich versuche jetzt schon seit Stunden, Sie zu erreichen!«
»Darf ich fragen, was passiert ist?«
»Drüben im Kingazu-Camp hat ein Löwe einen deutschen Touristen getötet.«
»Welcher Trottel hat das denn zugelassen?«
»So ist das nicht abgelaufen. Der Löwe ist am helllichten Tag mitten ins Camp hineinspaziert, hat den Mann angefallen, als der aus dem Speisezelt zurück zu seiner Hütte ging, und ihn kreischend in den Busch gezerrt.«
»Und dann?«
»Das können Sie sich doch wohl vorstellen! Die Frau ist hysterisch geworden, das ganze Camp war in heller Panik, wir mussten einen Helikopter reinschicken, um alle Touristen auszufliegen. Die Camp-Mitarbeiter, die zurückgeblieben sind, haben eine Heidenangst. Der Mann war in Deutschland ein bekannter Fotograf - das ist verdammt schlecht fürs Geschäft!«
»Haben Sie den Löwen aufgespürt?«
»Wir haben Fährtenleser und Waffen, aber nach diesem Löwen im Busch zu suchen - das macht keiner. Wir verfügen über niemanden, der die dafür nötige Erfahrung - oder die Courage - besitzt. Und darum brauchen wir Sie, Pendergast. Sie müssen hier runterkommen, das Ungeheuer aufspüren und ... na ja ... die sterblichen Überreste dieses bedauernswerten Deutschen einsammeln, bevor nichts mehr übrig ist, das man bestatten kann.«
»Sie haben noch nicht mal die Leiche geborgen?«
»Niemand will da rausgehen und nach diesem Monstrum suchen! Sie kennen doch das Kingazu-Camp - all das dichte Gestrüpp, das wegen der Wilderei der Elefanten hochgekommen ist. Wir brauchen einen verflucht erfahrenen Jäger. Und ich muss Sie wohl auch nicht daran erinnern, dass die Bestimmungen Ihrer Jagdlizenz vorschreiben, dass Sie einzelgängerische Menschenfresser schießen müssen, wenn und falls das erforderlich wird.«
»Ah ja, verstehe.«
»Wo haben Sie Ihren Rover stehengelassen?«
»Bei den Fala Pans.«
»Kommen Sie in die Gänge, so schnell es geht. Kümmern Sie sich nicht darum, das Camp abzubrechen, schnappen Sie sich einfach Ihre Waffen und kommen Sie hier runter.«
»Das dauert einen Tag, mindestens. Sind Sie sicher, dass sich niemand näher dran befindet, der Ihnen helfen kann?« »Niemand. Jedenfalls niemand, dem ich traue.«
Pendergast blickte zu seiner Frau. Sie lächelte, kniff ein Auge zusammen und imitierte mit ihrer sonnengebräunten Hand den Schuss aus einer Pistole. »Also gut. Wir machen uns sofort auf den Weg.«
»Noch etwas.« Der District Commissioner zögerte. Plötzlich herrschte Stille in der Funkverbindung, nur das Zischen und Knistern war zu hören.
»Ja, was ist denn?«
»Ist wahrscheinlich nicht wichtig. Aber die Ehefrau, die die Attacke miterlebt hat - sie hat gesagt ...« Noch eine Pause. »Ja?«
»Sie hat gesagt, dass der Löwe merkwürdig ausgesehen hat.« »Was soll das heißen?«
»Dass er eine rote Mähne hatte.«
»Meinen Sie, ein wenig dunkler als üblich? Das ist nicht so ungewöhnlich.«
Es folgte ein sehr langes Schweigen. Schließlich sagte der District Commissioner: »Aber das kann natürlich nicht derselbe Löwe sein. Vor vierzig Jahren wurde mal so einer gesehen, im Norden von Botswana. Aber ich habe noch nie gehört, dass ein Löwe älter als fünfundzwanzig Jahre geworden ist. Sie etwa?« Pendergast schwieg und schaltete das Funkgerät aus. Seine hellen Augen funkelten im letzten Licht der Dämmerung, die über dem afrikanischen Busch heraufzog.
2
Kingazu-Camp, Luangwa-Fluss
Der Landrover rumpelte und ruckelte über die Banga Road, eine schlechte Straße in einem Land, das berühmt war für seine schlechten Straßenverhältnisse. Pendergast riss das Lenkrad nach rechts und nach links, um den riesigen Schlaglöchern auszuweichen, von denen einige fast halb so tief waren wie der zerbeulte Rover hoch. Die Fenster standen weit offen - die Klimaanlage war defekt -, und das Wageninnere war voll vom Staub, der jedes Mal hereinwirbelte, wenn ihnen ein Fahrzeug entgegenkam.
Im Morgengrauen waren sie vom Makwele-Bach aufgebrochen und hatten sich ohne Führer zum zwanzig Kilometer langen Marsch durch den Busch aufgemacht, ausgerüstet nur mit ihren Waffen, Wasser, einer luftgetrockneten Salami und Fladenbrot. Gegen Mittag waren sie an ihrem Wagen angekommen. Mittlerweile fuhren sie schon seit mehreren Stunden durch weit voneinander entfernt liegende, ärmliche Dörfer: kreisrunde Gebäude mit Wänden aus zusammengebundenen Stöcken und spitz zulaufenden Reetdächern, die Sandpisten verstopft mit freilaufenden Rindern und Schafen. Der wolkenlose Himmel war von einem hellen, fast wässrigen Blau.
Helen Pendergast nestelte an ihrem Schal und zog ihn sich fester ums Haar, ein aussichtsloser Kampf bei dem allgegenwärtigen Staub. Er haftete auf jedem unbedeckten Zentimeter ihrer schweißnassen Haut und verlieh ihr ein geradezu schrundiges Aussehen.
»Es ist schon seltsam«, sagte sie, als sie abermals durch ein Dorf kamen und den Hühnern und Kindern auswichen. »Ich meine, dass es keinen Jäger gibt, der näher dran ist, um sich mit diesem Löwen-Problem zu befassen. Du bist schließlich nicht gerade ein Meisterschütze.« Sie lächelte verschmitzt; sie zog ihn des Öfteren damit auf.
»Deshalb zähle ich ja auf dich.«
»Du weißt doch genau, dass ich Tiere, die ich nicht esse, nur höchst ungern töte.«
»Und wie hältst du's mit Tieren, die uns essen könnten?« »Vielleicht kann ich da eine Ausnahme machen.« Sie stellte die Sonnenblende neu ein und wandte sich zu ihm um. Dabei wurden ihre Augen - blau mit kleinen violetten Flecken - in dem hellen Licht schmaler. »Also, was hat es mit diesem Rotmähnen-Löwen auf sich?«
»Man darf die Erzählungen nicht so ernst nehmen. Aber in diesem Teil Afrikas kursiert eine alte Legende über einen Menschenfresser-Löwen mit roter Mähne.«
»Erzähl mir davon.« Helens Augen funkelten vor Interesse. »Also gut. Vor etwa vierzig Jahren - so wird erzählt - wurde das südliche Luangwa-Tal von einer Dürre heimgesucht, was die Wildbestände stark dezimierte. Ein Löwenrudel, das in dem Tal jagte, verhungerte, und ein Tier nach dem anderen starb, bis nur noch ein Rudelmitglied übrig blieb, eine schwangere Löwin. Sie überlebte dadurch, dass sie sich versteckt hielt und auf einem Friedhof der Nyimba die Toten fraß.«
»Wie furchtbar«, sagte Helen genüsslich.
»Es heißt, die Löwin habe ein Junges mit flammend roter Mähne geboren.«
»Erzähl weiter.«
»Die Dorfbewohner waren wütend wegen der andauernden Entweihung ihrer Begräbnisstätte. Schließlich spürten sie die Löwin auf, töteten sie, zogen ihr das Fell ab und nagelten es auf dem Dorfplatz an ein Gestell. Dann führten sie einen Tanz auf, um den Tod der Löwin zu feiern. Im Morgengrauen, während die Dorfbewohner ihren Kater nach all dem Maisbier ausschliefen, schlich ein Löwe mit roter Mähne ins Dorf, tötete drei der schlafenden Männer und schleppte einen Jungen mit sich fort. Einige Tage darauf wurden seine abgenagten Knochen in dichtstehendem mannshohen Gras ein paar Meilen außerhalb des Dorfes gefunden.«
»Du lieber Gott!«
»Im Laufe der Jahre tötete und fraß der Rote Löwe, der Dabu Gor, wie er in der Bemba-Sprache hieß, zahlreiche Dorfbewohner. Er sei sehr schlau, hieß es, so schlau wie ein Mensch. Er ändere häufig sein Revier und überquere manchmal sogar Landesgrenzen, um sich der Verfolgung zu entziehen. Die örtlichen Nyimba behaupteten, der Rote Löwe könne zwar ohne Menschenfleisch überleben, aber mit ihm würde er ewig leben.« Pendergast fuhr um ein Schlagloch herum, das es hinsichtlich Breite und Tiefe durchaus mit einem Mondkrater aufnehmen konnte.
»Und weiter?«
»Das ist die ganze Geschichte, mehr weiß ich nicht.«
»Aber was ist mit dem Löwen passiert? Ist er denn getötet worden?«
»Mehrere Berufsjäger haben versucht, ihn aufzuspüren, aber ohne Erfolg. Er hat einfach weiter getötet, bis er an Altersschwäche starb - wenn er denn tatsächlich gestorben ist.« Pendergast verdrehte ein wenig theatralisch die Augen.
»Also wirklich, Aloysius! Du weißt doch ganz genau, dass es sich nicht um ein und denselben Löwen handeln kann.«
»Es könnte sich um einen Nachkommen mit der gleichen genetischen Mutation handeln.«
»Und vielleicht dem gleichen Geschmack«, sagte Helen und lächelte makaber.
Im Laufe des späten Nachmittags und frühen Abends - das übliche Geschrei der Kinder und das Gemuhe der Rinder war dem Gesumm der Insekten gewichen - fuhren sie durch zwei weitere verlassene Dörfer. Erst nach Sonnenuntergang, als sich schon ein blaues Zwielicht über die Buschlandschaft senkte, kamen sie im Kingazu-Lager an. Das Camp lag am Ufer des Luangwa-Flusses, bestand aus einer Gruppe von direkt am Ufer gelegenen rondevaals und verfügte über eine Openair-Bar und ein Speisezelt.
»Was für eine hübsche Anlage«, sagte Helen und blickte sich um.
»Kingazu ist eines der ältesten Safari-Camps im ganzen Land«, antwortete Pendergast. »Es wurde in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründet, als Sambia noch zu Nord-Rhodesien gehörte, von einem Jäger, der erkannte, dass es ebenso erregend sein kann, Tiere zu fotografieren, wie sie zu töten. Und sehr viel lukrativer.«
»Vielen Dank, Professor. Muss ich nach der Vorlesung einen Test schreiben?«
Als sie auf den staubigen Parkplatz bogen, waren die Bar und das Speisezelt leer, das Camp-Personal hatte in den umliegenden Hütten Zuflucht gesucht. Alle Lichter brannten, der Generator tuckerte auf vollen Touren.
»Ängstliche Leutchen«, sagte Helen, stieß die Wagentür auf und trat in die heiße, von schrillem Zikadengezirpe erfüllte Abendluft.
Die Tür des nächstgelegenen rondevaal öffnete sich, worauf ein gelblicher Lichtstreifen auf die festgetretene Erde fiel. Ein Mann, der eine Khakihose mit messerscharfen Bügelfalten, lederne Buschstiefeln und Kniestrümpfe trug, trat heraus.
»Der Distriktskommissar, Alistair Woking«, flüsterte Pendergast Helen zu.
»Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Und der Bursche mit dem australischen Buschhut neben ihm, das ist Gordon Wisley, der Pächter des Camps.«
»Bitte treten Sie ein«, sagte Woking und reichte ihnen die Hand. »In der Hütte können wir uns in Ruhe unterhalten.« »Um Himmels willen, nein!«, sagte Helen. »Wir waren den ganzen Tag im Auto eingepfercht - trinken wir ein Glas an der Bar.«
»Nun ja -«, sagte Woking zögerlich.
»Wenn sich der Löwe ins Camp schleicht, umso besser. Dann müssen wir uns nicht die Mühe machen, ihm im Busch aufzulauern. Stimmt's, Aloysius?«
»Tadelloses Argument.«
Helen hob die Segeltuchtasche, in der sich ihre Waffe befand, von der Ladefläche des Landrover. Pendergast tat das Gleiche und legte sich einen schweren Munitionskoffer aus Aluminium auf die Schulter.
Übersetzung: Michael Benthack
© 2010 Droemer Verlag
Wie ein Waldbrand erleuchtete die untergehende, flammend gelbe Sonne den afrikanischen Busch, während sich ein drückend heißer Abend über das Camp senkte. Im Osten zeichneten sich die Hügelkuppen am Oberlauf des Makwele wie stumpfe grüne Zähne vor dem Himmel ab.
Mehrere staubbedeckte Segeltuchzelte umstanden eine festgetrampelte Fläche im Schatten alter Musasa-Bäume, deren Äste sich wie smaragdgrüne Regenschirme über das Safari-Camp spannten. Von einem Kochfeuer stieg eine Rauchfahne kräuselnd durch das Blätterdach in den Himmel und verbreitete den betörenden Duft von brennendem Mopane-Holz und gegrillter Kudu-Antilope.
Im Schatten des Baumes in der Mitte saßen sich ein Mann und eine Frau auf Camp-Stühlen an einem Tisch gegenüber und tranken Bourbon auf Eis. Ihre staubige Khakibekleidung - lange Hosen und langärmelige Hemden - bot ein wenig Schutz vor den Tsetse-Fliegen, die am Abend herumschwirrten. Beide waren Ende zwanzig. Der schlanke, hochgewachsene Mann fiel durch seine kühle, fast eisige Blässe auf, an der die Hitze abzugleiten schien. Seine Kühle schien nicht auf die Frau abzustrahlen. Träge fächelte sie sich mit einem großen Bananenblatt Luft zu, wodurch sich ihr dichtes, kastanienbraunes Haar, das sie mit einem Stück Bindfaden locker im Nacken zusammengebunden hatte, leicht bewegte. Sie war sonnengebräunt und wirkte entspannt. Das leise Gespräch, das gelegentlich vom Lachen der Frau unterbrochen wurde, war von den Geräuschen des afrikanischen Buschs kaum zu unterscheiden, von den Rufen der Grünen Meerkatzen, dem Kreischen der Frankolinen und dem Tschilpen der dunkelroten Amarante, die sich mit dem Klappern der Töpfe und Pfannen im Küchenzelt vermischten. Unterlegt wurde dieses abendliche Konzert vom gelegentlichen Brüllen eines Löwen tief im Busch.
Bei den beiden Personen handelte es sich um Aloysius X. L. Pendergast und seine Frau Helen, mit der er seit zwei Jahren verheiratet war. Sie hatten soeben eine Jagdsafari im Musalangu-Wildpark beendet, bei der sie im Rahmen eines Programms der sambischen Regierung zur Herdenreduzierung Buschbock und Ducker geschossen hatten.
»Möchtest du noch einen Sundowner?«, fragte Pendergast seine Frau und hob den Cocktail-Krug ein wenig an.
»Noch einen?«, antwortete sie lachend. »Aloysius, du planst doch wohl hoffentlich keinen Anschlag auf meine Tugendhaftigkeit.«
»Nichts läge mir ferner. Meine Hoffnung war, wir könnten den Abend mit der Diskussion über Kants kategorischen Imperativ zubringen.«
»Also, genau davor hat mich meine Mutter immer gewarnt. Da heiratest du einen Mann, weil du meinst, er kann gut mit dem Gewehr umgehen, und stellst dann fest, dass er ein Kopfmensch ist.«
Pendergast lachte, er trank einen Schluck und blickte in sein Glas. »Afrikanische Minze hat eine gewisse Schärfe.«
»Armer Aloysius, dir fehlen deine Juleps. Na, wenn du den FBI-Job annimmst, den Mike Decker dir angeboten hat, kannst du von morgens bis abends Juleps trinken.«
Wieder nippte Pendergast nachdenklich an seinem Glas und betrachtete seine Frau. Erstaunlich, wie rasch sie unter der afrikanischen Sonne braun wurde. »Ich habe mich entschlossen, das Angebot abzulehnen.«
»Und warum?«
»Weil ich mir unsicher bin, ob ich in New Orleans bleiben
möchte, mit allen Konsequenzen, die das mit sich brächte - den familiären Komplikationen, den unangenehmen Erinnerungen. Und ich habe schon genug Gewalt erlebt, meinst du nicht?« »Ich weiß nicht, findest du? Du erzählst mir so wenig aus deinem früheren Leben, dabei kennen wir uns schon so lange.« »Ich bin nicht fürs FBI geschaffen. Ich mag keine Regeln. Außerdem reist du als Mitarbeiterin dieser ›Doctors With Wings‹ ständig in der Weltgeschichte herum. Wir könnten überall wohnen, solange ein internationaler Flughafen in der Nähe ist. Die Seelen, die nur eine sind, erleiden doch keinen Bruch; sie weiten sich, wie Gold gehämmert wird zu Hauch.«
»Ich bitte dich, da schleppst du mich mit nach Afrika und zitierst John Donne. Kipling, den vielleicht.«
»Jede Frau weiß alles über alles«, zitierte er.
»Wenn ich's mir recht überlege, verschone mich auch mit Kipling. Was hast du eigentlich als Jugendlicher gemacht - Zitatensammlungen auswendig gelernt?«
»Unter anderem.« Pendergast blickte auf. Auf dem Trampelpfad näherte sich aus westlicher Richtung eine Gestalt. Der hochgewachsene Mann vom Stamm der Nyimba trug Shorts und ein schmutziges T-Shirt, hatte ein uraltes Gewehr über die Schulter gelegt und einen gegabelten Gehstock in der Hand. Kurz vor dem Camp blieb er stehen und rief etwas auf Bemba, der lokalen lingua franca, worauf aus dem Küchenzelt Willkommensgrüße ertönten. Dann ging er weiter, hinein ins Camp, und näherte sich dem Tisch, an dem das Ehepaar Pendergast saß. Beide erhoben sich. »Umú-ntú ú-mó umú-sumá á-áfíká«, begrüßte Pendergast den Mann und ergriff seine staubige, warme Hand - der sambische Stil. Der Mann hielt Pendergast seinen Stock hin; in der Gabelung steckte ein Brief.
»Für mich?«, fragte Pendergast auf Englisch.
»Vom District Commissioner.«
Pendergast warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, dann nahm er den Brief und faltete ihn auseinander.
Mein lieber Pendergast,
ich wünsche Sie umgehend über Funk zu sprechen. Im Kingazu-Camp hat sich eine hässliche Sache ereignet, eine ganz hässliche.
Alistair Woking,
DC Süd-Luangwa
P. S. Mein lieber Freund, Sie wissen ganz genau, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist, in jedem Busch-Camp eine Funkstation einzurichten. Ich finde es ausgesprochen ärgerlich, einen Boten schicken zu müssen.
Helen Pendergast blickte ihrem Mann über die Schulter. »Der Ton gefällt mir gar nicht. Worum geht's bei dieser ›hässlichen Sache‹, was meinst du?«
»Vielleicht hat ein Nashorn einem Fototouristen amouröse Avancen gemacht.«
»Ich finde das gar nicht komisch«, sagte Helen, lachte aber trotzdem.
»Es ist Brunftsaison, weißt du.« Pendergast faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Brusttasche. »Ich fürchte, dass unser kleiner Jagdausflug hiermit beendet ist.«
Er ging zum Zelt hinüber, öffnete eine Box und schraubte die krummen und schiefen Teile einer Luftantenne zusammen, mit der er in einen Musasa-Baum kletterte, wo er sie an einem der oberen Äste befestigte. Anschließend stieg er herunter, stöpselte das Funkkabel in das Ein-Band-Mobilfunkgerät, das er auf den Tisch gestellt hatte, schaltete es ein, stellte die richtige Frequenz ein und schickte einen Funkspruch ab. Unmittelbar darauf erklang die gereizte Stimme des District Commissioners, quäkend und krächzend.
»Pendergast? Um Gottes willen, wo stecken Sie bloß?« »Ich bin im Camp am Oberlauf des Makwele.«
»Verdammt. Ich hatte gehofft, Sie campierten näher an der Banta Road. Warum zum Teufel lassen Sie Ihr Funkgerät nicht eingeschaltet? Ich versuche jetzt schon seit Stunden, Sie zu erreichen!«
»Darf ich fragen, was passiert ist?«
»Drüben im Kingazu-Camp hat ein Löwe einen deutschen Touristen getötet.«
»Welcher Trottel hat das denn zugelassen?«
»So ist das nicht abgelaufen. Der Löwe ist am helllichten Tag mitten ins Camp hineinspaziert, hat den Mann angefallen, als der aus dem Speisezelt zurück zu seiner Hütte ging, und ihn kreischend in den Busch gezerrt.«
»Und dann?«
»Das können Sie sich doch wohl vorstellen! Die Frau ist hysterisch geworden, das ganze Camp war in heller Panik, wir mussten einen Helikopter reinschicken, um alle Touristen auszufliegen. Die Camp-Mitarbeiter, die zurückgeblieben sind, haben eine Heidenangst. Der Mann war in Deutschland ein bekannter Fotograf - das ist verdammt schlecht fürs Geschäft!«
»Haben Sie den Löwen aufgespürt?«
»Wir haben Fährtenleser und Waffen, aber nach diesem Löwen im Busch zu suchen - das macht keiner. Wir verfügen über niemanden, der die dafür nötige Erfahrung - oder die Courage - besitzt. Und darum brauchen wir Sie, Pendergast. Sie müssen hier runterkommen, das Ungeheuer aufspüren und ... na ja ... die sterblichen Überreste dieses bedauernswerten Deutschen einsammeln, bevor nichts mehr übrig ist, das man bestatten kann.«
»Sie haben noch nicht mal die Leiche geborgen?«
»Niemand will da rausgehen und nach diesem Monstrum suchen! Sie kennen doch das Kingazu-Camp - all das dichte Gestrüpp, das wegen der Wilderei der Elefanten hochgekommen ist. Wir brauchen einen verflucht erfahrenen Jäger. Und ich muss Sie wohl auch nicht daran erinnern, dass die Bestimmungen Ihrer Jagdlizenz vorschreiben, dass Sie einzelgängerische Menschenfresser schießen müssen, wenn und falls das erforderlich wird.«
»Ah ja, verstehe.«
»Wo haben Sie Ihren Rover stehengelassen?«
»Bei den Fala Pans.«
»Kommen Sie in die Gänge, so schnell es geht. Kümmern Sie sich nicht darum, das Camp abzubrechen, schnappen Sie sich einfach Ihre Waffen und kommen Sie hier runter.«
»Das dauert einen Tag, mindestens. Sind Sie sicher, dass sich niemand näher dran befindet, der Ihnen helfen kann?« »Niemand. Jedenfalls niemand, dem ich traue.«
Pendergast blickte zu seiner Frau. Sie lächelte, kniff ein Auge zusammen und imitierte mit ihrer sonnengebräunten Hand den Schuss aus einer Pistole. »Also gut. Wir machen uns sofort auf den Weg.«
»Noch etwas.« Der District Commissioner zögerte. Plötzlich herrschte Stille in der Funkverbindung, nur das Zischen und Knistern war zu hören.
»Ja, was ist denn?«
»Ist wahrscheinlich nicht wichtig. Aber die Ehefrau, die die Attacke miterlebt hat - sie hat gesagt ...« Noch eine Pause. »Ja?«
»Sie hat gesagt, dass der Löwe merkwürdig ausgesehen hat.« »Was soll das heißen?«
»Dass er eine rote Mähne hatte.«
»Meinen Sie, ein wenig dunkler als üblich? Das ist nicht so ungewöhnlich.«
Es folgte ein sehr langes Schweigen. Schließlich sagte der District Commissioner: »Aber das kann natürlich nicht derselbe Löwe sein. Vor vierzig Jahren wurde mal so einer gesehen, im Norden von Botswana. Aber ich habe noch nie gehört, dass ein Löwe älter als fünfundzwanzig Jahre geworden ist. Sie etwa?« Pendergast schwieg und schaltete das Funkgerät aus. Seine hellen Augen funkelten im letzten Licht der Dämmerung, die über dem afrikanischen Busch heraufzog.
2
Kingazu-Camp, Luangwa-Fluss
Der Landrover rumpelte und ruckelte über die Banga Road, eine schlechte Straße in einem Land, das berühmt war für seine schlechten Straßenverhältnisse. Pendergast riss das Lenkrad nach rechts und nach links, um den riesigen Schlaglöchern auszuweichen, von denen einige fast halb so tief waren wie der zerbeulte Rover hoch. Die Fenster standen weit offen - die Klimaanlage war defekt -, und das Wageninnere war voll vom Staub, der jedes Mal hereinwirbelte, wenn ihnen ein Fahrzeug entgegenkam.
Im Morgengrauen waren sie vom Makwele-Bach aufgebrochen und hatten sich ohne Führer zum zwanzig Kilometer langen Marsch durch den Busch aufgemacht, ausgerüstet nur mit ihren Waffen, Wasser, einer luftgetrockneten Salami und Fladenbrot. Gegen Mittag waren sie an ihrem Wagen angekommen. Mittlerweile fuhren sie schon seit mehreren Stunden durch weit voneinander entfernt liegende, ärmliche Dörfer: kreisrunde Gebäude mit Wänden aus zusammengebundenen Stöcken und spitz zulaufenden Reetdächern, die Sandpisten verstopft mit freilaufenden Rindern und Schafen. Der wolkenlose Himmel war von einem hellen, fast wässrigen Blau.
Helen Pendergast nestelte an ihrem Schal und zog ihn sich fester ums Haar, ein aussichtsloser Kampf bei dem allgegenwärtigen Staub. Er haftete auf jedem unbedeckten Zentimeter ihrer schweißnassen Haut und verlieh ihr ein geradezu schrundiges Aussehen.
»Es ist schon seltsam«, sagte sie, als sie abermals durch ein Dorf kamen und den Hühnern und Kindern auswichen. »Ich meine, dass es keinen Jäger gibt, der näher dran ist, um sich mit diesem Löwen-Problem zu befassen. Du bist schließlich nicht gerade ein Meisterschütze.« Sie lächelte verschmitzt; sie zog ihn des Öfteren damit auf.
»Deshalb zähle ich ja auf dich.«
»Du weißt doch genau, dass ich Tiere, die ich nicht esse, nur höchst ungern töte.«
»Und wie hältst du's mit Tieren, die uns essen könnten?« »Vielleicht kann ich da eine Ausnahme machen.« Sie stellte die Sonnenblende neu ein und wandte sich zu ihm um. Dabei wurden ihre Augen - blau mit kleinen violetten Flecken - in dem hellen Licht schmaler. »Also, was hat es mit diesem Rotmähnen-Löwen auf sich?«
»Man darf die Erzählungen nicht so ernst nehmen. Aber in diesem Teil Afrikas kursiert eine alte Legende über einen Menschenfresser-Löwen mit roter Mähne.«
»Erzähl mir davon.« Helens Augen funkelten vor Interesse. »Also gut. Vor etwa vierzig Jahren - so wird erzählt - wurde das südliche Luangwa-Tal von einer Dürre heimgesucht, was die Wildbestände stark dezimierte. Ein Löwenrudel, das in dem Tal jagte, verhungerte, und ein Tier nach dem anderen starb, bis nur noch ein Rudelmitglied übrig blieb, eine schwangere Löwin. Sie überlebte dadurch, dass sie sich versteckt hielt und auf einem Friedhof der Nyimba die Toten fraß.«
»Wie furchtbar«, sagte Helen genüsslich.
»Es heißt, die Löwin habe ein Junges mit flammend roter Mähne geboren.«
»Erzähl weiter.«
»Die Dorfbewohner waren wütend wegen der andauernden Entweihung ihrer Begräbnisstätte. Schließlich spürten sie die Löwin auf, töteten sie, zogen ihr das Fell ab und nagelten es auf dem Dorfplatz an ein Gestell. Dann führten sie einen Tanz auf, um den Tod der Löwin zu feiern. Im Morgengrauen, während die Dorfbewohner ihren Kater nach all dem Maisbier ausschliefen, schlich ein Löwe mit roter Mähne ins Dorf, tötete drei der schlafenden Männer und schleppte einen Jungen mit sich fort. Einige Tage darauf wurden seine abgenagten Knochen in dichtstehendem mannshohen Gras ein paar Meilen außerhalb des Dorfes gefunden.«
»Du lieber Gott!«
»Im Laufe der Jahre tötete und fraß der Rote Löwe, der Dabu Gor, wie er in der Bemba-Sprache hieß, zahlreiche Dorfbewohner. Er sei sehr schlau, hieß es, so schlau wie ein Mensch. Er ändere häufig sein Revier und überquere manchmal sogar Landesgrenzen, um sich der Verfolgung zu entziehen. Die örtlichen Nyimba behaupteten, der Rote Löwe könne zwar ohne Menschenfleisch überleben, aber mit ihm würde er ewig leben.« Pendergast fuhr um ein Schlagloch herum, das es hinsichtlich Breite und Tiefe durchaus mit einem Mondkrater aufnehmen konnte.
»Und weiter?«
»Das ist die ganze Geschichte, mehr weiß ich nicht.«
»Aber was ist mit dem Löwen passiert? Ist er denn getötet worden?«
»Mehrere Berufsjäger haben versucht, ihn aufzuspüren, aber ohne Erfolg. Er hat einfach weiter getötet, bis er an Altersschwäche starb - wenn er denn tatsächlich gestorben ist.« Pendergast verdrehte ein wenig theatralisch die Augen.
»Also wirklich, Aloysius! Du weißt doch ganz genau, dass es sich nicht um ein und denselben Löwen handeln kann.«
»Es könnte sich um einen Nachkommen mit der gleichen genetischen Mutation handeln.«
»Und vielleicht dem gleichen Geschmack«, sagte Helen und lächelte makaber.
Im Laufe des späten Nachmittags und frühen Abends - das übliche Geschrei der Kinder und das Gemuhe der Rinder war dem Gesumm der Insekten gewichen - fuhren sie durch zwei weitere verlassene Dörfer. Erst nach Sonnenuntergang, als sich schon ein blaues Zwielicht über die Buschlandschaft senkte, kamen sie im Kingazu-Lager an. Das Camp lag am Ufer des Luangwa-Flusses, bestand aus einer Gruppe von direkt am Ufer gelegenen rondevaals und verfügte über eine Openair-Bar und ein Speisezelt.
»Was für eine hübsche Anlage«, sagte Helen und blickte sich um.
»Kingazu ist eines der ältesten Safari-Camps im ganzen Land«, antwortete Pendergast. »Es wurde in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründet, als Sambia noch zu Nord-Rhodesien gehörte, von einem Jäger, der erkannte, dass es ebenso erregend sein kann, Tiere zu fotografieren, wie sie zu töten. Und sehr viel lukrativer.«
»Vielen Dank, Professor. Muss ich nach der Vorlesung einen Test schreiben?«
Als sie auf den staubigen Parkplatz bogen, waren die Bar und das Speisezelt leer, das Camp-Personal hatte in den umliegenden Hütten Zuflucht gesucht. Alle Lichter brannten, der Generator tuckerte auf vollen Touren.
»Ängstliche Leutchen«, sagte Helen, stieß die Wagentür auf und trat in die heiße, von schrillem Zikadengezirpe erfüllte Abendluft.
Die Tür des nächstgelegenen rondevaal öffnete sich, worauf ein gelblicher Lichtstreifen auf die festgetretene Erde fiel. Ein Mann, der eine Khakihose mit messerscharfen Bügelfalten, lederne Buschstiefeln und Kniestrümpfe trug, trat heraus.
»Der Distriktskommissar, Alistair Woking«, flüsterte Pendergast Helen zu.
»Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Und der Bursche mit dem australischen Buschhut neben ihm, das ist Gordon Wisley, der Pächter des Camps.«
»Bitte treten Sie ein«, sagte Woking und reichte ihnen die Hand. »In der Hütte können wir uns in Ruhe unterhalten.« »Um Himmels willen, nein!«, sagte Helen. »Wir waren den ganzen Tag im Auto eingepfercht - trinken wir ein Glas an der Bar.«
»Nun ja -«, sagte Woking zögerlich.
»Wenn sich der Löwe ins Camp schleicht, umso besser. Dann müssen wir uns nicht die Mühe machen, ihm im Busch aufzulauern. Stimmt's, Aloysius?«
»Tadelloses Argument.«
Helen hob die Segeltuchtasche, in der sich ihre Waffe befand, von der Ladefläche des Landrover. Pendergast tat das Gleiche und legte sich einen schweren Munitionskoffer aus Aluminium auf die Schulter.
Übersetzung: Michael Benthack
© 2010 Droemer Verlag
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Autoren-Porträt von Douglas Preston, Lincoln Child
Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin's Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er 1995 das Romanprojekt "Das Relikt", das innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum begeisterte. Child lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Douglas Preston , Lincoln Child
- 2012, 6. Aufl., 520 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Michael Benthack
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426508079
- ISBN-13: 9783426508077
- Erscheinungsdatum: 23.02.2012
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